Nichts mehr sehen von dem Schmerz der Welt – Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“

Von Bernd Berke

Man sitzt im Kino, und es bleibt einige Minuten lang vollkommen schwarz auf der Leinwand. Wann fängt der Film denn endlich an?

Er hat begonnen. Die musikalisch untermalte Dunkel-Passage gehört schon dazu. So wird man eingestimmt auf die Geschichte einer Frau, die allmählich ihr Augenlicht verliert und sich langsam damit abfindet: „Noch mehr von der Welt sehen zu wollen, wäre Gier“, redet sie sich ein.

Die Isländerin Björk, bislang vor allem als höchst kreative Popsängerin gerühmt, spielt in Lars von Triers 138-Minuten-Film „Dancer in the Dark“ (Goldene Palme in Cannes) jene ärmliche Fabrikarbeiterin Selma. Kann sie das?

Björk als bedauernswerte Fabrikarbeiterin

Und ob! Wie dringlich und mutig sie spielt, als ginge es wirklich ums ganze Leben! Daneben verblasst sogar Catherine Deneuve als Fabrikkollegin und besorgte Freundin. Diese Selma ist (ähnlich wie Emily Watson in von Triers bewegendem „Breaking the Waves“) eine jener seltsam entrückten „Heiligen“, eine wie von ganz weit her gesandte Gestalt: bestürzend elend, einsam, erdhaft, nahezu pflanzlich vegetierend, jeder Unbill schutzlos ausgeliefert – jedoch kraft ihrer Leidensfähigkeit und ihrer nie ganz versiegenden Hoffnung geradezu überirdisch erhoben.

Wegen ihrer Sehschwäche bekommt die junge Frau, die aus Tschechien in die USA(hier ein Niemandsland der fahlen Farben) eingewandert ist, Probleme mit der Bedienung der scharfkantigen Maschinen. Doch die allein Erziehende will den Knochenjob um jeden Preis behalten, sie hängt gar Überstunden an. Denn sie muss ja sich selbst und ihren Sohn ernähren, muss die Miete für den schäbigen Wohnwagen zahlen. Wichtiger noch: Sie weiß, dass der Sohn ihre Augenkrankheit geerbt hat. Doch bei ihm wäre durch eine teure Operation noch etwas zu retten. Dafür schuftet sie, dafür spart sie und versteckt das Geld in einer Keksdose im Küchenschrank.

Beim bunten Musical den Alltag vergessen

Ihr einziger Trost sind die abendlichen Musicalproben eines Amateurtrüppchens. Da spielt sie endlich mal eine tragende Rolle. Und sie phantasiert immer wieder Szenen des grauen Alltags zu großen bunten Musical-Auftritten um: Auf einmal tanzen – hinreißend gefilmt, perfekt geschnitten – alle Fabrik-Arbeiter im Rhythmus der Maschinen. Doch eines Tages sieht Selma so schlecht, dass sie sich auf der kleinen Bühne nicht mehr zurechtfindet. Schluss mit Gesang und Tanz, mit himmelwärts schwebenden Tönen. Es ist zum Heulen.

Außerdem betritt nun der Leibhaftige die Szenerie – in Gestalt ihres Vermieters, eines verdrucksten Polizisten. Weil er das Luxusleben seiner Frau nicht mehr bezahlen kann, stiehlt er heimtückisch Selmas Spardose und somit den Hort ihrer Hoffnung. Überdies kehrt er den Spieß um und beschuldigt Selma so ungeheuerlich, dass sie sich zu einer wahnsinnigen Bluttat hinreißen lässt: Aufschrei der gequälten Kreatur, Riss in der ganzen Welt! Diese Szenen treffen einen wie Hammerschläge.

Eine haltlos taumelnde Handkamera

Dass sich Lars von Trier einmal mehr der wackligen Handkamera nach Art der „Dogma“-Filme bedient, hat man in aller Atemlosigkeit längst vergessen – mehr noch: Dieser rohe Stil passt so genau zur Geschichte, dass er die Wirkung steigert. Haltlos taumelt die Kamera durch den Abgrund zwischen den Menschen.

Nun erleben wir ein Gerichtsdrama: So perfide wird die des Mordes bezichtigte Exil-Tschechin als hinterlistige „Kommunistin“ verunglimpft, dass man am liebsten laut protestieren möchte. Doch natürlich lautet das Urteil der Jury: schuldig!

Nachdem der Pflichtverteidiger versagt hat, will ein anderer Advokat sie noch aus der Todeszelle retten – für viel Geld. Doch ihre Entscheidung steht fest: Lieber den Augenarzt für den Sohn bezahlen als den eigenen Anwalt…

Jeder ihrer 107 Schritte zum Galgen wird am Ende schmerzlich zelebriert. Eine lodernde Anklage gegen die Todesstrafe und ihre dumpfen Verfechter.




Sie meinen es ja so gut mit den Autoren – Über Sigrid Löfflers neue Zeitschrift „Literaturen“

Von Bernd Berke

Wenn Sigrid Löffler, nach all dem hässlichen Zank mit Marcel Reich-Ranicki, eine neue Zeitschrift herausbringt – na, da heißt es doch für die meisten Literaturfreunde: Nichts wie hin zum Zeitschriften-Laden! Aber lohnt es sich auch?

