Dosierter Reiz der Fremdheit – Cappenberg zeigt deutsche Brasilien-Bilder des 19. Jahrhunderts

Von Bernd Berke

Cappenberg. Der Mann geht als sehniger Jäger durch den Dschungel voran, einige Meter hinterdrein trottet seine Gefährtin mit der Kinderschar. Häufig kehrt dieses Familien-Muster in der neuen Cappenberger Ausstellung wieder. Falls die Bilder nicht trügen, herrschte bei den Indianern im brasilianischen Urwald vor rund 150 Jahren jedenfalls kein Matriarchat.

Die aus Berlin kommende Schau führt mit vielen Beispielen vor, wie einigermaßen begabte deutsche Reise-Künstler im frühen und mittleren 19. Jahrhundert brasilianische Verhältnisse bebildert haben. Eine Leitlinie ist der ebenso forschende wie staunende Blick, mit dem sich der große Alexander von Humboldt den Phänomenen der Welt näherte. Er, der zwar südamerikanischen, aber nie brasilianischen Boden betrat, animierte auch Maler und Zeichner, wissenschaftlich verwertbare Exaktheit mit Inspiration zu verknüpfen – ein ganzheitlicher, künstlerischen Sinn einbeziehender Ansatz. Aber auch die Perspektiven der Humboldt-Ära sind vom Zeithorizont begrenzt. Doch wer weiß, welche Aspekte wir Heutigen, medial Gesättigten schlichtweg ausblenden.

Die damaligen Darstellungen wurden meist von adligen Herren gefertigt, sie konnten sich ausgedehnte Reisen erlauben. Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied etwa drang ab 1815 mit Gefolge in unwegsamstes Gebiet vor und hielt den Alltag der Puri-Indianer fest. Es muss beiderseits ein Kulturschock gewesen sein. Doch auf den Bildern wirkt alle Wildheit gedämpft, domestiziert, eingehegt, für europäische Geschmäcker zugerichtet.

Das Spektrum ist vielfältig: Einige erschöpfen sich in bloßer Wiedergabe (Abzeichnen von Pflanzen) oder ergehen sich in manchmal wohlig-schauriger Exotik, zeigen allerlei Waffen, Gerätschaften oder auch phantastischen Kopf- und Körperschmuck. Bestandsaufnahmen nach Art der „Wunderkammer“.

Vielfach werden die so unterschiedlichen Völkerschaften Brasiliens nur auf grob typisierenden Tafeln dargeboten. Andere Künstler geben sich hingegen Mühe, Individualitäten zu begreifen. Landschaften treten dann in ihrer besonderen tropischen Farbskala hervor, Menschen bekommen ein unverwechselbares Gesicht.

Es ist zumeist noch ein selbstzufriedener, kolonisatorischer Blick weißer Europäer, der sich auf „Eingeborene“ richtet, die oft bei Raufereien oder mystischen Ritualen und Tänzen gezeigt werden.

Das schöne Licht auf dem Sklavenmarkt

Diese als ursprünglich, doch auch als triebhaft wahrgenommene Fremdheit wird als dosierter Reiz eingesetzt, ebenso wie die Nacktheit der indianischen Bevölkerung. Doch das vermeintliche Paradies ist bedroht. Man sieht schon Bilder, auf denen die Abholzung des Urwaldes beginnt…

Rassen- und Klassen-Herrschaft auf Landgütern oder in Diamant-Minen kommt teils deutlich zum Ausdruck, doch dies wird nur registriert, nie mit Empörung dargestellt. Dunkelhäutige schuften vor einer Kirchen-Kulisse, portugiesische Einwanderer halten derweil ein Schwätzchen. Auf dem Bilde wirkt diese Ordnung der Dinge geradezu naturwüchsig.

Nicht einmal die Ansicht eines Sklavenmarktes hält sich bei sozialen Bedenken auf, sondern spielt mit Licht- und Schattenwerten, so dass das arge Geschehen pittoresk wirkt. Ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen Auspeitschung eines vermeintlichen Übeltäters. Wahrscheinlich hat der Zeichner nur gedacht: Der Bursche wird’s wohl verdient haben.

