Mit Ross und Reiter auf der Formensuche – Ruhrfestspiel-Schau über Marino Marini

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Mit seinen zahllosen Ross- und Reiterfiguren hat er ehedem so manche Schulbuchseite geschmückt. Offenbar war dem Werk des italienischen Bildhauers Marino Marini (1901-1980) etwas Gefälliges und Verträgliches eigen.

In der Kunsthalle Recklinghausen, die jetzt einen Marini-Überblick als Ausstellungs-Beitrag zu den Ruhrfestspielen offeriert, finden sich gleichfalls etliche Beispiele für derlei harmonischen, allseits genehmen Sinn. Die Präsentation hat über weite Strecken etwas vom spröden, verblassten Charme der 1950er Jahre. Man mag das auf zweierlei Weise bewerten: Hat Marini den damaligen Zeitgeist zuinnerst erfasst, oder gelangte er nicht über dessen Grenzlinien hinaus?

Die Schau ist mit 120 Arbeiten bestückt. Die Bronze-Skulpturen, Zeichnungen und Gemälde stammen überwiegend aus dem Nachlass, der in Marinis Geburtsort Pistoia verwahrt wird. Hie und da wird ein Hang zu sperrigen, sich tendenziell auflösenden Formen des Zerfalls sichtbar – eine verkannte Seite Marinis.

Spektrum umfasst nur wenige Motive

Dieser Künstler hat sich zeitlebens auf wenige Themenfelder beschränkt. Mit Porträts, Akten, Reiterdarstellungen und Gauklern ist sein Spektrum nahezu erschöpft. Diese Figurationen hat er allerdings unermüdlich durchbuchstabiert. Allein die Vielfalt der Oberflächen-Strukturen, über die das Licht immer wieder anders gleitet, ist frappant.

Ästhetisch auf den alten Spuren der Etrusker wandelnd, drang der Toskaner immer wieder zu urtümlichen Formfindungen vor, die gleichzeitig den Geist traditionsgebundener Moderne atmen. Man findet hier beispielsweise das allgegenwärtige Pferd mitunter äls recht gerundetes Abbild der Natur, doch auch als zeichenhaftes Wesen, als Essenz. Abgemagerte, ja nahezu skelettierte Tiere, im steilen Sturze begriffen oder schon zu Boden gesunken, könnten auf eine skeptische (doch nie verstörende) Weltsicht hindeuten. Giacomettis dürre Gestalten sind hier ziemlich nahe.

Nennenswerten Widerstand gegen Italiens Faschisten hat Marini zwar nicht geleistet, er durfte lehrend tätig bleiben. Doch er hat sich auch nicht vereinnahmen lassen. Vielleicht waren die Etrusker sein Fluchtpunkt aus der Gegenwart. Der Versuch, über den Zeiten zu stehen.. .

Abstraktion ist kein Königsweg

Vor allem in den 50er Jahren genoss Marini dann weithin ausstrahlenden Ruhm, er galt damals als einer der größten Plastiker neben Henry Moore und Alberto Giacometti. Wohl auch deshalb saßen ihm für Porträtbüsten Kulturgrößen wie etwa Marc Chagall, Oskar Kokoschka oder auch Henry Miller Modell. In der Reihung wirken diese Köpfe nun so, als habe Marini die Physiognomie des Künstlertums an sich ergründen wollen.

Was von heute aus gesehen vernünftig anmutet: Die Abstraktion war nie Marinis höchstes Ziel. Sie ist nur eine Möglichkeit, kein Königsweg. Gelegentlich hat Marini ihre Ränder gestreift. Auch in diesen Gefilden ließ er sich von Naturvorbildern leiten. Er hat den Pfad des Gegenstands nie ganz verlassen.

Marino Marini. 4. Mai bis 22. Juni. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Di-So 10-18 Uhr. Katalog 19 Euro.




