Die Minute, da wir explodierten – Ein Fußball-Länderspiel zwischen religiöser Erwartung, Königsdrama und Farce

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Kollegen der Sportredaktion haben ihre Teil getan, nun darf auch noch das Feuilleton ‚ran. Denn natürlich ist ein Fußball-Länderspiel, wie jetzt Deutschland – USA in Dortmund, letztlich auch ein geballtes Kulturereignis. Bei der WM werden wir’s sogar multi-kulturell erleben.

Man denke nur ans ganze Drumherum, an die vielen Rituale: vom eher pflichtschuldigen Absingen der Nationalhymnen bis zur permanenten chorischen Begleitung durch die Fans; von der mitunter opernhaften Arena-Situation (mit Vorläufern wie dem griechischen Amphitheater oder dem römischen Colosseum) bis hin zur sprachlichen Bewältigung des Geschehens durch Spieler, Trainer und Journalisten.

Sodann die Spielchen mit den historisch überkommenen National-Klischees („Die Amis“, „Die Urus“ usw.), stets frisch aktualisiert durch die Typengalerie der jetzigen Mannschaften.

Überdies wabert ein ständiges Krisengerede, welches Theater und Literatur seit Hunderten von Jahren begleitet – warum also nicht auch den vergleichsweise blutjungen Fußball? Vom Glauben an Mythos und Magie (wieder weiße statt rote Hemden = erhöhte Siegchance) ganz zu schweigen. Das Spektrum großer Spiele liegt denn auch irgendwo zwischen quasi-religiösen Erwartungen, Shakespeares schroffen Königsdramen und einer grotesken Farce.

In Dortmund gibt’s fürs Nationalteam offenbar kein Verlieren. 4:1 ging es bekanntlich aus, rein rechnerisch also die exakte „Wiedergutmachung“ fürs Florentiner Italien-Debakel. Lange blieb’s freilich abermals ideenlos und uninspiriert, so ganz und gar nicht künstlerisch. Schmerzlich yermisste man die Leichtigkeit des Seins, die ein Fußball-Ensemble hervorbringen kann und die Deutschlands Sache oft nicht ist, was wiederum gern mit der gesamten Befindlichkeit des Landes kurzgeschlossen wird. Fußball als Staatsaffäre, deren Akteure sich oft furchtbar ernst nehmen.

Kein Wunder, wenn die Jungs auf dem Spielfeld verkrampfen. Doch diesmal, vor allem aber der 73. Minute, „sind wir explodiert“ (O-Ton Oliver Kahn), und es gab auf einmal die gute alte Katharsis, sprich: die befreiende Reinigung vom Übel. Das waren endlich ein paar schöne, ästhetisch befriedigende Momente.

Wie sonnig geht’s doch in derlei Erfolgsfällen beim ZDF zu: „Analysen“, wie sie Franz Beckenbauer und Johannes B. Kerner liefern, brächte wohl jeder bessere Stammtisch zu- stande. Doch es ist nahezu pervers: Irgendwie giert man ja selbst masochistisch nach dem öligen Palaver von „Kaiser Franz“ oder auch nach den eher barschen Urteilen von Günter Netzer bei der ARD. Selbst ein „Literaturpapst“ wie Marcel Reich-Ranicki dürfte seine Freude daran haben. Und Harald Schmidt sowieso.

Zum Ritus gehört auch das Erscheinen des Bundestrainers, der traditionell Rede und Antwort stehen muss. Jetzt lacht er wieder, der „Klinsi“. War es etwa nicht amüsant, wie beflissen der Regisseur Klinsmann neben dem Generalintendanten (Beckenbauer) stand; wie er diesmal „die Herren Medien“ geißelte oder wie er den „Abnutzungskampf“ beschwor? Goldig auch sein Satz über die der letzten Tage vor dem Match: „Wer mich kennt, hat mich nach wie vor lächeln gesehen.“ Wahrscheinlich war’s daheim im Keller.




O abgetropfter Ball, o rundes Leder! – Ludwig Harigs Fußballsonette im Vorfeld der WM

Von Bernd Berke

Die bevorstehende FußballWM beflügelt nicht nur Sport-Kommentatoren und zig Millionen Bundestrainer, sondern auch viele Schriftsteiler. In diesem Frühjahr sind zahllose Bücher mit literarischem Kick auf dem Markt. Sehr edel gibt sichLudwig Harigs schmale Gedichtsammlung „Die Wahrheit ist auf dem Platz“.

