Neues aus dem versoffenen Alltag: Kroetz legt mit „Blut & Bier“ nach langer Schaffenspause „15 ungewaschene Stories“ vor

Von Bernd Berke

Lange nichts mehr gehört von Franz Xaver Kroetz. Er schien von der literarischen Bildfläche fast verschwunden. Auch die Schauspielhäuser der Republik haben ihn links (oder sonstwo) liegen lassen. Doch jetzt, zu seinem 60. Geburtstag, ist der kernige Bayer plötzlich wieder da – mit dem schmalen, aber durchaus heftigen Erzählband „Blut & Bier“.

Der Untertitel „15 ungewaschene Stories“ trifft ohne Wenn und Aber zu. Kroetz hat sich den ganzen, in erfolglosen Zeiten angesammelten Frust von der Seele geschrieben. Aggressionsgeladen setzt sich sein durchgängiger Erzähler (der kaum vom richtigen Kroetz unterscheidbar ist) an die Schreibmaschine. Zitat: „Hingefetzt, 7 eng beschriebene Seiten, 66 Zeilen à 75 Anschläge, keinen weißen Fleck auf dem Papier übriglassen, von links nach rechts rotzen, kotzen, klotzen.“

Meist angriffswütig, zwischendurch weinerlich

Wie „hingefetzt“ lesen sich denn auch die Geschichten aus dem versoffenen Alltag eines ebenso genialen wie verkannten Dichters. Meist angriffswütig, zwischendurch weinerlich. Unter all diesen Launen hat die dienstbare Ehefrau („das Loch“) zu leiden. Sie muss stets für reichlich Alkohol-Nachschub sorgen, ihm die lästigen kleinen Kinder vom Leibe halten, wenn er seine Räusche auspennt – und sie hat ihn nach all ihren Strapazen selbstverständlich oral zu befriedigen.

Solche Passagen scheinen idealtypisch zum Musterbuch eines früheren Feminismus zu passen: Männer sind halt Schweine. Der Kerl im Buch gibt sich jedenfalls alle Mühe, eins zu sein. In lichten Momenten weiß er selbst, dass er eïn Kotzbrocken ist, ein Möchtegern-Kraftmeier von der traurigen Gestalt. Daraus ergibt sich eine besondere Form der Ironie, sei sie nun freiwillig oder nicht.

Affäre ja – aber doch nicht mit einer Wildfremden

Nun der etwas widerliche Promi-Tratsch. Natürlich weiß man, dass Literatur das Leben nicht eins zu eins widerspiegelt. Wenn wir uns freilich an diese Erzählungen halten, so enthüllt Kroetz, dass er (oder eben seine literarische Ausformung) es im Suff mit seiner Schwiegermutter getrieben hat. Im biographischen Klartext wäre das keine andere als die im April 2005 verstorbene Schauspielerin Maria Schell. Wir wollen dies nicht als Tatsachenbehauptung verstanden wissen. Aber als Story „fetzt“ es. Zumal der Protagonist seiner Frau auch noch beibiegen will, es sei doch weniger schlimm, als wenn er mit einer Wildfremden gevögelt hätte. Bleibt ja in der Familie.

Irgendwo zwischen Bukowski und Hemingway?

Die Stories haben allemal Tempo und zuweilen bitteren Witz. Greifen wir mal hoch: Der trockene, schmucklose Stil liegt irgendwo zwischen Charles Bukowski und Ernest Hemingway, dessen Mythos Kroetz selbst mehrfach herbeizitiert. Er empfiehlt sich somit gleichsam als unser bajuwarischer Amerikaner.

Auch wenn man sich innerlich dagegen wappnet und wehrt, entfalten seine Geschichten einen gewissen Sog, eine wüste Faszination, etwa nach dem Husaren-Motto: dass der sich das traut!

Nebenher dementiert Kroetz, einst DKP-Mitglied, seine linke Vergangenheit aus den 70er Jahren. In einem fiktiven Interview – geführt bei 240 km/h in seinem Jaguar – brüllt der Autor heraus, er habe nie an die Arbeiterklasse gedacht, immer nur ans eigene Fortkommen: Er wollte nur „raus ausm Kellerloch“.

Franz Xaver Kroetz: „Blut & Bier – 15 ungewaschene Stories“. Rotbuch-Verlag, 155 Seiten, 16,90 Euro.

