Im Chaos-Zimmer der Pubertät – Jürgen Kruse inszeniert in Bochum Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“

Von Bernd Berke

Bochum. „Jeden Tag ein Produkt weniger. Vorbei die schöne Vielfalt des Marktes. Umsonst die höheren Weihen. Das Ende der stolzen Zahlen. Ich bin ratlos.“ Knappe Worte zur Wirtschaftskrise, aus einem Stück der Stunde? Nein! Sie stammen aus Peter Handkes im Ölschock-Jahr 1973 verfasstem Text „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Jürgen Kruse, der dieses Stück nun in Bochum inszeniert hat, stellt den zeithistorischen Abstand plakativ heraus: Die Jahreszahlen „ 1973″ und „2002″ prangen über der Szenerie. Auch gehört zu den Requisiten (Bühnenbild: Altmeister Wilfried Minks) – zwischen virtueller Hochhaus-Silhouette und kubischem Mobiliar – die Attrappe einer Marx-Engels-Ausgabe mit den berühmten blauen Buchrücken („MEW“). Jaja, die Revolten-Chose ist längst passe. Geschichtliche Verwüstung hat sich noch breiter gemacht.

Ein weiteres Direktoren-Drama

Der Unternehmer Quitt und vier Konkurrenten schmieden ein Kartell mit Preisabsprachen. Einziger Widerpart ist ein wahnwitziger Kleinaktionär (Alexander Maria Schmidt), der hier immer mit den Fingern schnippst wie ein Erstklässler. Quitt jedenfalls hält sich nicht an die Vereinbarungen und drückt die anderen – keineswegs nur geschäftlich – an die Wand. Punkt. Aus. Ein weiteres „Direktoren“-Drama in Bochum also.

Diesmal aber dauert die Sache über vier Stunden. Denn Kruse lässt Handkes Sätze vielfach manieristisch dehnen und die Worte äußerst langsam, Silbe für Silbe, aus Quitts Mund kollern. Darsteller Michael Altmann muss sogar unentwegt „Eeeees“ statt „Es“ sagen. Der Mann, der sich so ausgiebig in anderen gespiegelt sehen will, gibt mal den verzweifelt empfindsamen Wanderprediger, mal den cholerischen Markt- und Menschen-Beherrscher. Das schrankenlos ausgelebte Ich, der Rollenwechsel als Machtinstrument.

Mal wieder den Plattenschrank geplündert

Zudem hat Kruse mal wieder seine Plattensammlung geplündert, was sich diesmal als zeitraubender Fehlgriff erweist und die GEMA-Gebühren nicht wert ist. Denn schon Handkes Text über die letzten Zuckungen und Aufwallungen des bürgerlichen „Ich“ ist diffus genug. Die Klangspur, nach Kruses Lust und Laune zwischen Bryan Ferry und Hildegard Knef sich erstreckend, setzt die Assoziationen jeweils auf noch ganz andere, oft nicht recht passende Fährten. Die Bühne als Chaos-Zimmer der Pubertät: laute Musik, unaufgeräumt…

Zu Beginn wähnt man sich gar in einer Küstenkneipe, da ertönen Auszüge aus einem Hamburger Hafenkonzert, und Quitt drischt auf einen Sandsack mit aufgedruckter Weltkarte ein, der am Ende leer rinnen wird. Welch eine umstandslose Symbolik des Vergehens, des Welt- und Wirklichkeitsverlustes!

Stärke durch Distanz zum eigenen Tun

Doch vieles, was man ohne Textkenntnis Kruse zuschreiben würde, steht wirklich bei Handke – auch die gewittrigen Stürme, die aus Lautsprechern tönenden Monumental-Rülpser oder die lebenden Schlangen, die am Schluss züngeln. Willkommen im apokalyptischen Zirkus. Oder auch in der „Voodoo Lounge“ – dieser Stones-Titel steht auf der Tür, die zur Bühne führt.

Kruse folgt der Vorlage ziemlich genau und hält sie an allen Flanken überaus vieldeutig offen. Quitts Überlegenheit mag sich aus seiner besonderen Ich-Stärke speisen, vielleicht aber auch daraus, dass er – anders als die anderen Unternehmer – jederzeit von sich absehen und Distanz zu seinem Tun halten kann. Mitunter scheint sich der Text aus Sprechakt-Theorien nahezu rechnerisch zu ergeben. Er enthält viele Slapstick-Treibsätze und somit herrliche Spiel-Anlässe, die weidlich genutzt werden. Es kündigt sich freilich auch schon jener Peter Handke an, der durch schieres Erzählen und Erinnern die Welt bewahren will. Doch derlei Ansätze zerfaserten damals noch in atemloser Anekdotik.