Am Dortmunder Hauptbahnhof gab’s das neue Produkt „Literaturen“, das seit gestern mit einer Startauflage von 70 000 Exemplaren offiziell auf dem Markt ist, schon am Vorabend. Nur: Die Verkäufer selbst wussten noch gar nichts von ihrem neuen Angebot, das schier unterzugehen droht im Wust der tausend bunten Spezial-Postillen.

Farbig kommt „Literaturen“ nicht daher, sondern es ist (offenbar ganz bewusst) im meist angenehmen, gelegentlich aber doch etwas kargen Schwarzweiß gehalten. Das Titelbild ist kläglich misslungen, das Layout im Heftinneren höchst konventionell, hie und da auch etwas fade geraten. Es gibt schon mal längere bildlose Textstrecken. Doch das kann sich eine Literaturzeitschrift wohl erlauben. Wollte man alle Beiträge auf den 152 Seiten (12 DM) lesen, so brauchte man schätzungsweise die gleiche Zeit wie für ein Buch mittleren Umfangs. Für diesen Aufwand darf man einen Gegenwert verlangen.

Zu den Inhalten also: Mit ausgesprochen populärer Schreibe hält sich „Literaturen“ nicht lange auf. Eher verschämt wird ganz hinten im Heft der Rummel um „Harry Potter“ abgetan, anhand eines Blicks auf die New Yorker Sellerlisten. Stephen King & Co. dürften hier keine weitere Heimstatt finden. Richtig so! Noch ein Trallala-Magazin zur Bestselleritis brauchen wir gewiss nicht.

Auf der Suche nach herzhaften Verrissen

Als solide Themenschwerpunkte dienen das Buchmesse-Gastland Polen sowie „Die Erfindung des Ostens“. Hierbei geht man von folgender Annahme aus: Der Westen habe den Osten auch gedanklich und literarisch „kolonisiert“, habe ihm seine Ideen aufgepfropft, nehme ihn also gar nicht recht wahr. Derlei falsches Bewusstsein soll natürlich aufgeweicht werden. „Osten“‚bedeutet übrigens nicht nur neue Bundesländer und Osteuropa, sondern auch Naher Osten. Da lässt sich ein Interview mit der Frankfurter Friedenspreisträgerin Assia Djebar (Algerien) gleich günstig mit unterbringen.

„Unter den Autoren der Zeitschrift finden sich einige der „üblichen Verdächtigen“ (Jan Philipp Reemtsma, Verena Auffermann, Ruth Klüger, Hubert Winkels), aber auch etliche Unbekannte. Sigrid Löffler. die als „verantwortliche Redakteurin“ firmiert, steuert einen längeren Essay über den Romancier Michael Ondaatje („Der englische Patient“) bei.Sie hat ihn in Kanada besucht. Eine schöne Dienstreise, ein kluger Text.

Gern Spaziergänge mit Schriftstellern

Besuche bei und Spaziergänge mit Schriftstellern (z. B. Durs Grünbein und Daniel Pennac, der eilfertig als „Kultautor“ gepriesen wird) scheinen eine bevorzugte Art der Annäherung zu sein. Überhaupt nähert sich das Blatt der Literatur und deren Urhebern mit Respekt. Einverstanden. Doch sie mögen offenbar überhaupt niemanden (auch nicht die Anzeigenkunden aus der Buchbranche) verprellen. Effekt: Unter den vielen Besprechungen, die auch in Sammel-Rubriken („Journal“, „kurz & bündig“) zusammengefasst werden, überwiegen bei weitem die Empfehlungen. Herzhafte, süffig formulierte „Verrisse“ sind“ hier kaum zu finden. Vielleicht ein Kontrastprogramm zum oft gnadenlosen Reich-Ranicki und dem „Literarischen Quartett“?

Wer in der Werbung „streitbare und meinungsfrohe“ Rezensionen verspricht, sollte allerdings nicht nur einen ordentlichen Überblick, sondern mehr Orientierung bieten. Was fängt man mit lauter positiven Kritiken an? Da stellt sich am Ende der Frust ein, aus Zeitgründen fast alle wichtigen Bücher zu versäumen.

 




Woran die stärksten Frauen scheitern mussten – Jürgen Bosse inszeniert Schillers „Maria Stuart“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Das soll Maria Stuart sein? Mit kahl geschorenem Haupte betritt sie die Essener Schauspielbühne. Schottlands Königin, die in Friedrich Schillers Drama als Schönheit sondergleichen gepriesen wird, sieht aus wie eine blasse Büßerin in Sack und Asche.

Doch sobald die junge Darstellerin Sabine Osthoff in Jürgen Bosses Inszenierung zu sprechen anhebt, weiß man’s besser: Nicht bußfertig, sondern so selbstgewiss und fordernd klingt ihre rasche Rede, als stehe sie auf feministischen Barrikaden. Aber derlei „Möblierung“ gibt’s in Wolf Münzners kargem, sehr spieldienlichem Bühnenbild nicht.

Mit Maria verglichen, wirkt Englands Regentin Elisabeth (höchst differenziert: Heike Trinker) geradezu sanftmütig, nachdenklich – und damenhaft elegant. Gleichsam als moderne Business-Frau hat sie auch seelische Kältezonen. Dass sie am liebsten jungfräuliche Amazone bliebe, möchte man ihr trotzdem (und trotz eines kraftvollen Bogenschusses) kaum glauben.

