Fernwirkungen menschlichen Tuns und Leidens – Alexander Kluges kolossales Buch „Die Lücke, die der Teufel lässt“

Von Bernd Berke

Da möchte man fast verzagen: 949 eng bedruckte Seiten erstrecken sich vor dem Leser, portioniert in rund 500 Kapitel mit Überschriften wie „Politische Ökonomie der Sterne“ oder „Das nachtödliche Gedächtnis für das im Schlaf Verarbeitete“.

Alexander Kluges mit Episoden, Essays und Fußnoten randvoller Band „Die Lücke, die der Teufel lässt“ ist in jeder Hinsicht gewichtig. Man kann sich die Lektüre freilich erleichtern, indem man (auch im Sinne des Autors) getrost kreuz und quer liest, schon mal Passagen auslässt, sich also freimütig umtut im ungeheuer vielfältigen Fundus, der mit mancher aphoristischen Zuspitzung ergötzt. Zitat: „Sozialismus setzt Überfluß voraus… Man könnte Sozialismus am besten auf einem Luxusdampfer ansiedeln.“

Der Misere Gegengifte abgewinnen

Büchner-Preisträger Kluge ist rastlos unterwegs zwischen allen Lebens- und Wissensbereichen, unstillbare Neugier treibt ihn um. Häufig verwendet er Dialog-Formen, die scheinbar fest gefügte Sachverhalte „verflüssigen“. Er sucht nach jener ominösen Lücke, die der Teufel lässt, sprich: nach Auswegen aus menschlichen oder politischen Zwangslagen. Kluge späht nach Fluchtpunkten und Perspektiven, forscht nach Gegengiften, die aus der Substanz misslicher Verhältnisse zu gewinnen wären.

Der auf allen Feldern staunenswert detailkundige Autor lässt sich auf jedwedes Phänomen ein. Ohne vorgeformte Meinung kann er umso tiefer die Abgründe etwa der NS-Zeit ausloten, so anhand einer gespenstischen Reise Hitlers. Zahllose Gespräche und Recherchen müssen der Niederschrift vorausgegangen sein.

Kann man die Nachgeborenen überhaupt warnen?

Sein Buch mäandert z. B. durch solche Themen: Sternenkunde, Zweiter Weltkrieg, Oper, Waffentechnik, Liebesalltag, U-Boote, Antike, Biosphäre, Marx und Islam, Kabbala und Mystik, Terrorismus. Einen von etlichen Schwerpunkten bildet die Atom-Katastrophe von Tschernobyl mit ihren möglichen Nachwirkungen für Hunderttausende von Jahren. Wie, so fragt Kluge, können Menschen Verantwortung über so lange Zeiträume hinweg übernehmen, und wie können sie die Nachgeborenen warnen? Denn wer weiß, welche Sprach- oder Bildform sich einmal durchsetzen wird.

Überhaupt erkundet Kluge Fernwirkungen menschlichen Tuns und Leidens. Er vermutet – neben allem Fragmentarischen – einen Zusammenhang: Mit epochalen Ereignissen komme jeweils eine Bewegung, ein Energiestrom in die Welt, der nicht mehr aufhört und alle künftigen Menschen betrifft. Eine Denkfigur mit Konsequenzen: Phantomhaft schmerzen uns Geschehnisse, die Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück liegen; vielleicht aber fließen uns aus den Tiefen der Geschichte auch Hoffnungsquellen zu. Diese Leitidee verfolgt Kluge bis in feinste Verästelungen und weit über alle Schulweisheit hinaus. Die stets vorläufigen Resultate teilt er in unverzierter, doch unversehens verdichtender Sprache mit. Und wo das Dokumentarische verstummt, montiert Kluge Fiktion und Phantasie hinein, die hier höchst real erscheinen.

Auch das Vergangene ist noch nicht durchweg entschieden

Kein Thema wird gleich über theoretische Kämme geschoren, sondern vielmehr auch emotional „aufgeschlossen“ und in oft geheimnisvolle Beziehungen gesetzt. Überzeugung, die sich beim Lesen einstellt: Einiges muss man als gegeben hinnehmen, gar vieles auf dieser (daher so spannenden) Welt ist noch nicht entschieden – selbst das Vergangene nicht.

Es gibt wenige Werke, die so viel Wirklichkeit und Reflexion umfassen. An Montaignes famose „Essais“ könnte man denken, oder an die ertragreichen Streifzüge von Klaus Theweleit. Sie sind einzigartig. Kluge aber auch.

