Wenn Mythos und Naturkunde sich vereinen – Hamm zeigt Informel-Sammlung Lückeroth als Schenkung

Von Bernd Berke

Hamm. Die Kunst des so genannten „Informel“ findet in Westfalen immer mehr museale Heimstätten: Jene gestisch bestimmte, oft gar nicht so „formlose“ Abstraktion der Nachkriegsjahre hat ihren Hort ohnehin schon in Dortmund und Witten, vielleicht ja irgendwann auch in Hagen (Stichwort: Schumacher-Museum). Und nun reiht sich das Gustav Lübcke-Museum in Hamm noch selbstbewusster als bisher in die Phalanx ein.

Glücklicher Umstand: Das finanziell nicht gerade auf Rosen gebettete Haus hat eine Schenkung mit 164 Bildern erhalten. Sie stammt aus dem Nachlass des Kölner Malers Jupp Lückeroth (1919-1993). Im Brotberuf Mathematiker bei einer Versicherung, hat Lückeroth über Jahrzehnte hinweg durch Tausch oder Kauf Bilder anderer Künstler erworben – aus kollegialer Bewunderung und zur eigenen Inspiration. Lange war die Kollektion im süddeutschen Raum zu sehen, dann gaben passender Eigenbesitz und gute Kontakte den Ausschlag für Hamm.

Kunstrichtung mit weitem Horizont

Jetzt zeigt das Museum ein erstes Konvolut von 103 Bildern des Zuwachses. Man erfährt, wie viele verschiedene Impulse mit dem Etikett „Informel“ versehen worden sind. Die Geburtsjahrgänge der Künstler reichen von 1889 bis 1930, so dass die biographischen Hintergründe ebenso heterogen sind wie Temperamente und Techniken.

Bekannte Namen sind in der Sammlung vertreten: Wols, Emil Schumacher, K. O. Götz, Bernard Schultze, Fred Thieler. Doch es sind auch etliche Künstler dabei, die vom manchmal darwinistischen Markt in die „zweite Reihe“ gestellt wurden, darunter Lückeroth selbst. So bekommt man einen recht breiten Überblick zur Szene, die sich seit Beginn der 50er Jahre vor allem an Rhein und Ruhr gruppierte.

Das Informel ist also ein weites Feld mit großem Deutungs-Horizont. Zuweilen finden sich durchaus noch gegenständliche Elemente, so etwa in Lückeroths „Holzrhythmus“, der farblich und strukturell gleich an Bäume denken lässt. Der studierte Mathematiker und Physiker befasste sich eingehend mit Einsteins Relativitätstheorie oder Entwicklungen wie dem Elektronenmikroskop, das eine ganz neue Sicht auf die Dinge erlaubte.

Zellhaufen und magnetische Felder

Manche Bilder wirken tatsachlich wie Zellhaufen, Zeit-und-Raum-Durchbrüche oder magnetische Kraftfelder. Die Serien der reliefartigen „Wellenbilder“ greifen bei Wattwanderungen entdeckte Spuren im Schlick, Jahresringe im Gehölz oder fossile Abdrücke im Gestein auf. Das Naturkundliche und das Mythische werden hier mitunter eins.

Lückeroth sammelte bevorzugt Bilder von Geistesverwandten, die oftmals im Surrealismus aufbrachen, durch die Passagen des „Informel“ gingen und teilweise bei strenger Geometrie ankamen. Derlei Ausprägungen und Überschreitungen machen die Schau bis ins Detail interessant. Zumeist sind es kleinere „Wohnzimmer-Formate“, in den bescheidenen 50er Jahren noch weithin üblich. Dennoch muss man sich Lückeroths Haus mit all diesen Werken nachträglich als wahre „Bilderhöhle“ vorstellen. Im Museum, aus dem Zusammenhang eines Lebens genommen, hängen die Werke nobel auf Abstand.

„Frühes deutsches Informel – Sammlung Lückeroth“. Hamm, Gustav Lübcke-Museum. Neue Bahnhofstraße 9. Bis 13. März 2005. Geöffnet Di-So 10-19 Uhr.




Gott und der Teufel im Raum Nürnberg – Dürers biblische Szenen in Aachen zu sehen

Von Bernd Berke

Aachen. Wo spielen die schönen und schrecklichen Geschichten der Bibel? Wie man’s nimmt: Vielleicht haben sie sich in und bei Nürnberg ereignet. Jedenfalls dann, wenn man Bilder des Albrecht Dürer (1471-1528) als Maß der Dinge betrachtet.