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ZUR PERSON

Franz Xaver Kroetz

  • Franz Xaver Kroetz (Bild) wurde am 25. Februar 1946 in München geboren, er wird heute 60 Jahre alt.
  • In den 1970er Jahren war er mit Theaterstücken wie „Wunschkonzert“, „Wildwechsel“ (1971 in Dortmund uraufgeführt), „Heimarbeit“ und „Stallerhof“ höchst erfolgreich.
  • Einem breiten TV-Publikum wurde Kroetz als Klatschreporter „Baby Schimmerlos“ in Helmut Dietls Serie „Kir Royal“ (1986) bekannt.
  • 1987 lernte Kroetz die Schauspielerin Marie-Theres Relin (Tochter von Maria Schell) kennen. 1992 heirateten sie, seit Anfang 2005 leben sie getrennt. Zwei Töchter und ein Sohn gingen aus der Ehe hervor.



Sorge um Kulturtetat des Kreises Unna

Von Bernd Berke

Kreis Unna. Ist das denn denkbar: dass es auf Schloss Cappenberg (Seim) gar keine Kunstausstellungen mehr gäbe. Oder dass das ebenso schmucke Haus Opherdicke (Holzwickede) verkauft würde und der Kultur nicht zur Verfügung stünde?

„Ich halte inzwischen alles für möglich“, sagt Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD), Kulturdezernentin des Kreises Unna, im WR-Gespräch. Es gebe starke konservative Kräfte, die den Kulturetat des Kreises am liebsten „auf Null setzen“ würden. Sie befürchtet, dass in den laufenden Etatverhandlungen das Kulturbudget (jährlich 2,9 Mio. Euro) angetastet werden könnte. Die einstige Koalition von SPD und Grünen ist „geplatzt“, politische Mehrheiten müssen nun von Fall zu Fall gesucht werden. Am 7. März wird der Haushalt im Kreistag beraten.

Nicht nur die genannten Kulturstätten, die weit übers Kreisgebiet hinaus wirken, wären schlimmstenfalls gefährdet. Es geht auch um Zuschüsse für die Neue Philharmonie Westfalen (500 000 Euro). Zudem fördert der Kreis eine komplette Vorstellungsreihe im Lüner Hilpert-Theater, das Museum für Lichtkunst in Unna (47 000 Euro) und das Festival „Welttheater der Straße“ in Schwerte (Vorjahr: 25 000 Euro), zu dem Tausende pilgern.

Besonders peinlich wären Kürzungen mit Blick auf die Kulturhauptstadt-Bewerbung des Reviers, an der sich der Kreis z. B. mit dem Lichtkunst-Museum beteiligt. Warminski-Leitheußer ist als Dezernentin auch für Sozialpolitik zuständig. Kommt die studierte Juristin in Gewissens-Konflikte zwischen Sozialem und Kultur? Nein, denn: „Den Haushalt können wir nur sanieren, wenn es weniger Arbeitslose gibt. Einsparungen bei der Kultur bringen fast nichts und schaden nur“, betont sie vorsorglich.

Den Löwenanteil des Haushalts, rund 77 von 90 Mio. Euro, wendet der Kreis Unna für den Sozialbereich auf, insbesondere im Rahmen von „Hartz IV“. „Schon bei geringen Schwankungen nach oben würden die gesamten 2,9 Millionen Euro aus dem Kulturbereich nicht reichen, um hier auszugleichen.“ Kultur präge nicht nur das Image des Kreises, sondern vermittle auch Identität. Die Dezernentin: „Wir können doch nicht unsere Wurzeln kappen!“




Skandalgeschrei in der Theaterwelt – Attacke des Schauspielers Lawinky auf den Kritiker Stadelmaier

Von Bernd Berke

Das Skandalgeschrei hallt seit Tagen durch die Lande: Der Schauspieler Thomas Lawinky (vorher außerhalb Frankfurts kaum bekannt) hat sich – wie berichtet – zur körperlichen Attacke auf den Kritiker Gerhard Stadelmaier hinreißen lassen.

Nun werden, beispielsweise vom Berliner Ex-Kultursenator Christoph Stölzl, Forderungen laut, das Theater müsse nach diesem Vorfall generell über sein Selbstverständnis nachdenken. Nanu? Wird diese Angelegenheit nicht allzu hoch gehängt? Oder dreht es sich hier ums Ganze der Kunst- bzw. Pressefreiheit?

Stadelmaier und „seine“ Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) sehen den Journalismus gleichsam in seinen Grundfesten erschüttert, weil der Kritiker von einem Schauspieler beschimpft und hart bedrängt worden ist. Es geht ihnen offenbar ums Prinzip.

Welche Provokation ist demnächst dran?

Ist tatsächlich die Pressefreiheit bedroht, wenn einem Rezensenten der Notizblock entrissen (und höhnisch wieder ausgehändigt) wird? Genau genommen, ist Stadelmaier an der Ausübung seines Berufs gehindert worden. Doch er hat seine verständliehe Empörung mittlerweile auch über die Maßen „ausgeschlachtet“.