Frappant die detailfreudig ausgemalten Urwald-Szenen des aus Augsburg stammenden Johann Moritz Rugendas, sie verströmen beinahe den Geruch tropischer Feuchtigkeit, rühren ans Dunkle auch in der Seele des Betrachters. Weitaus gebändigter kommen andere Landschaften daher. Da glaubt man sich etwa in liebliche Rhein-Gegenden versetzt. Auch in der Fremde sieht mancher nur das, was er von zu Hause her kennt.

Bilder aus Brasilien im 19. Jahrhundert. Schloss Cappenberg. Bis 23. Dezember. Tägl. außer Mo. 10-17 Uhr. Eintritt frei, Katalog 50 DM.




Ein Dreckskerl von heute – Karin Beier verquickt Shakespeares „Richard III.“ mit den New Yorker Anschlägen

Von Bernd Berke

Bochum. Das „Friedens-Trallala“ im „Wackelstaat“ ist Richard III. ein Graus. Auch für die Freuden der Liebe fühlt sich der bucklig-schiefe Mann nicht geschaffen. Da beschließt er eben, „ein Dreckskerl“ zu werden.

Regisseurin Karin Beier stellt Shakespeares monströse Figur in ein Plastik-Pop-Ambiente wie aus den 60er Jahren (Bühne: Florian Etti). Große bunte Zielscheiben markieren in Bochum die prekäre Schwebelage zwischen Show und Gewalt. Natürlich neigt sich die Wippe zum Verderben. Doch Richard (Armin Rohde) schlendert zunächst so lässig wie ein Tramp durch seine Schule des Bösen, in die er uns mit diabolischem Charme einführt.

Die Friedensschlüsse zwischen den Häusern Lancaster und York werden hier als faule Kompromisse dargestellt, die Machtkämpfe gehen weiter – und der Skrupelloseste ist just dieser Richard. Er lässt die halbe Verwandtschaft ausrotten – und alle, die ihm sonst im Wege stehen. Ein paar Herren (aalglatt: Matthias Leja als Buckingham) helfen ihm beim Mordhandwerk, die seelischen Kosten tragen vor allem die Frauen (schmerzensreich: Johanna Gastdorf als Königin Elizabeth).

Nur ein Katalysator der üblen Verhältnisse

Zwischendurch tobt sich eine besinnungslose Spaßgesellschaft in Tänzen und Slapstick aus. Dass hier ein Blitz dreinfahren möge, kann man Richard fast nachfühlen. Er bringt ja, so legt uns Karin Beier nahe, letztlich nur ein verderbtes Gesindel auf seinen nackten Begriff und ist lediglich ein Katalysator der eh schon herrschenden Verhältnisse. Richard muss sich nicht einmal selbst mit Blut beflecken, sondern kann auf willfährige Handlanger zählen.

Im Arena-ähnlichen Bühnenviereck flimmern acht Bildschirme, meist sieht man die grünlich flackernden CNN-Bilder vom US-Angriff auf Afghanistan. Damit beginnt ein Elend dieser Inszenierung. Karin Beier aktualisiert auf Teufel komm ‚raus. Ein Mordanschlag auf das Haus York wird mit einem Verlautbarungs-Mix aus Redefetzen à la Bush, Blair und Schröder beantwortet. Schwacher Trost: Osama bin Laden hat keinen Auftritt, und Milzbrand-Briefe kommen auch nicht vor…

Offenbar sollen alle Beileids-Bekundungen als Heuchelei entlarvt werden. Sogar beim Gedenk-Vaterunser schnarchen sie alle. Schöne Christenmenschen, ha! Keine Spur von Spiritualität. Offenbar Grund genug, dass man das Kreuz-Symbol bei Richards königlicher Machtergreifung mit „Heil“-Rufen der Masse verknüpft, die den Diktator als Erlöser feiert.