Der Umschlag ist nicht nur satt grün wie gut gepflegter Rasen, sondern trägt auch die weißen Linien-Markierungen eines Spielfeldes. Noch dazu fühlt sich der aufwändig hergestellte Band wie Samt und Seide an. Da macht schon das Anfassen Freude.

Und der Inhalt? Mythen und Schicksale zuhauf. Harig lässt große Turniere und Spiele der letzten Jahrzehnte in einer wahrhaft erhabenen lyrischen Form aufleben: Er bedient sich des Sonetts – wie beispielsweise einst Shakespeare oder Rilke. Die klassische Strophen-Aufstellung folgt zeilenweise dem 4-4-3-3 System. Das hehre kulturgeschichtliche Erbe zieht überaus kostbare, pathetische Formulierungen nach sich:

„O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder!“

Preziöse Sprache und würdevolle Form stehen zuweilen im krassen, komischen Gegensatz zur Schlichtheit der mitgeteilten Tatsachen. Man darf wohl annehmen, dass Harig (ähnlich wie sonst ein Robert Gernhardt) diesen rhythmisch grundierten Fallhöhen-Effekt ganz gezielt einsetzt. Beispiel:

„Ein Unentschieden macht den Sieg zuschanden / und schiebt den Riegel zu für künftige Trophäen.“

Wie wahr. Ein 0:0 ist kein Sieg und zeitigt keine Triumphe. Ein andermal riskiert Harig, der auch schon mal „Böller“ auf „Völler“ reimt, einen gar kühnen Vers:

„Der Fan lehnt sich zurück und cremt sich mit Nivea, / erwartet voll Respekt das Team aus Südkorea.“

Ganz klar. Typisches Fanverhalten. Gleich der Griff zum Cremedöschen, wenn’s hart auf hart kommt.

Diverse WM- und EM-Verläufe seit 1954 werden lyrisch besungen. Zum teutonenhaften deutschen Auftreten bei der erfolglosen WM 1998 heißt es:

„Denn Ordnung, Arbeit, Kraft, so höhnt ein Journalist, / womit die Deutschen sich und alle Welt betrügen, / sind nichts als Alibi, als fromme Lebenslügen.“

Auch zur WM 2002 klingt es aus deutscher Sicht mahnend und besorgt: „Es hilft die Tugend nicht, man muß auch Fußball spielen.“ Und zur EM 2004 in Portugal: „Taugt unser Fußball noch? Das ist die Gretchenfrage.“ Das Leiden an deutscher Holzklasse ist ebenem bleibendes Thema. Doch vor Monaten, wahrscheinlich beim munteren Confed-Cup 2005, sah Harig einen Lichtstreif:

„Am Fußballhorizont ein helles Dreigestirn / mit Klinsmann, Bierhoff, Löw erleuchtet unser Hoffen.“

Die leidige Torwartfrage hat Harig unterdessen subjektiv ganz eindeutig entschieden: Jens Lehmann soll es sein! Über Oliver Kahn heißt es hingegen nach glücklosem Match geradezu schadenfroh:

„Nun kann er sich nicht mehr gebärden als Titan / und nicht erkühnen, sich die Nummer eins zu heißen.“

Überhaupt erweist sich Harig als ausgesprochen bissiger Anti-Bayer. Zitat aus „Bayern gegen Arsenal“, mit Bezug zum deutschen Torwart in Londoner Diensten:

„Kommt Lehmann an den Ball, schon pfeift die feige Meute. / Es sind die Bayernfans ein schlimmes Publikum, / Zerstören die Idee von Spiel und Menschentum. / Hier herrscht der blinde Wahn vulgär gebliebner Leute.“

Wie gut, dass Westfalen und Saarländer anders sind. Immer nur Lyrik im Kopf und stets faire Sportsfreunde. Jau!

Ludwig Harig: „Die Wahrheit ist auf dem Platz. Fußballsonette“. Hanser Verlag, 80 Seiten, 12,50 Euro.

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ZUR PERSON

Passionierter Saarländer

  • Ludwig Harig wurde 1927 in Sulzbach/Saar geboren.
  • Zunächst war er als Grundschullehrer tätig, seit 1974 ist er freier Schriftsteller.
  • Besonders viel Beachtung fand seine Romantrilogie mit den Bänden „Ordnung ist das ganze Leben“, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ und „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“.
  • Harig hat sich auch mit experimenteller Lyrik einen Namen gemacht.
  • Fußballthemen hat der passionierte Regionalist (Buch „Die saarländische Freude“) mehrfach aufbereitet.
  • Schon 1967 war sein Hörstück „Das Fußballspiel“ gesendet worden. Und zur Fußball-WM 1974 leistete er mit Dieter Kühn den literarischen Beitrag „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“.