Die Entlassung des Schauspielers Lawinky – nach FAZ-Intervention bei CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth – hat einen Beigeschmack, so berechtigt sie in der Sache sein mag. Ganz so, als sei hier eine Hierarchie von Macht und Einfluss ausgespielt worden. Theatermacher, u. a. Jürgen Flimm (Chef der RuhrTriennale), forderten gestern in Offenen Briefen eine Rücknahme der Kündigung.

Aktionstheater mit Einbeziehung der Zuschauer ist ein alter Hut, der gelegentlich wieder hervorgezaubert wird. Gelegentlich war einem selbst schon mulmig zumute, wenn wildes theatralisches Geschehen bedrohlich nahe zu Leibe gerückt ist. Wie würde man wohl auf eine Grenzüberschreitung reagieren?

Provokationen mit Unmengen von Blut, Urin und Sperma auf der Bühne haben sich längst erschöpft. Stadelmaier sieht derlei brachiales Regietheater, das kaum noch auf Stücktexte, sondern auf unmittelbare Lebens- und Ekel-Gefühle aus sei, als strukturelle Ursache der Lawinky-Attacke. Sie wäre demnach nur ein weiterer Tabubruch. Was kommt als nächstes?

Die Zumutungen der Kritik und des Theaters

Es zeugt aber wohl von konservativer Theater-Auffassung, wenn jemand meint, alles solle sich immer hübsch folgenlos oben auf der Bühne abspielen – ohne jeden direkten Berührungspunkt zum Zuschauer. Auch eine Generationenfrage: Jüngere Theaterfans können sich mit unvorhergesehenen Handlungen gewiss leichter abfinden als das ältere Abo-Publikum und in Ehren gereifte Kritiker.

Manche Theaterleute begleichen jetzt offene Rechnungen mit Stadelmaier, der als „Großkritiker“ schlechthin gilund mit Verrissen nîcht zimperlich ist. Auch und gerade das Frankfurter Schauspiel hat er nicht geschont: Claus Peymann, der ewige „Provo“, bot Lawinky allen Ernstes einen festen Job bei beim „Berliner Ensemble“ an und ermunterte ihn zu weiteren spontanen Übergriffen. Für eine schräge Schlagzeile tut dieser Intendant manches.

Stadelmaier, so Peymann, sei ein „Theaterkaputtschreiber“. Hallo, Herr Peymann! Erstens gibt’s in diesem Lande etliche Theaterkaputt-Inszenierer. Und zweitens könnten sich jetzt frustrierte Darsteller fürs Berliner Ensemble empfehlen wollen, indem sie Kritikern etwa Ohrfeigen verpassen. Na, danke! Es scheint, als könnten einige Theatermacher mit Kritik gar nicht mehr souverän und gelassen umgehen. Und manche Kritiker nicht mehr mit den oft heftigen Zumutungen des Theaters.

 

 

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ZUR PERSON

Ein Kritiker, den viele fürchten

  • Gerhard Stadelmaier gilt als anspruchsvoller, strenger (und brillanter) Kritiker. Besonders gefürchtet sind seine manchmal verächtlichen Kurz-Verrisse.
  • Seit 1989 zeichnet der gebürtige Stuttgarter bei der FAZ für den Theater-Bereich.
  • Seit 2003 ist er auch Professor für Theaterkritik in Frankfurt.
  • Kontrahent Thomas Lawinky hat seit gestern einen neuen Vertrag beim Berliner Gorki-Theater unter Armin Petras.



Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




Mit Herzblut für die wahre Freiheit – Einer unserer allergrößten Dichter: Vor 150 Jahren ist Heinrich Heine in Paris gestorben

Von Bernd Berke

Vielleicht treffen sie sich jetzt dort droben: Wolfgang Amadeus Mozart und Heinrich Heine. Falls ja, dann können der Komponist und der Dichter einander Hochachtung, aber auch wechselseitiges Mitleid bekunden. Allenthalben werden sie rituell gefeiert, weil sich biographische Daten „runden“. Heute vor 150 Jahren starb Heine nach langjährigen Leiden in seiner Pariser „Matratzengruft“.

Wie überaus betrüblich: Einer, der dem göttlich guten Leben im Diesseits derart zugetan war, musste so elendiglich enden. Nur zu verständlich, dass Heine zuletzt allen atheistischen Anwandlungen abschwor und um Gottgläubigkeit rang. Nur ahnungslose Schandmäuler können ihm dies verübeln.

