Auf der Nachtseite des Begehrens – Jane Campions Film „In the Cut“ mit Meg Ryan

Von Bernd Berke

Nervös irrt die Kamera umher und tastet die Oberflächen-Phänomene des New Yorker Straßenlebens ab. Zwei Energieströme spürt sie auf: Hier scheint alles unterschwellig gefährlich zu sein, doch auch erotisch aufgeladen. Die Haut all dieser vielen Menschen giert nach Berührung, aber zugleich ist sie höchst verletzlich.

Aus dieser Mixtur destilliert die zu einigem Ruhm gelangte neuseeländische Regisseurin Jane Campion („Das Piano“) knisternde Spannungswerte: Ihr Film „In the Cut“ gerät zum Thriller in der Tradition der „Schwarzen Serie“, zum verschatteten Spiegelkabinett heutiger Liebesverhältnisse.

Eine verräterische Tätowierung

Frannie Avery (hier eher melancholisch, also gegen ihr bisheriges, eher patent-biederes Spektrum besetzt: Meg Ryan) ist eine erfolgreiche Mittdreißigerin. Sie lehrt Literatur und verdingt sich als Autorin. Privates Glück ist freilich nicht in Sicht, es drohen Depressionen. Letztlich sehnt sie sich nach Verlobung, Hochzeit, Kindersegen. Doch gegen derlei Träume setzt Jane Campion das Sündenbabel New York: „Sex and the City“, von der Nachtseite her gesehen.

Hier, so suggeriert der Film, wird die Frau in erster Linie zum Lustobjekt der Männerwelt. Es überwiegt der schnelle, rohe Sex. Etwa so: Eines Abends sieht Frannie in einer schummrigen Bar, wie eine Frau mit blau lackierten Fingernägeln einen tätowierten Typen oral befriedigt. Die unfreiwillige Beobachterin ist angewidert, doch auch seltsam fasziniert.

Anderntags wird jene Frau ermordet und zerstückelt aufgefunden. Einige Körperteile liegen vor dem Haus, in dem Frannie wohnt. Also bekommt sie Besuch von einem „Bullen“ namens Malloy (smart mit neurotischem Einschlag: Mark Ruffalo), der die Sache untersucht – und exakt jene Tätowierung auf dem Handrücken trägt!

Energieströme aus Gefahr und Erotik

Frannie wittert Gefahr. Zugleich fühlt sie sich von dem Macho sexuell ungemein angezogen. Malloy erweist sich denn auch als „Könner“ zwischen den Laken. Ihr schwant: Vielleicht reicht Zartsinn ja nicht aus, um sexuelle Gipfel zu erklimmen?

Sie verliert also im übertragenen Sinne den Kopf – und könnte ihn bald buchstäblich verlieren. Denn nun beginnt ein riskantes Spiel um Begehren, Erlösungswünsche und Auslöschung.

Dantes „Inferno“ in der New Yorker U-Bahn

Der Frauenkiller macht weiter und bringt auch Frannies verzweifelt lebensgierige Halbschwester um. Er könnte gar wissen, wo Frannie wohnt. Denn die wird von einem Maskierten überfallen und ihrer Papiere beraubt. Derweil findet die Literatin überall passende Texte für ihren Gemütszustand; so etwa, wenn Zeilen aus Dantes „Inferno“ auf einem U-Bahn-Plakat prangen.

Alle Männer, die hier samt und sonders irgendwann verdächtig werden, haben auch sanftere Seiten. Ein manchmal brav, dann wieder bedrohlich wirkender farbiger Student verpasst Frannie unversehens einen galanten Handkuss – ein Zeichen wie aus einer anderen, ritterlichen Welt. Und ein Kerl, der oft recht rüde schwafelt, sich aber auch mit Signalen kultivierten Lebens umgibt, benimmt sich am Ende besonders seltsam…

 




Wenn das Böse einmal in der Welt ist – Pedro Almodóvars Film „La mala educación“ (Die schlechte Erziehung)

Von Bernd Berke

Kommt nach vielen Jahren ein alter Schulkumpel vorbei und sagt mal wieder „Hallo“. Man erkennt ihn kaum noch. Eine Überraschung, aber keine umwerfende. Freilich: Beim spanischen Kult-Filmemacher Pedro Almodóvar erwächst daraus in „La mala educadión“ (Die schlechte Erziehung) eine abgründige Geschichte.