Wie bei einer.ordentlichen Rock-Session, so bekommt in Bochum jeder Darsteller sein furioses Solo. Immer wieder erzielt das großartige Ensemble (u.a. Ernst Stötzner, Manfred Böll, Bernd Rademacher) auch konzentrierte, intime, beinahe privat wirkende Momente, in denen die Gestalten ihre Rollen probehalber verlassen. Anschließend drehen sie wieder auf wie nur je. Eine höchst interessante Figur zeichnet Johann von Bülow als Quitts Vertrauter Hans – ein wenig Hofnarr, Hausfreund der im Nichtstun verstörten Gattin (Julie Bräuning), ein wenig Lakai, doch auch Parasit.

Ortsüblicher Jubelbeifall, vermischt mit ein paar zaghaften Buhs für die Regle.

Termine: 25., 30. Dez. /9., 16. und 26. Jan. 2003. Karten: Tel. 0234/ 3333-111.

 




Körperkult und Ideologie – Bonner „Haus der Geschichte“ riskiert eine Ausstellung über Leni Riefenstahl

Von Bernd Berke

Bonn. Zur Eröffnung war eine antifaschistische Demo angemeldet, schon mittags wurden Flugblätter gegen die neue Austellung verteilt, und auch eine Strafanzeige gegen das Bonner „Haus der Geschichte“ (wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole) lag vor: Wo der Name der umstrittenen Filmregisseurin Leni Riefenstahl auftaucht, schnappen Reaktionen schnell ins bekannte Schema ein.

Riefenstahl, die kürzlich 100 Jahre alt wurde, war wohl viel tiefer ins NS-System verstrickt, als sie bis heute zugeben mag. Daher wirkt es auf manche wie eine gezielte Provokation, wenn jetzt das Bonner Haus der Geschichte eine Riefenstahl-Schau mit Filmausschnitten und rund 300 Dokumenten zu Leben und Werk zeigt, darunter etliche Leihgaben aus dem Privatbesitz der Künstlerin. Die aber habe keinerlei Einfluss aufs Konzept genommen, versichern die Veranstalter.

Ihre Kunstausübung ist keineswegs „unpolitisch“

Die Pressekonferenz war ausgesprochen defensiv ausgerichtet. Mit Prof. Lothar Gall, der dem Beirat des Museums vorsteht, hatte man zusätzlich einen Nestor der Historikerzunft aufgeboten, der dem Unterfangen Dignität verleihen soll. Die Ausstellung, so Gall, sei keine Hommage an Riefenstahl (NS-Parteitägsfilm „Triumph des Willens“, Olympiafilm 1936). Es solle klar werden, dass ihre Ästhetik eine „konstitutive Nähe“ zur NS-Ideologie aufweise, ihr notorischer Rückzug auf „unpolitische“ Kunstausübung also fehl gehe.

Prof. Hermann Schäfer, Leiter des Hauses, betonte einen weiteren Aspekt: Hollywood werde 2003 einen Riefenstahl-Film herausbringen. Da wolle man das Thema sachlich abhandeln, bevor die vom Kino geweckten Emotionen überhand nehmen. Bemerkenswerter Zugzwang…

Menschenmassen als formbare Ornamente

Was also gibt es zu sehen? Eingangs erhebt sich der überlebensgroße „Prometheus“ des stark NS-geneigten Bildhauers Arno Breker, als Kontrapunkt dienen Werbefotos für die Modemarken Calvin Klein und Joop. Was zu beweisen war: Die Verklärung „heldisch“-makelloser Körper, die auch Riefenstahls Werk eigen ist, wirkt nach.

Die insgesamt seriöse, nur punktuell etwas kurzatmig geratene Schau, die wenige „Reliquien“-verdächtige Objekte ohne tieferen Sinn enthält, ist chronologisch wie eine doppelte Phalanx aufgebaut: In der linken Reihe laufen Filmausschnitte, rechts erstrecken sich die Vitrinen.

Man merkt, wie sich gewisse Komponenten der Filme monoton wiederholen: Menschenmassen werden zu formbaren „Ornamenten“ stilisiert, es herrschen Körper- und Führerkult, und bis hin zu Tauchbildern oder den „Nuba“-Fotografien aus Afrika hat Riefenstahl Fluchtwelten aufgesucht. Überdies entsprachen die Männer vom Nuba-Stamm weitgehend dem zur NS-Zeit propagierten Ideal sehniger Krieger – zumindest aus ihrer Perspektive.

Verräterisches Dank-Telegramm an Adolf Hitler

Es gibt einige prägnante Dokumente, etwa ein glühendes Dank-Telegramm Riefenstahls an Hitler oder, noch erschütternder: ihre eigenhändige Vollmacht für den „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher, die Honorarforderungen „des Juden Béla Balazs“ (wörtlich) abzuwehren, der als Ko-Autor an Riefenstahls Film „Das blaue Licht“ mitgewirkt hatte.

