Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.

 




Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.




„Der Mensch entgleitet sich immerzu“ – ein Gespräch mit dem Schriftsteller Dieter Wellershoff

Von Bernd Berke

Frankfurt. Der in Köln lebende Dieter Wellershoff zählt seit Jahrzehnten zu den am meisten beachteten deutschen Autoren. Er hat nicht nur zahlreiche Romane, Novellen und Hörspiele verfasst, sondern ist auch als gewichtiger Theoretiker der Roman-Gattung hervorgetreten.

Am 3. November wird Wellershoff 75 Jahre alt – auch aus diesem Anlass ein Gespräch über seinen neuen Roman „Der Liebeswunsch“, geführt am Buchmessestand seines Verlages Kiepenheuer & Witsch.:

In ersten Kritiken zu Ihrem Buch ist bemerkt worden, es ähnele in gewisser Weise Goethes „Wahlverwandtschaften“: Zwei miteinander befreundete Paare, zwischen denen zunächst ein labiles Gleichgewicht herrscht, das dann durch Treuebruch aus der erotischen Balance gerät.

Dieter Wellershoff: Solch eine Vierer-Dramaturgie gibt es in der Tat auch in den „Wahlverwandtschaften“. Es ist aber auch eine Grundstruktur des Lebens. Goethe sieht eine anonyme Schicksalshaftigkeit walten, eine Art Chemie. Meine Figuren sind zwar auch Getriebene. es sind aber auch Elemente von Wahlfreiheit und Zufall dabei. Mein Roman hatte einen langen Vorlauf. Über anderthalb Jahrzehnte habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, es hat allmählich immer mehr Stoff aufgesaugt. Es begann damit, dass sich eine Frau aus unserem ferneren Bekanntenkreis aus dem Hochhaus gestürzt hat – so wie meine Romanfigur Anja.

Sie ist das Opfer der Vierer-Konstellation…

Wellershoff: Ja. Ich verstehe den Menschen als Lebewesen, das sich immerzu entgleitet – im Gegensatz zum Tier, das immer dasselbe tut, will und fühlt. Deshalb kann sich der Mensch auch in beliebigen Möglichkeiten verlieren. Oder er kann in falschen Notwendigkeiten feststecken, zum Beispiel in einer unglücklichen Ehe. Während der Leser gleich am Anfang weiß, dass Anja sich umgebracht hat und dann erfährt, wie es dazu gekommen ist, machen die Figuren ihre Erfahrungen schrittweise – im „Dunkel des gelebten Augenblicks“, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal gesagt hat.

Sie erzählen abwechselnd aus den Perspektiven Ihrer Figuren. Auf welche Person bezieht sich der Titel „Der Liebeswunsch“? Auf alle?

Wellershoff: So kann man es sehen. Explizit aber nur auf Anja, sie ist abhängig von Emotionen, sie heiratet aus Lebensangst. Sie ist wie eine Leerstelle, Liebe kommt ihr wie die letzte Rettung vor. Von dieser Ausschließlichkeit fühlen sich die anderen bedroht, sie wollen nicht verschlungen werden. Diese anderen haben ja praktischen Lebenserfolg. Anjas Mann Leonhard ist Richter, er wird zum Gerichtspräsidenten befördert. Paul, der ihr Geliebter wird, und seine Frau Marlene sind Ärzte.

Es gab zuvor längere Zeit keinen Roman von Ihnen .

Wellershoff: Der letzte liegt 17 Jahre zurück, ich hatte viele andere Projekte. Mit diesem neuen Roman bin ich übrigens sehr zufrieden. Ich werde in einigen Tagen 75 Jahre alt – und ich glaube nicht, dass man das dem Buch anmerkt. Es ist kein „Alterswerk“ mit den Spuren meines Alters.

Sie kommen bei Ihrem Thema nicht umhin, Sexualität zu schildern.

Wellershoff: Im 19. Jahrhundert hat man diesen Bereich nie dargestellt. Von Henry Miller bis Harold Brodkey ist es dann oft ziemlich rücksichtslos geschildert worden. In Brodkeys Text „Unschuld“ wird über 40 Seiten ein einziger Koitus vorgeführt: Ein Mann bemüht sich, eine frigide Frau zum Orgasmus zu bekommen. Das ist meine Sache nicht. Für mich ist Sexualität kein rein körperlicher Vorgang.




