Ein Kapitän auf dem Meer der Geschichte – Alexander Kluges „Chronik der Gefühle“

Von Bernd Berke

Wir kennen es aus dem Privatleben und aus der Historie: Manchmal scheint sich die Zeit zu beschleunigen, dann fließt sie im Gleichmaß dahin, oder sie stockt. Aus der Dynamik solcher wechselnden Wahrnehmungen gewinnt Alexander Kluge (69) den ungeheuren Geschichten-Vorrat seiner über 2000 Seiten umfassenden „Chronik der Gefühle“.

Der Schriftsteller, Film- und Fernsehmacher denkt sich die Zeit, die ihr höchstes Tempo in Revolutionen erreicht, auch als Phänomen der wandelbaren Formen. Mal gleicht sie einem Tunnel, mal einem ruhigen weiten Meer. Diese Vorstellung eröffnet Wege für Zeitreisen. Und also navigiert Kapitän Kluge, stets von nervöser Neugier getrieben, mit seinen vielfältigen Beobachtungen quer durch die Epochen, wobei er oft Verbindungskanäle oder auch Gegenströme zwischen weit entfernten Ereignissen findet.

Keine Angst vor dem Umfang! Kluge selbst empfiehlt, der Leser solle sich in den Bänden nach Belieben umsehen. Man möge also blättern wie in einem Lexikon oder in den Seiten einer Zeitung: Man wird Bekanntschaft machen mit bizarren Kriminalfällen, erotischen Abgründen, Kriegsgräueln, Börsencrashs; mit Naturkatastrophen, Momenten der Machtausübung und des Machtverfalls, Neurosen und Niederungen des Alltags, mit Spiegelungen und Verzerrungen in den Medien. Ach, und überhaupt: Diese sich so nüchtern gebenden, doch immer wieder das Gefühl ergreifenden Texte scheinen just alles zu behandeln, was der Fall ist.

Ein Mann schwängert 26 Genossinnen in der Frankfurter Szene

Dank der durchlässigen Struktur der Bände (die gleichwohl zu einer Systematik unterwegs sind) beleuchten sich die Epochen gegenseitig. Hier können Vorfälle aus der NS-Zeit, aus Napoleons Ära, der Endphase der DDR und der Antike in „Parallel-Welten“ zusammentreffen. Aufregend!

Der gelernte Jurist Kluge, unermüdlich in der Detail-Recherche, sammelt Fakten, Fakten, Fakten. Auf dieser soliden Basis phantasiert er historische Bezüge herbei – freilich höchst plausibel argumentierend. Was wäre geschehen, wenn… Wenn etwa der Philosoph Martin Heidegger als Berater Hitlers fungiert hätte? Oder wenn die Sowjetunion 1929 nach der Börsenkrise die Konkursmasse des Westens „aufgekauft“ hätte? Und wie ging es zu, dass ein Portugiese in der linken Szene Frankfurts von 1967 bis 1969 gleich 26 Genossinnen schwängerte? Drei Beispiele von Hunderten.

Keine Denkhemmung, keine Ideologie

Besonders grandiose Passage: Kluge schildert die Bombardierung seines Heimatortes Halberstadt am 8. April 1945, aufgefächert in viele Perspektiven. Wie erlebten die Wächterinnen auf der Turmzinne das schreckliche Ereignis? Was widerfuhr einem Paar, das an diesem Tage heiraten wollte? Was fühlten die US-Piloten?

Bei all diesen Erkundungen gilt keine Denkhemmung, keine Ideologie, sondern es regiert dialektische Lust am Nachfragen, am Offenhalten der Alternativen. Es ist somit ideale Literatur zur Einübung demokratischer Tugenden.

„Chronik der Gefühle“ zählt zu den Hauptwerken deutscher Nachkriegsliteratur. Die frühesten Teile stammen von 1962, es kamen etliche Jahresringe hinzu – und seit den Wirren der „Wende“ (ein Schreibimpuls sondergleichen) ist nochmals eine beträchtliche Textmenge eingeflossen.

Ganz zu Beginn blickt der Autor (wie in einem Kameraschwenk) auf „0,0001 % der Lebenszeit“ eines Menschen. So rasch geht das also vorüber! Und man nimmt dieses menschliche Maß, das sich so oft an der „reißenden Zeit“ (Kluge) der Historie zerreibt, mit hinein in das große Buch.