Dieser Ignacio, der da unversehens auftaucht, ist angeblich Schauspieler geworden und begehrt gleich eine Kino-Rolle von seinem Schulfreund Enrique, mittlerweile ein bekannter Filmregisseur.

Freund? Beileibe nicht nur. Denn als Zöglinge eines erzkatholischen Internats waren die beiden einst heftig ineinander verliebt. Dies wird wieder aufgewühlt, als Enrique nun ein Manuskript liest, das Ignacio aus der Tasche gezogen hat: Die Erzählung „Der Besuch“ (und somit auch Almodóvars Film) führt zurück in jene Schulzeit.

Pater Manolos verderbliches Wirken

Diese Erzählung schildert, wie Pater Manolo, ihr heimlich auf Knaben versessener Literaturlehrer, die beiden Jungs rabiat voneinander getrennt hat, um den kleinen Ignacio innerlich bebend anhimmeln zu können. Daraus quellen hier Ur-Szenen des Bösen, mit denen das Leben aller Beteiligten ein für allemal vergiftet wird, als sei der Teufel am Werk.

Fortan liegt auf ihren Biographien buchstäblich kein Segen mehr. Denn damals haben die Jungen und letztlich auch der Geistliche (der denn auch später Buchverlegen wird) ihren Glauben an Gott verloren. Und nun entfaltet sich das, was einst schon der Großdichter Dostojewski erkannte: Wenn Gott tot ist, dann ist – philosophisch betrachtet – „alles erlaubt“. Lüge, Treulosigkeit, Mord. Almodóvar häuft Fragen auf diesen Befund: Wie weit kann man unter solchen Umständen gehen, was kann man selbst ertragen? Aber auch, etwas konkreter: Ist Enriques Besucher wirklich der Ignacio von damals?

Strammstehen oder Liebliches singen

Zwischen die für Almodóvar typischen Bonbonfarben, die nur vage konturierten Identitäten, die gleitenden Rollenwechsel und Geschlechter-Travestien sickert also einige Düsternis und Schwärze. Dass die Kirche im Schatten des Diktators Franco viel Unheil angerichtet hat, bildet einen straffen Themenstrang des spanischen Kinos (Buñuel, Saura), an den hier angeknüpft wird.

Die Jungs müssen vor den Patres entweder stramm exerzieren (Liegestütz) oder ihnen etwas Liebliches vorsingen. Klebrig genug. Doch solche Kleriker sind nicht das einzige Problem. Das Verhängnis zeigt sich hier abermals allgemeiner, existenzieller, es dringt in alle Ritzen und zeugt sich fort.

Das dunkle Kino als Zufluchtsort

Regisseur Enrique, in mancher Hinsicht wohl eine Art Selbstbildnis Almodóvars, überwindet seine anfängliche Schaffenskrise, indem er den Ignacio-Erzählstoff mit der Kamera erkundet. Also wird auch noch eine irrlichternde Film-im-Film-Studie darüber geliefert, welche Wahrheit(en) das Kino nur umkreisen und welche es vielleicht ergründen kann. In mehreren Szenen und Zusammenhängen erscheint Hier der dunkle Kinosaal als Zuflucht für jene Stunden, in denen man die Wirklichkeit gar nicht mehr aushält. Wahrlich ein unstet flimmernder Trost.

