Ein „Sturm“ im üblichen Rahmen – Shakespeares Drama am Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Ganz träge bewegen sich die Gestalten auf dem schlingernden Schiff. Doch allmählich begreifen sie, dass der Kahn unterzugehen droht. Plötzlich wird aus Bräsigkeit helle Panik, es erhebt sich Geschrei, und das Wasser spritzt hoch – bis in die ersten Sitzreihen des Schauspielhauses.

„Der Sturm“ von William Shakespeare tobt mal wieder über die Bühne, seit Samstag herrscht schwere See in Dortmund. Sie lässt Neapels König Alonso samt Gefolge (darunter Antonio, unrechtmäßiger Herzog von Mailand) auf einem verlassenen Eiland stranden. Zauberkräftiger Beherrscher dieser Insel ist ausgerechnet Prospero, dem eigentlich Mailand zustünde, der aber vor zwölf Jahren von seinem Bruder Alonso schmählich auf offener See ausgesetzt wurde, mitsamt seiner kleinen Tochter Miranda.

Shakespeares mutmaßlich letztes Stück, schwankend zwischen heiterer Gelassenheit, Melancholie und Verzweiflung, lässt keine Rache zu. Der Büchermensch Prospero, Muster eines geistvollen Regenten, vergibt am Ende seinen einstigen Feinden und schwört aller magischen Macht ab. In Dortmund (Regie Hermann Schmidt-Rahmer/Bühnenbild Herbert Neubecker) verzeiht Prospero gleichsam zähneknirschend. Er ist der weltlichen Dinge müde, von Alters-Verzweiflung satt – und tröstet sich zum Sçhluss mit Dosenbier.

Das hier bisweilen eher tapsig als wundersam chaotisch wirkende Drama begibt sich auf sehr schräges Geläuf aus morschem Holz. Einige Planken werden herausgerissen, so dass Blicke ins buchstäblich „Bodenlose“ fallen. Man meint, derlei Bühnenaufbauten schon des Öfteren gesehen zu haben. In diesem Ambiente durchdringen einander die Welten: Hier Alonsos dümmliche Hofschranzen, da die von Prospero gezähmte Geisterwelt mit dem guten Laufwesen Ariel und dem bösen Erdling Caliban.

Ein Drang zur sinnreichen Form bleibt spürbar .

Beim oft simultanen Spiel wird es zuweilen eng auf der Bühne. Die Menschen sind niemals allein, sondern stets von Geistern und Träumen umfangen. Und beide Sphären sind geprägt von allerlei Knechtschafts-Verhältnissen; ein Umstand, den diese Inszenierung füglich betont. Doch allzu viel Erhellendes gewinnt sie dem Stoff so nicht ab, wie denn überhaupt ein Drang zur sinnreichen Form stets spürbar bleibt, doch Formvollendung sich nur selten einstellt. Mit der Zeit mag sich die Sache noch entwickeln. Die Premiere muss nicht das Maß aller Dinge bleiben.

Jede Figur bekommt ihre Attribute oder Schrullen zugeteilt, nicht immer erschließen sich die Motive: Prospero (Andreas Weißert) wandelt einher wie ein altgriechischer Philosoph, immer mehr bebenden Ernst in der Stimme, um bedeutsame Innigkeit bemüht. Alonso (Günther Hüttmann) ist kein König zum Aufschauen, sondern einer zum Knuddeln.

Wenn der Kulturlose in Büchern blättert

Gar gelenkig rollt und wälzt sich Prosperos nun 15-jährige Tochter Miranda (Birgit Unterweger) über den Bühnenboden – ein immerzu tollendes Kätzchen. So bezaubert sie Alonsos etwas unbedarften Sohn Ferdinand (Alexander Swoboda) und so weckt sie die Geilheit des wilden Caliban (hier die interessanteste Figur: Felix Römer). Der ach so Kulturlose wird ganz am Schluss in Prosperos Büchern blättern, und man darf raten: Paart sich hier Bosheit mit Wissensdurst, oder wird er sich zivilisieren?

Zwei Figuren gesellen sich dem Caliban zu wie eine brutale Ausgabe von Dick und Doof: Trinker (Sebastian von Koch) und Stephan (Rainer Galke), der eine ein arger Proll mit Bierdosen-Paletten und „saustarken“ Ballermann-Sprüchen, der andere ein feiger Depp mit österreichischem Zungenschlag. Es sind wandelnde Zugeständnisse ans Unterhaltungsbedürfnis, darin gar nicht so weit von Shakespeare entfernt.

Für Zauber und Poesie ist derweil der kahl geschorene, mit hellem Stimmchen singende Ariel zuständig, gespielt von Kindern (im Wechsel: Anna Bonkhoff, Christina Westermann), sehr lieb und somit nicht von dieser Welt. In ein solches Jenseits wären wir gern weiter entführt worden. Freundlicher Beifall im Rahmen des Üblichen. Er entsprach dem Anlass.

Termine: 24;, 26. November, 2., 17. und 29, Dezember. Karten: 0231/5027222.