Der ruhmreiche Künstler hat nämlich biblische Szenen vielfach mit Eigenheiten seiner Herkunftsregion verquickt. Hier eine typische Nürnberger Haube oder Tracht der Gegend, dort ein fränkisches Haus; als sollten Jesus, Maria und Josef, Apostel oder Propheten, ja selbst der Teufel diesseits der Alpen heimisch werden. Andererseits hatte Dürer auf seinen Italienreisen Anregungen der Antike und der Renaissance aufgesogen. Er führte somit einen vielfältigen Nord-SüdDialog der fruchtbarsten Art.

Seine mitunter verblüffenden Kombinationen sind – selten genug – jetzt wieder einmal in NRW zu bestaunen: Das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum zeigt großartige, für Buchausgaben angefertigte Druckgraphik-Zyklen („Apokalypse“, „Passion“, „Marienleben“) sowie herausragende Einzelblätter von Dürer. Hinzu kommen mäßiger geratene Kopien von Zeitgenossen, die meist am kommerziellen Erfolg des Meisters teilhaben wollten.

Motivjäger durften bei ihm „abkupfern“

Die Nachfrage war derart groß, dass der Kunst-Unternehmer Dürer sie gar nicht im Alleingang befriedigen konnte. Er konnte den Motivjägern lediglich die Verwendung seines prägnanten Monogramms „AD“ untersagen lassen, ansonsten durften sie nach Belieben „abkupfern“.

Den Löwenanteil der Schau (rund 120 Exponate) bestreitet das Aachener Haus aus eigenen Beständen. Weiß der Himmel warum: Doch noch nie hat man die hier gehorteten Schätze in solcher Breite gezeigt. Es wurde Zeit. In willkommener Kooperation mit der Aachener Hochschule haben die Museumsleute das Konvolut aufgearbeitet, buchstäblich bis zum kleinsten Strich. Denn die Blätter kamen samt und sonders unters Mikroskop, um Datierungen, Druckzustände, Restaurierungs-Bedarf und sonstige Feinheiten zu klären. Dem Besucher bleiben immerhin einige Lupen, die zur gefälligen Verwendung neben besonders detailreichen Graphiken hängen.

Im Museums-Shop wartet der Feldhase

Auch ohne jede Sehhilfe: Besonders nah gehen einem die Holzschnitte zur Apokalypse, also zum katastrophalen Ende der Menschheit, wie wir sie kennen. Dürer führt die vormals eher gröblich verwendete Holzschnitt-Technik auf die Ausdruckshöhen der Malerei. Auch in wildesten Szenarien der Weltvernichtung erzielt er noch feinste Abstufungen, die auf geradezu wissenschaftlicher Präzision beruhen und ungemein plastisch wirken. Man würde sich kaum wundern, wenn die „Apokalyptischen Reiter“ tatsächlich in rasende Bewegung gerieten.

Der Ausstellungstitel „Apelles des Schwarz-Weiß“ wendet sich eher an ein Fachpublikum und ist erklärungsbedürftig. Apelles war der angeblich beste Maler zur Zeit Alexanders des Großen, man rühmte weithin seine Naturtreue. Humanismus und Renaissance kamen auf derlei antike Vorbilder zurück. Kein Geringerer als Erasmus von Rotterdam pries Dürer als den neuen „Apelles“, der für seine immensen Wirkungen nicht einmal Farbe benötige.

Volkstümlicher als der Titel kommt das Begleitprogramm daher: Es gibt drucktechnisehe Vorführungen nach alter Väter Sitte, selbst ein Weihnachtsmarkt wie zu Dürers Zeiten steht an. Und im Shop bekommt man natürlich auch Dürers populärste Figur: den Feldhasen. Mal schauen, bei wem das Tierchen unterm Tannenbaum liegt.

Bis 23. Januar 2005. Geöffnet Di-Fr 12-18, Mi 12-21, Sa/So 10-18 Uhr. Katalog 29 Euro.

 




Mit Ibsen auf die Hüpfburg: Nach Bochum spielt jetzt auch Düsseldorf „Peer Gynt“ – ein Inszenierungs-Vergleich

Von Bernd Berke

Düsseldorf/Bochum. Wer Frauen auf der Bühne sehen möchte, weil sie halt auch im Stück vorkommen, der ist jetzt in der Düsseldorfer „Peer Gynt“-Version falsch. Regisseur Michael Simon stemmt Henrik Ibsens Weltendrama mit einem reinen Herren-EnsembIe. Warum? Man muss es sich zusammenreimen, etwa so: Die faustische Steigerung des bürgerlichen „Ich“, das den Erdkreis kolonisieren will, war historisch eine männliche Domäne. Gut, dass wir drüber geredet haben.