Der Drang zum Mittelpunkt der Welt – Kölner Museum Ludwig lässt den Mythos Dalí wieder aufleben

Von Bernd Berke

Köln. Nicht nur als Künstler, sondern auch mit Behauptungen war Salvador Dalí ziemlich verwegen. So hat er den Bahnhof im südfranzösischen Provinzort Perpignan zum „Mittelpunkt der Welt“ erklärt. Wie kam er zu der tollkühnen These?

Nun, vor allem, weil einst (in den späten 1940er Jahren) seine eigenen Gemälde hier verladen werden mussten, um etwa nach Paris und in die USA zu gelangen. Überdies recherchierte der dem produktiven Wahn zugeneigte Spanier. dass in der Antike Hannibal hier gewesen sein musste (nicht am Bahnhof, wohlgemerkt, aber in der Nähe des späteren Perpignan). Und die afrikanische Erdplatte stoße just in dieser Weltkante auf die europäische. Wenn das keine Gründe sind!

„Der Bahnhof von Perpignan“ als Kristallisationspunkt

Jetzt kreist eine ganze Ausstellung im Kölner Museum Ludwig um Dalís monumentales Werk „La Gare de Perpignan“ („Der Bahnhof von Perpignan“, 1965). Während seine Frau Gala die Bilder dort zum Zug brachte, saß er im Empfangsgebäude und halluzinierte. Anfang der 60er Jahre, als er ein einschlägiges Manuskript unverhofft wiedergefunden hatte, überflutete die Erinnerung den Künstler und trieb ihn zur Leinwand. Es entstand das kreuzförmig strahlende, quasi-religiösen Anspruch erhebende Gemälde.

Die Motive sind ein Gemisch seines Lebens. Der Bahnhof selbst ist gar nicht zu sehen, wohl aber einige Phantasien, die Dali dort ausbrütete: Gala als geheimnisvolle Rückenfigur, er selbst als Gekreuzigter, ein rasender Güterwaggon mit Heimatbahnhof Perpignan. Hinzu kommen die Gestalten aus Jean-François Millets Gemälde „Angelus / Das Abendläuten“ (1858). Dieses Bildnis eines frommen Bauernpaares, das nach getaner Arbeit am Ackersrande betet, galt als christliche „Ikone“ des 19. Jahrhunderts und war in Reproduktionen millionenfach verbreitet. Mit seinem Bahnhofs-Bild legte es Dalí darauf an, die Wirkung Millets erotisch aufzuladen und noch zu übertrumpfen. Man muss solche imperatorischen Gesten nicht mögen. Aber sie sorgen für Dynamik in der Kunst.

Bombastische Selbstinszenierungen

All diese Aspekte fächert die Kölner Schau auf, sie geht Einflusslinien und biographischen Hintergründen nach. Deshalb umfasst sie neben 34 Ölgemälden und rund 30 Zeichnungen auch zahlreiche Dokumente und Fotografien. Sie bezeugen, wie bombastisch sich Dalí selbst inszeniert hat. So zelebrierte er 1965 eine triumphale Reise just nach Perpignan, begleitet von einem geradezu königlichen Hofstaat aus Bewunderern und versehen mit Insignien (operettenhafter) Macht. Man erfährt nichts grundlegend Neues über Dali, aber man spürt seinen Mythos noch einmal in konzentrierter Form.

Im Schaffensrausch zwischen seinem Geburtsort Figueres und Cadaqués erscheint er auch als „Heimatmaler“, wie der Kunstkritiker Laszlo Glozer einprägsam bemerkt hat. Auf allen Bildern, und seien sie noch so surreal, leuchtet das Licht dieser spanischen Gegend. Auch schroffe Felsen und endlos weite Ebenen hat Dali der wirklichen Landschaft abgeschaut. Dass sich dort übernatürliche Phänomene ausbreiten, ist in der offenkundig flirrenden Hitze gar nicht mal so verwunderlich. Das Obszöne und der Tod sind gleichfalls stets in Reichweite.

Auch der religiöse Drang, der Dalí nach dem Zweiten antrieb und sich aus katholischem Mystizismus speiste, wird sichtbar. Da erscheint die geliebte Gala 1950 als schwebende Madonnenfigur. Besonders inniger Glaube oder Blasphemie? Mit der Zeit geriet jedenfalls der ursprünglich so vitale Wahnwitz (Dalí nannte es seine „paranoisch-kritische Methode“) zum beruhigten »Klassizismus“ mit glatten, polierten Oberflächen und Koketterien an der Kitschgrenze. Daran konnte die Pop-Art anknüpfen.