• Alexander Kluge: „Die Lücke, die der Teufel lässt“. Suhrkamp Verlag, 949 Seiten. Kartoniert 24,90 Euro; Leineneinband 39,90 Euro.

• Am Montag, 8. Dezember 19.30 Uhr), liest Kluge im Dortmunder Harenberg City-Center aus dem Buch. Karten: 0231/9056166.

 




Als der Champagner strömte: Münsteraner Picasso-Museum zeigt Plakatkunst von Toulouse-Lautrec und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Münster. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Paris eine veritable „Galerie der Straße“. So nannte man die Unzahl der plakatierten Reklamebotschaften, wenn man denn Gefallen an den künstlerischen Ausdrucksformen fand. Wer eher den Stadtreinigungs-Aspekt im Sinne hatte, sprach allerdings despektierlich vom „Plakatwahn“ („Affichomanie“). Um 1890 wurde ein Gesetz gegen wildes Anheften erlassen.

Längst werden ästhetisch ambitionierte Plakate auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt. In Münster sind jetzt sozusagen Spitzenprodukte der Zunft zu sehen, sie stammen von Henri de Toulouse-Lautrec und einigen seiner Zeitgenossen. Bis dato hatten Plakate meist nur schwarz-weiße Buchstaben-Botschaften übermittelt. Um 1890 aber gediehen Bildhaftigkeit und Farbrausch.

Die rund 160 Exponate kommen aus 20 europäischen Museen. Toulouse-Lautrec (1864-1901) hat insgesamt 31 Plakate geschaffen, immerhin 25 dieser Motive sind in Münster zu sehen. Im Vergleich mit den durchaus beachtlichen Schöpfungen damaliger Mitbewerber (z. B. des Wegbereiters Jules Chéret oder von Théophile-Alexandre Steinlen) kann man die besonderen Qualitäten Toulouse-Lautrecs ausmachen: die ungeheuer treffsichere Pointierung und auch den Mut zur Drastik. Manche Tänzerin oder Diseuse fühlte sich zunächst von ihm allzu gröblich dargestellt. Trotzdem bekam er die Aufträge, denn keiner war besser.

Plakate erwiesen sich als Medium, in dem momentane, augenblicksschnelle Wirkkräfte der Kunst erprobt werden konnten – auf schmalem Grat zum Kommerz: Die Ausstellung führt zu den berühmten, gelegentlich frivolen Konzertcafés („Moulin Rouge“, „Chat Noir“), sie präsentiert Star-Plakate von damals Jane Avril, La Goulue, Aristide Bruant), unternimmt Streifzüge durch die Produktwerbung (Absinth, Liköre, Lakritzbonbons) und widmet sich gar dem seinerzeit grassierenden „Fahrrad-Wahnsinn“, der von Fußgängern als bedrohlich empfunden wurde.

Schließlich mündet all dies in einen Raum mit Pablo Picassos frühen, von Toulouse-Lautrec angeregten Plakat-Versuchen. Man kann sagen: Es war nicht das angeborene Metier des genialen Spaniers.

Prächtige Stücke sind in Münster zu sehen, so etwa Steinlens prägnante Werbung fürs „Chat Noir“ mit riesiger schwarzer Katze, deren Kopf von einem gotischen Ornament umfangen ist – eine bemerkenswerte Würdeformel.

Toulouse-Lautrec wagte es unterdessen, einen kabarettistischen Auftritt von Aristide Bruant mit dessen markanter Rückenansicht anzukündigen. Bruant, von Haus aus Bahnarbeiter, der auf der Bühne die Bourgeoisie rüde beschimpfte, war davon angetan. Sein Gesicht kannte ohnehin jeder.

Drei Damen wollen endlich ins Lokal

Hinreißend sind jene drei rot gewandeten Damen, die auf Georges Redons Plakat sehnsüchtig die Wiedereröffnung des Lokals Marigny erwarten. Bezaubernd auch das Champagner-Plakat des Mannes, von dem sich Toulouse-Lautrec inspirieren ließ: Der famose Pierre Bonnard erfasst das Strömen und Perlen des Schampus derart Sinnlich, dass man ahnt, warum diese Ära „Belle Epoque“ genannt wird. Die Blondine jedenfalls, die das prickelnde Edelgetränk genießt, schmilzt selig dahin.