Aber muss man deshalb auch Peer Gynts Mutter (Götz Argus) und die lebenslang treulich auf ihn wartende Solveig (Markus Danzeisen) männlich besetzen? So verzichtet man ja gerade auf weibliche Gegenkräfte zur maskulinen Dominanz. Streckenweise gerät die Geschlechtsumwandlung zur karnevalistischen Travestie.

Vor wenigen Wochen hatte sich Jürgen Gosch in Bochum Ibsens Riesendrama vorgenommen (die WR berichtete). In einer Art Bühnen-Sandkasten ergab sich dort ein putzmunteres, gelegentlich allzu turbulentes „Kinderspiel“ über Peer Gynts fortwährend fehlschlagende Selbstsuche. In Düsseldorf ist es nun eine aufblasbare Riesenmatte, welche zeitweise die Bühne überwuchert und als Hüpfburg dient. Es sieht so aus, als nähmen beide Regisseure Ibsen aus infantil getönter Tobe-Perspektive wahr. Zufall oder Zeichen der Zeit?

Reines Herren-Ensemble – und die Hauptfigur gibt es zehnfach

Die Hauptfigur ist in Düsseldorf gleich zehnfach vorhanden. Im fliegenden Wechsel lösen die Darsteller einander als Peer Gynt ab, gegen Ende sehen wir schon mal alle zugleich. Zehn Identitäten, also letztlich gar keine. Es ist ein Vexierspiel. Und man kann die einzelnen Darsteller schwerlich gesondert beurteilen. Das kollektive Gewusel lässt es nicht zu.

In Bochum wird insgesamt trefflicher agiert, in Düsseldorf genauer artikuliert. Während sie in der Bochumer Improvisations-Rasanz manche Zeile verschlucken, klingen hier die Worte recht klar. Immer wieder greift die Düsseldorfer Inszenierung zudem Kernsätze auf, die laut wiederholt werden. Da möchte man meinen, hier gelte die Textvorlage noch etwas. Doch im Revier und am Rhein setzt man einige Stückkenntnis voraus, man bedient sich freihändig aus dem Fundus. Dabei herrscht allemal der schnelle Jux vor.

Die Männer, der Westen und der Krieg

Regisseur Michael Simon will den Eroberer-Gestus des Peer Gynt geißeln: Etliche Dritte-Welt- und Öko-Verkaufsstände im Foyer werden flugs zum „Bestandteil der Inszenierung“ erklärt. Aha: Die Sache mit dem maßlos aufgeplusterten „Ich“ ist nicht nur eine der Männer, sondern auch des kolonisierenden Westens überhaupt. Lehrhaft wird dies vorgeführt, wenn Peer Gynt als Kapitalist in Amerika durchstartet. Drinnen erklingt Sinatras „Strangers in the Night“, draußen vor den Theaterfenstern bricht flammender Krieg los – und wir sollen gewiss an den Irak denken.

Vor den Fenstern? Genau. Denn weder den umtriebigen „Peer Gynt“ noch seinen rastlosen Regisseur hält es lange an einem Ort. Deshalb müssen auch die Zuschauer mobil sein. Erst sitzen sie im Parkett, dann werden sie auf die Bühne geleitet, wo sich die Szenen mit den grotesken Trollen ereignen und man nackenstarr zum Schnürboden hochschaut.

Hernach geht’s ins Foyer, schließlich darf man wieder im Gestühl Platz nehmen. Sonderlichen Deutungs-Mehrwert erbringen die Wanderungen nicht. Man kann nur von diesem Basar der Besonderheiten erzählen wie einer, der eine Reise getan hat. Wohin hat sie geführt? Ins Ungefähre, doch nicht näher zu Ibsen.

• Termine Düsseldorf: 24., 25. Nov., 11., 17., 21., 22. Dez. Karten: Tel. 0211/36 99 11.  • Termine Bochum: 27. Nov., 4.. 26. Dez. Karten: Tel. 0234/ 3333-111.