Am Ende haben sich alle recht lieb: Klaus Pohls „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. Das Bühnenbild besteht aus Stapelware: Überall türmen sich Kästen einer in Bochum gebrauten Biermarke, die denn im Verlauf des Abends auch schon mal geordert wird. Wie ein bleicher Mond hängt über dieser Szenerie eine Echtzeit-Uhr, die anzeigt, wie die dreistündige Aufführung verrinnt.

Derweil geht es in Klaus Pohls Stück „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen uraufgeführt wurde, um Gott und die Welt, um Dichtung und Wahrheit, Theater und Revolte, um Macht, Ohnmacht und Beziehungskram. Sprich: Es geht vorderhand um alles und letztlich um nichts.

Der Bilderbogen rauscht ziemlich folgenlos vorüber

Ein schier unüberschaubares Vielerlei wird da vor uns ausgebreitet – ganz so, als ergötze sich das Theater selbstgenügsam am eigenen Vorhandensein, am puren Plappern und quirligen Treiben. Da lässt man eben den wortreichen, farcehaften, oft etwas naiven Bilderbogen halbwegs amüsiert an sich vorüberrauschen. Wenn’s vorbei ist, ist’s aber auch gut.

Der Stücktitel, den der erfahrene Dramatiker und Schauspieler Pohl („Das Alte Land“, „Karate-Billi kehrt zurück“) gewählt hat, soll angeblich bei Arthur Schnitzler entlehnt sein, doch das macht nichts. Bedeutsamer ist der Umstand, dass es sich um einen Auftragstext für die alljährliche Produktion mit Bochumer Schauspielschülern handelt. Die durften munter Ideen liefern, und Pohl hat offenbar den jungen Leuten nichts verwehren wollen. Also hat er wohl nur wenig aussortiert, hat dies und jenes verwertet, um etliches „Spielfutter“ zu liefern. Eigentlich ein sympathischer Zug. Doch dann hat er auch noch selbst Regle geführt, so dass es gar keine rechte Kontrollinstanz mehr gab.

Kapitalistischer Einpeitscher der Kistenstapler-Brigaden

In der ortlosen „Kistenstadt“ konkurrieren zwei seltsame Kulturschaffende um Konzepte und Weiber – der Baumeister Caspar Neuhauser (aha, aha – man soll an Kaspar Hauser denken!) und der dichtende Kistenstapler Alexander Polti. Zum Panoptikum zählen außerdem der versoffene Ex-Priester Volker (typischer Flachatmungs-Gag: „Wir sind das Volk“ – „Und ich bin Volker“), eine Spanischlehrerin, ein schüchterner Spielzeugverkäufer, ein Mann ohne Schottenrock, eine sangesfreudige Serviererin im „Seelen“-Lokal, eine Schauspielerin und vor allem zwei feindliche Brüder: Zunächst beherrscht der schmierige Claus Rotter als Megaphon-Einpeitscher die Kistenstapler-Brigaden. Merke: Unter seiner Kapitalisten-Knute welken alle Träume dahin. Mit einem absurd-listig herbeigeführten Börsencrash wird er entmachtet, es bricht gar eine groteske Revolution aus. Auch wird das orgienfeindliche Alkoholverbot aufgehoben. Hernach, unter dem aus der Verbannung zurückgekehrten Bruder Peter Rotter, der sich vom Melancholiker zum Theatergründer und Impresario mausert, läuft’s anders.

Die langwierige Szenenfolge soll wohl (oh, Frevel!) ein wenig an die Theaterproben der Handwerker aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ erinnern, doch hier heißt es: Spektakel an die Macht, circensisches Vergnügen, bis die Schwarte kracht. Ein wüstes Rap-Musical auf Mozart-Basis wird da ellenlang geprobt, bei dem ein weiblicher Don Giovanni die Männer reihenweise vergewaltigen soll. Peter Rotter stammelt immer wieder begeistert das Motto: „Raubvögeln! Schweinegut!“ Ziemlich frei flottieren da die Sinnbezüge, und am Ende haben sich alle irgendwie lieb.