Nächtliche Gespräche mit dem Kühlschrank – Treffen mit Axel Hacke auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Axel Hacke (44) hat mit seinen Büchern und mit Glossen im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ die oft absurden kleinen Katastrophen seines Familienlebens höchst unterhaltsam aufbereitet. Sein „Kleiner Erziehungsberater“ geriet zum heimlichen Bestseller, sein neues Buch heißt: „Ich sag’s euch jetzt zum letzten Mal“.

Hauptfiguren: Ehefrau Paola, Söhnchen Luis (nur die Vornamen hat Hacke erfanden), der Autor selbst und der brummige alte Kühlschrank namens „Bosch“. Die WR traf Axel Hacke am Buchmesse-Stand des Verlages Antje Kunstmann.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Kühlschrank auftreten zu lassen?

Axel Hacke: Nun ja, der ist noch’n bisschen melancholischer als ich – und damit ein guter Gesprächspartner für nachts, wenn man allein in der Küche sitzt und noch ein Bier trinkt. Mit dem kann man auch gut über das Bedrohliche an der ganzen modernen Technik reden. Mit der Konstellation Autor, Frau, Kind und Kühlschrank lässt sich fast das ganze Alltagsleben einfangen. Und das hat offenbar einiges mit dem Alltag meiner Leser zu tun. Ich kriege Briefe, in denen sinngemäß steht: „Wie kommen Sie dazu, aus meinem Leben zu berichten?“

Stimmt es eigentlich, dass Ihr kleiner Sohn im Auto unentwegt und möglichst laut den Titel „Sex Bomb“ von Tom Jones hören will?

Hacke: Oh ja, das Problem hatte ich wirklich, als er vier Jahre alt war. Im Moment ist sein Lieblingslied allerdings „Der Anton aus Tirol“. Wenn Sie das hundert Mal hören müssen…

Man merkt Ihren Texten an, dass Sie es wunderbar finden, einen Sohn zu haben – aber auch, dass Sie oft schrecklich genervt sind.

Hacke: Ich finde es im Grunde toll mit Kindern. Und dann wiederum stören sie einen in dem, was man als Erwachsener zu tun hat. Wenn ich meinen Sohn in den Kindergarten bringe, habe ich’s wahnsinnig eilig. Und dann will er diese Musik nochmal hören! Da kocht es in mir…

Ihre Frau wirkt in den Texten viel gelassener als Sie.

Hacke: Ja, in den Texten schon. Eigentlich hat sich da so eine Art Parallel-Universum für mich aufgebaut. Die Wirklichkeit, aber leicht zur Seite verschoben. Inzwischen laufe ich sozusagen mit dem Notizblock durchs Leben. Manchmal dachte ich schon: Ich recherchiere ja immerzu in meiner Familie herum. Das Gute daran: Inzwischen weiß ich, wenn etwas im Alltag schief geht, kann ich immer noch eine Geschichte daraus machen.

Erzählen Sie uns ein Beispiel?

Hacke: In der Elterngruppe vom Kindergarten gab es einen Öko-Fanatiker, der uns dermaßen als „Wurstesser“ denunziert und gemobbt hat, dass wir die Gruppe notgedrungen verlassen haben. Zunächst war ich ungeheuer wütend. Erst nach einem halben Jahr konnte ich eine Geschichte daraus machen. Erst da war es nicht mehr verkrampft und böse, sondern hatte die Leichtigkeit, auf die es mir ankommt. Diese schöne Distanz.

Die Familie gibt jedenfalls mehr Geschichten her als andere Lebensformen?

Hacke: Ich glaube schon. Mann – Frau, Eltern – Kinder. Das ist von vornherein spannungsreich. Da muss man gar nicht mehr viel hinzu erfinden. Und wenn das Kind dann noch so ein Temperamentsbolzen ist wie mein Sohn…




Ein Rundgang durch das Reich der Zufälle – Buchmesse: Sigrid Löffler, Harry Potter, Beatles und Nobelpreisträger Gao Xingjian

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

Trübes, kühles Wetter in Frankfurt. Ausgesprochenes Bücherwetter. Hinein also in die Hallen der Buchmesse, hin zu den Büchermenschen.