Es bleibt kaum eine andere Schlussfolgerung: Leni Riefenstahl hat eifrig und ideologisch passgenau für die Nazis gearbeitet. Ein in der Ausstellung zitierter Satz von Luis Bunuel fasst es noch knapper: „Ideologisch grauenhaft, aber phantastisch gemacht.“

Haus der Geschichte, Bonn (Museumsmeile). Bis 2. März 2003, Di-So 9-19 Uhr. Eintritt frei.




Vom Kalauer zur Lebensweisheit – Der Dichter, Maler und Zeichner Robert Gernhardt wird 65 Jahre alt

Von Bernd Berke

Es ist überhaupt kein Frevel am klassischen Erbe, wenn man den Schriftsteller Robert Gernhardt in einem Atemzuge etwa mit Lichtenberg, Jean Paul oder Kurt Tucholksy nennt. Auch er gehört zu den ganz großen Humoristen und bildmächtigen Wortkünstlern unserer Literatur.

Zwischen Kalauer und Weisheit, Drastik und Feinsinn, die er so unnachahmlich zu verknüpfen weiß, ist Gernhardt nichts Menschliches, Tierisches und Sprachliches fremd. Seine prägnanten Sinn-Sprüche zieren nicht nur Anthologien, sondern sind auch ins verbale Volksvermögen eingeflossen. Höherer Nonsens mit Breitenwirkung: Die Kinofilme des Otto Waalkes wurden gleichfalls aus der Gernhardtschen Wortmanufaktur beliefert. Wo und wie auch immer: Bei Gernhardt stimmt der „Sound“ des Geschriebenen, und viele Menschen spüren das.

Der deutsche Nachkriegs-Humor auf einer neuen Stufe

Dass dieser ungemein sympathische, vielfach begabte Maler, Zeichner und Dichter morgen 65 Jahre alt wird, möchte man am liebsten nicht wahrhaben. Ist es denn wirklich schon so lange her, dass Gernhardt – im Verein mit F. K. Waechter und F. W. Bernstein –  dichtend und zeichnend die legendären „Pardon“-Seiten „Welt im Spiegel“ („WimS“) schuf? Nun ja, das war zwischen 1964 und 1976, liegt also ein Stück des Weges zurück. Doch es ist noch gegenwärtig, denn damals wurde der deutsche Nachkriegs-Humor auf eine lang vermisste neue Stufe gehievt. Diese Großtat fruchtet bis heute. Ohne Loriot, Heinz Erhardt oder eben Gernhardt & Co. („Neue Frankfurter Schule“) wäre beispielsweise ein Max Goldt kaum denkbar. Die Fackel wird also gottlob weiter getragen.

Die Feuilletons würdigten ihn erst recht spät

Schon gegen Ende der 60er Jahre, als Gernhardt noch unter dem Pseudonym „Lützel Jeman“ (Mittelhochdeutsch für „Kaum jemand“) arbeitete, hätte man ahnen können, dass da ein eminent sprach- und formbewusster Autor heranreifte, der die literarische Tradition gleichermaßen als „Wegweiser und Widerstand“ begriff. Doch die erste (noch dazu undotierte) Jury-Auszeichnung bekam Gernhardt erst mit 50 Jahren. Bis die Feuilletons sein Wirken priesen, dauerte es elend lang. Erst seit Mitte der 80er, als der Erzählband „Kippfigur“ erschien, gilt er auch hochmögenden Rezensenten als würdiger Gesprächsstoff.

Apropos: Auch als Kritiker ist Gernhardt selbst längst eine Instanz. Manches sich ernst gerierende Werk hat er als puren Humbug entlarvt, doch auch manches verborgene Pflänzchen hat er gehegt. Zumal mit dem lyrischen „Handwerk“ innig vertraut, seziert er dichterische Hervorbringungen (etwa von Wolf Biermann) so triftig und erhellend, dass ihm dabei allenfalls ein Enzensberger das Wasser reichen kann. Wann endlich erscheinen seine gesammelten Rezensionen als Buch?

Reime sind keinesfalls verpönt

Wie sonst nur noch Peter Rühmkorf, hat Gernhardt immer wieder bewiesen, dass Gedicht und Reim sich auch heute keinesfalls „beißen“ müssen. Der willkürlich gehackte Zeilensalat eines krampfhaften Modernismus ist ihm ebenso ein Gräuel wie alles volltönend Verblasene. In dem Band „Klappaltar“ hat er, parodistisch grundsolide gerüstet, Goethe, Heine und Brecht auf ihre bleibende Substanz hin überprüft – und zwar jeweils so ziemlich „auf Augenhöhe“.