Aus Angst vor Volksaufruhr und königlich-weiblicher Konkurrenz hält Elisabeth jene Maria in England schmählich gefangen. Doch sie wirkt hier keineswegs harscher als ihre so mutwillige Widersacherin. Das gilt selbst für die zentrale Szene, die Begegnung der beiden Monarchinnen. Auch der feuerköpfige Mortimer (Benjamin Morik), der Maria aus dem Kerker befreien will, kommt anders daher als sonst. Zwischen all den steifen Staatsräten Englands (besonders imposant: Berthold Toetzke als Burleigh) tollt er in kurzen Hosen hemm und entfacht als wirrer Heißsporn eine Hektik, die mehr und mehr auch komische Züge trägt.

Ungemein rasch gesprochener Text

Apropos Hektik: Man hat zwar in Essen einige Rollen gegen den Strich besetzt, spielt jedoch den Text getreulich nach. Aber in welcher Eile! Hätte man sich doch nur dreieinhalb statt drei Stunden Aufführungsdauer gegönnt, so hätte man Sinn- und Denkpausen setzen können. Man sollte Schillers wunderbare Verse sorgsamer gliedern. Die Inszenierung hat also gewisse Schwachpunkte. Dennoch kommen die Qualitäten der Vorlage zur Geltung: Es ist und bleibt eben schlichtweg genial, wie Schiller die Wechselwirkungen hoher Staatspolitik, religiöser Gegensätze (Elisabeth ist anglikanisch, Maria katholisch) und erotischer Rivalitäten im Intrigenspiel verflochten hat. Das Drama von 1800 ist spannend bis auf den heutigen Tag.

Man ahnt ja auch den redlichen, durchaus tragfähigen Ansatz der Regie: Offenbar will Jürgen Bosse Möglichkeiten weiblicher Autonomie unter patriarchalischen Verhältnissen, im letztlich doch von Männern beherrschten Polit-Getriebe erkunden. Und so erscheinen Maria und Elisabeth wie zwei widerstreitende Seelen in einer vom selben Zwang beengten Brust. Man kann sich ungefähr ausmalen, wie stark die zwei Frauen gemeinsam wären. Zumindest in diesem (historischen) Kontext scheinen sie aber beide zum Scheitern verurteilt. Wenn das keine Tragödie ist…

Am Ende, nach Marias Hinrichtung, schwankt Elisabeth im golden schimmernden Kleide auf ihren Thron. Von allen Ratgebern verlassen, sitzt sie ganz einsam im langsam verlöschenden Licht. Ein wirklich einprägsames Schlussbild.

Termine: 23., 24. Sep. / 8., 14., 29. Okt. Karten: 0201/8122-200




Die Evolution frisst ihre Kinder – Nicky Silvers Horror-Comedy „Fette Männer im Rock“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die blonde Tussi im Kostüm beklagt sich, als wär’s mit der Pauschalreise nicht so recht gelaufen: Nein, ach nein, Strände habe sie noch nie leiden können. Der ganze Sand in Strümpfen und Schuhen…

Diese Phyllis (Harriet Kracht) und ihr debiler, anfangs immerzu stotternder Sohn Bishop (Sebastian von Koch) sind als einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes auf einer Insel gestrandet. Als Bishop seinen ersten Hunger mit Muttis Lippenstift gestillt hat, darf er die verblichenen Fluggäste tranchieren. Mit dem Unterarm einer Nonne fängt’s an, hernach ist es auch schon mal ein Baby, das er kannibalisch vertilgt und dessen Hirnschale er mit dem Trinkhalm ausschlürft. Hier fragt man sich denn doch beklommen, wohin sich das Theater treiben lässt.

Nicky Silvers Farce „Fette Männer im Rock“ erspart einem aber auch nichts. In der Dortmunder Studio-Aufführung (Regie: Hermann Schmidt-Rahmer) erleben wir eine schrille Horror-Comedy. Immer wieder gleiten jedoch Schatten und Irrlichter des Traumes über die Szenerie, so dass dies alles als monströse Kopfgeburt kenntlich wird, womöglich ausgebrütet in der Phantasie eines früh vom Vater vernachlässigten Kindes. Mal überlappen sich die Zeitebenen und Figuren, mal gleiten sie mit Spiegeleffekten aneinander vorbei – just wie im (Alb)-Traum.

Die Personen sind nicht mehr fest umrissen, sind nur noch Wiedergänger ihrer selbst, Attacke und Selbstaufgabe fließen ineinander. Auch bodenloser Unernst und jähes Erschrecken changieren hier, zuweilen bewusst bonbonkitschig verknüpft.

Jener besagte Vater (Sébastien Jacobi), blasiert-cooler Kinoregisseur, tut’s unterdessen mit einem durchgeknallten Pornofilm-Starlet (Sandra von Kiedrowski), das zwischen den paar verbliebenen Optionen des Lebens zuckt, als seien es Stromstöße. Frau und Sohn werden das Flugunglück ja wohl nicht überlebt haben, oder? Doch!

Nach Jahren kehren die zwei zurück, nun flackert das Urzeit-Lagerfeuer mitten im Wohnzimmer. Sohn Bishop, längst verwilderter „Wolfsjunge“ und durch nichts mehr aufzuhalten, besorgt der Mutter haufenweise die ersehnten Schuhe – von Leuten, die sie „nicht freiwillig hergeben“. Sodann schlachtet er den Vater, dessen schwangere Gespielin und wohl auch die inzestuös begehrte Mutter ab. Das hysterische Nach-Spiel in einer Psychiatrie lässt alles vollends kollabieren. Wer Arzt ist und wer Patient, kann man allenfalls noch daran erkennen, ob der Kittel vorn oder hinten zugeknöpft wird. Am Ende ertönt nur noch das Geschrei der Affen…

Umkehrung der Evolution also. Unterm dünnen Anstrich der Zivilisation bricht die rohe Kreatur hervor – wie für alle restlichen Zeiten. Wir müssen keine Kriegsgebiete nennen, um derlei Befürchtungen in der Realität zu verankern. Und wir müssen keine bestimmten Medien oder Geiselnahme-Talkshows zitieren, um zu ahnen, dass Grausamkeiten konsumierbar zugerichtet werden. Silvers Stück ist gar nicht so haltlos, wie es zunächst scheinen mag.

