Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Kritiker Marcel Reich-Ranicki wird morgen 80 Jahre alt

Von Bernd Berke

Prägnante Szene bei der letzten Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Journalisten und Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm erwartet man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz.

Der Kritiker lässt sich – wie üblich – nicht lange bitten, mag sich diesmal freilich nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten sehr gut geschrieben. Aha!

Bei Licht betrachtet, sind die Maßstäbe des höchst belesenen Reich-Ranicki, der am morgigen Freitag 80 Jahre alt wird, recht simpel: Entweder gefällt ihm ein Buch – oder es langweilt ihn. Entweder das Thema interessiert ihn – oder eben nicht. Man wundert sich schon, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit bringen kann.

Den Beinamen wird er nicht los

Vielleicht liegt es daran: Reich-Ranicki vertritt seine stets glasklaren Meinungen mit solcher Wucht und Verve, dass man schwer dagegen an.kommt – und er versteht es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillt er eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur sind unübersichtlich genug. Da soll uns einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wird er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er heute zugeben kann, nicht unfehlbar zu sein.

Mittlerweile ist er selbst Bestsellerautor. Über eine halbe Million Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ bereits verkauft. Eindringlich schildert er seine Kindheit in Polen und Berlin, sein Leben in der NS-Zeit. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer will es ihm da verübeln, dass er später dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald sah er den Irrtum ein und wurde 1949 wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (ZDF) hat Reich-Ranickis Show-Qualitäten zur Entfaltung kommen lassen. Man kann es als Konzentrat noch einmal nachschmecken: „Herrrlich! Grrrrässlich!“ heißen die dreistündigen „Quartett“-Auszüge, die das ZDF ab 1.50 Uhr in der Nacht zum Samstag zeigt, bereits freitags um 22.15 Uhr gibt es ein einstündiges Porträt im ZDF.

Literatur als Zuflucht eines „Außenseiters“

Deutschlands bekannteste Autoren wenden sich – mit Ausnahme von Siegfried Lenz – mit Grausen ab. Literaturnobelpreisträger Günter Grass ist Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verriss und auf dem „Spiegel“-Titelbild buchstäblich in der Luft zerfetzte. Als der Kritiker kürzlich die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Auch Martin Walser gehört nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Die Einsamkeit des Kritikers…

In mehr als einer Hinsicht ist dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit seinen schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen der „Zeit“ und der FAZ. Als wahre Heimat hat er daher immer die (deutsche) Literatur begriffen.

Und es gibt noch eine Zuflucht: Seit 60 Jahren lebt er mit Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hat. Auch wenn er gelegentlich damit kokettiert, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er treu gewesen.




Raserei bis zum Stillstand – Mülheim: Acht Mini-Dramen von illustren Autoren uraufgeführt

Von Bernd Berke

Mülheim. Es klingt fast wie ein Witzanfang: Kommt ein Mann ins dunkle Theater und irrt fluchend umher. Oder: Kommt ein Mann zum Arzt und redet lauter Unsinn. Wie Blitzlichter flackern gleich acht solcher Mini-Dramen an den Zuschauern vorüber.

Illustre Autoren haben zur Uraufführung beigetragen, nämlich acht frühere Preisträger des Mülheimer „Stücke“-Wettbewerbs: Herbert Achternbusch hat eine Zahnarzt-Groteske beigesteuert, Klaus Pohl führt uns an eine ostdeutsche Bushaltestelle, Oliver Bukowski liefert einen rotzigen „Prolo“-Monolog. Sogar der sonst auf Distanz bedachte Höhenwandler Botho Strauß ist dabei.

Binnen Minuten ist jeder Teil abgetan, das Ganze hat die Länge eines Fußballspiels. Man fühlt sich wie beim Zappen am TV-Gerät. Der Schnellgang über den dramatischen Laufsteg, für eine einzige Aufführung inszeniert von Thirza Bruncken, heißt im Obertitel „Erdball, Lichtgeschwindigkeit, Los los“. Da ist der gehetzte Grundton angestimmt, der den meisten Mini-Stücken eigen ist und der von der manchmal etwas ra(s)tlosen Regie szenisch ausgereizt wird.

Aus der Zeit geschleudert

Ein gemeinsames Thema, ja ein Daseins-Befund des Autoren-Oktetts zeichnet sich schemenhaft ab: Praktisch alle Figuren sind irgendwie aus der Zeit, aus der „globalisierten“ Welt hinaus geschleudert worden, da laufen die Uhren auch schon mal rückwärts. Doch zumeist herrscht sinnlos in sich selbst rasender Stillstand; bis zum Schlusspunkt der Historie: Werner Buhss („Vollklimatisiert“) lässt drei Astronauten im erinnerungslosen Nichts schweben – am Ende jeder menschlichen Geschichte.

Gelegentlich geht’s so albern zu wie beim ComedyWettbewerb: George Tabori lässt in „Sprechstunde“ schläfrige Altmännerscherze vom Stapel, Herbert Achternbuschs „Frau Sägebrecht“ wirkt wie Slapstick aus der Muppet-Show, jeder Satz kollert wie Zufall hervor – und doch quillt ein Quäntchen Poesie heraus. Urs Widmers „Schnell und träge“ klingt wie trotziges Kindertheater. Atemloses Aufhorchen eigentlich nur bei Botho Strauß, der in wunderbarer Sprache die bedrängende Vision einer Fabrik entwirft, in der alles Leben unter den besinnungslos produzierten Waren erstickt wird…

Im Grunde war’s eine hübsche Idee zum Auftakt der 25. Stücketage. Doch viel mehr als ein Pröbchen ist es denn auch nicht geworden. Der Beifall – uralter Theaterscherz – war „endenwollend“.