Nach dem Kahlschlag – Im Marler „Glaskasten“ besichtigen Jochen Gerz und Jan Kopp Welt-Zerrbilder des „Weißen Mannes“

Von Bernd Berke

Marl. Völlig entblößt stehen diese Männer und Frauen da, jeweils ganz für sich allein und ziemlich ratlos blickend. Ringsumher liegen die traurigen Überreste gefällter Bäume. Keine paradiesische Nacktheit ist es, die sich hier offenbart. Im Gegenteil. Es sind Menschen nach einem Kahlschlag.

Der in Paris lebende Künstler Jochen Gerz, der zuletzt bundesweites Aufsehen mit seiner von der WR unterstützten Dortmunder Foto-Aktion „Das Geschenk“ erregt hatte (noch heute bekommt er zahlreiche Briefe von abgelichteten Teilnehmern), greift jetzt im Marler Museum „Glaskasten“ eine ökologische Untat auf, die sich 1999 in Kanada zugetragen hat. Ein riesiges Regenwald-Areal fiel dort den Bulldozern und Kettensägen zumOpfer.

Zugleich das Porträt einer Generation

Die Menschen, die Gerz auf neun Diptychen (große zweiteilige Bilder) zeigt, sind Bewohner jener gepeinigten Gegend; unter ihnen ein Greenpeace-Mitgründer, ein ausgewanderter deutscher Maler, ein Atomphysiker. Sie alle waren wegen der grandiosen Natur dorthin gezogen und konnten die wahnwitzige Abholzung auch mit einfallsreichen Protesten nicht verhindern.

Gerz lichtete sie hüllenlos, hätten sie keine Habe mehr, inmitten der zerstörten Landschaft ab. Die Gesichter stehen noch ganz im Banne der Verzweiflung, der Resignation. In die Fotos eingestellte Texte künden gleichfalls von dieser Gefühlslage, immer wieder ist dort von Vergewaltigung der Natur die bittere Rede. Ganz bewusst hat Gerz ältere Leute vor die Kamera gebeten. Makellose Körper würden wohl vom ökologischen Anliegen ablenken. Außerdem nennt der 60-jährige Künstler die erstmals gezeigte Installation „ein Porträt meiner Generation“. Eine Generation, die ihren Kampf verloren hat?

„White Ghost“ (weißes Gespenst) heißt die Arbeit. Einen solchen Namen hatten einst die Chinesen dem „weißen Mann“ gegeben. Der nämlich huschte nach ihrem Empfinden wie ein Geist, ohne innere Bindungen und also achtlos über alles Lebendige auf Erden hinweg.

Mit einer die Wirklichkeit verzerrenden „weißen“ Sicht auf die Welt befasst sich auch Jan Kopp (30). In Marl ist es guter Serien-Brauch, dass ein arrivierter Künstler mit einem jungen Kollegen gemeinsam ausstellt. Und Jochen Gerz bat eben seinen früheren Assistenten Kopp hinzu. Der hat das letzte Jahr in New York verbracht. In seinem Reisegepäck befand sich eine Kopie der Karl May-Verfilmung „Old Shatterhand“ (1963; bekanntlich mit Lex Barker, Pierre Brice & Co.), ein Streifen, der oft im Fernsehen abgenudelt worden ist.

Karl May und der Stich ins Surreale

Kopp ist dem Film mit einem listigen Konzept zu Leibe gerückt. In den USA (wo kaum jemand von Karl May etwas weiß) bat KOPP mutmaßlich amüsierte, jedenfalls von Haus aus englisch sprechende Museumsbesucher, einige Szenen gleichsam neu zu synchronisieren. Und so reden die Filmfiguren nun in gebrochenem Deutsch bunt durcheinander. An drei Projektionsstellen schnurren in Marl 28 kurze Sequenzen ab. 240 Stimmen sind zu hören, Old Shatterhand, Winnetou, Sam Hawkins und all die anderen sprechen – oft mitten im Satz wechselnd – mal männlich, mal weiblich, mal kindlich.

Resultat ist eine vielfache Verfremdung, mit der Kopp (erkennbar ein Kind der Fernseh-Generation) lässig spielt. Die wahre Welt liegt hinter lauter medialen Schleiern verborgen: Schon Karl May phantasierte sich ja seinerzeit in Sachsen einen „Wilden Westen“ zurecht, der von der Realität weit entfernt war.

Die naive Verfilmung mit ihrem Klischee vom „edlen Wilden“ Winnetou verhüllte den wirklichen Sachverhalt (sprich: Vertreibung oder Ausrottung der Indianer) noch drastischer. In der neuen „Synchronisation“ wirkt die Dramaturgie vollends grotesk, sie bekommt geradezu einen Stich ins Surreale.

Durchzogen werden die Gänge zwischen Gerz‘ und Kopps Arbeiten von einem „Biotop“ aus lauter wuchernden Topfpflanzen. Auch hier waltet wohl Ironie: Soll derlei Restgrün etwa alles sein, was von der Natur übrig bleibt?

Jochen Gerz/Jan Kopp. „Glaskasten“, Marl (Creiler Platz, am Rathaus). Ab Samstag, 11. November (Eröffnung 17 Uhr), bis 21. Januar 2001. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 32 DM.