Beachtliche Jung-Schauspieler retten Larifari-Text

Und die Darsteller? Nun, wenn sich die Profile mancher Figuren nie so recht schärfen wollen, liegt dies eher am Larifari-Text. Die Schauspieler agieren achtbar bis beachtlich. Besonders auffallend: Nora Jokosha als Claus Rotters schnippische, den lesbischen Lüsten zuneigende Gattin Lou und der schelmische Peter Luppa als Peter Rotter.

Auch die Anderen haben Beifall verdient, wenn auch nicht so frenetisch, wie ihn zur Premiere die Freundes-Fanclubs spendeten. Klaus Pohl bekam indes ein paar Buhs zu hören. Auch da in man kaum widersprechen. Schwer vorstellbar, dass weitere Bühnen sich zum Nachspielen drängen.

Termine: 15., 20. April, 7, 31.. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Wege und Irrwege zum „Ich“ – Siegener Museum gibt weitere Einblicke in die Schürmann-Sammlung

Von Bernd Berke

Siegen. Eine Ausstellung muss nicht immer mit hundert oder mehr Exponaten aufwarten, um Bedeutsamkeit zu erlangen. Konzentrierter geht’s auch. So wie jetzt in Siegen.

Im Museum für Gegenwartskunst spürt nun eine kleine Schau einigen Strategien, Ritualen und Irrwegen der Identitätsbildung nach. Die Arbeiten von vier Künstlern repräsentieren abermals einen Ausschnitt aus der reichhaltigen Sammlung Schürmann, deren Facetten das Haus am Unteren Schloss immer mal wieder auffächert. Auch andernorts (Ostwall-Museum in Dortmund) pflegt man Teile dieser Kollektion.

In Siegen wahrt man den Proporz: zwei Künstlerinnen, zwei Künstler; zwei in den 40er, zwei in den 60er Jahren Geborene. Ein Geschlechter- und Generationen-Vergleich.

Konfrontiert mit 60 leblosen Puppengestalten

Die spektakulärste Installation stammt von Zoe Leonard (geboren 1961 in New York) und heißt „Mouth open, teeth showing“ – etwa: Mund auf, Zähne zeigen! Derlei Mimik kann freundlichen, aber auch zornigen Beiklang haben. Jedenfalls stehen dem Besucher 60 Puppen gegenüber, die meisten niedlich, manche grotesk. Geordnet sind sie nach strengem Raster, also gar nicht individuell. Doch beim Gang durch ihre Reihen nimmt man Unterscheidungs-Merkmale wahr. Gleichzeitig erweisen sie sich beim näheren Hinsehen umso deutlicher als leblose Puppengestalten. Ein flirrendes Spiel mit der Identität also, die sich mal festigt, mal verflüchtigt.

Natürlich geht es dabei auch mal wieder um spezifisch weibliche Selbstfindung. Etliche Puppen (vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute, in allen denkbaren Be- und Entkleidungszuständen) haben „spielerisch“ das Selbstbild vieler Mädchen mitgeprägt. Gebrauchsspuren zeugen von täglicher Zuwendung. Andere Exemplaren sind Sammlerstücke für Erwachsene, was weitere Fragen aufwirft: Vielleicht sollten diese Puppen seelische Defizite mildern?

Frühere Identität in drei Pappkartons

Paul McCarthy (geb. 1945 in Los Angeles) hat, derweil seine (frühere) Identität als Künstler „eingemottet“: In drei Pappkartons („The Three Boxes“, 1984) lagern 101 Video-Bänder mit Aufnahmen seiner frühen PerformanceAuftritte. Die Magnetspur ist mittlerweile fast unbrauchbar, zudem gibt es die passenden Alt-Geräte kaum noch. Melancholisches Fazit: Das frühere Dasein ist in mehrfacher Hinsicht museumsreif.