Museum Ludwig. Köln (am Hauptbahnhof). Bis25. Juni. Di-So 10-18. jeden 1. Freitag im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 7,50, Katalog 37 Euro.

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ZUR PERSON

Professoren beleidigt

  • 1904 Dalí wird am 11. Mai in Figueres (Katalonien) geboren.
  • 1923/24 Haftstrafe als „Rädelsführer“ eines Studenten-Protestes.
  • 1926 Wegen Beleidigung der Professoren muss Dalí die Kunstakademie verlassen.
  • 1929 Erste Begegnung mit seiner späteren „Muse“ und Ehefrau Gala, die damals noch mit dem Dichter Paul Eluard verheiratet ist.
  • 1934 Polit-Konflikt mit dem kommunistisch orientierten Surrealisten André Breton.
  • 1938 Treffen mit Sigmund Freud in London.
  • 1940-48 Exil in USA.
  • 1956 Privataudienz beim Diktator Franco.
  • 1989 Am 23. Januar stirbt Dalí in Figueres.



Auch Bochum will ein Konzerthaus bauen – Finanzielle Vorbehalte / „Konkurrenz“ reagiert gelassen

Von Bernd Berke

Bochum. Auch Bochum möchte ein Konzerthaus bauen – für 21,4 Mio. Euro. Dies hat gestern der städtische Kulturausschuss im Grundsatz bekräftigt.

Allerdings wurde auf die im November 2006 anstehenden Haushaltsberatungen verwiesen. Falls das Projekt dann bejaht wird: Würde eine neue Konkurrenz für die Philharmonien in Dortmund und Essen drohen?

Die WR fragte nach und vernahm betont gelassene Stimmen. Dortmunds Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa findet den Vorgang undramatisch und sagt sogar: „Das wäre eine Supersache. Die Bochumer Symphoniker hätten es verdient.“

Bisher muss das Orchester (Leitung: Steven Sloane) zwischen diversen Bochumer Spielstätten „tingeln“. Mit dem Neubau neben der Jahrhunderthalle bekäme es endlich eine feste Bleibe. Das Bochumer Haus mit rund 1100 Plätzen (Dortmund: fast 1600, Essen: 1800) würde zudem in einer anderen Liga spielen, meint Stampa: „Da dürfte es keine großen Publikums-Bewegungen geben.“

Ähnlich unaufgeregt sind die Erwartungen bei der Essener Philharmonie. Und Prof. Franz Xaver Ohnesorg, Chef des Klavierfestivals Ruhr, findet: „Die Entscheidung wäre längst überfällig. Wenn man es intelligent anfängt und eigene Profile findet, so ergänzen sich die Häuser.“

Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers stellt klar: „Wir wollen kein Konzerthaus im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie eine feste Spielstätte für unsere Symphoniker.“ Gewiss könne es auch Fremdveranstaltungen geben, doch eher im Jazz- oder Kammermusik-Bereich.

Hat es im Vorfeld Absprachen zwischen den Revier-Kommunen gegeben, die sich gemeinsam anschicken, Europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden? Offenbar ja. Mit seinen Dezernenten-Kollegen Jörg Stüdemann (Dortmund) und Oliver Scheytt (Essen) ziehe er auch in der Angelegenheit „an einem Strang – und zwar in dieselbe Richtung“, versichert Bochums Küppers. Auch mit den Chefs der Philharmonien in Essen und Dortmund herrsche Einvernehmen.

Das Problem ist Bochums prekäre Haushaltslage. Das Konzerthaus soll von der Stadt-Tochter „Entwicklungsgesellschaft Ruhr“ gebaut werden. Ab 2009 würden jährlich 1,3 Mio. Euro Mietkosten zu Lasten der Stadt anfallen. Spätestens bis dahin, so Küppers, müsse man den Etat so weit konsolidieren, dass sich Bochum diese Ausgabe erlauben kann. Unter solchen Vorbehalten wurde denn auch gestern im Kulturausschuss beraten. Denn die Bezirksregierung in Arnsberg überwacht die Bochumer Haushaltsführung genau.

 




Deutsche Sprache ist der Superstar – In der Kölnarena absolvierten fast 15000 Menschen unterhaltsame Deutschstunden

Von Bernd Berke

Köln. Welch ein Fez und fröhlicher Lärm! So lässt sich Unterricht ertragen. Zur „größten Deutschstunde der Welt“ sind fast 15 000 Menschen in die Kölnarena gekommen, und zwar vorwiegend Schüler.