Seine Werke gehören unverbrüchlich zur Weltliteratur. In Frankreich zählen die Bücher von „Henri“ ebenso zum ehernen Bestand wie bei uns – und mancher Japaner oder Russe kann wahrscheinlich das „Loreley“-Gedicht im deutschen Original aufsagen.

Sein Witz war kühn und treffsicher

Das berühmte „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ konnten nicht einmal die Nazis verschweigen. Allerdings schrieben sie die Zeilen einem „unbekannten Dichter“ zu.

Heine war Rheinländer jüdischen Glaubens, als junger Mann ließ er sich allerdings christlich taufen, denn: „Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Kultur.“ Antijüdische Vorurteile gegen Heine steigerten sich schon bei einigen seiner Zeitgenossen zu erschreckenden Hasstiraden. Die üblen Klischees des 19. Jahrhunderts führten letztlich auch zur Bücherverbrennung von 1933.

Der Heißsporn Heine hat sich zu seiner Zeit mit nicht lauteren Mitteln gewehrt: Als der Dichter August Graf von Platen ihn mit antisemitischen Untertönen angriff, machte sich Heine öffentlich über dessen Homosexualität lustig – damals ein ungeheurer Skandal und wohl der schlimmste deutsche Dichterstreit überhaupt.

Nachwirkung zwischen Karl Kraus und Nietzsche

Heines Nachwirkung ist stets eine Streitfrage gewesen. Selbst ein ungemein kluger, doch hitziger Kopf wie Karl Kraus hat Heine als Vorläufer eines unverbindlich plaudernden Stils missverstehen wollen. Kraus-Zitat: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Heine habe „der deutschenSprache so sehr das Mieder gelockert (…), dass heute alle (…) an ihren Brüsten fingern können.“ Friedrich Nietzsche bezog die Gegenposition: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind …“

Die Vaterstadt Düsseldorf hat sich mit Heine schwer getan. Schier endlos währte das Gezerre darum, ob die Uni seinen Namen tragen sollte 1989 war es so weit. Ehrenbürger ist er bis heute nicht.

Mit Herzblut hat Heine einige der schönsten romantischen Gedichte geschrieben. Doch sein flackernder, treffsicherer Witz und seine oft kühnen Formulierungen (er reimte schon mal „ästhetisch“ auf „Teetisch“) ließen wehe Idyllen und Schauermärchen der Romantik weit, weit hinter sich.

Gemischte Gefühle fürs aufkommende Proletariat

Er hat nicht nur höchst sprach- und formbewusste, sondern aufsässige Texte geschrieben – mit satirischer Stoßrichtung gegen schläfriges Biedermeier, starres Preußentum und aggressiv dumpfen Nationalismus (nationale Einigung ja, aber bitte unter freiheitlichen Vorzeichen). Ach, wüsste man doch, was der Erz-Journalist Heine zum jetzt so akuten Streit um Karikaturen und Pressefreiheit gesagt hätte!

Mit gemischten Gefühlen sah Heine das Proletariat heraufkommen. Er begriff die Notwendigkeit dieser Entwicklung, fürchtete aber auch die Barbarei der neuen Klasse – eine Schreckensvision, die im Realsozialismus grässliche Gestalt annahm. Im Grunde blieb Heine Monarchist, freilich ein aufgeklärtes Königtum, das per Verfassung alle (bürgerlichen) Menschenrechte wahren sollte.

Mit Potentaten und Zensoren in Berlin hatte er ebenso Probleme wie mit kaufmännischen „Pfeffersäcken“ in Hamburg, wo sein reicher Bankiers-Onkel Salomon und sein Verleger Campe lebten – zwei Menschen, mit denen er oft um Geld gestritten hat.

Welch eine Befreiung muss Paris bedeutet haben, damals die konkurrenzlose Weltmetropole mit rauschendem Kultur- und Gesellschaftsleben, an dem Heine ausgiebig teilnahm. Hier traf er prägende Gestalten jener Zeit – von Richard Wagner bis Karl Marx, von Hector Berlioz bis Balzac und George Sand.

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht.. .“

Seinen Büchern kann man entnehmen, dass er trotz alledem wehmütig an seiner Heimat gehangen hat. Er hatte „das Vaterland an den Sohlen“ – wären es doch nur befreite Lande gewesen! „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“

Der Rheinländer Heine hat die geradlinige westfälische Wesensart sehr geschätzt. In Göttingen sang und trank er mit Studienfreunden aus hiesigen Breiten.