Die Frau als ewiges Zentralgestirn – Paul Nizons Journal „Das Drehbuch der Liebe“ kündet von einer Lebenskrise

Von Bernd Berke

Wie soll nur ein Mann seiner Ehepartnerin erläutern, dass er häufig Bordelle besucht? Wenn man dem Schriftsteller Paul Nizon folgt, dann etwa auf diese Weise: „Da ist erst mal die Einsamkeit; wenn ich so lange allein bin, muß ich von Zeit zu Zeit eine Frau umarmen, das hält dann eine Weile vor (…) Und dann finde ich immer von neuem dieses Zueinandersteigen, diesen Vorgang des Zusammenliegens wunderbar…“

So pirscht er sich voran – bis die Gattin endlich sagt: „Ich kann es verstehen.“ Ihr Glück. Andernfalls hätte er ihr abermals solche Sünden vorgehalten: „Ihr Husten, Weinen, die ewige Erkältung, ihr trotziges, beleidigtes, aggressives, haltloses und auch haltungsloses Benehmen.“

Moralinsäure beiseite! Doch Nizons „Drehbuch der Liebe“ ergeht sich zuweilen im erstaunlich unreflektierten, selbstmitleidig zerknirschten Machismo. Pathos gehört dazu. Zitat: „Bin ich eine Geißel der Frauen? Der selbstsüchtigste Mensch.“

Mit „Das Jahr der I.iebe‘ (1981) hat der Schweizer einen der vielleicht innigsten erotischen Romane der letzten Jahrzehnte geschrieben, auch das sonstige Werk („Canto“, „Stolz“, „Im Bauch des Wals“) hat Bestand. Sein Tagebuch enthält hingegen rohes Material. Warum hat der Autor dies alles freigegeben? Wollte er zeigen, auf welchem Humus seine Literatur gewachsen ist? Nun ja. Wichtige Bücher haben beileibe nicht nur edle Wurzeln.

Fragile Künstler-Existenz

Die Aufzeichnungen gehören just ins zeitliche Vorfeld des famosen „Liebesjahres“. Sie zeugen von einer Lebens- und Schreibkrise, die Nizon nur ganz allmählich überwunden hat. Der 1929 geborene Schriftsteller hat sich von 1973 bis 1979 zwischen diversen Frauen (Odile, Marianne etc.) aufgerieben. Ein Liebes-Versehrter also, der seinerzeit ein unruhiges, phasenweise ganz aufs Ich konzentriertes Dasein in London, Paris und Zürich führte.

Ein Mann in seinen Vierzigern will sich noch einmal neu ausrichten; aus Angst, das Leben zu verfehlen. Übliche Midlife-Krise? Einesteils ja. Doch hier verquickt sie sich mit dem Ringen um Stoff und Form. Nizon durchlebt seine Tage offenbar immer schon im Hinblick auf künftige Texte. Auch dreht sich vieles um seine Lektüre (z. B. Bücher über Vincent van Gogh, von Robert Walser). Man ahnt: Es geht um die fragile Künstler-Existenz an und für sich.

Gesellschaft wird nur ganz am Rande sichtbar

Ganz anders als bei Peter Rühmkorf, der jüngst ebenfalls Tagebücher aus jenen 70er Jahren vorgelegt hat, ist die Gesellschaft bei Nizon nur indirekt (etwa in Stadtschilderungen) präsent. Oft zieht er sich, mitten in den Metropolen, in eine Art Klausur zurück, die mönchisch wäre, gäbe es da nicht gewisse Frauen und durchzechte Nächte. Sein Kosmos kreist schlingernd ums ewigweibliche Zentralgestirn, um erlösende Vereinigung der Körper.

Literarische Größen kommen eher anekdotisch vor. Mal schreibt Nizon einen (vertröstenden) Brief an den legendären Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, mal trifft er Elias Canetti, mal flaniert und speist er in Paris mit Peter Handke, dessen Ruhm er fast scheu bewundert. Und er bekommt Blitzbesuch vom Dichter H. C. Artmann, der mit einem 17jährigen Groupie-Girl aufkreuzt, was gleichfalls einen Neidreflex auslöst.

Nizon war damals von bitterem Ernst und marternden Zweifeln erfüllt. Für Selbstironie blieb noch kein Raum. Erst gegen Ende leuchten neu gewonnene Heiterkeit und Lust aufs Beginnen auf. Wahrlich: Es war ein dornenreicher Weg zum nächsten Buch.

Paul Nizon: „Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973-1979″. Suhrkamp-Verlag. 282 Seiten, 22,80 Euro.