Das Lesefestival Lit.Cologne zählt seine Besucherscharen eh schon nach Zigtausenden. Doch diese Veranstaltung ist die Krönung, höchstwahrscheinlich reif furs Guinness-Buch der Rekorde. Der Aufnahmeantrag, versehen mit Beweisfotos und Teilnehmerlisten, hat beste Chancen. Chipstüten kreisen durch die Sitzreihen, stets klingeln irgendwo etliche Handys und „geschwatzt“ wird sowieso. Egal. Es stört niemanden, denn diese gigantische, rund 150 Minuten lange Deutschstunde ist ja eine flotte Show.

Moderator Thomas Bug (Ex-Juror bei „Deutschland sucht den Superstar“) mimt den strengen Oberlehrer, was natürlich neckisch gemeint ist. Denn diese Unterweisung soll vor allem Spaß machen. Die Sprache ist der Superstar.

Geht man nach, zu oder bei Aldi?

Anfangs schrillt die Glocke, auf der Bühne stehen Bänke wie in einer „Häschen-Schule“. Putzig. Hier gibt’s nun reihenweise Auftritte mit sprachlichen Aha-Effekten. Hauptakteur ist der populäre Sprachkritiker Bastian Sick („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“). Er trägt Kapitel aus seinen Millionensellern vor. Lauthals bejubelt, denkt er über lebenswichtige Themen nach, etwa so: Heißt es nun „Ich gehe nach Aldi“, „Ich gehe zu Aldi“ oder gar „Ich gehe bei Aldi“? (wahlweise: Lidl, Schlecker, Karstadt etc.).

Weiter geht’s mit munterem Sinn: Joachim Hermann Luger („Lindenstraße“) hält eine bedeutungsschwere, gleichwohl völlig inhaltslose „Politikerrede“. WDR-Mann Frank Plasberg („Hart aber fair“) nimmt den NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers ins Gebet. Der gibt zu, dass auch er mal eine „Fünf“ in Deutsch gehabt habe. Das kommt an bei den Schülern. Zunächst mit Buhs empfangen, wird Rüttgers mit Applaus verabschiedet. Etwas steif wirkt Schulministerin Barbara Sommer, die die (passablen) Deutschkenntnisse einiger Fachlehrer testet. Sie ist nervös und dreht sich gernmal vom Publikum weg.

Warum Kaminer erst einmal lieber Englisch lernte

Fußballer-Zitate zeugen gelegentlich von limitierter linguistischer Kompetenz, sie sind auch in der Halle ein Lacherfolg. Gemein! Zum Ausgleich erweist sich Schalke-Torwart Frank Rost als Sprachfreund, der für die Stiftung Lesen und Alphabetisierungs-Programme eintritt. Dafür heimst er brave Komplimente seiner Interviewerin Bettina Böttinger ein. Zwischendurch lockert deutscher Rap der Kölner A-cappella-Formation „Basta“ die Sache auf. Auch diese Jungs sind auf ihre Weise sprachbewusst.

Die meisten Lachsalven gelten Wladimir Kaminer („Russendisko“). Der Autor schildert groteske Erlebnisse beim Erlernen der deutschen Sprache. In der Sowjetunion hat er einst das das ansonsten geschmähte Englisch („Entgleisung des Plattdeutschen“) vorgezogen, weil die Lehrerin erotisch verlockend, die Kollegin fürs Deutsche hingegen eine alte Krähe gewesen sei.

Dann aber hörte Kaminer Texte von „Rammstein“ und entdeckte so die krassen Seiten dieser Sprache. Deutsch kommt ihm seither wie ein Baukasten vor, dessen Teile man beliebig zusammensetzt, etwa in hübschhässlichen Nahverkehrs-Wörtern wie „Kurzfahrstrecke“ oder „Ausstiegsgelegenheit“.

Und der Effekt der ganzen Chose? Es ist doch ein herrlicher Wahnsinn, dass unsere gute alte Sprache für einen solchen Massenandrang sorgt. Auf dem Heimweg haben Tausende übers Thema geredet, wie wohl schon lange nicht mehr. Es möge nützen.