Die Inszenierung wandelt gelegentlich auf dem Grat, letztlich ödes Nur-noch-Chaos zu produzieren. Doch das Darsteller-Quartett, allen voran Sebastian von Koch als Mutant des abgründig Bösen, spielt zuweilen so schockierend angriffslustig, dass man die Stätte der Kultur am Ende keineswegs nur amüsiert, sondern angefüllt mit wirren Ängsten und Aggressionen verlassen mag. Ob solche Gefühle wohl fruchten?

Termine: 22., 30. September. Karten: 0231/502 72 22.




Als die Zukunft brodelte – Wuppertaler Ausstellung aus dem Umkreis der russischen „Futuristen“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit grell bemalten Gesichtern und in wallenden Phantasie-Gewändern zogen sie durch Moskau oder St. Petersburg. Manche trugen auch schrille gelbe Brillen zur Schau. Wenn sie sich zu Gruppen vereinten, nannten sie sich beispielsweise „Karo Bube“ oder „Eselsschwanz“.

Etwas verrückte „Szenen“ gab es eben schon lange vor unserer Zeit. Besagte Leute waren russische Künstler, Musiker und Dichter um 1910. Mit dem Furor der Jugend forderten sie, die gesamte bisherige, „von Ratten zerfressene“ Kultur müsse erneuert werden. Ganz und gar der Zukunft zugewandt, verstanden sie sich als „Futuristen“ – ein Wort, das in Italien erst später aufkam.

„Die Russen sind da“, verkündet ein großes Transparent vor dem Eingang. Fast klingt’s wie eine Reminiszenz an Ängste aus dem Kalten Krieg. Doch das Wuppertaler Von der Heydt-Museum zeigt nur einen Querschnitt durch das russische Kunst-Schaffen jener bewegten Zeiten nach 1900. Die 155 Werke von 33 Urhebern, vornehmlich aus St. Petersburg geliehen und in dieser Fülle bei uns noch nie gezeigt, fasern freilich im Verbund mit Gebrauchs- und Textilkunst zu einer verwirrenden stilistischen Vielfalt aus. Das Wort „Futuristen“ dient hier nur noch als notdürftige Klammer und umfasst alle, die damals nach vorn schauten.

Keine Verherrlichung des Krieges

Die Namen der meisten Künstler sind bei uns unbekannt. Selbst in ihrer Heimat, wo Stalin sie in den 30er Jahren drangsalierte, sind sie weithin vergessen. Während Italiens Futuristen um den Manifest-Autor Marinetti sich generell an Dynamik berauschten (sei es in Gestalt von Rennautos, brodelnden Großstädten oder Kriegsgetümmel), begriffen die Kunstler aus den weiten russischen Landen den Krieg nicht als stählernes Reinigungsbad. Natalija Gontscharowa ließ auf einer Lithographie von 1914 gar Engel eingreifen, um bedrohliche Flugzeuge am Himmel aufzuhalten…

Auch priesen die Russen die Metropolen keineswegs als einzig wahre Gär-Stätten der Moderne. Ländliche Motive, allerdings formal aufgefächert oder aufgesplittert, kommen hier häufig vor. Wurzeln in der Volkskunst sind unverkennbar, doch zeitgemäße Impulse aus Expressionismus oder Kubismus ließen eine arglose Weltsicht nicht mehr zu. Auch Bauern und Pferde werden vom Gewitter der Formzertrümmerung erfasst.

Das Neue ersehnen oder vor seiner Gewalt erzittern

Einen gewissen Schwerpunkt der Schau bilden Arbeiten von David Burliuk (1882-1967), der zu Beginn des Jahrhunderts an Ausstellungen beim „Blauen Reiter“ in München beteiligt war. Künstlerische Eigenkraft mag man ihm nur bedingt zusprechen. Beflügelt von allgemeiner Aufbruchstimmung, wirken seine in Werke noch vielversprechend, doch später verlieren sie sich in knatschbunt kolorierter Gefälligkeit. Derlei ästhetische Sinkflüge oder gar Abstürze werden in Wuppertal reichlich, wenn auch summarisch (dicht gehängt) abgehandelt.

Doch es finden sich auch etliche Bilder, die seinerzeit als wild empfunden wurden und heute noch beträchtliche Energie ausstrahlen. Einige der stärksten Beiträge stammen von Frauen: Die erwähnte Gontscharowa hat mit dem rasanten „Radfahrer“ (1913) gar eine der Ikonen der Jahrhundert-Frühe gemalt. Elena Guros „Frau mit Tuch“ (1910) ist in kühner Ausschnittwahl und riskanter Farbgebung eines der originellsten Bilder der gesamten Auswahl. Die kubistischen Formfindungen der Vorjahren in Köln schon eingehend vorgestellten Ljubow Popowa halten jeden Vergleich aus.