Ein Zeitreisender in fremden Weltzonen – „Nootebooms Hotel“

Von Bernd Berke

Bis in die letzten Winkel der Erde dringen sie vor und lassen ihre Leser später an der oft verstörenden Fremde teilhaben – die großen Reisenden der Literatur. Der famose, so früh verstorbene Engländer Bruce Chatwin („Traumpfade“, „Mein Patagonien“) zählte zu ihnen. Und auch der Holländer Cees Nooteboom („Rituale“) gehört dem Menschenschlag an, der immerzu in die Ferne strebt.

Mit „Nootebooms Hotel“ liegen nun gesammelte Aufzeichnungen aus den Jahren 1968 bis 2000 vor. Sie handeln nicht nur von entlegenen Ländern, sondern auch von Aufenthalten in Venedig oder Berlin, zudem von Erkundungs-„Fahrten“ durch Gefilde der Literatur, der bildenden Kunst – und nicht zuletzt von Zeitreisen durch die eigene Vorstellungswelt. Hinzu kommen Interviews und Begegnungen, etwa mit Federico Fellini, Umberto Eco oder just Bruce Chatwin – allesamt umgetriebene, ja besessene Leute, sozusagen herrlich „Verrückte“.

Selbst-Erfahrung wie im Auge des Orkans

Fern von touristischen Pfaden hat sich Cees Nooteboom oft allein in äußerst fremdartige Weltzonen gewagt; dorthin, wo ein Europäer im Grunde gar nichts mehr begreift. Beispielsweise in Gambia, Mali und Bolivien fand er sich an Orten wieder, deren Aura ihn seltsam ergriff, jedoch auch so ratlos ließ, dass er auf sein Inneres verwiesen war und irritiert in sich hineinhorchte.

Es ist bei dieser Selbst-Erfahrung wie im Auge des Orkans, wo die größte Ruhe herrscht: Ganz umfangen von nie geahnten Gerüchen, Geräuschen, Turbulenzen und Ritualen, gelangt dieser Reisende zu einem nahezu religiösen, wenigstens meditativen Glücksgefühl des inneren „Leer-Werdens“. Es erweist sich mit der Zeit als Zielgelände all seiner Bewegungen in der Welt, ja er verspürt in solchen Momenten „die Sehnsucht, nicht existieren zu müssen“. Davon macht sich ein ewig im Heimischen Verharrender wohl keinen Begriff…

Ur-Szenen des Menschseins

Nicht Mystizismus ist dies, bewahre! Sondern eine Vermessung der Fremdheit nach individuellem Maß, deren Resultate uns angehen. Nooteboom versteht es meisterlich, seine Erfahrungen zu vermitteln. Manchmal werden Fremdheit und Ausgesetztheit zwischen den Zeilen geradezu Angst erregend greifbar. Beispielsweise auf dem Markt in Mali meint man Ur-Formen oder Ur-Szenen der Menschheit und des Menschseins mitzuerleben, wie sie uns längst abhanden gekommen sind; ein Umstand, den Nooteboom zutiefst betrauert, wie er denn überhaupt viele unwiederbringlich verlorene Dinge und Zustände hegen möchte – ein Sammler, ein Bewahrer von hohen Graden und aus guten Gründen. Und hier erfasst den Mann, der ständig unterwegs ist, so etwas wie Heimweh nach der verflossenen Zeit.

Nootebooms Vorlieben sind ansteckend. Dass er unter allen Malern gerade Jan Vermeer und Edward Hopper mit unverbrüchlicher Zuneigung bespricht, zeugt von erlesenem Kunstverstand. Seine literarischen Exkursionen stimulieren die Leselust, etwa auf Bücher des bei uns weithin unbekannten Niederländers Slauerhoff, oder auf die Werke des berühmten Jörge Luis Borges, dessen labyrinthische Gänge durch Bibliotheken und Lektüren in Nootebooms Denken häufig wiederkehren.

Die Welt ist, wie sie nun einmal ist

Während sich die Texte der 60er und 70er Jahre noch vielfach engagiert mit politischen Verhältnissen befassen, freilich auch schon hinter den Schleier gängiger Ideologien blicken (Stichworte: Elend und Befreiung der „Dritten Welt“, Castro, Che Guevara), gelangt Nooteboom mit den Jahren zu einer abgeklärteren Haltung: Die Welt ist, wie sie ist, und so muss man sie zunächst einmal nehmen.

Ist es Resignation oder höhere Weisheit? Dreimal darf man raten. Eine bessere Einführung in Nootebooms Sinnen und Trachten als dieses Buch dürfte es jedenfalls schwerlich geben.

• Cees Nooteboom: „Nootebooms Hotel“. Suhrkamp-Verlag. 520 Seiten, 49,80 DM.

Nooteboom liest heute, 2. November 2000, beim Dortmunder Literaturfestival „LesArt“ aus dem besprochenen Buch: Im Theater Fletch Bizzel (Humboldtstraße) kommen ab 18 Uhr die Autoren Barbara Köhler und Andreas Maier zu Wort, um 20 Uhr beginnt Nooteboom. Karten: WR-Ticketshop 0231/9573-1369.