Sylvie Fleury (geb. 1961 in Genf) hat aus britischen Frauenzeitschriften Sprüche derBeauty-Werbung aufgeklaubt und präsentiert sie in großer Schablonenschrift auf hautfarben grundierter Wand. Spürbar wird, wie aggressiv solche Reklame die weibliche Selbstwahmehmung lenkt.

Schließlich Franz West (geb. 1947 in Wien). Vier filigrane, rostig anmutende Stühle, auf die man sich kaum zu setzen wagt, stehen vor einem Bildschirm. Da wird gezeigt, wie man mit zwei nebenan auf Sockeln liegenden Gips-Objekten umgehen könnte. Anfassen erlaubt, spielerisches Abweichen vom „Vor-Bild“ erst recht. Ein kleiner Befreiungsakt auf dem Weg zur eigenen Identität?

Übrigens: Auswärtige Besucher sollten nicht die hochkarätigen Dauerbestände des Museums versäumen. Hier hat Siegen ein ordentliches Pfund zum Wuchern.

Museum für Gegenwartskunst, Siegen (Unteres Schloss 1). Sammlung Schürmann bis 12. Oktober. Di-So 11-18 Uhr.




Verloren in der grauen Tiefe – Strindbergs „Fräulein Julie“ im Wuppertaler Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein paar karge Podest-Planken bedeuten hier die Welt, ein Bühnenbild im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Wer nach bildkräftigem Theater hungert, der findet mit August Strindbergs Dreipersonendrama „Fräulein Julie“ in Wuppertal (Regie: Kathrin Sievers) keine Nahrung.

Grafentochter Julie ist das unechte Adelsdasein leid und will ihre Triebe nicht länger unterdrücken. Dem ebenso virilen wie aufstiegswilligen Kammerdiener Jean ist’s genehm. via Sex auch noch ans Startkapital für eine Hoteleröffnung heranzukommen. Doch finanziell hat Julie leider nichts zu bieten. Also lässt Jean die Gestrauchelte fallen und wendet sich wieder seiner treudümmlichen Alltagsgespielin z, der Köchin Kristin. Julie wählt als düpierte „Domestiken-Dirne“ den Freitod.

Nun könnte der (auch durch Sparsamkeit erzwungene?) Verzicht auf alle optischen Reize für eine Konzentration auf den Text und dessen Wesenskern stehen. Leitgedanke: Nur nichts Überflüssiges, nichts Ablenkendes zeigen. Doch dazu hätte man das Stück ganz anders ergreifen, gliedern oder umwenden müssen. So aber gibt’s weder ein Traumspiel noch harten Realismus, weder kunstvolle Stilisierung noch differenzierte Textauslotung oder Zertrümmerungs-Ästhetik. Dem Ganzen fehlt ein charakteristischer Umriss. Kein Profil, nirgends.

Eine Szene sieht folglich aus wie die andere, das Geschehen verliert sich in der öden grauen Tiefe des Bühnenraumes, nur in ganz raren Momenten rückt es uns etwas näher. Für Sekunden leuchtet da die Utopie eines Liebesverhältnisses jenseits der Standesschranken auf – und erlischt sogleich. Es regt sich kaum ein erotisches Knistern in dieser angeblichen Mittsommernacht und auch kein allmähliches Schweben.

Sascha Icks als Julie im luftigen Tanzkleidchen trippelt zwischen herkunftsgemäßer Strenge und emotionaler Bedürftigkeit nur schemenhaft durch die Rolle. Thomas Braus als Jean gibt erst den devoten Diener mit strategischen Hintergedanken, sodann das reißende männliche Raubtier, doch beides ohne wahre Konturen. Pirkko Cremer als Köchin Kristin wirkt wie ein reichlich naives, folkloristisch getöntes Anhängsel.

Termine: 4., 13., 16., 27. April. Karten: 0202/569-44 44.