Doch lassen wir den Autor zum Schluss selbst sprechen, liebe Gemeinde. Das folgende Gedicht, das in zunächst weihevollem Ton denn doch entschlossen zur Sache kommt, heißt „Vom Leben“:

„Dein Leben ist dir nur geliehn – / du sollst nicht daraus Vorteil ziehn.

Du sollst es ganz dem Andren weihn – / und der kannst nicht du selber sein.

Der Andre, das bin ich, mein Lieber – / nu komm schon mit den Kohlen rüber“.




Ein Traum beim Rauschen des Meeres – Jürgen Kruse inszeniert „True Dylan“ von Sam Shepard

Von Bernd Berke

Bochum. Wer in seinem Seelenhaushalt die musikalische Populärkultur der 60er Jahre hegt, sollte gespannt sein auf dieses Stück: „True Dylan“ von Sam Shepard handelt von den unvergänglichen Mythen jener Jahre.

Der US-Dramatiker Shepard, auch als Schauspieler („Homo Faber“) und Drehbuchautor („Paris, Texas“) geadelt, hat 1975 Bob Dylans „Rolling Thunder“-Tournee eingehend begleitet – für ein Filmprojekt, das nie realisiert wurde. Doch Dylans Aura ließ Shepard nicht ruhen: 1987 erschien sein Text „True Dylan“ (Der wahre Dylan) als vermeintliches Interview in der Zeitschrift „Esquire“. Doch der Dialog war eine fürs Theater zugerichtete Zwiesprachen-Phantasie mitsamt Regieanweisungen.

Klar, dass Jürgen Kruse bei der deutschsprachigen Erstaufführung im Bochumer „Theater unter Tage“ Regie führen musste. So viele Stücke hat er schon mit seinem erlesenen Rockmusik-Geschmack durchsetzt, dass er als bester Plattenaufleger der Bühnenwelt gelten kann. Von den Zeiten, als Rundfunk-DJs die Scheiben noch nach Gusto statt nach öder Hitparaden-Vorgabe spielten, schwärmen im Stück Sam und Bob, unschwer als theatralische Wiedergänger von Shepard und Dylan zu erkennen.

Am Strand von Kalifornien rückt Sam (Patrick Heyn), grotesk gerüstet mit allerlei Schreibstiften, Recorder und Mikro, zum Interview an. Bob (auch als Gitarrist okay: Lucas Gregorowicz) antwortet meist wortkarg und mit sanftmütiger Coolness. Natürlich geht’s vorderhand um Musik, doch auch um Engel, Frauen, Träume, das allzu kurze Leben des tödlich verunglückten James Dean. Mithin geht’s – in schöner Beiläufigkeit und Lässigkeit – um alles.

Mythen der Popmusik werden umkreist, bejaht, bezweifelt, angehäuft

Doch warum viele Worte machen, das Nennenswerte ist in gewissen Liedern gültig aufbewahrt: Am liebsten greift sich Bochums Bob also eine der zahlreichen Gitarren auf der Bühne und sucht die hinter den Mythen-Masken verborgenen wahren Empfindungen mit Songs auszudrücken. Bereitwillig macht sich die Inszenierung ein Shepard-Zitat zu eigen, das besagte, eine einzige Tonfolge wecke schneller die Emotionen als etliche Theaterszenen. Dementiert und demontiert sich hier die Bühnenkunst selbst?

Und was geschieht hier eigentlich: Werden die Mythen umkreist, bejaht, gerettet, bezweifelt oder in splitterhaften Reminiszenzen angehäuft? Von allem etwas. Und das Ganze wirkt wie ein Traum beim Rauschen des Meeres. Tief verstricken sich Kruse und die Darsteller ins etwas selbstgenügsame „name dropping“ aus der Folk- und Rockszene – ganz so, als gebe es keinen Ausgang mehr aus diesem mythensatten Pop-Universum.

Auch das Strand-Bühnenbild (Volker Hintermeier) ist pures Zitat, es folgt exakt dem LP-Cover von Neil Youngs „On the Beach“. Dem Text hat Kruse Assoziationsketten beigegeben, die unbekümmert mit dem reichlichen Inventar der Popkultur jonglieren. Weitere Zutat: Stumm lächelnd umkreisen Mädchen-Gestalten die Szenerie. Es könnten Groupies sein, doch auch engelhafte Jungfrauen, vielleicht gar sanfte Todes-Botinnen.

Wie fühlt man sich nach all dem? Gleichermaßen ratlos und inspiriert. Man möchte die ganze Nacht Musik hören. Doch was bleibt, wenn man daraus erwacht?

(Termine: 3., 7„ 8. Dez. Karten: 0234/3333-111)