Das Handy zirpt wie bei Joschka Fischer

Überdies schwafelt man von Teppichmessern, und auch das Schlagwort von der „uneingeschränkten Solidarität“ bleibt nicht aus. Zudem zirpt einmal ein Handy in der Hosentasche – wie neulich bei Joschka Fischer, als er neben dem Kanzler stand. Karin Beier hat eben viel ferngesehen in den letzten Wochen. Statt Dringlichkeit aus dem Text zu schöpfen, pfropft sie Tages-Details auf. Oh, wie billig.

Was aus der Sache hätte werden können, ahnt man nach der Pause. Richards Machtrausch läuft sich leer, die Königskrone ist nur noch Tand. Er brütet in gottserbärmlicher Einsamkeit. Hier hat Armin Rohde große Momente. Und endlich verspürt man das Gefühl, eine Shakespeare-Tragödie zu sehen.

Als Richard alle Untaten gesteht, gibt es kein Echo mehr. Niemand hört zu. Ihm bleibt nur das Fernsehen, das von anrückenden Feindestruppen berichtet. Das medial vermittelte Übel ist dauerhaft in der Welt. Gespenstisch.

Im Premierenpublikum gab’s ein heftiges Gewoge von Bravos und Buhs.

Termine: 27., 28. Okt, 1., 3., 23, 24. Nov. Karten: 0234/ 3333-111.




Bleierne Zeit im Museums-Bunker – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Arbeiten von Joachim Bandau

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Auch dies ist ein Weg, die Skulptur vom hehren Sockel zu holen: Wenn man sie einfach auf Rollen setzt und damit signalisiert, dass dies alles jederzeit ins Gleiten geraten könnte.

Joachim Bandau (1936 in Köln geboren) hat seit den bewegten späten 60er Jahren solche im Prinzip mobilen Plastiken gefertigt. Doch sein Werk umfasst auch hermetische, gleichsam still in sich gekehrte und starr wirkende Fügungen aus Blei und Stahl.

Einen Querschnitt durch derlei Vielfalt dokumentiert jetzt mit einer „Gegenüberstellung“ (Untertitel) von Skulpturen und Schwarz-Aquarellen die Bandau-Retrospektive in der Kunsthalle Recklinghausen. Gerade dieser Weltkriegs-Bunkerbau am Bahnhof ist ein passendes Gehäuse für des Künstlers strenge Bunker-Bilder aus den späten 70er Jahren. Sie leiten sich nicht nur aus der fortwährenden Kriegsangst Bandaus her (als Kind durchlitt er schreckliche Bombennächte in Kellern), sondern vermitteln wohl auch etwas von der mulmigen Gefühlslage jener „bleiernen Zeit“ des RAF-Terrorismus um 1977. Man mag da an Hochsicherheitstrakte denken, vielleicht auch an gefährliche Reaktoren. Die Blätter evozieren diese Themen niemals direkt, sondern beschwören eine schwer lastende Atmosphäre von stumpfer Angst und allseitiger Verschlossenheit mit rein künstlerischen Mitteln.

Überhaupt verfährt Bandau nach tradierten Regeln der Kunst: Mit Bodenplastiken erkundete er in immer neuen, sehr exakten Ansätzen Maßverhältnisse, Gewichtungen, Masse und Volumen, Freisetzungen und Einschlüsse. Die Oxidation von Stahl und Blei verleiht diesen beharrlichen Studien allmählich eine ganz eigene Patina und Würde.

Kalkulierte Verzerrung der Körperlichkeit

Bandau, der in Aachen lebt und lange in Münster als Kunstprofessor gewirkt hat, kann höchst triftig über seine Materialien, so auch über Papiersorten und deren Qualitäten dozieren. Jedes Papier habe eine Hauptrichtung des Verlaufs, daran müsse man sich beim Farbauftrag halten, sonst fließe alles ungeregelt umher. Richtung? Ja, man merke dies, wenn man eine Zeitung längs oder quer zerreiße; das eine gehe mit glatten Kanten vonstatten, das andere nur mit Fetzen (bitte nicht gleich mit diesem WR-Exmplar ausprobieren).

