Lebendes Monument des europäischen Kinos – Der französische Schauspieler Michel Piccoli wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

In manchen Filmen hat er nur für Minuten die Bildfläche betreten, nur ein paar Sätze gesprochen. Kam einem der Titel in den Sinn, so wusste man freilich gleich: Oh, das war doch diese Geschichte, in der Michel Piccoli mitgespielt hat!

Der Schauspieler, der als Typus eher zurückhaltend wirkt, sich aber mit seinen Rollen immer wieder unvergesslich einprägt, wird heute 75 Jahre alt. In weit über 100 Filmen hat er nahezu mit allen anderen Größen des europäischen Kinos gespielt. Man denke nur an diese Frauen: Jeanne Moreau, Brigitte Bardot, Catherine Deneuve, Stéphane Audran, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Liv Ullmann, Juliette Binoche, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart…

Meist wurden dem in Paris geborenen Charmeur, der aus einer italienischen Musikerfamilie stammt, Affären mit diesen Schönen angedichtet. Er selbst hat beteuert, niemals eine Frau wegen einer anderen verlassen zu haben. Gleichwohl ist der treue Gefährte in dritter Ehe liiert – mit einer Großgrundbesitzerin, was seinem Bekenntnis zum Sozialismus keinen Abbruch tut. Die bekannteste Verbindung, Nummer zwei (mit der Sängerin Juliette Gréco), währte von 1966 bis 1977.

Kurz ist das Leben, lang die Kunst: Schon seit 1945 war Piccoli, anfangs in kleineren Parts, auf Theaterbühnen und im Kino zu sehen. Der Durchbruch kam 1963 mit Jean-Luc Godards „Die Verachtung“: Hier stürzte sich Piccoli in einen ungeheuer intensiven Geschlechterkampf mit Brigitte Bardot. Auch Luis Buñuel wurde auf ihn aufmerksam und setzte ihn gleich in Serie ein: in „Die Milchstraße“, „Tagebuch einer Kammerzofe“, „Belle de jour“ (Die Schöne des Tages), „Das Gespenst der Freiheit“ und „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“.

Dieser Filmtitel wurde auch Piccoli selbst als Etikett angeheftet, wirkte der elegante Verführer und Salonlöwe doch nie wie ein Draufgänger à la Delon oder Belmondo, sondern bürgerlich selbstbeherrscht und gefasst. Auch Regisseure wie Alfred Hitchcock („Topaz“) und Claude Chabrol besetzten ihn in diesem Sinne.

Beherzter Kämpfer gegen die Vormacht von Hollywood

Doch das war nur die Vorderansicht. Man konnte ahnen, wie es in vielen dieser Gestalten brodelte, wenn man Piccoli auf hundert hintersinnige Arten rauchen sah; wenn man bemerkte, wie er unter halb geschlossenen Augenlidern Blicke blitzen ließ oder wie er Requisiten behandelte, als wolle er sie mitsamt der ganzen Menschheit erdrosseln: Hier lauerte ein gefährlicher Hang zum Zynismus, zum Abgründigen, zu Delirium, Perversion und Wahnsinn.

Dieses Doppelwesen und alle Schattierungen dazwischen, die er auffächerte wie kein anderer, machten Piccoli als Darsteller einzigartig. Die entgrenzte, explosive und düstere Seite hat er manchmal bis zum Exzess ausleben können, so in Claude Faraldos qualvoller Sozial-Phantasie „Themroc“ (1973). Da spielte er jenen Anstreicher, der urplötzlich alle Regeln der Zivilisation abstreift und als brüllender Tiermensch die Mitwelt attackiert.

In Marco Ferreris Ekel-Fest „Das große Fressen“ stopfte er sich (mit Philppe Noiret, Marcello Mastroianni und Ugo Tognazzi) den Wanst so lange voll, bis er unter majestätischen Blähungen verreckte.

Laugst ist Piccoli ein lebendes Monument des europäischen Kinos, für dessen Belange er immer wieder beherzt eingetreten ist – gegen Hollywoods kommerzielle Dominanz. Gewiss kein Zufall, dass Agnès Varda für ihre Hommage zum hundertjährigen Bestehen des Lichtspiels („Les cent et une nuit“ / Hundertundeine Nacht) gerade Piccoli als über allen cineastischen Epochen schwebenden „Mr. Cinéma“ vorsah.

Eine seiner wunderbarsten Rollen war 1991 der Maler Frenhofer in Jacques Rivettes„La belle noiseuse“ (Die schöne Querulantin). Emmanuelle Béart stand und lag ihm da stundenlang nackt Modell. Doch der Film hat gar nichts Anzügliches, sondern erweist sich als existenzielle Auseinandersetzung zweier starker Seelen und als exemplarisches Ringen um den künstlerischen Schöpfungsakt.