Höchst einprägsam ist auch Pavel N. Filonows Großformat „Umwandlung des Menschen“ (1914/15). Es handelt natürlich noch nicht von Gentechnik, wohl aber vom seelisch-körperlichen Elend des Proletariats in den wuchernden Städten. Diese Menschen erzittern geradezu vor ragenden Hochhäusern und überhaupt vor der Gewalt des Neuen. Ein erschütternder Blick auf die Kehrseite der Zukunft.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 17. September bis 26. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Was Experten entgeht oder: Blinde Flecken der Kulturgeschichte

Von Bernd Berke

Über Kulturgrößen wie den Komponisten Hanns Eisler, der viel mit Brecht zusammengearbeitet hat, und den Wiener Chansonnier Georg Kreisler („Tauben vergiften im Park“) gibt es jede Menge Literatur – und erst recht über Charlie Chaplin. Aber eine Kleinigkeit hat bisher gefehlt.

Denn manchmal entgehen auch den fleißigsten Deutern und Biographen interessante Details. Die werden dann – beispielsweise – von einer WR-Leserin aus Unna entdeckt. Wir reichen sie nun weltexklusiv weiter. Allein durch intensive Lektüre und Kombinationsgabe hat Tanja Krienen (43) eine Querverbindung zwischen den genannten Namen ziehen können, die bislang offenbar von allen Autoren übersehen worden ist: Eisler und Kreisler (seinerzeit beide im US-Exil) haben gemeinsam für die Musik zu Chaplins Frauenmörder-Film „Monsieur Verdoux“ (1946) gesorgt.

Gewiss: Diese Erkenntnis wird die Welt nicht umstoßen. Doch immerhin hat Kreisler selbst das hübsche Aperçu der Kulturgeschichte brieflich bestätigt, und Eisler-Biograph Jürgen Schebera will es in die nächste Auflage seines Buches einfließen lassen.

Tanja Krienen ist keine Frau vom Fach, keine Filmkundlerin oder dergleichen. Früher arbeitete sie als Erzieherin mit sozial auffälligen Kindern, heute hilft sie, die Firma ihres Mannes zu organisieren. Doch sie liest viel, veranstaltet auch schon mal – nahezu kurios – Nietzsche-Gedenklesungen in Spanien und kennt sich eben hie und da aus. Vorteil solcher Amateur-Forscher(innen): Sie sind nicht mit Fachblindheit geschlagen, sind offen für neue Fragen. Und wenn sie auch noch ein gutes Gedächtnis haben…

Den Ablauf der Episode mit Chaplin, Eisler und Kreisler muss man sich so vorstellen: Im Film gibt es einige Szenen, in denen Chaplin Klavier spielt. Zitat aus Kreislers Brief an Tan ja Krienen: „Dabei spielte er natürlich nicht wirklich, sondern damals wurde das noch so gemacht, dass ein im Film nicht zu sehendes Klavier für mich aufgestellt wurde, und ich spielte die betreffenden Passagen und behielt dabei die Bewegungen Chaplins im Auge“.

Zweite Aufgabe für Kreisler: Chaplin pfiff ihm Melodien vor, die Kreisler in Notenschrift festhielt. Mit diesen Blättern ging er dann zu Hanns Eisler, der Orchestermusik daraus machte. Kreisler, damals 23 Jahre jung, fungierte als musikalischer Bote. Noch heute rätselt er: „Ich weiß nicht, warum Eisler nicht selbst ins Studio zu Chaplin kam, möglicherweise war ihm der Weg zu weit.“ Jedenfalls tauchte weder der eine noch der andere Musikername im Film-Nachspann auf. Die Vertonung galt damals als untergeordnete Tätigkeit.

Es war also ein ziemlich folgenloser Berührungspunkt dreier sehr unterschiedlicher Künstler. Einflüsse im Werk sind nicht einmal beim damals noch prägsamen Kreisler vorhanden. Von Eisler, der später auch die DDR-Hymne („Auferstanden aus Ruinen“) komponierte und dem Weltstar Chaplin ganz zu schweigen. Sie werden den kleinen Vorfall bald vergessen haben.

Aber so kann’s gehen, selbst wenn sich ganz erlauchte Geister treffen: Man weiss, dass die beiden vielleicht größten Romanautoren des 20. Jahrhunderts, Marcel Proust und James Joyce, einander ein einziges Mal begegnet sind. Welch ein funkelnder Dialog über Literatur und Leben hätte daraus werden können! Doch die beiden Genies wussten – bis auf ein paar höfliche Floskeln – einander gar nichts zu sagen. Und wie nennen wir solche fruchtlosen Begebenheiten? Vielleicht sind es die „blinden Flecken“ der Kulturhistorie.

 




Picassos neue Heimat liegt mitten in Westfalen – In Münster eröffnet ein erstaunliches Museum mit rund 800 Lithographien

Von Bernd Berke

Zeit für ein kleines Städtequiz. Wir nennen die klingenden Namen Barcelona, Paris und Antibes in Südfrankreich. Frage: Welcher Ort gehört noch in diese Reihe?

Seit gestern: Münster. Denn hier gibt es jetzt das weltweit vierte Museum, das ausschließlich dem Werk des Pablo Picasso (1881-1973) gewidmet ist. Rund 800 Picasso-Lithographien („Steindrucke“) nennt das schmucke neue Doppelhaus im Druffelschen Hof und dem benachbarten Hensenbau sein Eigen.