Alexander Kluge: „Chronik der Gefühle“. 2 Bände (Band 1: Basisgeschichten / Band 2: Lebensläufe), zusammen 2036 Seiten. Suhrkamp Verlag. 98 DM.

Am Sonntag, 4. März (19.30 Uhr), stellt Kluge das Werk im Dortmunder Harenberg City-Center vor.




Ein lachender Lenin galt schon als frech – Schau mit DDR-Plakaten in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Unverdrossene „Linksaußen“ dürften an dieser Ausstellung ihre Freude haben. So häufig wie jetzt im Essener Plakatmuseum sieht man die Konterfeis der Herren Marx, Engels, Lenin oder Thälmann in unseren Tagen selten.

Man fühlt sich fast in die rebellischen 60er Jahre versetzt, als solche Bilder auch hiesige Wände zierten. Doch eigentlich geht’s bei der neuen Ausstellung gar nicht um derlei Vergangenheits-Beschau der „Joschka Fischer-Generation“, sondern quasi ums Gegenteil, nämlich den Überdruss an plakativer Indoktrination, die den Alltag der DDR prägte.

Rund 140 Beispiele für „Agit-Prop“ aus dem verblichenen zweiten deutschen Staat sind zu besichtigen. Von „Kunst“ kann selten die Rede sein. Schon der Begriff „Kunstgewerbe“ würde mancher Hervorbringung schmeicheln. Meist hingen die Werke nicht etwa in privaten Haushalten (da träumte man wohl eher vom West-Konsum), sondern in öffentlichen Einrichtungen – pflichtschuldigst angepappt.

Erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus den 80er Jahren stammt. So selbstgewiss trumpfen sie auf, als wäre mit Staat und Partei noch alles in bester Ordnung. Nur mühsam hatte man sich von Stereotypen in Sprache („Vorwärts zu…“ / „Nieder mit..,,“) und Bildformeln gelöst: So erscheint etwa der Kommunistenführer ErnstThälmann mit gereckter Faust, immer und immer wieder. Nur zaghaft wird er auf späteren Plakaten mit farbigen Überblendungen verfremdet.

Friedenstauben und „glückliche“ Kinder

Ähnlich langsame Mutationen gab es in Sachen Marx. In den 80ern darf der Urahn des Kommunismus auch schon mal ein wenig „poppig“ dargestellt werden. Doch man hechelt der ästhetischen Entwicklung meist weit hinterher, und kaum einmal gelingen überzeugende grafische Lösungen. Welch ein Unterschied zur kritischen DDR-Malerei jener Jahre, die derzeit im Schloss Cappenberg gezeigt wird (die WR berichtete).

Der lachende Lenin, ein T-Shirt mit Marx-Motiv tragend (1983), galt schon als relativ „freches“ Motiv. Noch mutiger war man bisweilen in der Kulturszene: Ein Theaterplakat zeigt den nunmehr todernsten Lenin, ringsum garniert mit Einschuß-Löchern.

Sodann die Serien zum NATO-Doppelbeschluss. Wer zählt all die Friedenstauben, die zu Beginn der 80er Jahre der „ruhmreichen Sowjetunion“ zugeordnet wurden, und wer die Totenköpfe, die allemal auf die US-Aggression hinwiesen? Ganz so simpel lagen die Dinge ja wohl nicht…

Es muss nervtötend gewesen sein, ständig solche Plakate vor Augen zu haben: Junge Pioniere mit Fackeln, angeblich „glückliche“ vietnamesische Kinder mit roten Fahnen, muntere FDJ-Mädels mit dcm Spruchband „Die Partei – das werden wir“. Irrtum. Sie wurden’s nimmermehr.

Deutsches Plakatmuseum, Essen, Rathenaustraße 2. Bis 22. März. Di-So 12-20 Uhr




Eingemauert und bereit zum Sprung – Cappenberg zeigt kritische DDR-Kunst

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Der Streit um die DDR-Kunst schwelt noch immer: Erst kürzlich gab es in Nürnberg Ärger wegen einer vom Künstler Willi Sitte erzürnt abgesagten Werkschau. An das Debakel von Weimar, wo NS- und DDR-Kunst gleichermaßen summarisch „erledigt“ wurden, erinnert man sich mit Schaudern. Im Cappenberger Schloss jedoch widerfährt den Malern aus dem verflossenen Staatsgebilde jetzt Gerechtigkeit.