Es ist, als habe Bandau die „Seelen“ des Bleis oder der Bütten gesucht und gefunden. Aufs Blei kam er übrigens rein assoziativ, vom Bleistift (Graphit) her, wie er denn überhaupt – aller Expertenschaft und Exaktheit zum Trotz – die Lust am Zufall und am Experiment nie verloren hat. So ergeben sich auch Effekte, die ihn selbst überraschen: Einst zeichnete er mit Tee- und Kaffee-Extrakten. Mit der Zeit sind diese Bilder gelblich geworden, als stammten sie aus ganz ferner Vergangenheit.

Seine rollbaren Skulpturen werden, als originelle Ausprägungen der Pop-Art, neuerdings wieder eingehender gewürdigt. Die teilweise leicht grotesken Klon-Gebilde zwischen Menschenkörper und Maschinenwelt wirken (manchmal an der Grenze zur Komik) ein wenig bedrohlich, sie greifen ins Surreale aus. Man erschrickt über die kalkulierten Verzerrungen und Auswüchse des Figürlichen. Diese oft kabinenförmigen Gestelle sehen aus wie überdimensionierte Spielzeuge aus einer mutierten Welt oder wie technisches Rüstzeug einer absurden Klinik. Dass sie auf Rollen daherkommen, deutet auf etwaige Mobilität hin. Doch diese Objekte sind so abweisend gepanzert, als wollten sie nie mehr vom Fleck.

Joachim Bandau: „Gegenüberstellung“. Kunsthalle Recklinghausen. Bis 18. November, Di- So 10-18 Uhr. Kataloge: Skulpturen 42 DM, Aquarelle 25 DM.




Religion darf die Welt nicht spalten – Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann

Von Bernd Berke

Noch nie gab es auf ein Buch von Thomas Hürlimann (51) ein so vielfältiges Echo wie auf die Novelle „Fräulein Stark“, erschienen im Zürcher Ammann-Verlag. Ein Hauptgrund: Kritikerpapst Reich-Ranicki hatte dem Autor vorgeworfen, das Thema Judentum unangemessen nebensächlich behandelt zu haben. Schon über 50000 Exemplare wurden verkauft, die vierte Auflage wird gedruckt. Die WR sprach mit Hürlimann auf der Frankfurter Buchmesse.

Haben Sie mit einer solch breiten Reaktion auf ihr Buch gerechnet?

Thomas Hürlimann: Überhaupt nicht. Ich habe sogar mit dem Verleger gewettet, dass nicht mehr als 30000 Exemplare verkauft werden. Jetzt muss ich ihm und seiner Frau einen mehrtägigen Aufenthalt im Grand Hotel Victoria in Interlaken spendieren.

Das wird nicht billig.

Hürlimann (lacht): Bei der Auflage kann ich’s mir ja jetzt erlauben.

Marcel Reich-Ranicki hat behauptet, in Ihrem Buch werde die jüdische Herkunft des Ich-Erzählers so verborgen, dass man sie kaum bemerkt.

Hürlimann: Genau das ist ja das Thema: Dass die jüdischen Vorfahren des Jungen vor ihm verborgen werden, dass er es selbst erst langsam herausfindet. Wenn man von einem Lügner erzählt, muss man ihn lügen lassen. Erzählt man von einem Tabu, so muss es erst einmal bestehen. Da lässt man nicht gleich die Katze aus dem Sack.

Der Stoff ist stark autobiographisch gefärbt?

Hürlimann: Ja. Der Junge, der einen letzten Sommer als Bibliothekshelfer verbringt, bevor er acht Jahre lang in die Klosterschule kommt, das bin ich im Jahre 1963. Er kommt zwei Geheimnissen auf die Spur: dem anderen Geschlecht, indem er den Bibliotheks-Besucherinnen heimlich unter die Röcke schaut – und dem eigenen Geschlecht, also seiner familiären Herkunft. In der Schweiz sagen wir „Geschlechtsname“ statt „Familienname.