Damit besitzt man nahezu Picassos Gesamtwerk in dieser Technik. Nur etwa zehn bis zwölf weitere Arbeiten dürften noch irgendwo auf dem Markt herumgeistern – zu handelsüblichen Preisen zwischen 1000 und 200.000 Mark pro Stück. Natürlich hortet Münster die Blätter nicht exklusiv, denn Picasso hat seine Lithographien meist in Auflagen um 50 Exemplare herstellen lassen. Auch ist in Antibes, direkt an der Côte d’Azur, das Ambiente noch eine Spur grandioser. Doch wir wollen nicht meckern. Im Gegenteil.

Gestern konnte man sich beim ersten Rundgang staunend überzeugen: In einem relativ kurzen „Litho-Rausch“ (etwa von 1945 bis 1950) hat Picasso weite Sektoren seines ungeheuren Themenkreises auch beim Stein- und Zinkplatten-Druck ausgeschritten.

Warum die Frau grüne Haare hat

Man kennt die Grundmotive und freut sich immer wieder über die Vielfalt, die der Meister ihnen abgewann: Figuren aus Mythos und Bibel, Stiere, Gaukler, Faune; und besonders Frauen, Frauen, Frauen. Denn Picasso hatte – ähemm! – nicht nur einen hohen „Verbrauch“ an Farbe, Leinwand und Papier…

Eine der schönsten Serien heißt „Frau mit grünem Haar“ (1943). Der ewige Konkurrent Matisse hatte Picassos Gefährtin Françoise Gilot gesehen und verzückt gemeint, man müsse die Süße unbedingt mit grüner Frisur abbilden. Der lüsterne Wunsch weckte Picassos häufig lodernde Eifersucht, und sogleich setzte er den Gedanken selbst in die Tat um, bevor es der Rivale tun konnte. Picasso stellte das Antlitz der Gilot durchweg frontal dar, die nicht minder schöne Jacqueline Roque zeigte er stets im Profil. Das Wissen des Eroberers: Die eine wirkt so, die andere so am besten.

Oft ist dasselbe Motiv in verschiedensten (Zwischen)-Zuständen zu bewundern, man kann die feinen Abstufungen miteinander vergleichen. Es ist, als blicke man direkt in die Werkstatt Picassos: Fehlte nur noch, dass er selbst um die Ecke biegt und sich an die alte Druckmaschine begibt, die hier gleichfalls zu sehen ist. Immerhin: Sein Sohn Claude war gestern wirklich da.

Zur Eröffnung präsentiert man 210 Arbeiten. Nach und nach soll (durch „Rotation“ im Viermonats-Rhythmus) die gesamte Kollektion vorgestellt werden. Größtenteils ist sie dem heute 72-jährigen Gert Huizinga aus Lengerich zu verdanken. In den 50ern freundete er sich mit Picassos Lieblings-Drucker Mourlot an, erwarb immer mehr Blätter und hütete sie lange daheim. Schließlich wuchs ihm das Ganze über Kopf und Dach, so dass er alle Schätze in eine Stiftung einbrachte, die nun von drei großen westfälischen Finanz-Dienstleistern getragen wird. Nicht immer wird Banken-Geld so gut angelegt.

Graphikmuseum Pablo Picasso, Münster, Königsstraße 5. Geöffnet ab Sonntag, 10. Sept.: Di-So 10-18, So 11-17 Uhr (Immer nur 100 Besucher auf einmal. Unbedingt erkundigen: Tel. 0251/41 447-0). Eintritt 9 DM. Bestandskatalog 59 DM.

 




Mario Adorf – einfach denkmalwürdig / Zum 70. Geburtstag des großen Schauspielers

Von Bernd Berke

Diese gedrungene Statur. Dieser dunkel funkelnde Blick unter buschigen Augenbrauen. Die sprungbereite Gefährlichkeit, die sich hinter Leutseligkeit so täuschend verbergen kann. Bei ihm kann das Böse furchtbar charmant und der Charme abgründig böse sein.

Für harmlose Rollen ist er nicht geschaffen. Und so hat Mario Adorf, der heute 70 Jahre alt wird, im Laufe seines Schauspielerlebens denn auch allem die Schattierungen des Gangster- und Ganoventums verkörpert; vom debilen Triebtäter bis zum ehrenwerten Herren im edlen Zwirn. mte: Seinen

Kino-Durchbruch hatte er 1957 in Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ – als geistesgestörter Serienmörder. Pfiffige Spielart: 1959 war er der helle Kopf einer Jugendbande in „Am Tag als der Regen kam“. Gar viele Facetten kamen mit den Jahren hinzu. Wie sagt man in derlei Fällen: Er ist mit allen Wassern gewaschen…

Dem altväterlichen Kino den Mief ausgetrieben

Adorf zählte zu den ganz wenigen, die dem altväterlichen deutschen Kino der 50er Jahre den Mief ausgetrieben haben. Ein Kraftkerl seiner Klasse konnte es mit dem Zeitgeist der Adenauer-Ära aufnehmen. So wie Bernhard Wicki als Melancholiker quer zur Mehrheits-Mentalität stand, so Adorf als listiger, frecher, sturzvitaler Herausforderer. Denkmalwürdig.

Seine ungeheure, nuanciert wandelbare Präsenz reichte für mehrere Karrieren. Selbst in weniger ambitionierten Produktionen der 60er- und 70er-Jahre (Karl May, Italo-Western, Mafia-Thriller) merkte man auf, sobald er die Bildfläche betrat. Auch wenn er ein Klischee bediente, war er zugleich dessen Verneinung.