„Plakatwahn – Toulouse-Lautrec und die französische Plakatkunst um 1900″. Picasso-Museum Münster, Königsstraße 5. Bis zum 15. Februar 2004. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog 29,80 Euro.




Das Theater sieht sich als Pflichtaufgabe – beim Berliner Kongress zur Krise der Bühnen

Aus Berlin berichtet
Bernd Berke

Ein ums andere Mal konnte man staunen beim Berliner Kongress „Bündnis für Theater“. Debattenbeiträge kamen in dichter Folge von Teilnehmern aus Dortmund, Siegen, Köln, Bonn, Düsseldorf, Krefeld und Münster. Schließlich wunderte sich auch Moderator Hansjürgen Rosenbauer: „Eine alte Befürchtung wird wahr: NRW hat Berlin übernommen.“

Offenbar ist an Rhein und Ruhr das Bewusstsein für die Finanzkrise der Bühnen am meisten geschärft. Prominente Berliner Theaterleute, die im schmucken Kronprinzenpalais ein „Heimspiel“ gehabt hätten, blieben hingegen der Veranstaltung fern.

Auf einen zentralen Begriff konnten sich praktisch alle Anwesenden einigen. Bundespräsident Rau, seit geraumer Zeit mahnender Fürsprecher der Theaterkunst und Miturheber des „Bündnis“-Gedankens, gab das Stichwort vor: Kulturförderung dürfe von der Politik nicht mehr als freiwillige Leistung, sondern müsse als öffentliche „Pflichtaufgabe“ verstanden und auch verankert werden.

Das Gejammer ist man leid

Fortan kam der Kongress immerwieder auf das Zauberwort „Pflichtaufgabe“ zurück. Stünde es erst einmal (wie in Sachsen bereits geschehen) in den Gesetzen, so könnten Kulturmittel nicht mehr ohne weiteres gestrichen werden. Endlich einmal dürfte man sich dann „auf Augenhöhe“ mit anderen Bereichen sehen. Kulturstaatsministerin Christina Weiss möchte überdies erreichen, dass derlei kulturelle Verpflichtungen nicht nur auf dem Papier sich ausbreiten, sondern „vor allem in den Köpfen“.

Theaterleute und engagierte Kulturpolitiker sind das jammervolle Krisen-Gerede offenbar ziemlich leid. Amelie Niermeyer, finanziell gebeutelte Intendantin in Freiburg: „Wenn wir immer nur die Krise beklagen, hört uns irgendwann keiner mehr zu.“ NRW-Kulturminister Michael Vesper bilanzierte zum Schluss, dies sei gottlob „kein Jammer-Kongress“ gewesen, sondern ein selbstbewusster Auftritt der Theaterschaffenden nach dem Leitsatz: „Wir bieten das, was die Gesellschaft braucht.“ Genau so müsse die Kultur auf die Politik zugehen.

Boulevardisierung greift um sich

Beklagt wurde freilich das mediale Umfeld. Die Boulevardisierung greife derart um sich, dass man damit nicht mehr konkurrieren könne. „Wir dürfen nicht alle Mensehen erreichen wollen“, lautete ein bemerkenswerter Befund. Gewiss wolle man sich um jedes Publikumssegment bemühen, doch wenn etwa bei der ZDF-Sendung über „Die größten Deutschen“ ein Daniel Küblböck mehr gelte als manche Klassiker, so dürfe man solchen Entwicklungen nicht hinterherlaufen.

In vier thematischen Foren sichtete der Kongress etliche konkrete Ansatzpunkte – von der theatergerechten Reform der Tarifverträge bis hin zu neuen Marketing-Konzepten. Dortmunds OB Gerhard Langemeyer erläuterte die womöglich bundesweit beispielhaften Vorteile des Theater-Eigenbetriebes, der über die Verwendung kommunaler Mittel selbstständig entscheidet. Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt suchte schließlich nach starken Bündnispartnern fürs Theater und hoffte, sie in Schulen, Medien und Kulturbetrieben anderer Sparten zu finden.

Idealistisch gab sich Wolfgang Suttner, Kulturdezernent von Siegen/Wittgenstein. Wenn Menschen erst einmal von Kultur „angezündet“ seien, so sei diese „nicht mehr so leicht kaputt zu machen“. Ihm wurde freilich entgegengehalten, dass eine Mehrheit kulturell zu „erkalten“ drohe. Sollte denn am Ende alles eine klimatische Frage sein?