Mit 110 Exponaten von 55 Künstlern versammelt die herausragende Schau, die nur in Cappenberg Station macht, vor allem kritische Impulse aus den letzten Jahren der DDR. Und der Drang zur Verneinung geht fast durchweg mit hoher Qualität einher.

Der Titel „Kassandrarufe und Schwanengesänge“ markiert die Richtung. Wie einst die antike Sagengestalt Kassandra, so mahnten die Maler. Und ihre Klagen glichen jener des mythischen Schwanes, der sterbend zu singen anhebt.

Bekannte Namen: Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Hartwig Ebersbach, Willi Sitte, Volker Stelzmann – um nur einige zu nennen. Fast alle Arbeiten wurden schon im SED-Staat ausgestellt. Das Regime war in den 80er Jahren wohl schon zu kraftlos, um Widerspenstigkeit in den Künsten noch durch Bann zu brechen. Zudem war Duldung schlauer.

Als widerständig konnten (im Umfeld des unsäglichen „Sozialistischen Realismus“) bereits gewisse ästhetische Positionen gelten. Eberhard Goschel, der Dresdner Schule delikater Feinmalerei entstammend, zelebriert mit „Figur in der Landschaft“ eine fürs kollektive Denken unerträgliche Einsamkeit und begibt sich noch dazu auf den missliebigen Weg der Abstraktion.

Eine Abteilung ist Bildern gewidmet, die das Gefühl des Eingemauert-Seins bis zur kafkaesken Unerträglichkeit steigern. Grandioses Beispiel ist Mattheuers „Allein“ (1970): eine verzweifelte Figur, von einer Mauer weit überragt; droben lastet ein grauer Himmel, dessen Farbton in vielen Motiven bedrückend wiederkehrt. So beherrscht fahle Tristesse etwa Wolfgang Peukers Angstbild „Pariser Platz“ (1989).

Auf Joachim Völkners „Der Vorhof“ (1984) erscheint die Umgebung gar als Nachbarbezirk der Hölle. Kein Inferno ohne Konsumterror oder zumindest die Sehnsucht danach: Sighard Gilles „Autofahrer“ wirken, obwohl in Trabis gepfercht, wie westliche Dekadenzler. Auch Umweltvergiftung wurde gebrandmarkt: Die Leuna-Werke erscheinen 1979 bei Dieter Weidenbach im bedrohlichen Muster von Arnold Böcklins „Toteninsel“, in Jürgen Schäfers „Lebenslauf“ (1985) gleicht sich der menschliche Körper zusehends den Betonbauten an.

Das alles wollte man hinter sich lassen: Mattheuers „Prometheus“ (1982) reißt die Tür auf und springt – in die Freiheit oder in die große Leere?

Bis 17. Juni, Schloss Cappenberg (Selm). Di-So 10-17.30 Uhr. Eintritt frei. Katalog 50 DM




Ganz entspannt und an Erfahrung reich – Neueste Bilder des 96-jährigen Heinrich Siepmann in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Da wird sogar die Zeitung mit den großen Buchstaben plötzlich wild auf kulturelle Erscheinungen: Wenn nämlich einer wie Heinrich Siepmann, inzwischen 96 Jahre alt, angeblich immer noch täglich an der Staffelei steht und – Zitat aus „Bild“ – ganz „geil aufs Malen“ ist.

Mag schon sein, dass der legere Siepmann sich so einen Ausruf hat entlocken lassen. Doch er enthält nicht die ganze Wahrheit. Zwar drängt es den betagten Mülheimer Künstler weiterhin zum Schaffen, aber nicht mehr mit genuin malerischen Mitteln, denn den Pinsel vermag ei nicht mehr richtig zu führen. Wie gut, dass ihm die Familie, allen voran seine rund zwanzig Jahre jüngere Frau Trude, treulich beisteht.

Heinrich Siepmann hat sich auf flüchtig bemalte Collagen sowie Pastelle verlegt. Doch das Formempfinden, in vielen Jahrzehnten geschult, hat ihn nicht im Stich gelassen. Der Geist ist wach.