Die Zeilen, die jeden Westfalen rühren, stammen aus der ansonsten eminent politischen Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und schildern Heines Reise nach Hamburg (1843), die durch Westfalen führte:

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht, / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst / Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen…/ Den lispelnd westfälischen Akzent / Vernahm ich mit Wollust wieder.“

Und nun kommt’s:

„Ich habe sie Immer so lieb gehabt, / Die lieben, guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu, / Ganz ohne Gleißen und Prahlen (…) / Sie fechten gut, sie trinken gut, / und wenn sie die Hand dir reichen, / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“

Beileibe nicht nur wegen dieser Verse: Der Weltbürger Heine verdient unbedingt auch die westfälische Ehrenbürgerschaft.

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LEBENSDATEN

Kaufmannslehre und Romantik

  • Heinrich Heine (Bild) wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren.
  • Er erwirbt kein Reifezeugnis, sondern wechselt zur Handelsschule.
  • Ab 1815 Kaufmännische Lehrzeit in Frankfurt und Hamburg.
  • 1816 Unglückliche Liebe zur Cousine Amalie.
  • 1817 Erste Gedichte unter Pseudonym.
  • Ab 1819 Jura-Studium in Bonn, Göttingen, Berlin. Auch philosophische Vorlesungen, u. a. bei Hegel.
  • 1825 Examen, Promotion, protestantische Taufe.
  • 1826 Erster Teil der „Reisebilder“ (u.a. „Die Harzreise“, „Die Nordsee“).
  • 1827 „Buch der Lieder“ (zu Lebzeiten 13 Auflagen). Reise nach England.
  • 1828Norditalien-Reise
  • 1829 Umzug nach Berlin
  • 1837 Heine zieht nach Paris, berichtet von dort für deutsche Zeitungen.-•1835 Verbot der Schriften Heines im Dt. Bund.
  • 1836 „Die romantische Schule“
  • 1840 Streitschrift gegen Ludwig Börne (Folge: Duell mit einem Börne-Fan).
  • 1 841 Heirat mit der 18 Jahre jüngeren Mathilde, die er 1834 kennen gelernt hatte. Heine schrieb: „Sie hat einen sehr schwachen Kopf, aber ein ganz vortreffliches Herz.“
  • 1843 und 1844 Reisen nach Hamburg.
  • 1844 „Deutschland. Ein Wintermärchen“.
  • 1847 „Atta Troll“
  • 1848 Feb./März: Bürgerliche Revolution in Frankreich und Deutschland. Heine ist ab Mai für den Rest seines Lebens durch Krankheit ans Bett gefesselt („Matratzengruft“).
  • 1851 „Romanzero“
  • 1854 „Geständnisse“
  • 1856 (17. Februar): Heinrich Heine stirbt in Paris.



Digitales Leben ohne Lustaufschub – Abschied von Fotografie auf Film hat Folgen für die alltägliche Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Die Nachricht klingt nüchtern: Der japanische Kamerahersteller Nikon will nur zwei herkömmliche Modelle im Programm behalten. Ansonsten verlegt er sich völlig auf digitale Apparate. Die wirtschaftliche Entscheidung setzt allerdings ein markantes Zeichen der Zeit.

Bei Canon und anderen Firmen wird es über kurz oder lang kaum anders sein. Es erhebt sich die Frage, wie lange es die Fotografie auf Film überhaupt noch gibt. Vielleicht wird sie demnächst eine sündhaft teure Sache für Spezialisten und Freaks.

Jedenfalls lässt sich daran die wachsende Geschwindigkeit in unserem Alltag ermessen. Früher konnte die Spannung, nachdem man einen belichteten Film im Fotoladen abgegeben hatte, über Tage hinweg anschwellen. Dann kamen Schnellentwickler („fertig in einer Stunde“) und Polaroid-Fotos, die noch etwas zögerlich und klebrig aus dem Gerät krochen. Jetzt drückt man halt auf den Auslöser, sieht das Resultat direkt auf dem Computer, versendet es weltweit per e-Mail oder aufs Handy und stellt es ins Internet. Toll! Aber auch ein wenig betrüblich.

Auch der Frust hat sich beschleunigt

Es gibt nämlich keinen Lustaufschub mehr. Damit schwindet wohl auch die wahre Leidenschaft, weil alles umstandslos verfügbar ist und man es gleich haben kann. Dies wiederum kommt einer ziemlich weit verbreiteten Konsumhaltung entgegen: „Ich will alles – und zwar jetzt!“ Allerdings: Auch enttäuschende Ergebnisse sieht man nun sofort. Der Frust hat sich ebenfalls beschleunigt.

Vom geradezu poetischen Erlebnis im heimischen Fotolabor, wo das Motiv zunächst schemenhaft und wie von Geisterhand auftauchte, wollen wir gar nicht weiter reden. Schon das Wort „Entwicklung“ signalisierte ja einen Reifungsprozess. Wie prosaisch erscheint hingegen eine Speicherkarte. Zack auf dem Chip, zack gelöscht.