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ZUR PERSON

Bastian Sick – „Zwiebelfisch“ und Genitiv

  • Bastian Sick, Jahrgang  1965, studierte Geschichte und Romanistik.
  • Er war zunächst als Übersetzer (Französisch) und Verlagslektor tätig.
  • 1995 ging er als Dokumentations-Journalist zum „Spiegel“-Verlag.
  • Ab 1999 arbeitete er für den Internet-Auftritt www.spiegel.de
  • Seit Mai 2003 erscheint dort seine Kolumne „Zwiebelfisch“, die in unterhaltsamer Form allerlei Zweifelsfälle und Fehlentwicklungen der deutschen Sprache aufgreift.
  • Bastian Sicks Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ (inzwischen 2 Bände) basiert auf dem „Zwiebelfisch“ und wurde ein Überraschungs-Erfolg.
  • Ein „Zwiebelfisch“ ist ein Buchstabe aus einer anderen (falschen) Schriftart, der versehentlich in einen gedruckten Text rutscht.



Ganz tief im Herzen der Angst – Grandiose Werkschau der 94-jährigen Louise Bourgeois in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Hier brüllt die Angst, hier nagen Schuldgefühle, und es erhitzen sich die Aggressionen. Wie wohl keine Ändere, lässt die mittlerweile 94-jährige Louise Bourgeois den ganzen Seelenschmerz in ihr Werk einfließen. Ihre neue Bielefelder Werkschau ist erschütternd und aufwühlend. Das Repertoire reicht bis in kannibalische Phantasien hinein.

Kaum zu fassen: Die große (nein: größte!) alte Dame der Kunst hat die ungeheure Intensität ihrer Skulpturen und Installationen in den letzten Jahren noch einmal steigern können. „La famille“ (Die Familie) heißt die Bielefelder Ausstellung, die neben Objekten auch Zeichnungen und rare Gemälde umfasst. Die Schau dringt sozusagen zum heißen Kern des Lebenswerks vor. Denn immer wieder hat Louise Bourgeois ihr Leiden an unentrinnbaren familiären Bindungen dargestellt. Stets fürchtete sie zu versagen – als Tochter, Ehefrau, Mutter und Künstlerin.

Die Spinne als Symboltier der Mutter

Grandiose Beispiele sind die erst im Spätwerk entstandenen „Zellen“. Das sind Drahtkäfige oder Holz-Verschläge, in denen Louise Bourgeois Erinnerungen an ihre Kindheit versammelt: Kleidungsstücke, Teppichfetzen, Spiegel oder auch Wendeltreppen en miniature und immer wieder die Spinne als gruseliges Symboltier für ihre Mutter.

Wie all diese Dinge arrangiert sind, „sprechen“ sie miteinander – und schließlich auch mit dem empfänglichen Betrachter. Schon als Achtjährige musste Louise Bourgeois (unter Aufsicht des strengen Vaters) im heimischen Teppichhandel Exemplare mit Fehlstellen und Rissen zeichnerisch auffüllen, dann wurden ihre Entwürfe gewoben. So kam sie zur Kunst, doch so kam sie auch zur Angst und zu den Psychodramen.

Not und Ohnmacht der Kindheit

Den beengten Kunsträumen merkt man die ganze Not und Ohnmacht der Kindheit an. In einem dieser lichtlosen Gefängnisse steht ein bleiernes Stühlchen. Die Situation lässt es ahnen: Das kleine Kind, das hier imaginär Platz nehmen soll, fühlt sich kafkaesk angeklagt, von vornherein schuldig – und weiß nicht, wie ihm geschieht. Die Wirkung solcher Arbeiten grenzt an dunkle Magie.

Einige Familien-Szenen sind auf kleinen Bühnen ausgebreitet, die ganze Zeitabläufe simultan erfassen. Etwa so: Eine schwangere Frau, sodann die Gebärende, schließlich das Kind, das sich der Mutterliebe total verweigert. Wieder dieser Schmerz, der sich auch in die oft blutroten Filzstift-Zeichnungen der Bourgeois ergießt. Da sieht man vorwiegend Körper, die versehrt und auf ihre Grundfunktionen reduziert sind.

Wollmann liegt auf Wollfrau

Die Französin ging 1938 mit ihrem Mann Robert Goldwater (Kunsthistoriker, Kurator am Museum of Modern Art nach New York. Sie zog dort drei Söhne groß und liebte die Kinder auch, hat sich dabei aber überfordert gefühlt. Sich selbst porträtierte sie damals als kopflose Frau mit übergestülptem Haus („Femme maison“), gleichermaßen ein Zeichen für Sicherheit wie für Gefangenschaft. Seit den 1960er Jahren gelten derlei Bilder als Ikonen einer feministisch orientierten Kunst. Doch diese unerbittliche Künstlerin lässt sich nicht so einfach vereinnahmen.

Eine weitere Werkgruppe bilden die zuweilen grotesken Textilpuppen, quasi genähte und gestrickte Skulpturen. Beispiel: Wollmann liegt auf Wollfrau, die einen Holzarm hat. Ein irritierend trostloses Inbild freudloser Sexualität.

