Timm Ulrichs: Kunst auf die lockere Art

Recklinghausen. Wenn Kunststudenten ihre Werke zeigen, krähen nicht viele Hähne danach. Wenn aber ihr Professor, der seit Jahrzehnten einen „Namen“ hat, sich an die Spitze stellt, so verhält es sich schon anders. Beispielsweise Prof. Timm Ulrichs (65), der nun Abschied von der Münsteraner Kunstakademie nimmt, wo er in seiner Klasse seit 1972 etwa 280 Studenten betreut hat.

Jetzt ist in Recklinghausen ein Auswahl-Querschnitt aus all diesen Jahren zu sehen. Über den Daumen gepeilt, sind es fast 200 Werke von rund 100 Ulrichs-Schülern, garniert mit beispielhaften Arbeiten des freigeistigen Lehrmeisters, der auch schon mal eine Märklin-Modellbahn (beladen mit deutschem Wald) in künstlerischen Dienst nimmt. Manche erinnern sich auch an dies: Mit einer garstigen Porno-Kunst-Aktion hatte Ulrichs anno 1993 für einen Skandal in Iserlohn gesorgt.

Der aufwändig recherchierte Bilanz-Katalog verzeichnet seine sämtlichen Studenten – jeweils mit Passfoto von „damals“ (aus den Akten der Akademie) und kurzem Werdegang; ganz gleich, ob sie nur ein oder 30 (!) Semester in Münster verbracht haben. Hübsche Randnotiz: Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich zählte einst selbst zum Kreis der Eleven. Ursprünglich hat er Künstler werden wollen, dann hat er auf Kunstgeschichte umgesattelt.

Auch feste Größen der Sze¬ne, wie etwa Gregor Schneider (der Deutschland bei der Biennale in Venedig vertrat), haben ihre ersten Schritte bei Timm Ulrichs gemacht. Etli¬che andere zählen zum acht¬baren „Mittelfeld“ der Branche, einige haben sich ganz aus dem Beruf verabschiedet. So ist das eben.

Die kreuz und quer (un)sortierte Ausstellung ist „vielstimmig“, man sieht Beispiele für alle Genres zwischen Malerei, Installation und Video. Manche Stile und Moden der letzten 30 Jahre klingen an. Gemeinsamer Grundzug ist ironischer Einfallsreichtum, zuweilen frech-fröhlich gewendet. Kunst, die das Pathos meidet, die sich selbst nicht allzu schwer nimmt. Timm Ulrichs dürfte zur leichteren Gangart ermutigt haben.

Ulrichs, der in Münster als Professor für „Bildhauerei und Totalkunst“ firmierte, hat den jungen Leuten stets viel Freiraum gelassen. Das lockere Arbeitsklima kann man sich ungefähr vorstellen. Es teilt sich im entspannten Gestus der Ausstellung mit.

Doch Ulrichs hat nicht alle Interessenten zugelassen. Auswahl musste sein. „Ich war nicht wie Beuys, der unterschiedslos alle zu sich gerufen hat.“ Die Jahrgangsbesten wählte Ulrichs jeweils ganz subjektiv aus – und verlieh ihnen unfeierlich seinen „Timm und Struppi-Preis“…

Anfangs war Ulrichs selbst noch so jung, dass er gegrübelt hat: „Wie soll ich hier eigentlich den Professor spielen?“ Und noch heute sagt der beredsame, oft zu respektlosen Scherzen aufgelegte Mann: „Eigentlich weiß ich gar nicht, was Kunst ist.“ Kunst sei ein offener Begriff. Statt sich vorher festzulegen, solle man vom konkreten Einzelwerk ausgehen.

Ulrichs ist halt ein Sponti. Verhasst sind ihm die immer wieder verwendeten „Markenzeichen“ der Kunst, z. B. Nägel oder kopfüber hängende Porträts. Lieber täglich von vorn beginnen. Ein Vorbild? „Edison! Der hatte über 200 Patente aus allen Bereichen.“ Und wie sieht – ganz profan gefragt – das finanzielle Fazit seines Künstlerlebens aus? Ulrichs: „Obwohl ich viele Wettbewerbe gewonnen habe, habe ich mit Kunst kaum etwas verdient.“ Wie gut, dass er als Professor ein gesichertes Grundeinkommen hatte.