Das Fräulein Stark, die Haushälterin des Bibliothekars, ertappt den Jungen immer wieder und will ihn von sündigen Gedanken abbringen. Aber sie ist auch lebenslustig.

Hürlimann: Ja, auf eine versteckte Art. Es ist noch der Geist der 50er Jahre. Und sie hat katholisch motivierte Vorurteile gegen das Judentum. Das gab es bis in die 60er Jahre hinein. Die Schweiz hat so etwas wie einen Zusammenbruch des Faschismus nicht erlebt. Man sah keinen Grund, eine große Korrektur anzustellen. Man wähnte sich auf Seiten der Sieger.

Auch an Sie die Frage: Verändern die Terroranschläge des 11. September die Literatur?

Hürlimann: Literatur sollte nie derart ins Tagesgeschehen eingreifen. Aber Bücher, die so etwas erfassen können, sind immer schon geschrieben worden. Das, was in New York geschehen ist, ist ja fast archaisch. Quer durch die Weltliteratur gibt es Texte, die solche Katastrophen schildern – angefangen beim Alten Testament und bei Homer. Vorahnungen hatte Botho Strauß, den man vor einigen Jahren heftig attackiert hat wegen seines „Anschwellenden Bocksgesangs“, weil er von künftigen Kriegen schrieb und weil er gesagt hat, wir müssten Begriffe wie Soldat und Priester wieder ernst nehmen.

Haben Sie Strauß damals auch gescholten?

Hürlimann: Oh, nein. Ich selbst habe zehn Jahre in Berlin-Kreuzberg gelebt. Mit den türkischen Nachbarn verstand ich mich eigentlich gut. Doch eines Tages wurde der Tochter verboten, mich zu grüßen, weil ich kein Moslem bin. Wenn wir Bier tranken, durften sie alle nicht mehr das Glas verwenden, das ich als „Ungläubiger“ benutzt hatte. Das war so ein schleichender Vorgang, es entstand da eine Frontlinie, da riss etwas auf.

Die Klosterschule schwebt als ständige Bedrohung über dem Jungen in ihrer Novelle. Haben Sie dort einen „christlichen Fundamentalismus“ kennen gelernt?

Hürlimann: Es war sehr ideologisch. Das hat ja auch etwas Großartiges, dass man an ein Jenseits glaubt. Dass ich diesen Glauben verloren habe, empfinde ich auch als Verlust. Aber wenn Religion die Welt in Gut und Böse einteilt, dann sage ich: Rette sich, wer kann!




„Schreiben ist für mich eine Lust“ – Gespräch mit Wilhelm Genazino

Von Bernd Berke

Mit seinem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ hat Wilhelm Genazino nicht nur das „Literarische Quartett“ im ZDF überzeugt. Die Geschichte eines arbeitslosen Stadt-Flaneurs, der auf seinen Wegen gelegentlich gegen Entgelt Luxus-Schuhe testet, registriert allerlei „Merkwürdigkeiten“ unseres täglichen Lebens. Unaufdringlich, aber höchst eindringlich. Die WR traf Genazino am Buchmessestand des Carl Hanser Verlages.

Die unvermeidliche Frage dieser Tage: Müssen sich Autoren nach den Terroranschlägen vom 11. September thematisch neu orientieren?

Wilhelm Genazino: Nein. Wer das fordert, ist töricht. Die Literatur kann doch nicht unentwegt den Terror nachspielen. Man hat ja immer noch wenigstens ein Bein im normalen Leben. Wenn es nur noch Bücher über Terror gäbe, dann wäre der wirkliche Terror ausgebrochen.

Und was sagen Sie zum Befund, die Spaßgesellschaft sei nun vorüber, eine neue Ernsthaftigkeit müsse einkehren?

Genazino: Die „Spaßgesellschaft“ war sowieso immer eine Fiktion, die Erfindung einiger Medienvertreter. Gucken Sie sich nur die Hauptquelle unseres angeblichen Spaßes an, das Fernsehen. Wie todtraurig ist das, wie lustlos. Bald wird es uns allen zum Hals heraushängen. Immer mehr Menschen wenden sich davon ab…

Manche Kritiker halten Ihnen vor, sie hätten sich nach Ihrer „Abschaffel“-Romanreihe über das Leben der Angestellten von der sozialen Wirklichkeit entfernt.