 




Neuer Ruhrfestspiel-Chef Frank Castorf: Mehr Osten in den Westen bringen

Von Bernd Berke

Köln. Der Mann aus Berlin gehört zum Jetset der Kultur: Neulich eine Stippvisite in Sao Paulo, demnächst Los Angeles. Jetzt bat Frank Castorf (52), neuer Leiter der Ruhrfestspiele, zum eiligen Pressetreff – nicht etwa nach Recklinghausen, sondern ins feine Kölner Hyatt-Hotel. Die Domstadt hat schließlich einen Flughafen.

Man ist schwer beeindruckt. Auch dann, wenn Castorf über seine Festspiel-Ideen redet – und gar nicht mehr aufhören mag. Doch trotz Nachfragen wird nicht recht klar, was wir nun ab 1. Mai 2004 in und um Recklinghausen wirklich erleben werden. Die Sache ist wohl noch im Werden. Der zur Selbstironie fähige Kreativ-Chaot Castorf wird’s schon richten. Er verspricht originäre, aufs Festival zugeschnittene Produktionen, nennt aber allerlei Koproduktions-Orte wie Berlin, Zürich, Barcelona, Hannover, Avignon, Rotterdam und so fort. Allerorten einzigartig?

Kein Interesse an Zielgruppen

Der in der einstigen DDR aufgewachsene Berliner Volksbühnen-Chef Castorf befindet fürs Ruhrgebiet, nicht nur wegen Zuwanderung und EU-Erweiterung: „Es gibt immer mehr Osten im Westen!“

Also will Castorf das Recklinghäuser Festspielhaus, das ihn an den Berliner Ostbahnhof erinnert (warum nur?), mit blauer Neonschrift verzieren, die da lauten soll: „Ostbahnhof West.“ Der als „Stücke-Zertrümmerer“ etikettierte Regisseur: „Ich will den Ort nicht zerstören, sondern nur anders zurichten.“ Ansonsten hat er sich im Ruhrgebiet (gute Erinnerung aus DDR-Jahren: TV-„Rockpalast“ aus der Essener Grugahalle) noch nicht umgesehen. Ohnehin sagt er: „Zielgruppen interessieren mich nicht.“ Er wolle Impulse setzen, dann werde man sehen. „Nur Vorhang auf. Beifall, Vorhang zu – das ist doch langweilig.“ ‚

Sein Festivalmotto für 2004 soll „No Fear“ (Keine Angst) heißen. Castorf möchte gegen die Furcht beim Wegbrechen alter Strukturen im Revier angehen. Etwaigem Gejammer will er mit der Euphorie Südamerikas beikommen. Theatralische Truppen aus Brasilien und Kolumbien stehen für körpersprachliche Lebenslust, die sich von keinem Elend unterkriegen lässt. Und so, wie es dort Theaterprojekte mit Favela-Kindern gibt, will Castorf mit hiesigen, etwa türkischen Migranten arbeiten. Doch Genaues weiß man nicht. „Soziale Bewegung“ und Kampfgeist wolle man jedenfalls anregen – wie sich denn auch Castorf selbst als „guter Boxer“ versteht.

Projekte mit Marthaler, Schlingensief und Bondy

Etwas konkreter: Als große Festspielproduktion will Castorf selbst eine Dramatisierung von Erich von Stroheims legendärem Stummfilm „Gier“ („Greed“, 1924) unter dem Titel „Gier nach Gold“ präsentieren. Die genialisch-monströse Ur-Fassung dauerte damals rund 13, die fürs Kino abgespeckte Version zweieinhalb Stunden.

Amerika zum Zweiten: Christoph Marthaler schmiedet ein „Texas“-Projekt um Öl-Milliarden, Country-Musik und die Heimat des US-Präsidenten Bush. Franz Wittenbrink gestaltet einen Arbeiterlieder-Abend („Brüder zur Sonne, zur Freiheit“). Derweil soll sich der allzeit putzmunter provokante Christoph Schlingensief auf „Ruhrpott-Rallye“ mit Musik von Richard Wagner begeben. Weiteres Bildungsgut: Luc Bondy (Castorf: „Hohepriester bürgerlichen Theaters“) soll „Die Troerinnen“ nach Sophokles in Szene setzen.

Was sonst noch aus Castorfs Füllhorn quillt: Autokino (Lebensgefühl!), Publikums-Schlafsaal, polnischer Wochenmarkt, Container und Casting. Irgendwie, irgendwo, irgendwann…

Mehr soll dann am 5. Februar 2004 verraten werden – und zwar in Recklinghausen.