Rollen bei Schlöndorff, Fassbinder und Billy Wilder

Eine derartige Ausnahme-Erscheinung durfte auch den Regisseuren des „Jungen deutschen Films“ nicht entgehen: In Schlöndorffs Böll-Verfilmung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ spielte Adorf einen zwielichtigen Kommissar, Fassbinder holte ihn als brachialen Baulöwen (Adorf über die Rolle: „ein sympathisches Schwein“) für „Lola“, und in Schlöndorffs Oscar-gekrönter Grass-Adaption „Die Blechtrommel“ war er der Vater Matzerath. Überdies wurde Adorf von Billy Wilder („Fedora“), Sam Peckinpah („Major Dundee“) und Claude Chabrol („Stille Tage in Clichy“) geschätzt. Doch mit Hollywood kam er nicht zurecht: „Wäre ich dort geblieben, hätte ich ewig den Mexikaner spielen müssen“.

Schließlich die bärenstarken Fernsehrollen. Nie war Heimkino schöner als mit diesen satirisch angehauchten Dramen, die unsere geldlüsterne Gesellschaft herrlich auf den Begriff brachten. Bestimmt kein Zufall, dass Adorf in einigen der besten TV-Produktionen der letzten Jahrzehnte mitgewirkt hat, auch als Komödiant von hohen Gnaden.

Unvergessliche Momente in „Kir Royal“ 

Mit diebischen Freude erinnern wir uns an den Kaufhauskönig in Dieter Wedels „Der große Bellheim“ (1992), an den Gangster-Paten beim selben Regisseur in  „Der Schattenmann“ (1996). Einen „Mittelpunktschauspieler“ hat ihn Helmut Dietl genannt. Wahrhaftig: Wer wird je den furiosen Moment vergessen, wenn Adorf in Dietls Serie „Kir Royal“ (1986) auf die Szene stampft: „Ich scheiß euch alle zu mit meinem Geld!“ So sprach der rheinische Klebstoff-Fabrikant Heinrich Haffenloher, der sich den Zugang zur Schickeria erkaufen wollte. Daneben verblassten sogar Franz Xaver Kroetz, Senta Berger und Ruth-Maria Kubitschek ein wenig.

Sein Rüstzeug hat Adorf, der in Zürich geboren wurde und in Mayen (Eifel) als uneheliches Kind bei der Mutter aufwuchs, am Theater erworben: 1953 besuchte er die Otto-Falckenberg-SchuIe, von 1954 bis 1960 gehörte er zum Ensemble der Münchner Kammerspiele.

Und nun können wir es kaum noch erwarten, Adorf als gewieften Hamburger Senator in Dieter Wedels ZDF-Sechsteiler „Die Affäre Semmeling“ zu sehen. Dreht schneller, Leute!




Wenn der Alltag ganz leise ins Rutschen gerät – Udo Scheel und seine rätselhaften Bilder-Choreographien in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer mit Udo Scheel durch seine neue Recklinghäuser Ausstellung geht, bekommt eine Lehrstunde über Sinnen und Trachten der Kunst gleich gratis hinzu.

Ganz geläufig (und sympathisch selbstironisch) parliert der 60-Jährige über seine Bilder und die kunsthistorischen Beweggründe. Immerzu hat er passende Beispiele aus Geist und Geschichte parat – von Malern wie Giotto oder Tintoretto bis zu erlesenen Literaten wie Victor Hugo oder Robert Walser. Scheel ist nicht nur ein bildender Künstler, sondern auch noch ein gebildeter.

Die Auswahl in der Recklinghäuser Kunsthalle bewegt sich zwischen zwei Extremen: Gezeigt weiden ungeheuer große und ganz kleine, sozusagen handliche Bilder. Seit Scheel seinen Lebensmittelpunkt von Münster nach Berlin verlegte und im dortigen Atelier. einen Rundum-Blick auf die Hauptstadt genießt, arbeitet er vorzugsweise an großformatigen Panoramen.

Vor den weiten, bogenförmigen Horizonten blitzen flüchtige Eindrücke aus Stadtgängen auf, verstreute Erinnerungs-Splitter eines allzeit neugierigen Flaneurs. Doch es bleibt nicht beim vermeintlich privaten Kopftheater. Oft erweitert sich die Szenerie, gleichsam durch malerische „Grabungen“, zum vieldimensionalen Geschichts- und Geschichten-Raum.

Hier schlägt der einsame Golfspieler seinen Ball, dort hängen ein paar Herren kopfüber ins Bodenlose, doch gleich daneben begeben sich malerische, ungegenständliche Farb-Ereignisse. Bemerkenswert, wie einer dies alles sinnfällig und formbewusst in ein Bildgefüge bringt und Widersprüche versöhnt. Verkehrte Welt, jedoch im Leinwand-Geviert gebändigt.

Scheel malt stets aus dem Gedächtnis, niemals nach Vorlagen. Wohl gerade deshalb schleichen sich gewisse Versatzstücke immer wieder ein: seltsam geformte Vasen, möhrensüchtige Hasen, Zähne fletschende Hunde oder auch monströs verlängerte rote Krawatten. Vollends erstaunlich: In den Randzonen etlicher Bilder prangen allerlei Schreibtischlampen. Eine spezielle Besessenheit, eine fetischistische Spielart gar?