• „mit offenem Ende“ -Timm Ulrichs und seine Klasse an der Kunstakademie Münster 1972 bis 2005. Kunsthalle Reckling¬hausen. 24. Juli (Eröff. um 11 Uhr) bis 11. September. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 10 Euro.

(Der Beitrag stand am 23. Juli 2005 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




Heimatlose Engel – Cees Nootebooms „Paradies verloren“

Höchst merkwürdige Wandlungen und Metamorphosen gehen im neuen Roman von Cees Nooteboom vor sich. Die junge Alma gerät in ein Elendsviertel von Sao Paulo und wird dort von einer ganzen Horde vergewaltigt. Kann sie nach diesem höllischen Erleiden jemals wieder ein halbwegs normales Leben führen?

Raumgreifender Szenenwechsel. Ein paar Kapitel später durchstreift sie mit ihrer Freundin Almut die Weiten und Wüsten von Australien. Sie sucht ein Ersatz-Paradies in den nomadischen Mythen der Aborigines, der Ureinwohner also; ganz im Geiste des früh verstorbenen ,,Traumpfade“-Autors Bruce Chatwyn, der freilich nicht ausdrücklich genannt wird. Doch auch diese urzeitliche Vorstellungswelt ist von den Marktkräften der Zivilisation vernichtet worden. Die rätselhaften Bilder der Aborigines machen nur noch weiße Galeristen reich.

Die Suche nach dem verlorenen Paradies bekommt sodann absurde Züge: Bei einem Theaterfestival im abgelegenen australischen Perth verwandelt sich Alma in einen „Engel“, der sich in einem Schrank verbergen muss. Beim Suchspiel (denn um ein solches geht es) wird sie von einem gründlich frustrierten niederländischen Kulturredakteur entdeckt. Dieser Literaturkritiker verliebt sich sogleich in ihre melancholische Unergründlichkeit. Doch im chaotischen Gewoge der Abschluss-Party verlieren sie einander auf lange Zeit. Dabei hatten sie sich doch schon paradiesisch ausgezogen…

Drei Jahre später absolviert besagter Redakteur (der mit Vorliebe heimische Größen wie just Cees Nooteboom „verreißt“…) eine strenge Kur in einem gottverlassenen Schneedorf in Österreich. Und wer ist seine Masseuse? Richtig, es ist Alma. Doch wiederum entzieht sich die Weitgereiste – offenbar ist sie unterwegs in eine unbestimmte Sphäre, in der wohl die letzten, die gänzlich heimatlosen Engel sich bewegen. Und diese Wesen sind nun einmal nicht für Menschen bestimmt, wie sie sagt.

Überdies sorgt Nooteboom für eine ebenso wundersame Rahmenhandlung. Da trifft er im Flugzeug nach Berlin und im Zug nach Moskau jene Leserin, die eben „Paradies verloren“ in den Händen hält.

Eine solche Mär mag man sich nicht von jedem Autor erzählen lassen. Doch der selbst weltweit gereiste Nooteboom lädt seine bildkräftige Geschichte von unverhoffter Wiederkehr und Spiegelungs-Effekten mit zuweilen hinreißenden Alltags-Exkursen auf. Er kennt sich mit Fastenkuren ebenso aus wie in Kulturredaktionen und fernen Ländern. Und ganz ohne arroganten Gestus verabreicht er nebenher edles Bildungsgut – von den Engel-Darstellungen der Renaissance-Maler bis hin zu Miltons Dichtung „Paradise Lost“ Sie schildert die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.

Ein Engel wies bekanntlich den beschwerlichen Weg ins irdische Jammertal. Zwischen Hölle und Himmel angesiedelt, ist es trotz allem das vielleicht interessanteste Gefilde überhaupt. Denn die Hölle hält niemand aus, und im Paradies – so heißt es hier – gibt es gar keine spannenden Missverständnisse mehr.

Cees Nooteboom: „Paradies verloren“. Suhrkamp, 157 Seiten, 16,80 Euro.

(Der Beitrag stand am 15. Juli 2005 in der „Westfälischen Rundschau“)




Kultur besteht nicht nur aus „Leuchttürmen“ – Gespräch mit NRW-Staatssekretär Grosse-Brockhoff

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Nicht noch mehr kulturelle „Leuchttürme“ errichten, sondern die wertvolle Substanz im Lande erhalten und pflegen. Das ist eine kulturpolitische Leitlinie der neuen Landesregierung. Die WR sprach gestern in Düsseldorf mit dem für Kultur zuständigen Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU).