Robert Frank: Bilder aus den Randzonen des Sichtbaren – Arbeiten des Filmemachers und Fotografen in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Beim Umgang mit den vielen Bildern, die täglich auf einen einstürmen, befindet man sich zwangsläufig im Zwiespalt. Auch einem Manne wie dem Fotografen und Filmemacher Robert Frank (76) ergeht es nicht anders.

Er kennt den Impuls, aus dem Rauschen der unendlichen Bilder-Flut gültige, dauerhafte Momente festzuhalten. Doch vom Film her weiß er, dass es d a s eine Bild, welches für sich genommen alles aussagt, gar nicht geben kann. Denn alles ist im Fluss.

Das Museum Folkwang widmet Robert Frank jetzt eine anregende Ausstellung, die künstlerische Wegstrecken zwischen Überfülle und Zerfall der Bilder ausmisst. Zu sehen sind vor allem Fotografien und experimentelle Filme. Titel des Ganzen: „Hold still – keep going“, also etwa: Bleib da – geh‘ weiter. Da haben wir ihn wieder, diesen Zwiespalt.

Robert Frank, 1924 in Zürich geboren, wanderte 1947 in die USA aus. Anfangs verdiente er dort sein Geld u. a. mit Modefotos für „Harper’s Bazaar“, mit journalistischen Aufgaben und Werbung. 1958 machte in den Staaten sein Bildband „The Americans“ Furore. Er enthielt spontan und radikal subjektiv wirkende, freilich hinterrücks treffende, im Kopf flirrend nachwirkende Beobachtungen des dortigen „way of life“ und seiner Idole. Die Haltung oszilliert zwischen Sentiment und ironisch-kritischer Distanz. Daraus erwuchs eine Ästhetik, die mindestens in die 60er Jahre voraus deutete.

Erst aus der Sequenz erwächst so etwas wie „Wahrheit“

Frank misstraute längst den „dokumentarischen“ und erzählerischen Ansprüchen des Metiers. Nicht das Einzelbild verhieß ihm eine Annäherung an die „Wahrheit“, sondern –dem filmischen Beispiel folgend – ganze Sequenzen, oft scheinbar chaotisch collagiert, mit Schriftzügen unterlegt oder von ihnen durchkreuzt.

Nicht um vermeintliche objektive Anschauung geht es hier, sondern um Intuition, Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, für die Randzonen des Sichtbaren. Da darf ein Bildmotiv ruhig unscharf sein, es darf in die Schräge kippen, Gesichter dürfen mittendrin angeschnitten werden oder verwackelt aussehen. gekoppelt. Es wirkt bei Robert Frank umso authentischer, wie im frischesten Moment beim Schopfe gepackt und noch nicht von Reflexion überlagert. Wie Filmstreifen sind manche dieser Bilderfolgen gekoppelt. Das Auge des Betrachters irrt hin und her zwischen den fragmentierten Sekunden. Eine ungerichtete, zuweilen ratlos schwankende Wahrnehmung, wie sie ja eigentlich auch den Alltag prägt.

Karge Inventuren bis zum gähnenden Nichts

Karge Inventuren: hier eine bloße Hand, dort einfache Gerätschaften, nahezu leere Zimmer. Aufmerksamkeit im Wartestand, bereit zum Sprung. Manche Bilder sind Umkreisungen der Trostlosigkeit und des gähnenden Nichts. Doch sie künden auch von der Suche nach dem Einfachen, an das man sich halten kann.

Seltsam der Sog der Filme, wenn man sich auf die Fährnisse der Handkamera einlässt: Man sieht scheinbar banale Szenen wie die vom Farbigen, der fiebrig zwischen Autos umherläuft und an der roten Ampel für ein paar Cents Scheiben reinigen will. Immer wieder. Oder man leidet mit an der Einsamkeit jenes Mannes. der in der U-Bahn schwadroniert, während alle anderen betreten schweigen. Partikel von Sozialdramen, mit dem Seziermesser herausgelöst.

Robert Frank, der auch mit dem verrufenen Beat-Poeten Jack Kerouac unterwegs war, treibt es mitunter weit mit seinen Zumutungen: Über die „Rolling Stones“, für die er das Plattencover zu „Exile on Main Street“ entwarf, hat er 1972 Film „Cocksucker Blues‘ gedreht. Er war den Stones „zu hart“. Mick Jagger & Co. verboten die Aufführung. Die Jungs haben trotz aller Exzesse immer aufs Image geachtet.

Bis 11. Februar 2001 im Folkwang Museum, Essen (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 40 DM.