Man muss sich Fix- und Zielpunkte schaffen, sonst droht man schier unterzugehen im Reich der Zufälle, das hier aus 380.000 Titeln besteht. Da trifft es sich, dass Sigrid Löffler (ehemals beim „Literarischen Quartett“) just die zweite Nummer ihrer Zeitschrift „Literaturen“ vorstellt und eine erste Bilanz ihres ehrgeizigen Projekts zieht. Von der ersten Nummer wurden rund 70.000 Exemplare gedruckt, nun sind es bereits 103.000. Buchhandel und Kioske hätten mehr geordert als zuvor, auch die Abo-Zahlen entwickelten sich ordentlich.

Löffler, leicht pikiert über das vielfach skeptische Echo auf die erste Ausgabe: „Viele Leser sind mir lieber als gute Kritiken.“ Trotzdem: Ein paar „Feinjustierungen“ habe man vorgenommen am Konzept, besonders in optischer Hinsicht. Auch den vierten Band von „Harry Potter“ bespricht man jetzt.

Apropos: Man kommt um den Millionen-Seller einfach nicht herum. Am Stand des Hamburger Carlsen-Verlages ist den Mitarbeitern die halbwegs überstandene Hektik rund um die Potter-Mania noch anzumerken. Sie schauen etwas erschöpft, aber glücklich drein. Ja, die erste Auflagen-Million sei restlos abgesetzt, man drucke nun eilends nach, denn es gebe schon 500.000 weitere Vorbestellungen. Nein, die Autorin Joanne K. Rowling werde nicht zur Buchmesse kommen, vielleicht befürchte sie einen gar zu großen Rummel. Nächstes Jahr wahrscheinlich.

Schwerpunkt mit Comics

Lässt man sich durch die Hallen treiben, so hat man den Eindruck, dass Kinder- und Jugendliteratur tatsächlich auffälliger und selbstbewusster präsentiert wird als in den Vorjahren. Vielleicht liegt’s ja auch am Comic-Schwerpunkt, den man kurzerhand mit verbucht, obwohl doch die fanatischsten Sammler gewiss Erwachsene sind, manchmal auch erwachsene Kindsköpfe.

Viele Comics bleiben ewig jung, einige Pop-Gruppen desgleichen: Die „Beatles“ ziehen immer noch – und wie! Ullstein präsentiert großflächig seine opulente „Beatles Anthology“, ein Werk, das wahrlich Besitzwünsche weckt. Bei Heyne hängt man sich mit „Die Beatles – Wie alles begann“ an den Nostalgie-Trend, ein weiterer Verlag hat rasch ein illustriertes Songbook neu aufgelegt. Und das sind nur die Zufallsfunde in Sachen „Fab Four“.

Warum hat die Jugend des Westens Mao verehrt?

Letztes Jahr war’s Günter Grass, diesmal ist es Gao Xingjian, der die Messe mit seiner Anwesenheit schmückt. Es ist doch immer wieder erhebend, einen frisch bestimmtenLiteraturnobelpreisträger leibhaftig zu sehen. Das dachten sich wohl auch die zahllosen Kamerateams und Fotografen der Weltpresse, die gestern den Chinesen in ein wahres Lichtgewitter tauchten. Tatsächlich wirkt Gao, dessen Werke in China strikt verboten sind, schon fast wie ein Europäer, seine Pressekonferenz absolvierte er auf Französisch.

„Comme un miracle“ (wie ein Wunder) sei ihm die Preisvergabe erschienen. Jaja, Gerüchte über Mauscheleien im Preiskomitee habe er „gestern vernommen“, dazu wolle er aber nun wirklich nichts sagen. In Anlehnung an den Polen Witold Gombrowicz, der gleichfalls Im Exil gelebt hat, rief Gao aus: „China – das bin ich.“ Will heißen: Das kommunistische Regime habe alle guten alten chinesischen Traditionen zerstört, er aber wolle sie aufsuchen und aufrecht erhalten.

In Hongkong und Taiwan sei er gelegentlich noch gewesen, doch er habe kaum Hoffnung, jemals das festländische China wieder zu sehen. Maos „so genannte“ Revolution sei „ein Wahnsinn, ein Albtraum“ gewesen. Er, Gao, frage sich bis heute, wieso die Jugend des Westens diesen Mann habe bewundern können. Jaja, vor mehr als dreißig Jahren war es so. Und schon damals sang John Lennon mit den „Beatles“ dagegen an („Revolution“). So schließt sich der Kreis.