Proust auf dem Boulevard – Dortmund bringt Harold Pinters Drama über die „Suche nach der verlorenen Zeit“ heraus

Von Bernd Berke

Dortmund. Viele nennen ihn mit Ehrfurcht, die allerwenigsten dürften ihn je gänzlich gelesen haben: Marcel Prousts vielbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Am Dortmunder Schauspiel kann man das Epos jetzt in rund zweieinhalb Stunden durchmessen. Wie das?

Nun, der britische Dramatiker Harold Pinter hat anno 1972 auf der Basis seiner Proust-Lektüre ein Script erstellt, das von Joseph Losey verfilmt werden sollte. Dazu kam es nie. Viele Jahre später aber hat die Regisseurin Di Trevis den Text für die Bühne hergerichtet und fürs National Theatre in London inszeniert. Dortmunds Fassung (Regle: Hermann Schmidt-Rahmer) firmiert als deutschsprachige Erstaufführung.

Um die Wahrheit zu sagen: Mit Proust hat das Resultat nur noch von ungefähr zu tun. Schon Pinter sah sich genötigt, ungeheuer viele Feinheiten und Hunderte von Figuren des Ur-Textes zu opfern, er konnte nur Essenzen destillieren und Tupfer setzen. Gleichwohl ist’s ein Werk aus eigenem Recht.

Eine weitere Verlustmeldung betrifft die deutsche Übersetzung von Ingrid Rencher, in der gelegentlich unschöne Anglizismen („Das würdest du nicht“) durchscheinen. Eine schwierige Vorlage also.

Endlich beginnen – mit dem Leben und dem Schreiben

So sehen wir denn Prousts literarische Stellvertreter-Figur Marcel (entschieden gegen Prousts Typus besetzt, weil blond, sportlich und frisch: Manuel Harder) zumeist verhalten durch sein Werk und Leben (Leiden der Kindheit, Pariser Salons usw.) geistern. Oft sinniert er nur still, gelegentlich lacht er auf im Blitz nachträglicher Erkenntnis. Sein Fazit: Etliches hat er versäumt im unmittelbaren Dasein. Erinnerung tut schmerzlich not. Sein letzter Satz lautet, es sei „Zeit zu beginnen“. Mit dem Leben? Mit dem Schreiben?

Vor allem aber driftet Marcel durch einen triebgesteuerten Menschenreigen. Gar manches schnurrt hier letztlich auf boulevardeske Fragen an eine schrille „Szene“ zusammen: Wer trieb’s wann mit wem? Wer war schwul oder lesbisch? Ach, welch ein munterer Tratsch.

Durch sieben Türen müssen sie gehen: Im meist gleißend weißen Halbrund der minimalistischen Szenerie (Bühnenbild: Herbert Neubecker) kommen und verschwinden die Gestalten Proustscher Erinnerung. Ein Effekt, der anfangs überzeugt, sich aber abnutzt. Jedenfalls geht’s in dieser dekadenten Gesellschaft im Vorfeld des Ersten Weltkrieges vorwiegend kaltherzig, gierig und intrigant zu. Was wohlfeil zu beweisen war.

Sieben Türen und keine Erfüllung

Hier gleitet, auf spiegelglattem Boden, die Zeit gespenstisch rasch. Die Jahre überlagern sich, sie flackern mitunter fast simultan auf: Kaum sahen wir Marcel als kleinen Jungen, da erscheint er schon als kranker Mann. Denkwürdige Folge und eine Stärke des Textes, der irgendwie auch die mäandernde Vielfalt des Romans abbildet: Todesnähe folgt direkt auf selbstvergessenes Leben, Eifersucht stellt sich gleich nach erster Liebesblüte ein. Überhaupt findet hier niemand Erfüllung in Zweisamkeit. Da wähnt man sich in Gefilden von Botho Strauß.

Nicht leicht ist’s, sich im Gewimmel der aus Prousts Universum verbliebenen Gestalten zurechtzufinden. Ein pragmatischer Kritiker stellte in London die Frage: „Who is who?“ Auch in Dortmund ließe sich manches Rollenprofil wohl noch etwas schärfen (was freilich nicht im Sinne einer steilen Typisierung geschehen sollte). So aber bleibt es stellenweise bei Türenschlagen, Getrappel und Kostumvorführung.