Toilettenrollen und Tapete als Material

Recklinghausen präsentierte 1999 eine große Retrospektive zum Gesamtwerk, nun bekommen wir neueste Arbeiten zu sehen: Das Mülheimer Museum in der „Alten Post“ zeigt rund 50 Siepmann-Exponate, die allesamt anno 2000 entstanden sind. Und das ist nur etwas ein Drittel seiner Produktion im letzten Jahr. Man müsste sich vor dieser schöpferischen fast verneigen.

Collage also, titellos und fortlaufend durchnummeriert: C 1, C 2 usw. Nicht immer bis in die letzte Verästelung präzise, doch stets subtil austariert sind die Linien und Flächen der abstrakten Formationen. Beim Rohmaterial, das im künstlerischen Prozess völlig überformt wird, denkt man zuweilen an jene ärmlichen Nachkriegszeiten, als Siepmann der in Recklinghausen gegründeten Gruppe „Junger Westen“ angehörte – mit Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Emil Schumacher. Weltberühmt wie Schumacher wurde der entschiedene Sozialist freilich nie. Er blieb immer ein wenig im Schatten des Hageners.

Etwas von der anfangs zwangsläufigen Genügsamkeit scheint sich Siepmann jedenfalls bewahrt zu haben: In seinen Collagen verwendet er Papiertüten, Pappkerne von Klorollen, Ausrisse von Rauhfasertapete. Doch das bemerkt man erst beim zweiten Hinsehen. Auf den Bildern werden diese Dinge zu Geraden, Diagonalen und Farbfeldern. Die grafische Wirkung zählt.

Es sind spontane Setzungen, gesättigt mit Erfahrung. Wunderbar leicht fügen sich die meist auf Fotokarton geklebten Elemente zueinander. So, als könnte es gar nicht anders sein. Besonders auf den kleinen dreiteiligen Kompositionen (Triptychen) ergibt sich ein luftiges Auf und Ab der Formen, das schlichtweg die Seele des Betrachters erhebt.

Den Sylter Sand mit Händen greifen

Es ist eine entspannte, abgeklärte Kunst, aus der hie und da ein Schmunzeln zu leuchten scheint. Essenzen eines langen Künstlerlebens: Das gegenstandsferne, expressive Informel hat Siepmann ebenso durchschritten wie strengere, konstruktive Exerzitien, doch niemals ohne Seitenblicke auf die reale Dingwelt. Noch immer ist beides unaufdringlich gegenwärtig: die wirklichen Vor-Bilder und ihre künstlerische Überschreitung.

Frappierend die mit Pastellkreide gestalteten Blätter, meist auf Sylt entstanden. Obgleich sie gänzlich abstrakt scheinen, meint man doch, Meeresbläue zu sehen, die Brise zu spüren, den Sand mit Händen greifen zu können.

Heinrich Siepmann – 2000. Museum „Alte Post“, Mülheim/Ruhr, Viktoriaplatz 1. Ab heute, 15. Februar (Eröffnung 19.30 Uhr in Anwesenheit des Künstlers), bis 16. April. Di/Mi/ Fr 11-17 Uhr, Do 11-20Uhr. Sa/So 10-17 Uhr. Kein Katalog..




Mit Fernsehen in der Hölle eingesperrt – Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Dass es in der Hölle keine Bücher gibt, steht schon in Jean-Paul Sartres 1944 uraufgeführtem Stück „Geschlossene Gesellschaft“. In der Dortmunder Inszenierung von Philipp Preuss kommt erschwerend hinzu: Hier gibt es Fernsehen!

Ein alter Herr (Hans-H. Hassenstein) sitzt im Sessel und schaut sich eine Billard-Übertragung an. Monotoner geht’s kaum: „Klack-klack-klack“ machen die Kugeln. Nach einer Weile erhebt der Mann sich seufzend. Dieser „Kellner“ im satanischen Hotel der (Un-)Toten muss wieder alles herrichten für den Auftritt der Insassen. Am Ende wird er die Bühne ausfegen fürs nächste Mal. Und wieder wird er Billard glotzen. Ein diabolischer Kreislauf.