Zugegeben: Man hat ja selbst die „gute alte Zeit“ des Bildermachens verlassen. Ich hantiere mit zwei Digitalkameras, während die analoge Spiegelreflex kaum noch zum Einsatz kommt. Der Mensch kann’s eben nicht abwarten, das Leben ist kurz.

Die technischen Möglichkeiten und Effekte sind ja auch verlockend. Kaum „geknipst“, schon am Computer nachbearbeitet – und ver(schlimm)bessert. Baumkronen mit Rot- oder Blaustich? Kein Problem. Sofortige Umwandlung in Negativ-, Sepia- oder Schwarzweiß-Darstellung? Nur ein Mausklick.

Schneller und raffinierter lügen

Dies alles bedeutet freilich auch: Man kann mit Fotoapparat und Computer immer besser montieren, manipulieren und also lügen. Willentlich veränderte Fotos etwa aus der sowjetischen Ära wirken dagegen plump.

Es beschleicht einen bei all dem ein leises Unbehagen; ganz so, als hätte man„natürliches“ Verfahren aufgegeben und sich der Künstlichkeit verschrieben.

Aber vielleicht ist ja nicht aller Tage Abend. Manche glauben gar, dass es irgendwann eine Renaissanc des Zelluloid-Films geben könnte. Nach Einführung der Musik-CD (die nun ihrerseits unter Bergen von i-Pods und MP3-Dateien verschwindet) haben wir’s erlebt: Nicht wenige Leute haben sich wieder dem angeblich „wärmeren“ Klang der alten Vinyl-Scheiben zugewendet oder halten sich eben beide Abspielmöglichkeiten offen. Man muss ja nicht gleich zur Schellack-Scheibe zurückkehren.

Doch was soll die „Maschinenstürmerei“? Man sollte die älteren Techniken nicht vergöttern und die neueren nicht verteufeln. Wie groß war einmal die Aufregung, als die Fotografie erfunden wurde und alsbald der Malerei den Rang streitig zu machen drohte –anfangs zumindest auf dem Felde realistischer Darstellung. Längst existieren beide recht friedlich nebeneinander. Und auf beiden Gebieten gibt es Kunst, aber auch Quatsch.

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HINTERGRUND

Markt verändert sich rapide

  • Schätzungen besagen, dass 2006 in Deutschland voraussichtlich rund acht Millionen Digitalkameras verkauft werden – und nur noch etwa 1 Million herkömmliche Apparate.
  • Immerhin: In 80 Prozent der deutschen Haushalte gibt es derzeit noch analoge Fotokameras.
  • Beispiel Nikon: Herkömmliche Kameras machen nur noch drei Prozent des Umsatzes in der Fotosparte aus.
  • Die Traditionsmarke Leiça geriet mit analogen Geräten in die roten Zahlen und hofft nun auf Erfolge mit digitalen Modellen.
  • Auch Filmhersteller wie Kodak und llford haben den Vormarsch der Digitalfotografie schmerzlich zu spüren bekommen. Agfa ging sogar pleite.

 

 




Am Tag der Zwillings-Geburten – Im Zeichen der Kulturhauptstadt: „Twins“-Treffen mit Partnerstädten in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Zwei Kulturen auf gleichem Terrain in Dortmund – doch sie nahmen keine Notiz voneinander. Im Goldsaal der Westfalenhallen trafen sich am Samstag rund 250 Spitzenvertreter aus 102 Partnerstädten der Revier-Kommunen mit ihren Gastgebern, zumeist im feinen Zwirn und Kostüm. Gediegen ging’s beim Kultur-Kongress „Twins 2010″ zu.

Direkt nebenan gab’s die Hallenschau „Jagd & Hund“. Dort überwogen Windjacken,Lodenstoff und grüne Filzhüte. Weidmanns Heil. Hätte Borussia gegen Schalke auch noch zu Hause gespielt, wär’s mit den Fans wohl eine rustikale Begegnung der dritten Art gewesen…

Doch zurück zu den Zwillings-Geburten: „Wenn aus Europa etwas werden soll, geht es nicht ohne massive Reaktivierung von Kultur.“ Diese klare Aussage kam vom protokollarisch zweiten Mann in Staate, Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Der kulturkundige Politiker gab damit eine Losung für den Kongress der „Twins“(Zwillinge) aus. Die Wirtschaft, so Lammert, werde unseren Kontinent nicht zusammenhalten, denn sie strebe ins Globale.