Und dann diese familiären Kriegszustände! Da taucht ein Kind als bedrohlicher Dolch auf; durchaus bereit, die Eltern zu ermorden. Furchtbares Gegenstück: eine Installation, die eindringlich darauf hindeutet, dass Eltern ihre Kinder auffressen wollen. Diese Kunst ruft Urängste wach, die nur noch mit der mörderischen Wucht antiker Dramen zu vergleichen sind.

Bis 5. Juni in der Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Eintritt 7, Katalog 24 Euro.

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ZUR PERSON

Von der Mathematik zur Kunst

  • Louise Bourgeois wurde 1911 in Paris geboren.
  • Zunächst studierte sie an der Sorbonne Mathematik und Geometrie.
  • Ab 1936 besuchte sie Kunstschulen in Paris und arbeitete im Atelier von Fernand Léger.
  • Ab 1938 lebte sie mit ihrem Mann in New York. 1940 adoptierten sie einen Sohn. 1941 bekamen sie zwei eigene Kinder, ebenfalls Söhne.
  • Sie nahm mehrfach an der documenta teil und erhielt den „Praemium Imperiale“, der als Nobelpreis der Künste gilt.

 




Die Vorfahren reden mit eindringlichen Stimmen – Arno Geiger stellte seinen Roman „Es geht uns gut“ in Dortmund vor

Von Bernd Berke

Dortmund. Eigentlich wollte Arno Geiger (37) einen Anti-FamiIienroman schreiben. Doch quasi hinterrücks ist ein Familienroman daraus geworden, allerdings ein ganz besonderer. Und der heißt auch noch verheißungsvoll „Es geht uns gut“.

Der gebürtige Bregenzer hat dafür 2005 den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis erhalten. Die Auflage steuert nun auf fabelhafte 250 000 zu, in Österreich verwies der Roman sogar „Harry Potter“ auf Platz zwei. Ein wahrhaftiger Bestseller-Autor also, der sein Erfolgsbuch jetzt im Dortmunder Harenberg City-Center vorstellte. Abermals war’s ein literarisches Ereignis der Reihe „Kultur im Tortenstück“, die von der WR mitgetragen wird.

Beim Lesen wiegt sich Geiger innig im Text, er schmiegt sich mit dem Oberkörper in die Satzmelodien hinein. Worum geht’s? Der junge Antiheld Philipp erbt das Haus seiner Großmutter und „entsorgt“ nach und nach sämtliche Erinnerungstücke. Dann aber beginnen die Stimmen der vorherigen Generationen für sich zu sprechen; unaufdringlich aber eindringlich. Unabweisbar.

Geigers Geschichten gleiten ständig in neue Perspektiven, die Übergänge sind oft fließend. Anhand einiger Tagesdaten zwischen 1938 („Anschluss“ Österreichs) und 2001 schildert der Autor in erdnaher, oft fast beiläufig klingender Sprache Begebenheiten aus dem Familienleben – vom verräterisch unterkühlten Ehedialog bis zum Tod der Mutter durch Ertrinken in der Donau.

Dass im Alltag auch gesellschaftliche Verhältnisse wirken, erfährt man hier nachdrücklich. Jede Figur, jede Szene in diesem Roman hat eigenes Gewicht, eigene Gültigkeit. Nicht zuletzt dieses scheinbar absichtslose Geltenlassen auch vermeintlich unscheinbarer Vorgänge stiftet den Zusammenhang der Episoden. Die harmlos klingende Titelformel „Es geht uns gut“ wird nicht rundweg dementiert, doch vielfach relativiert. So ist das Leben.

Lebhaftes Interesse bei der anschließenden Diskussion mit dem Autor. Geiger verrät dabei eine Quelle seines reichhaltigen Erinnerungs-Materials: In Wien wohnt er am Naschmarkt. Vom Trödel hat er dort schon einige Male alte Fotos und Briefe erworben. Sie zeugen von Zeitgeschichte, wie sie tagtäglich bei den Menschen angekommen ist.




Die Liebe zur alten Maschinenhalle: Marie Zimmermann stellt sich als künftige Intendantin der RuhrTriennale vor

Von Bernd Berke

Düsseldorf. So etwas fällt heutzutage richtig auf: Marie Zimmermann (50), die künftige Chefin des Kulturfestivals RuhrTriennale, ist passionierte Kettenraucherin. Als sie sich gestern in Düsseldorf der Presse vorstellte, zündete sie sich etliche Glimmstengel an.Viel Rauch um nichts?