Hörproben einer quälenden Ewigkeit

Qualvolle Ewigkeit kündigt sich akustisch an. Eine Schallplatte fräst sich in einem Rillensprung fest: „Ratz, ratz, ratz . Bald spricht eine flackernde Glühbirne und legt lakonisch die Regeln dar. Fortan wird das Licht nie wieder verlöschen. Schlafloses Grauen. Kein Entrinnen.

Zwischen roten Blechwänden (Bühne: Ramallah Aubrecht) finden sich Inés, Estelle und Garcin ein. Auf Erden  sind sie durch aufgedrehtes Gas, Lungenentzündung bzw. Pistolenkugeln gestorben. Jetzt hat man sie im teuflischen Jenseits für immer miteinander eingesperrt, und sie werden Sartres Satz schmerzlich beweisen: „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Sie zwingen einander gnadenlos zur Wahrheit – und die ist erbärmlich.

„Her mit deinen Geständnissen!“

Die Lesbierin Inés (herb, ziellos sehnsüchtig: Ines Burkhardt) hat eine Ehe mörderisch zerstört, die seelenleere und mannstolle Estelle (Astrid Rashed) hat ihr Kind ertränkt, der Journalist und Möchtegern-Held Garcin (Macho mit psychischen Dellen: Sébastien Jacobi) seine Frau gequält. Alles kommt heraus. Doch kein Folterknecht erscheint, das Trio erledigt die Bestrafungen selbst.

Geständniszwang also. Und die Türen sind von außen verriegelt. Dieser Terror gemahnt an die „Big Brother“-Situation. Darauf hebt die Inszenierung ab. Gar oft wird mit der Kamera hantiert. Die drei filmen sich selbst, sie filmen einander, richten das Objektiv ins Publikum, irren mit dem Gerät durchs Theater-Treppenhaus. Wer die Kamera hält, fordert gleich: Her mit deinen Geständnissen, deinem Sex, deinen Tränen! Und fast alles erscheint auf dem Bildschirm.

Die Seele versickert im „Nullmedium“

Dieser Einfall hat sich im neuesten Theater schon ein wenig totgelaufen. Die Dortmunder Variante hat freilich etwas für sich, sie betrifft einen Kern des Stücks: Während bei Sartre der bedrohliche Nebenmensch auch noch als notwendiger „Spiegel“ zur Ich-Findung dienen soll, versickert hier so manches folgenlos im „Nullmedium“ der flimmernden Bilder. Was bleibt, ist seelisches Ödland.

Doch die Aufführung wirkt nicht durchweg konzentriert, sondern etwas zerstreut und vorläufig. Ganz so, als sinne sie noch dem tieferen Gehalt ihrer Ideen nach. Wozu taugt denn das verschraubte, dem Stück hinzu gedichtete Gerede von den „anderen Anderen“, die die Hölle seien? Ausgang offen, was ja auch ein Vorteil sein kann.

Die Darsteller machen schon jetzt Beachtliches daraus. Es gibt einige bewegende Momente: So etwa, wenn Estelle aus ihrer schicken Attitüde in gläserne Verletzlichkeit abstürzt. Ganz zerzaust nun, ohne die Schminke und das Blond der Perücke. So schutzlos plötzlich, dass es beim Zuschauen weh tut.




Wundersame Wandlung der Gefäße: Wie sich Keramik der freien Skulptur nähert – Werke von Bruno und Ingeborg Asshoff in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Drei Gefäß-Röhren stehen ganz eng beisammen und recken sich aufwärts, als wollten sie Hölderlins Hymne „An den Äther“ entsprechen, derzufolge alles Lebendige in luftige Höhen strebt.

Dies hat mit üblicher Töpferware oder Kursen zwischen Drehscheibe und Brennofen gar nichts mehr zu tun. Hier wandelt sich Keramik zur freien Skulptur, sie ist dem täglichen Gebrauch enthoben.

Das Museum Bochum widmet zwei Hauptvertretern der Nachkriegs-Keramik eine Überblicks-Ausstellung, die über 50 Jahre Werkentwicklung anhand von erlesenen Beispielen nachzeichnet: Bruno und Ingeborg Asshoff haben ihr langes (Ehe)-Leben der Gestaltung irdener Materialien verschrieben.