Frankfurter Buchmesse: Bis einschl. Freitag für Fachbesucher, Samstag/Sonntag (21. und 22. Oktober) auch für Privatleute. 9-18.30 Uhr, Tageskarte 14 DM. Messekatalog (Buch und CD-Rom) 35 DM.




Das Niemandsland am Ende aller Träume – Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Kreuz und quer über die Bühne verstreut sieht man Scheußlichkeiten der 50er Jahre. Verschlissenes Mobiliar, ärmliche Plastik-Kultur. Ringsum schaut’s aus wie auf einem billigen Campingplatz.

Oder wie auf einem melancholischen Gemälde von Edward Hopper: Rechts verläuft ein Gleis ins Niemandsland, daneben erheben sich dürre Telegrafenmasten. Wahrlich, es ist die „Endstation Sehnsucht“. Hier leben und leiden die unbehausten Figuren aus Tennessee Williams‘ Stuck.

Im Wuppertaler Schauspielhaus (Regle: Paolo Magelli / Bühnenbild: Cary Gayler) begegnen sich die Schwestern Blanche DuBois und Stella anfangs so, als wären, sie wieder die kleinen Mädchen von damals. Sie balgen, sie kichern und kitzeln einander. Doch es ist nur ein Nachklang früherer Spiele. Inzwischen ist ja längst das Erwachsenen-Leben mit all seinen Zumutungen über sie beide hinweg gegangen, gleichsam schweren Schrittes.

Blanche (Eicke Gercken) sucht bei Stella (Patricia Hermes) letzte Zuflucht: Das einstige Familien-Vermögen schwand dahin, vor allem aber hat sie alle Freunde und fast jede Hoffnung auf Liebe verloren. Sie wirft sich nun jedem hin wie eine Hure und ertränkt ihre wachsende Hysterie in Alkohol.

Mechanik statt Magie des Textes

Stella wiederum ist mit Stanley Kowalski (This Maag) nicht nur verheiratet, nein, sie ist ihm verfallen. Dieser Klotz von einem Kerl säuft und pokert unentwegt. Wenn Stella nicht spurt, schlägt er sie grün und blau. Doch ihr Begehren höret nimmer auf. Stanley wirkt hier gar nicht so animalisch, sondern ist einer von der weinerlich-brutalen Sorte, selbst zutiefst vereinsamt; wie denn überhaupt die Wuppertaler Aufführung mehrerlei Einsamkeiten vor uns ausbreitet. Vom gelingenden Leben dürfen all diese Menschen wohl nicht einmal träumen.

Ganz anders als bei Frank Castorf, der dasselbe Stück in Salzburg (und nun in Berlin) herausbrachte und die Vorlage nach eigenem Gutdünken umstülpte, hat die Wuppertaler Inszenierung großen, vielleicht auch allzu großen Respekt vor dem Original. Man wagt kaum, ihn anzutasten, zu raffen oder zu stilisieren. Sie reichen uns den Text sozusagen Zeile für Zeile dar. Doch obwohl man alles breit ausspielt, bleibt der Ertrag merkwürdig schmal. Wir erleben eher die Mechanik als die Magie des Stückes.

Eine gar zerbrechliche Frau

Längen gibt’s ebenfalls: Schier endlos sitzen Stanley und seine Kumpane am Pokertisch, wir dürfen ihnen beim Biertrinken zusehen. Prost! Aber man nimmt sich auch Zeit, peinigende Sprechpausen wirken zu lassen.

Nachdem das anfängliche hektische Getrappel und Geplapper vorüber und die offensichtliche Nervosität abgelegt ist, gewinnt man dem Text einige Nuancen ab. Besonders Eike Gercken als Blanche vermag ihre Figur anrührend darzustellen, es gibt sogar einige inbrünstige Momente.

Sie mimt zunächst die Tapfere, die „eigentlich ganz patente“ Frau. Doch dazu ist sie viel zu zerbrechlich – und schließlich ganz und gar gebrochen. Am Ende hockt sie da als überschminkte, grässlich rosa gekleidete Barbie-Puppe und lässt sich willenlos wegführen – geradewegs in die Psychiatrie. Das schiere Elend in bonbonbunten Mischlicht-Farben. Doppelt betrüblich.