Der neue Mann für die Landeskultur, bislang Schul- und Kulturdezernent der Stadt Düsseldorf, versichert, dass das Wahlversprechen umgesetzt werde: Mittelfristig soll demnach der NRW-Kulturetat von etwa 67 auf 135 Mio. Euro verdoppelt werden. Was heißt „mittelfristig“? Grosse-Brockhoff: „In den nächsten fünf Jahren.“ In welchen Schritten dies geschieht, ist noch offen.

Grosse-Brockhoff ist davon überzeugt, dass NordrheinWestfalen „die dichteste und reichste Kulturlandschaft der Welt ist“. Er wolle dafür sorgen, dass dies endlich auch in Berlin oder München wahrgenommen werde – und international. Eine Idee, die sein Vorgänger Michael Vesper (Grüne) aus Finanzgründen fallen ließ, will Grosse-Brockhoff eventuell aufgreifen: eine gemeinsame Präsentation von NRW-Museen in den USA oder etwa auch in China.

Blankoscheck auch nicht für die RuhrTriennale

Vorstellbar sei dies auch im Zusammenspiel mit der heimischen’Wirtschaft. Kultur als „Türöffner“ für Unternehmen? Grosse-Brockhoff: „Die Kultur als Vorreiter! Das gab es schon im Mittelalter und zur Zeit der Hanse.“ Solange Kultur nicht vereinnahmt werde, sei das in Ordnung.

GRosse-Brockhoff, der sich just gestern im neuen Büro (Weitblick aus der 12. Etage des Stadttor-Hochhauses) einrichtete, fungiert beim neuen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers als Leiter der Staatskanzlei. Nach eigenem Bekunden kann er etwa ein Drittel seiner Arbeitszeit der Kultur widmen. Genügt das? Grosse-Brockhoff: „Michael Vesper hatte noch weniger Zeit für Kultur, sein Ministerium war auch für Wohnen, Städtebau und Sport zuständig, außerdem war er stellvertretender Ministerpräsident.“ Vesper habe insgesamt gute Arbeit geleistet, aber: „Wenn man gewollt hätte, hätte man die Kultur von Sparmaßnahmen ausnehmen können.“

Bestehende „Leuchttürme“, wie etwa die RuhrTriennale, sollen nicht angetastet werden. Der studierte Jurist und Historiker Grosse-Brockhoff, der sich durch bisherige Ämter auch mit Finanzfragen auskennt, will freilich auch den Triennale-Etat überprüfen: „ Einen Blankoscheck gibt es nicht.“ Und die mögliche Kulturhauptstadt Ruhrgebiet? Grosse-Brockhoff steht voll und ganz hinter der Essener Bewerbung. Jedoch: „Da müssen wir uns noch ganz schön ins Zeug legen, dass wir’s auch werden…“

Ebenso wichtig wie solche Highlights sei indes die Substanz-Erhaltung. In Depots, Bibliotheken und Archiven seien viele Bestände gefährdet. Hier müsse das Land helfend eingreifen. „Stadt und Land Hand in Hand“, lautet Grosse-Brockhoffs gereimte Losung. Er wolle viel intensiver mit den Kommunen zusammenarbeiten, und zwar ohne Ansehen von politischen Mehrheitsverhältnissen. Und der Rheinländer stellt klar, dass er auf Gerechtigkeit zwischen den Landesteilen achten werde: „Ich mahne schon seit Jahren, dass Westfalen genügend gefördert wird.“

Weitere „Baustellen“ gibt es mehr als genug: Einen engen Zusammenhang will GrosseBrockhoff zwischen Kultur- und Bildungspolitik stiften. Er möchte Projekte anregen, bei denen Künstler in die Schulen gehen, denn: „Ästhetische Erziehung hat in NRW stark gelitten.“

Zudem sollen die gemeinsamen Kultursekretariate der NRW-Städte (in Wuppertal und Gütersloh) im Sinne einer regionalen Kulturpolitik gestärkt werden. Und auch der Erhalt der finanziell gebeutelten NRW-Landestheater (u. a. des WLT in Castrop-Rauxel) liege ihm am Herzen, so GRosse-Brockhoff. Vielleicht kommt diesen Bühnen ja ein Teil der angepeilten Etat-Erhöhung im Lande zugute?