Schon 1947 bezogen sie ihre erste Werkstatt in der ehemaligen Waschkaue am Schacht 5 der stillgelegten Zeche Mansfeld, ab 1967 nutzten sie den Frielinghof in Bochum-Querenburg. Der Fachwerkbau wurde bald zur Pilgerstätte für Sammler aus nah und fern. So stammen denn auch die meisten Bochumer Exponate aus Privat-Kollektionen.

Nicht mehr benutzen, nur noch betrachten

Kurz nach dem Krieg könnte die Schöpfung von Keramik wohl etwas Mythisches gehabt haben. Das archaische, seit Urzeiten geübte Handwerk stand gleichsam für einen Neuaufbau von Grund auf. Freilich blieben die Asshoff-Arbeiten, wenngleich handwerklich perfekt, bis in die 50er Jahre hinein noch der Konvention verhaftet: karge Krüge, schmucklose Vasen, weitgehend im Stil der Zeit, formal noch nicht allzu aufregend.

Allmählich allerdings werden die Gefäße von den Zwecken befreit und mutieren zu „Objekten“. Flaschen etwa buchten beutelförmig aus oder werden so schmal, dass sie umzustürzen drohen. Sie sollen nicht mehr benutzt, sondern nur noch betrachtet werden. Vasen wuchern wie Kürbisse oder quallenförmige Wesen. Ein weiteres Merkmal sind die länglich-schmalen Gießöffnungen etlicher Behälter. Als „Asshoffsche Enghälse“ wurden sie gar zum Fachbegriff der Zunft.

In den 80er und 90er Jahren weichen die meist biologisch inspirierten Formen einer strengeren Geometrie. Häufig haben Bruno (heute 87 Jahre alt) und Ingeborg (die 1998 verstarb) Asshoff ihre Werkstücke paar- oder gruppenweise zu „Vasen-Familien“ gefügt, geschmiegt oder auf gewisse Distanz gestellt und mit erstaunlich vielfältigen Glasur-„Häuten“ überzogen – mal schrundig und rau, mal glatt und glitzernd.

Renger-Patzsch rückte die Objekte ins wahre Licht

Man könnte argwöhnen, dass in derlei Ensembles auch Spuren der Ferne und Nähe in den Lebens-„Beziehungen“ zu finden sein müssten.“ Doch was soll’s. Jedenfalls hat das Paar künstlerisch so inniglich miteinander gewirkt, dass der jeweilige Einzelbeitrag kaum noch von Bedeutung ist. Vielleicht hat Ingeborg den manchmal spröden Gestaltungen gelegentlich einen Hauch von figürlicher Heiterkeit hinzugefügt, den es wohl sonst nicht gäbe.

Gemeinsam also haben sie dem keramischen Kosmos nach allen Seiten hin ausgeschritten. Allein die Varianzbreite der Ei-Formen ist verblüffend. Solche kreative Kraft sprach sich bis Japan herum, wo Asshoff-Arbeiten zum Bestand großer Museen zählen.

Eine wunderbare Beigabe in der Bochumer Schau verleiht dem keramischen Schaffen der Asshoffs nochmals Weihen: Der mit beiden befreundete berühmte Fotograf Albert Renger-Patzsch hat Teile ihres Werks ins wahre Licht gesetzt. Da wirken die Schöpfungen vollends so, als wären sie naturnotwendig gewachsen. Man könnte wahrhaftig an einen „höheren Bauplan“ glauben, der die Künste leitet.

Museum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 11. Februar (Eröffnung 11 Uhr) bis zum 16. April. Di, Do, Fr, Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Internet: www.bochum.de/museum




Macbeth auf der Suche nach dem Kick – Intendant Johannes Lepper inszeniert Shakespeare im Schlosstheater Moers

Von Bernd Berke

Moers. Überall wabert der Bühnennebel, und die Scheinwerfer leuchten so schockfarbig wie in einem Rock-Schuppen der frühen 70er Jahre. Es scheint, als hätte man Shakespeare mitsamt seinem „Macbeth“ unter Drogen gesetzt.