Herrlich blühender Irrsinn – Junge Regie-Hoffnung: David Bösch inszeniert „Romeo und Julia“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was sind das nur für wilde Burschen? Sie toben herum wie nicht gescheit, sie röhren Rocksongs, spielen dazu heftig Luftgitarre und brüllen („Bumm, zack, bumm“) manchmal wie aggressive Comic-Figuren.

Nun, die kampflustigen Sturm- und Drang-Kerle heißen Mercutio und Benvolio. Sie wollen ihren Freund Romeo über dessen fruchtlose Liebe zu Rosalinde hinwegtrösten und ihn zu schnellen Sex-Abenteuern mit willigeren Mädchen anstacheln. Zu dumm nur, dass dieser Romeo sich bei der nächsten Fete in eine gewisse Julia aus der feindlichen Sippe Capulet verknallt. Die tragischen Folgen sind bekannt.

Der heiße Kern der Liebesgeschichte

Sehr dynamisch und phasenweise eminent komisch legt der junge Regisseur David Bösch (Jahrgang 1978) das berühmte ShakespeareLiebesdrama „Romeo und Julia“ in Bochum an. Man nehme die eh schon etwas schnoddrige Übersetzung von Thomas Brasch, spitze sie nochmals listig zu und streiche das vielköpfige Gefolge aus den Häusern Montague und Capulet. Dann hat man den heißen Kern, und der wirkt frappierend modern. Das reimt sich nicht nur wörtlich, sondern auch als Inszenierungs-Leitlinie.

Bösch erschöpft sich nicht in Übermut und Überschwang, sondern findet dann auch zartere, bewegende Bilder für die allererste Begegnung des legendären Paares. Es ist ein urplötzliches, verrücktes Aufblühen. Geradezu physisch spürt man den Hauch ersehnter Küsse, der die beiden umweht. Auch das Kindliche, noch Ungelenke dieser blitzartigen Liebe kommt zum Ausdruck. Übrigens: Der hierbei sehr stimmig und dezent eingesetzte Pop-Song „Consequence“ ließ viele Besucher rätseln. Lösung: Die ungemein eingängige Melodie stammt vom Album „Neon Golden“ der bayerischen Gruppe „Notwist“.

Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche

Später, in der Balkonszene, könnte es glatt heißen: Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche. Denn ganz ohne Nachtigall führen die beiden ihre mobilen Gespräche – bis hin zum angedeuteten Telefonsex. Überhaupt lassen sich Julia (Julie Bräuning) und Romeo Johannes Zirner) zu herrlicher (und dämlicher) Unvernunft hinreißen. Ein gar schöner Irrsinn.

Derweil deutet das Szenen-Geviert mit Wasserbecken, Neonlicht-Stäben und Beton-Quadern (Bühne: Volker Hintermeier) auf scheußlichen Neureichtum hin. Kein Ort für erotische Utopien.

Gewiss: All das ergreift einen nicht zutiefst. Doch der jugendfrische, leicht ironisch getönte Zugang eröffnet Spielräume, um die altbekannte Geschichte leichten Sinnes (aber eben nicht leichtsinnig) zu entfalten. Das ist schon einiges, auch wenn’s gelegentlich noch an einer Ökonomie der Mittel mangelt. Die zwar rasanten Fechtszenen sind denn doch ein wenig zu lang geraten. Vielleicht sollen sie ja auf ungebrochene Dominanz der Männerwelt verweisen.

Am Ende bleibt ein Geisterreigen

Beachtliche Besetzung bis in die Nebenrollen hinein: Ebenso handfest-sinnlich wie empfindsam spielt Martina Eitner-Acheampong die rührend besorgte Amme der Julia. Bernd Rademacher als Julias Vater ist ein schmieriger Conferencier der Machterhaltung, in übler Kumpanei mit seinem linkischen Wunsch-Schwiegersohn Paris (Thomas Büchel). Fabian Krüger vollführt irrwitzige Bauchredner-Dialoge mit einem geknoteten Taschentuch-Püppchen; ein Kabinettstück, das freilich die Grenze zur Albernheit streift.

Das erste und letzte Wort hat der über allen stehende und doch so ratlose Prinz (Manfred Böll). Vergebens predigt er Frieden, hilflos preist er Poesie, Licht und Liebe. Am Ende kann er uns nur einen Geisterreigen zeigen: Erst im Jenseits sind alle Figuren kampflos beisammen – beim Totentanz.

Tosender Beifall für eine veritable Regie-Hoffnung und das Ensemble!

Termine: 2., 8., 15., 19., 22. und 27. November. Karten: 0234/3333-111.