 

 




In der kleinen Stadt die Welt erkunden – Michael Zellers poetische Mitbringsel aus Schwerte

Von Bernd Berke

Schwerte. Der Schriftsteller Michael Zeller (56), anno 1999 „Stadtschreiber“ in Schwerte, hat jetzt den poetischen Ertrag seines Aufenthaltes vorgelegt. „Mein schöner Ort“ heißt das Buch. Doch dieser Titel täuscht bruchlose Aneignung idyllischer Gefilde nur vor. Zwar hat Zeller viel Liebenswertes entdeckt, aber manches hat ihn auch befremdet.

Als Freunde ihn fragten, wo um alles in der Welt dieses Schwerte zu lokalisieren sei, fiel ihm zuerst das bundesweit durch Staus bekannte Westhofener Kreuz ein. Die Stadt liege eben an der Autobahn. Blumiger ausgedrückt: „Schwertes Lage ist am Weg“.

Vielleicht hat .der Autor den Ort in seiner Rand- und Durchgangs-Lage als etwas formlos empfunden. Jedenfalls hat er – wie zum Ausgleich – seine Beobachtungen in eine uralte Form gegossen: ins klassische Versmaß des Jambus. Zuweilen sprengen Zellers Zeilen dieses Korsett, doch die suggestive Kraft der (ungereimten) Verse bestimmt den Fluss der Dinge in den 37 „Gesängen aus dem deutschen Alltag“ (Untertitel). Ein Auf- und ein Abgesang zu dieser Strecke der Lebensreise umrahmen, melancholisch getönt, die vielfältigen Stadt-Erkundungen, die sich in etlichen Passagen als Welt-Erkundung erweisen.

„Ihro Gnaden, der Investor…“

Man könnte sich fragen, ob es richtig sei, alle Themen über den gleichen rhythmischen Leisten zu schlagen. Doch Zeller gebietet über viele Tonlagen, auch Rilke und Hölderlin sind ihm spürbar vertraut. Und so ist es ein höchst redliches, sprachlich ausgefeiltes Buch geworden, beileibe keine provinzielle Literatur, sondern gültig weit über Schwertes Grenzen hinaus.

Kostprobe: „Seine Herrlichkeit hält Einzug / Ihro Gnaden, der Investor / Er, der meistgesuchte Mann / in deutschen Städten dieser Jahre / später dann der Steuerfahndung…“ Ähnlichkeit mit lebenden Personen wohl nicht rein zufällig: Diesem windigen Herrn rollen die Stadtväter den roten Teppich aus. Vorsichtshalber hat Zeller diesen Gesang mit dem Untertitel „Träumerei“ versehen. Wir haben verstanden.

Zeller erschließt der Lyrik einen weithin unterschätzten Themenbereich: die Nischen und Niederungen des Kommunalwesens. In der „Wahlpolka“, welche eine Kandidatenkür fürs Bürgermeisteramt schildert, greift Zeller die glatten Zeitgeist-Formeln der Politiker auf: „Jeder will der Schönste sein / bei der spröden Modenschau / Aus meist ,ganzheitlichem Ansatz‘ / soll dereinst ,Vernetzung‘ sein / und es werde ,angestoßen‘ / und es werde ,eingestielt‘ / wenn erst mal die Wahl geschlagen…“

Spurensuche zwischen Ruhr und Autobahn

Leitlinie für Zellers Suchbewegungen im Ort ist immer wieder die Ruhr. An ihren Gestaden registriert er mit Wehmut das Aussterben alten Handwerks. Hier trifft er auch jene Jugendclique, die etwas gelangweilt herumhängt, weil es kaum geeignete Treffs gibt und die Fahrt nach Dortmund ziemlich teuer ist.

Zeller besingt Industriebetriebe und die Justizvollzugsanstalt, das Grün, den Beton und die Verödung, den Gesangsverein, die türkischen Bürger und den Skandal beim Sportverein. Mag die Stadt auch klein sein, so ist sie doch ein weites Feld. Wenn man nur richtig hinschaut.

Auf der Suche nach einer deftigen westfälischen Mahlzeit entdeckt Zeller in Schwerte – wie überall im Lande – fast nur schmucklose Pizzerien, Pommes- und Döner-Buden. Der Historie eines besonders öden Lokals spürte er nach und fand heraus, dass hier früher eine jüdische Schule sich befunden hat. Heute beten dort Moslems. Diesen Wandel bedenkend, schlingt Zeller ein Band um alle diese Religionen – darin ein später Nachfahre Lessings, der mit seiner „Ring-Parabel“ im „Nathan“ zur Toleranz aufrief.

Ein wenig darf man die Schwerter nun wohl beneiden, denn: Nicht jede Stadt ward so besungen…

Michael Zeller: „Mein schöner Ort“. Verlag Ars Vivendi. 164 Seiten (mit CD = Lesung des Autors aus dem Band), 44 DM.