Fremder und ferner als Shakespeares elisabethanisches Zeitalter kommt einem dieser Einstieg im Schlosstheater Moers vor. Die Stimmen der Hexen, die Macbeth auf magisch-doppeldeutige Art den Aufstieg zum Königtum prophezeien, ertönen mit Verzerrer und Echo-Hall. Sodann verheißt der alte Beatles-Song „For the Benefit of Mr. Kite“ eine bizarre Show mit allseits garantiertem Vergnügen. Um im Genre zu bleiben: sozusagen „Best of Macbeth“ mit ein paar BonusTracks. Yeah!

Hausherr Johannes Lepper (auch Bühnenbild) hat das blutige Drama von der entgrenzten Machtgier tatsächlich inszeniert, als sei’s eine Show-Improvisation, eine mal lässige, mal überdrüssige, mal hysterisch aufwallende Probe aufs bereits tausendfach in Theatern gespielte Exempel.

Sie streiten wie im Kasperletheater

Seine nicht immer trefflichen Bilder sucht und findet dieser „postmoderne“ Zugriff zwischen Rock und Pop, Horror- und Gruftie-Ästhetik, Pornofilm und Variété, Comic und Hollywood-Kitsch. Sogar ein Bingo-Spielchen gehört zum Repertoire. Gewiss: Die winzige Bühne erlaubt keinen Panorama-Stil,. keine weitläufigen Aktionen, sie nötigt zum theatralischen „Tunnelblick“, zum (womöglich frechen) Konzentrat.

Offenbar haben alle Darsteller „Hier!“ gerufen, als es an die Besetzung der Hauptrollen ging. Lepper hat ihnen die Gunst erwiesen. Er lässt den Macbeth gleich von drei Schauspielern (Mike Hoffmann, Frank Wickermann, Jeffrey Zach) geben und verteilt die blutrünstige, ihren Gemahl zu etlichen Morden aufstachelnde Lady Macbeth auf zwei Damen (Stella-Maria Adorf, Sabine Wegmann).

Erst Athlet, dann Hänfling, dann Berserker

Aus dieser Mehrfach-Besetzung erwächst eher ein sich abnutzender Effekt als wahrer dramaturgischer Ertrag: Macbeth taucht zunächst als aggressiver Athlet auf, sodann als flatternd nervöser Hänfling, schließlich als wahnwitziger Berserker. Man könnte derlei Wandel auch spielen, doch hier herrscht Körper-Wechsel. Jede Identität ist eben dahin. Nun ja, so mag es denn zeitgemäß sein.

Mit seinen Armen imitiert Macbeth immer wieder angriffslustigen Flügelschlag, und er stoßt die Drohrufe eines Erpels aus. Ein Inbild der Gewalt-Anmaßung. Lady Macbeth, in ein blutrotes Kleidchen gehüllt und immerzu einen roten Ball in den Händen, tollt mit ihm zuweilen wie ein unartiges Kind umher. Dann wieder treiben sie’s gar ruppig. So sucht man den tierischen Kick, so geilt man sich auf zur nächsten Untat.

Und immer wieder hauen sie einander mit aus Zeitungen gekniffelten Papier-Pritschen, als würde Kasperle aufs böse Krokodil eindreschen. Da kann auch der edle König Duncan nur noch den lächerlichen Popanz im Schottenrock mimen.

Huldigungen nach Art eines Disney-Films

Und nicht etwa der gütige Malcolm wird am Ende neuer Regent, sondern Macduff nimmt, nachdem er Macbeth erstochen hat, die Huldigungen entgegen – bonbonbunt beleuchtet wie in einem Disney-Streifen. Merke: Mord ist Macht, und Macht ist Mord. Und die Show geht weiter.

Im Grunde aber sind all diese Gestalten nur bleiche Wiedergänger. Auf einem Bildschirm huschen zudem ihre flüchtigen Schatten einher. Vom Piano tröpfeln derweil melancholische Akkorde.

Etwas haltlos schien bisweilen die Inszenierung in ihrem Jux, aber auch in ihrem ernsten Drang. Doch selbst das Geschrei, in dem manche Textstelle markig hervortrat, manch andere jedoch unterging, scheint letztlich geisterhaft zu verwehen. Genau da horcht man plötzlich auf.