 




Die Zerlegung der sichtbaren Welt – Ausstellung zum Medienkunstpreis „Nam June Paik Award“ in der Dortmunder Phoenixhalle

Von Bernd Berke

Dortmund. Welch ein famoser „Spielort“ für die Künste! Die Phoenixhalle auf dem früheren Hoesch-Stahlwerksgelände erweist sich jetzt mit der Schau zum „Nam June Paik Award“ erneut als Stätte, zu der man pilgern sollte. Wenn der Weg dorthin nur etwas besser ausgeschildert wäre…

Im Namen des berühmten koreanischen Videokünstlers Nam June Paik lobt die Kulturstiftung NRW (Präsidentin: Ilse Brusis) zum zweiten Male ihren Preis für Medienkunst aus – just auf dem Felde also, wo Dortmund neue Schwer- und Glanzpunkte setzen will. Es war folgerichtig, mit der Schau der nominierten Künstler diesmal hierher zu kommen.

Hochkarätige, weitläufig besetzte Jurys gingen und gehen für Dortmund ans Werk: Die Vorauswahl ist bereits erfolgt, am 13. Oktober (19 Uhr) wird der Preis vergeben. Chefsache: NRW-Minister Präsident Peer Steinbrück wird die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung überreichen. Außerdem gibt’s einen mit 15.000 Euro ausgestalten Förderpreis.

Die Weltelite des Genres ins Land holen

Nun werden in der Phoenixhalle die Arbeiten der verbliebenen Kandidaten auf die Probe gestellt. Die Künstler kommen aus etlichen Ecken der Welt: Brasilien, Japan, Ungarn, Libanon, Kanada, USA. Man will eben keine NRW-Nabelschau betreiben, sondern eine Elite des Genres ins Land holen.

Erster flüchtiger Eindruck: allseits Geflacker und Getösse. Doch im Sog mancher Installation kann man auch auf meditative Spuren geraten.

Namensgeber Paik (lange in Düsseldorf, heute in den USA lebend) empfängt die Besucher mit seiner runden Wunderscheibe „Mercury“: Zwölf simultane Videosequenzen stimmen darauf ein, dass diese einst von ihm angestoßene, längst ungemein vielfältig gewordene Kunstgattung gern die sichtbare Welt zerlegt und auf ungeahnte Arten anders zusammensetzt; gelegentlich so, dass einem zunächst Hören und Sehen vergeht. Auf dass man dann die Wahrnehmung neu sortiere.

Album des Lebens mit 150.000 Bildern

Beispiel: das Duo „exonemo“ (Kensuke Sembo, Yae Akaiwa). Bei ihrer Arbeit kann man Hand anlegen und das Video-Bildergewitter steigern oder drosseln. Die zufallsgesteuerte optische Mixtur erinnert ans Verfahren jener DJs, die Ähnliches mit Tönen veranstalten. Und es entstehen rasante Kombinationen – so etwa ein Flugzeug, das durchs Wohnzimmer zu sausen scheint.

Ungleich ruhiger geht’s bei den Brasilianern Angela Detanico und Rafael Lain zu: Video-Aufnahmen von einer Bootsreise im Mekong-Delta (Vietnam) wurden aufwendig durch die Pixel-Mühle gedreht und erscheinen „nur noch“ als Farbstreifen, dazu kommen asiatische Klänge aus einem Kofferradio. Staunenswert: Nach und nach erahnt man in der scheinbar totalen Abstraktion die Stimmung der Tageszeiten oder Wasser-Bewegungen.

Irritierendes Raumerlebnis: Szabolcs KissPál (Ungarn) zeigt auf einer Großleinwand schlicht den Himmel und Vögel, die pfeilschnell durchs Bild kreuzen. Lucien Samaha blättert gar ein digitales Album seines Lebens auf, mit bislang 150 000 Elementen – vom abgelichteten Essenste bis zur schritte Fete. Samaha bleibt zudem selbst in der Schau, um mit Besuchern zu reden. Viel Gesprächsstoff!

Phoenixhalle Dortmund, Ortsteil Hörde, Ecke Rombergstraße / Hochofenstraße). 4. Sept. bis 7. Nov. Di und Do bis So 11-20, Mi 11-17 Uhr. Katalog 15 Euro.