Langfristige Perspektive angestrebt

„Twins“ will nicht nur den Austausch von bereits „fertiger“ Kultur in hektisch wiederbelebten Partnerschaften bewirken, sondern von Grund auf gemeinsam erdachte Projekte mit langfristiger Perspektive einleiten. Weitere neue Dimension: Nicht nur jeweils zwei, sondern möglichst viele Partnerstädte sollen multilateral zusammenarbeiten. Eine in Dortmund einmütig verabschiedete Kooperations-Erklärung aller Städte bekräftigte die vielfach spürbare Bereitschaft zum Mitmachen.

Es war schon bewegend, wie etwa die Vertreter aus Portsmouth und Vilnius (Duisburgs britische und litauische Partner) unter großem Beifall eine gemeinsame Sympathie-Erklärung fürs Ruhrgebiet und seine „Twins“-Idee abgaben. Die zur Delegation aus Oviedo (Bochums spanischer Zwilling mit Bergbau-Vergangenheit) kündigte an, sie werde daheim nun gezielt fürs Revier werben. Etliche Teilnehmer, die bislang eher die einzelnen Partnerstädte im Blick hatten, nehmen jetzt mehr von der Region wahr.

Fröhliches Flattern mit Novi Sad

Zudem haben sich erste konkrete Projekt-Ansätze ergeben, manche wurden im Goldsaal oder im Vor- und Umfeld der Konferenz frisch verabredet, wie ja überhaupt bei solchen Tagungen die Gespräche am Rande das Wichtigste sind. So will etwa Dortmund, gemeinsam mit der serbischen Partnerstadt Novi Sad, eine große Flaggen-Aktion ins fröhliche Flattern bringen: Von Künstlern kreierte Fahnenmotive sollen die Stadträume erobern. Auch über Musik und Medienkunst werde verhandelt, sagt Kulturdezernent Jörg Stüdemann.

„Twins“ ist ein Leitprojekt zur Kulturhauptstadt, finanziell steht und fällt es mit Erringung des Titels. Also wurden die internationalen Gäste (Bürgermeister, Kulturbeauftragte usw.) mit sanftem Nachdruck – aber nicht unnötig penetrant – auf die Bewerbung Essens und des Ruhrgebiets als „Europäische Kulturhauptstadt 2010″ eingestimmt.

Bewerbungs-Moderator Oliver Scheytt pries mit Engelszungen die kulturellen Vorzüge des Reviers, schränkte aber auch ein: „Wir wollen eine europäische Kulturmetropole werden. Wir sind es noch nicht ganz.“

Die sorgsam betreuten Gäste aus 20 Ländern (Italiener und Franzosen vermissten allerdings den gewohnten Wein zum Mittagessen) vernahmen ferner diverse Talkrunden, sie sahen flotte Werbefilme und lauschten einem Grußwort des NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers („Essen wäre eine hervorragende Wahl“).

Schweißtreibende Arbeit jedenfalls für die SimultanÜbersetzer in den Dolmetscher-Kabinen. Und ein geradezu weitläufiges Feeling in Dortmund.

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HINTERGRUND

Dortmunds Partnerstadt Amiens bleibt neutral

  • Die Partner-Projekte unter dem Schlagwort „Twins“ (Zwillinge) sind langfristig angelegt. Sie sollen 2007 beginnen und im Jahr 2010 gipfeln, falls das Ruhrgebiet dann Europäische Kulturhauptstadt ist.
  • Während das Revier Künstler und Vereine aus über 100 Partnerstädten aus ganz Europa ins Bewerbungs-Konzept einbinden möchte, setzt der ostsächsische Kulturhauptstadt-Konkurrent Görlitz auf bilaterale Zusammenarbeit mit der polnischen Nachbarstadt Zgorgelec.
  • Dortmunds französische Partnerstadt Amiens war am Samstag wohlweislich nicht vertreten. Sie ist auch mit Görlitz verbandelt und möchte im Kulturwettstreit lieber neutral bleiben.
  • Eine Datenbank zu internationalen Partnerschaften deutscher Städte und Gemeinden findet man im Internet unter: www.rgre.de/rgre-partnerschaften



Kartoffelchips und Kunstgeschichte – Der Bildhauer Thomas Rentmeister und seine Lebensmittel-Skulpturen am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Mhh, lecker!? Die neue Ausstellung im Dortmunder Ostwall-Museum besteht zu weiten Teilen aus essbarem Material. Doch das Wachpersonal wird verschärft aufpassen, dass nichts angeknabbert wird.