Ganz nah an den Wurzeln der Gewalt – Michael Hanekes phänomenaler Film „Code: Unbekannt“

Von Bernd Berke

Anne bügelt ihre Wäsche und sieht dabei fern. Die Kamera erfasst sie die ganze Zeit über frontal, wir sehen jede ihrer Regungen. In der Nachbarwohnung beginnt ein Kind zu wimmern. Die junge Frau stellt das TV-Gerät aus, hält inne und horcht. Ein Fall von Misshandlung nebenan?

Ihre Empfindungen schwanken. Doch nach ein paar Minuten wendet sie sich langsam wieder ihrem vorherigen Tun zu. Nun aber wirkt die vordem alltägliche Handlung nachhaltig verätzt. Später werden wir erfahren, dass die Nachbarstochter tot ist.

Regisseur Michael Haneke ist ein gnadenlos genauer Beobachter. Durchweg konfrontiert er uns in seinem phänomenalen Werk „Code: Unbekannt“ mit Episoden, in denen Gewalt gestaltlos droht oder sich entlädt. Die Figuren könnten wegsehen oder eingreifen. Ein wahrhaft dringliches Themenfeld.

Zwischen Ratlosigkeit und Zorn

Die prägnanten Sequenzen enden abrupt, mit scharfen Rissen und Sekunden der Dunkelheit, in denen Ratlosigkeit und Zorn nisten. Die Suchbewegung des Films richtet sich auf jenen „Code“, das System von Steuerzeichen, das hinter all diesen Vorfällen stehen könnte. Oder gibt es keine Regeln?

Sofort wird man in den Strudel gezogen. Jene Anne (beängstigend gut: Juliette Binoche) aus der Bügel-Szene, die wir später auch als Schauspielerin in einem Horrordrama erleben werden, redet dem Jugendlichen Jean zu. Der ist aus ländlicher Provinz geflohen und hat seinen Vater (Josef Bierbichler) zurückgelassen, der all sein Vieh töten wird. Weil er ohne Hof-Erben keine Zukunft sieht.

Dieser Jean also findet bei Anne, die mit seinem älteren Bruder Georges liiert ist, für ein paar Tage Unterschlupf. Nun zieht er los durch die Pariser Straßen – und entsorgt eine Brötchentüte, indem er sie achtlos einer Bettlerin in die bittend geöffneten Hände wirft. Entwürdigend! Der junge Farbige Amadou regt sich dermaßen darüber auf, dass er den Rücksichtslosen zwingen will, sich zu entschuldigen. Geschrei. Rangelei. Polizei wird geholt. Alle müssen mit zur Wache. Es ist der Anstoß für alles Folgende.

Nächste Szene: Starr blickt die Kamera auf eine Flugzeugtür. In lähmender Echtzeit sehen wir Passagiere einsteigen. Es ist eine gezielte Einlullung ins Banale. Schließlich taucht die Bettlerin von vorhin auf. Die Erkenntnis trifft einen nun blitzartig: Die Frau wird abgeschoben; eine schreiend ungerechte Konsequenz des Vorfalls mit der Tüte.

Aufgerüttelt oder abgestumpft?

Der Film fährt den Weiterungen nach, gleichsam mit weit aufgerissenen Augen missliche Verhältnisse betrachtend: in der Familie des jungen Farbigen, in der dumpfen Enge des Bauernhofs. im bitterarmen Rumänien (Herkunft der Bettlerin). Mit dem Kriegs-Fotografen Georges, der weltweit unterwegs ist und sich fragt, ob seine Bilder aufrütteln oder abstumpfen, nach welchen Code sie also wirken, kommt auch militärische Gewalt Betracht.

Und die Liebe? Im Hader mit seiner Freundin Anne gesteht der Fotograf, dass er noch nie jemanden glücklich gemacht hat. Haneke verlegt den Dialog in einen Supermarkt: Während die beiden konsumieren, erhitzt sich ihr Streit. Seelische Drangsal, mit Chips und Cola vermengt. Gegen Schluss wird Anne in der vollen U-Bahn von einem jugendlichen Araber angemacht, verhöhnt, bespuckt. Nur ein älterer Herr greift ein. In Annes Heulkrampf verdichtet sich das Menetekel dieses Films. Als sie durch städtische Kältezonen nach Hause wankt, wirkt sie so heimatlos wie die Bettlerin. Ungeschützt wie alle.

Ein Film, der keinen Trost birgt – und lange nachwirkt.