Doch einige Figuren schleichen sich ins Gedächtnis ein, so besonders der ziemlich originalgetreue Dandy Baron de Charlus (Jens Weisser), die vor Sehnsucht waidwunde Odette (Silvia Fink) oder der linkisch sich aus dem Leben davonstehlende Swann (Bernhard Bauer); womit wir die Leistung der Anderen nicht schlankweg schmälern wollen.

Freundlicher Beifall fürs spürbare, jedoch nur zum Teil fruchtende Bemühen um einen problematischen Text. Ob andere Bühnen ihn nachspielen werden?

Termine: 13., 21., 29. November. 5.. 14, 20. Dezember. Karten: 0231/50 27 222.




Ein Netzwerk der Kunst und sein Mittelpunkt – Sammlung Krian im Dortmunder Museum am Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Das Dortmunder Museum am Ostwall öffnet sich jetzt einem großen Kreis miteinander befreundeter Künstler. Auch wenn diese Leute mittlerweile in alle Windrichtungen der Szene verstreut sind, so hat das Netzwerk doch einen Mittelpunkt just in Dortmund.

Der als Künstler, Sammler und Galerist („da entlang“ an der Kaiserstraße) umtriebige Erich Krian hat hier in Jahrzehnten eine umfängliche Kollektion aus diesem Zirkel angehäuft. „Die Sammlung hat sich sozusagen ereignet, sie war kein erklärtes Ziel“, sagt er zu den oft spontanen Gaben oder Tauschgeschäften unter Freunden. Gewiss werden einige aus diesem „munteren Haufen“ (Krian) heute um 17 Uhr zur Eröffnung kommen.

Was sonst bei Krian daheim dicht an dicht hängt und steht, kann sich nun am Ostwall gehörig ausbreiten. Etwa die Hälfte des Gesamtbestandes ist zu besichtigen. Auch für das Sammler-Ehepaar Krian dürfte dies ganz neue Einblicke in die nunmehr luftig präsentierte (und mit einem Katalog erschlossene) Kollektion bedeuten.

Mit seiner Frau Regina, die Design studiert hat und als Sonderschullehrerin arbeitet, hat sich Erich Krian bislang stets über Sammlungs-Zuwächse geeinigt. Tochter Jenny konnte wohl kaum anders: Auch sie hat mit dem Sammeln begonnen. So weit das Familiäre, das die Schau letztlich mitprägt.

Rund 200 Arbeiten von 40 Künstlern sind zu sehen: Kommilitonen, Mitstreiter, Weggefahrten Krians. Für ihn ist es mithin irgendwie auch eine Besichtigung des eigenen Lebenslaufes – und zumeist eine Begegnung mit jenen Künstlern, die er in seiner Galerie vertritt. Die Ostwall-Ausstellung dürfte den Marktwert kaum schmälern.

Der 1948 geborene Krian begann seinen Weg an der Werkkunstschule in Dortmund und war an der Düsseldorfer Akademie Schüler der Größen Rupprecht Geiger und Gotthard Graubner. Andere Künstler zieht’s nach solchen Weihen in die weite Welt, Krian entschied sich für die Rückkehr nach Dortmund.

Vierzig Künstler können wir hier nicht nennen. Manche haben inzwischen weithin von sich reden gemacht, so etwa Ulrich Langenbach, Willi Otremba, Peter Telljohann, Günther Zins oder Katharina Grosse.

Über wenige Kämme lassen sie sich eh nicht scheren. Man spricht in derlei Fällen gern etwas wolkig von „Positionen“ der Kunst. Vielfältig die Ansätze, durchweg acht- und haltbar die Qualität. Im Erdgeschoss sind eher zurückhaltende Arbeiten zu sehen, im oberen Stockwerk darf mehr Farbe walten. Man sehe selbst. Derweil denken die Krians über eine dauerhafte Heimstatt für ihren Fundus nach und erwägen eine Stiftung fürs Dortmunder Museum.

„Der erste Blick“. Sammlung Krian. 9. November 2003 bis 11. Jan. 2004. Di/Mi/Fr/So 1017, So 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 25 Euro.




Am Abgrund der Angst – aufregende Schau mit Graphik von Edvard Munch im Münsteraner Landesmuseum

Von Bernd Berke

Münster. Gute Laune verspürte der ansonsten oft schwermütige Edvard Munch (1863-1944) schon beim bloßen Anblick einer Kupferplatte. Die Freude, in die „jungfräuliche“ Fläche zu ritzen, übertraf mitunter selbst seine drangvolle Lust an der Malerei. Also zeigt das Landesmuseum in Münster etwas Wesentliches, wenn es jetzt den Graphiker Munch würdigt.