Im Gegenteil: Man ahnt, dass sie einiges bewegen könnte im Revier. Sie kommt nicht mit fertigen Weltbildern oder dröhnenden Gewissheiten daher, sondern entwickelt neue Einsichten offenbar im behutsamen Dialog. Überdies scheint sie eine gute Zuhörerin zu sein und (gesellschaftspolitisch akzentuiert) über die Grenzen der Kulturszene weit hinaus zu denken. Weitere Basis-Qualifikation für die Region: Auch mit Fußball kennt sie sich aus. Na, bitte.

Von Wien ins Revier

Sie steht vor einer großen Herausforderung: Von 2008 bis ins erhoffte Kulturhauptstadt-Jahr 2010 soll sie die Geschicke der Triennale leiten. Über größere Zeiträume mag sie noch nicht nachdenken. Man wird sehen. Im Frühjahr 2007 will sie von Wien, wo sie derzeit den Schauspielbereich der Wiener Festwochen leitet, ins Ruhrgebiet ziehen.

Spekulationen, Marie Zimmermann werde die Intendanz einer etwaigen Europäischen Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet gleich mit übernehmen, erübrigen sich. Im Fall des Falles werde die Triennale zur „Hauptstadt“ wesentliche Beiträge leisten. Doch die langjährige Theaterdramaturgin, die nicht selbst Regie führt, stellt auch klar: „Hier muss ein präziser Kreidestrich gezogen werden.“ Sprich: Sie steht für eine klare Abgrenzung der Kompetenzen. Erst müsse jede Institution für sich wirken, dann kämen Gemeinsamkeiten. Dies gelte auch fürs Verhältnis zu den Ruhrfestspielen.

Die besondere Melodie der Region

Die Spielstätten der Triennale, zumeist frühere Industrie-Bauten, haben es ihr schon jetzt angetan. Einige dieser Orte hätten eine geradezu majestätische Aura. Spezielle Liebe auf den ersten Blick: die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

„Ich bin eine enthusiastische Regionalistin“, bekennt Zimmermann. Sie werde sich im Revier auf „sucherische Heimatkunde“ verlegen, sich ausgiebig umsehen. Sie nehme das Ruhrgebiet als „lebendige, teilweise auch bedrängte“ Gegend wahr. Die besondere „Melodie“ der Region solle künftige Triennale-Produktionen prägen. Und dann zitiert sie eine Buchweisheit, die auch auf hiesige Breiten anwendbar sein könnte: „Die Desillusionierung ist die haltbarste Form der Erkenntnis.“ Vom Aufbruch reden wir später einmal.

Auch die Freie Szene einbeziehen

Natürlich ist es noch zu früh, um konkrete Einzelheiten zu nennen. Doch will sie erstmals auch der Bildenden Kunst Auftritte bei der Triennale verschaffen – vielleicht in kreativer Verknüpfung mit Theater und/oder Musik.

Obwohl sie keine direkte Erfahrung mit Musiktheater hat, möchte sie diese Sparte weiter pflegen. Sie verlässt sich dabei keineswegs auf frühe hausmusikalische Praxis (als Jüngste von sechs Geschwistern), sondern vor allem auf fachkundige Berater. Gut möglich, dass Marie Zimmermann Projekte aus der „Freien Szene“ rekrutiert, hohes Niveau vorausgesetzt. Sie ist bekannt für Aufgeschlossenheit in diese Richtung.

Doch das Festival (Etat: 38 Millionen Euro pro Dreijahres-Turnus) könne keinen Ausgleich für jede finanziell gebeutelte Truppe schaffen: „Die RuhrTriennale ist nicht das Bankhaus der Szene, und bin nicht die Schnittmenge aus Mutter Teresa und dem Weihnachtsmann.“

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HINTERGRUND

Erfahrung mit anderen Theaterfestivals

  • Die RuhrTriennale wurde 2002 gegründet.
  • Ein Festivaldurchgang umfasst je drei Spielzeiten.
  • Bisherige Intendanten:. Gérard Mortier (2002-2004) und Jürgen Flimm (2005-2007).
  • Die künftige Triennale-Chefin Marie Zimmermann wurde 1955 in Simmerath (bei Aachen) geboren.
  • Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie, war freie Journalistin.
  • Über die Leitung einer Pressestelle (Stadtwerke Aachen) kam sie als Pressesprecherin zur Landesbühne Esslingen – Beginn ihrer Theaterlaufbahn.
  • Sie hat u. a. die Festivals „Theaterformen“ (Hannover/Braunschweig) und „Theater der Welt“ (Stuttgart) geleitet.