So schafft man sich ein künstlerisches Markenzeichen: Skulpturen von Thomas Rentmeister (41) bestehen beispielsweise aus Nuss-Nougat-Creme, Zucker oder Hühnereiern. Ob Formen und Gerüche sich bis zum Ende der Dortmunder Ausstellung im April halten, wird sich erweisen. Derlei verderbliche Stoffe verweigern sich jedenfalls dem auf dauerhafte Werte versessenen Kunstmarkt.

Im Lichthof wird man von zwei noch halbwegs dezent duftenden Hügeln empfangen: Ein mächtiger Haufen Kartoffelchips erhebt sich gelblich wie Herbstlaub, die ähnlich sorgfältig aufgeschütteten Erdnussflips spielen eher ins Bräunliche. So richtig zum schlaraffigen Hineinwühlen, wenn man’s denn dürfte. Übrigens: Nach der Ausstellung soll das alles zu Tierfutter verarbeitet werden.

Die Kellerpartys der 60er und 70er

Hintergedanke für Fachkundige: Skulptur definiert sich durch ihr Verhältnis zum Raum. Hier durchdringt der luftige Raum die lockeren Strukturen der Lebensmittel. Auch daher rührt der rätselhafte Ausstellungstitel „Die Löcher der Dinge“.

Natürlich haben solche Sachen Anspielungs-Charakter, sie wecken Assoziationen. Rentmeister sagt, er beziehe sich auf Jugenderinnerungen an die 60er und 70er. Die besagten Chips und Flips dürften mit neckischen Kellerpartys jener Zeiten zu tun haben. Der handwerklich versierte Künstler hat eine türlose Holzhütte gebaut, aus der entsprechender Party-Lärm (mit Blasmusik) dringt. Die eigens angefertigten Fenster mit falscher Butzen-Gemütlichkeit zitieren Baumarkt-Scheußlichkeit verflossener Jahre.

Rentmeister: „So etwas gibt’s nicht mehr. Heute sieht Hässlichkeit anders aus.“

Der Künstler macht nicht den Eindruck, als werde er von Psychodramen gequält. Spielerisch, doch auch formstreng geht er mit täglichem Konsumgut und Symbolik um. Ein Anflug von von Besessenheit ist auch dabei. Der Mann ist kein Scharlatan.

Albträume für Putzwütige

Eine Raumflucht ist angefüllt mit Dutzenden von kleinen Kinder-Einkaufswagen aus dem Supermarkt. Alle sind randvoll mit rohen Eiern. Eine gestaute Prozession, weit jenseits des Kaufwahns, fragil und schon durch schiere Fülle reichlich grotesk.

Nusscreme-Häufchen, auf fünf museale Sockel gekleckert, werden auf diese Weise: beinahe nobilitiert. Ein altbekannter Effekt seit Marcel Duchamp. Überhaupt ließe sich manche zittrige Linie in die Kunstgeschichte ziehen, z. B. zum Minimalismus oder zurPop-Art. Rentmeister hat ausgediente Kühlschränke nahezu kubistisch arrangiert und die Lücken mit Babycreme verspachtelt. Ganz Kühne denken da vielleicht sogar anCaspar David Friedrichs“ berühmtes Eisschollen-Bild „Die gescheiterte Hoffnung“.

Albträume für Putzwütige mit leichtem Ekelfaktor: ein mit düsenfeinen Zahnpasta-Resten bespuckter Spiegel (sieht irgendwie ästhetisch aus), daneben ein Berg benutzter Papiertaschentücher, ein mit Zucker vollgeschüttetes Bett. Und diese Bescherung: Unter eingedellter Plexiglaskuppel türmt sich ein chaotischer weißer Berg aus Unterwäsche, Zucker, Minzbonbons, Waschpulver. Der Künstler spricht lachend von einer „weißen Sauerei“.

Jetzt bitte keine müden Scherze über diensteifrige Reinigungskräfte im Museum!

5. Feb. bis 23. April. Eintritt 3 Euro, Katalog 16 Euro.

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ZUR PERSON

Studium bei Günther Uecker

  • Thomas Rentmeister wurde 1964 in Reken/ Westfalen (bei Borken, Münsterland) geboren.
  • Er studierte an der Kunstakademie Düsseldarf, unter anderem beim „Nagelkünstler“ Günther Uecker.
  • Rentmeister hat lange in Köln gelebt. Inzwischen ist er nach Berlin umgezogen, wo er neuerdings einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule Weissensee hat.
  • Die Liste seiner Ausstellungen ist umfangreich. Einzelschauen hatte er u. a. in der Kunsthalle Nürnberg und im Museum Abteiberg in Mönchengladbach.
  • Markennamen wie etwa Nutella, Penaten oder Tempo spielen bei seinen Skulpturen kaum eine Rolle. Es geht nicht um Konsumkritik, sondern um ästhetische Wirkung.