Die fast 200 Exponate stammen aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Dort verwahrt man den (nach Oslo) weltweit größten Fundus an Munch-Druckgraphik meist im Dunkel des Depots, auch wegen konservatorischer Bedenken.

In Münster werden die Holzschnitte, Lithographien und Radierungen so großzügig präsentiert, als wären es Ölgemälde. Man muss nicht zentimeternah heranrücken, um filigrane Einzelheiten zu erspähen. Munch war ein Meister der höchst prägnanten Formen, die schon aus der Distanz ihre Wirkung ausüben.

Leitsatz des Künstlers: „Ich male nicht, was ich sehe, sondern das, was ich gesehen habe.“ Bilder der Erinnerung also, die die Realität eher schattiert herbeizitieren und psychologisch umso genauer treffen. Von Munchs Motiven fühlt man sich direkt, existenziell und exemplarisch angesprochen.

Ein sterbenskrankes Kind schaut ins Jenseits

Ein Beispiel: „Das kranke Kind“ (1894/1896), in mehreren Fassungen entstanden nach dem Tod seiner Schwester Sophie, die mit 15 Jahren an Tuberkulose starb. Zunächst wacht noch die untröstliche Mutter bei dem Mädchen, das später gänzlich aus dem Zusammenhang des Zimmers gelöst wird und (buchstäblich sterbensallein) dem Betrachter optisch ganz nahe rückt, während es sich seelisch schon weit entfernt hat. Traumverloren und körperlich schon transparent, schaut es in den Vorschein eines gleißenden Jenseits.

Auch die vermeintlich in vollem Saft Lebenden zeigt Munch oft als isolierte Figuren, wie ausgestanzt aus ihrer Umgebung. Selbst die Bilder aus seinen wilden Bohème-Jahren in Oslo und Berlin geraten düster, etwa nach dem Motto: Auch mitten im Saufen und Herumhuren sind wir vom Tod umfangen.

Überhaupt regiert die Angst: Die „Pubertät“ (vor Zukunftsschauer frierendes nacktes Mädchen) erscheint als allenfalls bang hoffendes Weh und Ach. „Eifersucht“, „Trennung“ oder auch „Die Geisteskranke“ sind so gültig verdichtet, dass man die Titel nicht lesen muss. Ungemein zielsicher auch die Porträts, so von Strindberg oder Ibsen.

Frauenbildnisse zwischen Madonna und „Sünderin“

Im Zentrum der aufregenden Münsteraner Schau aber stehen die Frauen; mal madonnenhaft, dann wieder sündig, zuweilen beides zugleich. Bestürzend, dass Munch eine Geliebte (Geigerin aus England) als verrucht schöne „Salome“ zeigt und sich selbst als Johannes. Biblisch gedeutet, hieße das: Sie hat ihn Kopf und Kragen gekostet.

Auf anderen Bildern erscheint das gefährlich lockende Weib als Vampir. Ein weiteres Mädchen küsst den knochigen Tod, eine Nackte ihren Liebhaber – mit inbrünstiger Gier, als ginge es danach ans Sterben. Lechzen am Rande des Abgrunds. Weniger bekannte Tierbilder geben dem kreatürlichen Dasein einen Drall ins Groteske. Und Munch hat einen umfangreichen Zyklus geschaffen, der die Schöpfungsgeschichte noch einmal neu mit Szenen aus dem modernen Seeleleben aufrollt. Statt Adam und Eva leiden hier Alpha und Omega als aus dem Paradies vertriebenes Paar.

Zu jener Zeit hatte Munch seine Kopenhagener Therapie (Angstzustände, Alkoholismus) bereits hinter sich. Die späteren Werke nähern sich wieder der realen Welt. Harte Arbeit, einfache Verrichtungen in karger Landschaft, manchmal am Rande des Genre-Idylls. Vielleicht Balsam für des Malers wunde Seele.

Edvard Munch – Graphik. Westfälisches Landesmuseum Münster (Domplatz). 9. November 2003 bis 1. Februar 2004. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 25,50 Euro.