Genazino: Das stimmt einfach nicht. In meinem neuen Buch geht es um seelische Folgen eines der zentralen Probleme der Gegenwart: Arbeitslosigkeit. Meine Eltern sprachen noch von einer „Lebens-Stellung“. So etwas gibt es heute kaum noch. Die Schleuderbewegung der Arbeitsgesellschaft wird immer mächtiger. Sie erfasst auch meinen Erzähler: Die Arbeit trägt sein Leben nicht mehr, er droht abzugleiten. Er bekommt Identitäts-Probleme, lebt nur noch nach innen. Identität bedeutet ja auch: zu wissen, was man arbeitet. Arbeit konturiert und erdet das Leben.

Wie sehr steigern Sie sich in eine solche Figur hinein?

Genazino: Eigentlich überhaupt nicht. Ich setze meine Ideen mit einiger Coolness um. Es ist eben schon mein 18. Buch. Inzwischen ist das Schreiben ein äußerst sachlicher, handwerklicher Vorgang. Man fällt nicht mehr vom Stuhl vor lauter Erregung oder Einfühlung. Wenn ich hitzig schriebe, ginge es schief. Dann hätte ich ein nasses Hemd, aber kein Buch. Ich bin auch kein Quäl-Schreiber, schreiben ist für mich eine Lust.

Sie veröffentlichen seit rund 30 Jahren Bücher. Im „Literarischen Quartett“ hat Marcel Reich-Ranicki bekannt, erstmals etwas von Ihnen gelesen zu haben…

Genazino: Tja, was soil man dazu sagen. Es ist sehr merkwürdig, aber ich kann mich nicht so recht darüber erregen. Autoren meines Schlages führen eben eine Geheimtipp-Existenz. Der Schriftsteller-Beruf gleicht ohnehin einer Achterbahnfahrt. Ich sage auch bei Schreibseminaren den jungen Leuten immer wieder: „Denken Sie daran, niemand außer Ihnen selbst verlangt, dass Sie Schriftsteller werden. Niemand wartet auf Sie. Es gibt bereits Abertausende von Schriftstellern.“

Gibt es zu viele?

Genazino: Im Gegenteil. Es sollte noch mehr geben. Irgendwann kann dann vielleicht jeder Leser den ihm gemäßen Autor finden, fast bis hin zur hundertprozentigen Identität. Das wäre ein Zeichen von hoher Kultur!




Ein Rest von Unbehagen: Rundgang durch die Frankfurter Buchmesse / Erhöhte Sicherheits-Maßnahmen

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

„Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!“ heißt es freundlich aber bestimmt am Eingang. Erst nach eingehender Prüfung darf ich das Gelände der Frankfurter Buchmesse betreten. Später, an den Pforten zur Halle 8, erledigen die Sicherheitskräfte die Durchsieht nochmals – jetzt ganz ohne meine Mitwirkung. Hier geht’s noch bedeutend gründlicher zu. Es ist nur allzu verständlich, denn in diesem Bereich stellen u. a. Verlage aus den USA, Großbritannien und Israel aus.

Die sichtbare Polizei-Präsenz bei den folgenden Messerundgängen hält sich in Grenzen. Man ist jedenfalls froh, dass Vorkehrungen getroffen werden. Beispiel: Es gibt keine Schließfächer, in denen jemand Explosives deponieren könnte. Um Punkt 19 Uhr müssen alle Hallen menschenleer sein, am anderen Morgen werden sie erneut durchkämmt. Trotz alledem bleibt ein haarfeiner Rest von Unbehagen. Heuer in Frankfurt zu sein, ist etwas anders als ehedem.