Vor allem die Kleinformate, dicht an dicht gehängt fast wie Cartoons, haben einigen Witz. Es sind vielgliedrige Rätselbilder, freundliche kleine Attacken auf bürgerliche Gemütlichkeit, nervös tänzelnde Choreographien grassierender Neurosen. All das ist ersichtlich dem normal verrückten Alltag entnommen und hebt doch schräg von ihm ab. Sogar ein Bügeleisen schlittert – einem soeben getauften Schiffsriesen gleich – vom Bügelbrett herab, als befinde sich auf dem Fußboden das Meer. Auch vieles andere steht buchstäblich auf der Kippe: Besonders die Verhältnisse zwischen Mann und Frau changieren zwischen Sehnsucht, Gier und Gewalt, Poesie und Pein.

Einige Szenen scheinen sogar auf mögliche Kriminal- oder Schauergeschichten hinzudeuten, doch mörderisch geht es eben nicht zu. Bizarre Vorgänge werden zwar ins Auge gefasst, aber letztlich eher milde und nachsichtig lächelnd betrachtet. So oder so ist das Leben, nehmt’s doch nicht gar zu schwer…

Udo Scheel. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 15. Oktober. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 30 DM.




Und immer wogt das Werk – Jörg Immendorffs wechselhafte Bilderwelten im Dortmunder Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Die entblößte Frau geht an Krücken. Noch dazu balanciert sie auf zwei Kugeln. Doch wenn man sie so sieht, mag man an ein Wunder glauben: Sie wird, wenn auch staksig, vorankommen.

Das Gemälde, dessen Frauenfigur der altdeutschen Welt des Hans Baldung, genannt Grien entlehnt ist, könnte als Sinnbild für weite Teile des Werkes von Jörg Immendorff (55) stehen. Immer wieder scheint dieses insgesamt so imposante Œuvre ins Stocken oder Schlingern, mithin in produktive Unruhe zu geraten. Doch man kann sich darauf verlassen, dass die Pfade nicht in Sackgassen führen; dass irgendwann eine Wende kommen wird, eine Nahtstelle, ein wegweisendes Schlüsselbild – oder gar ein fulminanter Ausbruch des Neuen.

Erst der Pfusch der frühen Jahre, dann immer wieder die Suche, das Kraut-und-Rüben-Chaos, endlich glücklich gefundene, „geschlossene“ Formen: Mit solch beständigen Wechseln und Wogen lässt sich allemal eine lebendige Ausstellung bestreiten, in der jeder Raum (wie Immendorff gestern bemerkte) „seine ganz eigene Temperatur“ hat.

123 Bilder und elf Skulpturen von Immendorff bietet das Dortmunder Ostwall-Museum auf. Der Überblick umfasst alle Werkphasen des Düsseldorfers, der gewiss zu den prominentesten Künstlern der Republik zählt. Mit ansehnlichen 40000 Mark ist denn auch der Preis der Kulturstiftung Dortmund dotiert, den Immendorff heute in Empfang nimmt. Wer hat, der hat.

Rückblende: Anno 1966 hatte Immendorff ein nahezu fertiges Gemälde mit kräftigen Pinselhieben durchkreuzt und darauf geschrieben: „Hört auf zu malen!“ Die Legende besagt, dass in diesem Moment sein Lehrmeister Joseph Beuys das Atelier betreten und „Spitzenbild!“ gerufen habe. Es soll ein Zündfunke gewesen sein: Fortan strebte Immendorff Bilder jenseits der Bild-Gewissheit an, und allzeit kämpften thematische Vorlieben mit rein malerischen Impulsen.

Früher schlug das Herz ganz links: Plakative Bilder in der (freilich halbwegs reflektierten) Nachfolge eines „Sozialistischen Realismus“ bestimmen Immendorffs Kunst-Kurs der 70er Jahre. In Dortmund finden sich einige Beispiele. Ohne zuweilen faule Kompromisse zwischen Bildlichkeit und Schrift kommen sie nicht aus. Heute betrachtet, ist’s knallrote Nostalgie.

In den 80ern wurde Immendorff, zumal mit seiner Bilderserie „Café Deutschland“, zum Seismographen gesamtdeutscher Tendenzen – wie Martin Walser oder Botho Strauß auf literarischem Felde. Ganze Geschichts-Bühnen tun sich in diesen theatralischen Großformaten auf, der Adlerblick des Künstlers stößt meist von oben auf solche Szenerien. Bilder, an deren Vielgestaltigkeit man sich satt schauen könnte.

Ein Hauptaugenmerk der Dortmunder Auswahl gilt indes Immendorffs jüngstem Schaffen. Man wird Zeuge einer Abkehr vom breit ausgespielten erzählerischen Gestus. Es wirkt wie ein Rückzug von historischen Anklängen, wie eine Zurüstung zum Gang ins Elementare. Vielfach wird surreales Formen-Vokabular erkundet, in ganz eigener, souverän zitierender Kombinatorik. Manchmal schnurrt die vordem so reichhaltige Bilderwelt zum Schattenriss zusammen; oder zum ungeheuer rot pulsierenden, organisch blasenhaften Gebilde. Weniger Inhalts-Oberfläche, mehr Tiefe – ein typisch deutscher Zug?

„Immendorff – Bilder“. Museum am Ostwall, Dortmund. Eröffnung Samstag, 2. September, 17 Uhr. Ausstellung 3. Sept. bis 22. Okt. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18 Uhr. Eintritt 4 DM, Katalog 45 DM.