Sprache gegen die Diktatur in Schutz nehmen – Herta Müllers neues Buch „Der König verneigt sich und tötet“

Von Bernd Berke

Mit sprachlichen Reibungsflächen hat die 1953 geborene Autorin Herta Müller viele schmerzliche Erfahrungen gemacht. Aufgewachsen in einem gespenstisch schweigsamen, banatschwäbischen Dorf (deutschsprachige Minderheit in Rumänien), kam sie mit 15 Jahren aufs Gymnasium in der nahen und doch so fernen Stadt. Dort erst lernte sie nachträglich Rumänisch; noch dazu als Mädchen vom Lande den schnoddrigen städtischen Jargon mitsamt der ganz anderen Gestik.

Hinzu kam die verfälschende Zerrspiegel-Sprache des Ceausescu-Regimes, die in alle Beziehungen sickerte und gegen die man sich im Namen der wahren Empfindung tagtäglich wehren musste.

Als Herta Müller nach vielen Geheimdienst-Verhören, nach mancher Drangsal und Drohungen 1987 ins deutsche Exil ging, lernte sie westliche Sprechweisen und Wortfärbungen kennen. Ihr Befund, der uns zu denken geben sollte: Von existenziellen Leiden und Ängsten haben wir hierzulande meist kaum einen Schimmer, deshalb reden wir zuweilen so sorglos und unverantwortlich daher.

Unheimliche Macht der Gegenstände

In ihrem neuen Buch „Der König verneigt sich und tötet“ gibt Herta Müller Auskunft über Quellflüsse und Antriebe ihrer LIteratur, vor allem der Romane „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ und „Herztier“.

Basis des Bandes sind Vorträge im Rahmen von Poetik-Dozenturen. Doch sie lesen sich absolut nicht wie eine branchenübliche Nabelschau vom Schreibtisch-Rand, sondern durchaus dringlich verdichtet.

Kein Wunder, dass diese Autorin für sprachliche Nuancen so hellhörig ist. Doch letzten Endes traut gerade sie, die mit ihren Wörtern fast immer genau ins Herz der Dinge trifft“ der Sprache nicht über den’Weg. Selbst feinfühlige Literatur könne das Leben und Leiden nur ansatzweise erhaschen, und nur in ganz raren, glückhaften Schreib- und Lese-Augenblicken könne sie einen womöglich produktiven „Irrlauf“ (so Müllers Ausdruck) im Kopfe in Gang setzen. Als mächtiger erweisen sich allemal unscheinbare Gegenstände (ein Nachthemd, ein Möbelstück), die sich im Gedächtnis einnisten, dort in nervöser Verzweiflung sprachlos kreisen und nicht mehr weichen wollen.

Wider den byzantinischen Größenwahn

Mit dem Titel gebenden König ist auch der fürchterliche Ceausescu gemeint, der im geradezu byzantinisehen Größenwahn alles nach seinem fratzenhaften Bilde formen wollte. Herta Müller lässt ahnen, wie verstörend es für alle weitere Lebenszeit gewesen ist, unter ihm und seinen Bonzen das Dasein gefristet zu haben. Mit anhaltender Verzweiflung schildert sie etwa, wie schon Fünfjährige im Kindergarten dem System vollends verfallen waren und vielstrophige Lobeshymnen auf Ceausescu singen wollten. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen aus dem Freundeskreis der Autorin entweder zu Verrätern wurden oder ihre Dissidenz mit dem Leben bezahlten. Auch als Leser erfasst einen da heißkalte Wut.

Doch der schreckliche „Monarch“ (der vom Westen mit Samthandschuhen angefasst wurde, weil er zu Moskau Distanz hielt) wird nach und nach in ein engmaschiges Bilder-Geflecht verstrickt; wird beispielsweise überblendet mit dem König beim Schachspiel, was wiederum zum armseligen Leben des (von den Kommunisten enteigneten) Großvaters führt und sich überhaupt biographisch kunstvoll verästelt.

Es ist, als schlüge jeder Bereich (Wort)-Wurzeln im anderen. Daraus erwachsen eine unvergleichliche poetische Durchdringung – und eine tiefe, untröstliche Traurigkeit.

• HertaMüller: „Der König verneigt sich und tötet“. Hanser Verlag, 199 S., 17,90 Euro.

• Mit einer Lesung von Herta Müller beginnt am Montag, 3. November (19.30 Uhr im Theater Fletch Bizzel, Humboldtstraße 45) das Dortmunder Literaturfestival LesArt. Infos/Karten: 0231/50 27 710.