Wer das große Nichts umkreist – Lars Gustafssons philosophischer Thriller „Der Dekan“

Von Bernd Berke

Manche Klappentexter aus Buchverlagen sollte man etwas zügeln. „Lars Gustafssons bester Roman“ – so wird „Der Dekan“ auf dem Einband angekündigt. Waren also alle bisherigen Bücher schlechter? Und: Welche volltönende Anpreisung gibt’s denn beim nächsten Werk?

Schwamm drüber. Jetzt geht es erst einmal um diesen „Roman“, der das Genre-Etikett nicht so recht einlöst. Denn es sind fragmentarisehe, ja streckenweise fetzenhafte Aufzeichnungen, mit denen uns der seit vielen Jahren in Austin/Texas lebende, für sein bisheriges Werk verehrungswürdige Schwede konfrontiert. Hinzu kommt ein alter Literaten-Trick: Die Texte werden als gerettete, teilweise beschädigte Überbleibsel „aus Spencer C. Spencers Papieren“ ausgegeben.

Zu allem Überfluss herrscht Konfusion beim fiktiven Urheber. Immer wieder betont dieser Spencer, dass er gar nicht mehr wisse, wo anfangen und aufhören mit seinen Aufzeichnungen. Kurzum: Das Ganze fasert dermaßen aus, dass man vor manchen Rätseln steht. Vor welcher schrecklichen Erfahrung ist Spencer in eine Pension am Rande der Wüste geflohen?

Rätsel und Mysterien zuhauf

Bis dahin war er jedenfalls Philosophie-Professor just in Austin – und zuletzt rechte Hand des mächtigen Dekans der Fakultät. Um Letzteren werden nun einige Mysterien gewoben: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, scheint aber allgegenwärtig (und allwissend) zu sein. Doch immer, wenn’s konkreter werden könnte, verlieren sich die Spuren, weil Spencers Manuskript beschädigt ist, mittendrin abbricht – und überhaupt, weil alles unbegreiflich zu sein scheint.

Sodann kommen dunkle schamanistische Praktiken ins (vor allem gedankliche) Spiel, mitsamt bewusstseinserweiternden Rausch-Pilzen. Der Dekan scheint in irgend einer geheimen Verbindung zu derlei Dingen zu stehen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Immerhin erfahren wir, dass der Dekan früher im Vietnamkrieg gekämpft hat – auf mörderischste Art. Nun also philosophiert er mit Spencer zuweilen stundenlang über das Gute und Böse, Gott und die Welt, Hölle und Paradies. Auch von einem faustischen Pakt ist irgendwann die Rede, den ein Fußballtrainer mit dem Teufel schließt, damit sein Team endlich mal gewinnt. Wenn Goethe das geahnt hätte!

Gustafsson umkreist in seiner wildwüchsigen Kreuzung aus Campus-Geschichte und Philosophie-Thriller das große Nichts und die umfassende Leere. Sowohl die Mathematik (Erfindung des „Null“-Wertes) als auch die Natur werden zu Zeugen aufgerufen, dass solche Leere gleichsam der Normalfall des Daseins sei. Ein nahezu nihilistischer Zustand, in dem dann fast alles möglich ist…

Zwischen Spannung und Düpierung

Auf anderer Ebene geht es um steinreiche Mogule der Technologie-Branche, die in Marmor-Palästen göttergleich auf den Bergen thronen. Einer von ihnen ist Spencers Cousin Derek, der seinem Verwandten einst keinen Cent fürs Studium leihen mochte und ihm hernach die Geliebte ausspannte. Den Kerl müsste man beseitigen, denkt Spencer. Und auch der Dekan hat einen solchen Feind. Vielleicht helfen ja schamanistische Mittel?

Gustafsson lässt die drohende Leere auch formal fühlbar werden. Man mag ihm diesmal nicht durch alle Windungen willig folgen, eben weil sie vielfach ins frustrierende Nichts führen. Doch man bleibt, obwohl öfters ins Vakuum geleitet, bis zur letzten Zeile dabei – geradewegs zwischen Spannung und Düpierung.

Lars Gustafsson: „Der Dekan“. Roman. Hanser Verlag. 190 Seiten. 17,90 Euro.