Branchenthemen rücken in den Hintergrund

Der Terror des 11. September hat eben auch das altvertraute Buchmessen-Feeling nicht ganz unberührt gelassen. Branchenthemen wie Euro-Umstellung oder Urhebervertragsrecht rücken in den Hintergrund. Und Editionen, die sonst vielleicht Trends markiert hätten, wirken auf einmal läppisch, beispielsweise die nun zahlreich erschienenen Bände, die im Gefolge des Fernseh-Quizbooms die Lust an raschen und eindeutigen Antworten nähren. Doch das Leben ist leider kein Quiz.

Akutere Relevanz besitzen hingegen viele der eilig in den Vordergrund geschobenen Bücher über den Islam. Allseits sehen sich nun Schriftsteller unter Erwartungsdruck gesetzt, dem bitteren Ernst der Weltlage gerecht zu werden. Manche wehren sich schon gegen derlei Ansinnen, so etwa gestern am Messestand der Wochenzeitung „Die Zeit“ der prominente Dramatiker Moritz Rinke.

Der Druck, jetzt Bücher über Terror zu schreiben

Bis man ein Buch zum Thema geschrieben und herausgebracht habe, hätten die Journalisten doch schon alles abgegrast, befand der Autor. Der „hohe Geräuschpegel“ mancher Darstellung gehe ihm schon jetzt auf die Nerven. Dennoch fürchtet auch Rinke, dass alle anderen Stoffe jetzt unter Nichtigkeits-Verdacht geraten. Im WR-Interview (ausführlich in einer der nächsten Ausgaben) äußerte sich auch Wilhelm Genazino ablehnend. Wer von Autoren jetzt nur noch dieses eine Thema fordere, der übe geistigen Zwang aus.

Heute, genau einen Monat nach den Attentaten, soll in den Messehallen eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer eingelegt weiden. Ohnehin geht es spürbar gedämpfter zu als sonst. Mag sein, dass sich dies im Lauf der Messetage normalisiert. Doch gestern hielten sich notorische Marktschreier für Druckwaren merklich zurück, und wo ein Werbefilm-Monitor lief, da hatte man den Ton zumeist auf Schwundstufe gedreht. Das gilt nicht zuletzt für die Hallenbezirke der US-Verlage. Wegen einiger Absagen klaffen hier denn doch ein paar empfindliche Lücken in den Reihen der Kojen.

Griechenland – nicht allzu lektürefreundlich

Orts- und Szenenwechsel: Mit dem Griechenland-Schwerpunkt ist das so eine Sache. Das Land so vieler antiker Klassiker ist heute nicht gerade lektürefreundlich. Nur 19 Prozent der Griechen lesen regelmäßig Zeitung. Zwar gibt’s in der Hauptstadt Athen eine ruhmreiche Straße mit Dutzenden von Buchladen, doch nur rund 700 000 von 10 Mio. Einwohnern des Staates dürfen als verlässliche Buchkonsumenten gelten. Ein wenig spiegelt‘ sieh dies auch in der Frankfurter Sonderschau, die mit vielen touristischen Reminiszenzen, Musik und bildender Kunst durchaus sinnlich garniert ist. Fast könnte man die Bücher aus und über Griechenland für Nebensachen halten. Dennoch kann man nicht nur von Homer bis Platon, sondern auch bei den griechischen Gegenwartsautoren einiges entdecken; zumal auf dem Felde der lyrischen Produktion.

Ein Kompliment muss man den Messegestaltern machen. Sie haben einiges verändert. Die Messe ist deutlich kompakter geworden, die neue Halle 3 (hier und in Halle 4 konzentrieren sich die deutschsprachigen Verlage) lässt reichlich Tageslicht zu den Büchern, man fühlt sich nicht mehr wie in einem großen Lesebunker. Neu sind auch das „Forum“ (Griechenland-Schwerpunkt) und ein großes Parkhaus, das etwaiges Anfahrts-Chaos mildert. All das könnte man als Besucher ungetrübt genießen. Wenn denn die Begleit-Umstände anders wären…

Bis Freitag nur für Fachbesucher. Sa/So. (13. und 14. Oktober) ist die Messe für alle zugänglich (jeweils 9 bis 18.30 Uhr). Tageskarte 14 DM.