Navigation oder: Im Alltag schwindet das Abenteuer

Sie waren der absolute „Renner“ – nicht nur im letzten Weihnachtsgeschäft: mobile Navigationsgeräte fürs Auto. Fast 2 Millionen Stück hat die Industrie 2006 in Deutschland abgesetzt. Da fragt sich doch allmählich: Was bedeuten die erstaunlichen Apparate für unsere Alltagskultur?

Es ist ähnlich wie einst mit dem Handy. Als die ersten Leute es benutzten, fand man es affig. Dann hat man sich irgendwann eins zugelegt. Und heute ist kaum noch vorstellbar, wie man früher „ohne“ ausgekommen ist.

Irgendwann gönnt man sich vielleicht auch so ein tragbares „Navi“ und gewöhnt sich sogar an das piefige Kurzwort. Trotzdem ist es ein Kauf mit gemischten Gefühlen. Denn das bedeutet ja, dass man Gewohnheiten aufgibt: Nie mehr während der Fahrt fluchend in Stadtplänen blättern, nie mehr in der Patentfaltung grabbeln.

Es heißt ferner: Nie mehr die Scheibe runterfahren lassen (vom früheren Handkurbeln gar nicht zu reden), um Passanten nach dem Weg zu fragen. Nie mehr deren umständliche Beschreibungen. Wahrscheinlich (fast) gar kein abenteuerliches „Verfransen“ mehr. Da gehen einem ganze Erfahrungsbereiche verloren. Das manchmal so schöne Chaos des Alltags wird abermals geschmälert.

Überdies fühlt man sich von dem Gerät manchmal fürsorglich bevormundet. Man muss es nur mal in der „eigenen“ Stadt benutzen. Da will die kleine Bildschirm-Kiste partout besser wissen, wo es lang geht. Ha, von wegen! In Dortmund fahre ich meine Strecken so, wie ich will. Schweig stille, Navi!

Wenn man eine vorgeschlagene Strecke ignoriert, berechnet das Gerät die Fahrtroute neu. Vielleicht täuscht man sich ja, aber es wirkt dabei irgendwie nervös. Vorher will es einen aber noch zum Wenden überreden – mit jener freundlichen Frauenstimme, die jede ihrer Weisungen höflich einleitet: „Bitte – jetzt rechts abbiegen.“ Danke, verehrte virtuelle Begleiterin, wird (eventuell) gemacht.

Ob es wohl viele Menschen gibt, die mit ihrer Navigation sprechen? Man kennt es vom Computer her („Oh, nein! Mach hin!“). Ohnehin ist der Gedanke nicht absurd: Das mühsame Eintippen der Zieladresse soll bald der Vergangenheit angehören. Tatsächlich werden zur Zeit Navigations-Geräte entwickelt, die im Dialog mit dem Nutzer an der Stimmlage auch dessen Emotionen „erkennen“ sollen. Verweigern sie den Dienst, wenn man sie anblafft?

Dass Apparaturen einem das Denken abnehmen, ist sowieso schon eine machtvolle Tendenz. Man denke nur ans Auto selbst, falls es etwas neuerer Bauart ist. Für jeden kleinen Fehlgriff blinkt mindestens eine Lampe – oder es piept aufgeregt. Herrje, ein kleines bisschen Verantwortung möchte man selbst auch noch behalten, oder?

Sodann die Sache mit der „Stau-Umfahrung“. Per Zusatzantenne (prima Kabelgewirr an der Frontscheibe) empfängt die „Navi“ Verkehrsmeldungen der Rundfunksender – und will sie sogleich berücksichtigen. Schon vor kleinen Stockungen schreckt das Gerät mitunter zurück. Es führt einen auf Umwegen durch Vororte, von deren Existenz man bisher nichts geahnt hat. Das ist denn doch ein Stückchen Abenteuer. Hier darf man sich meditativ einreden: Der Weg ist das Ziel . . .

Möglicher Effekt auf Dauer: Je mehr die elektronischen Fährtensucher verbreitet sind, umso mehr Menschen werden den Stau just auf diese Weise umgehen wollen – und vielleicht alle auf denselben Ausweichstrecken landen. Aus dem Stau in den Stau. Alle Herdentiere gemeinsam.

Ein mulmiges Gefühl beschleicht einen, wenn man an die „Big Brother“-Komponente denkt, die ja ursprünglich aus der Militärtechnik herrührt: Die GPS-Satelliten im Weltraum „wissen“ praktisch metergenau, wo man gerade unterwegs ist. Da trifft mal wieder die alte Schnulze zu: Du bist nicht allein . . .

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Der Originalbeitrag stand am 12. Januar 2007 in der Westfälischen Rundschau (WR)




Die Wut des Dichters auf die ganze Welt – Neu im Kino: „Brinkmanns Zorn“

Von Bernd Berke

Ein Mann rennt rastlos umher und brüllt den Himmel an wie ein Berserker: „Elender gelber Scheiß-Himmel“. Und so weiter. Minutenlang. Mit stetig wachsender Wut.

Das ganze Dasein widert ihn an. Besondere Hasstreue fesselt ihn an seinen Wohnort Köln und all die „Fressen“, die er dort erblickt. Auch die Straßen und Häuser findet er unerträglich. Und überhaupt.

Mit ähnlichem Furor hat er die Unwirtlichkeit der Welt in seinen Texten beschworen. Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) hat nicht nur fulminante Bücher wie „Westwärts l & 2″ hinterlassen, sondern auch stapelweise Tonbänder, auf denen er seine Leiden ausgespien hat. „Brinkmanns Zorn“ heißt der Film, der sich anmaßt, nachträglich in sein Hirn zu kriechen.

Basis sind die Tondokumente, die Brinkmann 1973 und 1975 einsam am Schreibtisch oder bei ziellosen Gängen aufgenommen hat. Wir hören also seine wirkliche Stimme: Lippensynchron agierende Darsteiler verkörpern ihn, seine Frau und den sprachbehinderten kleinen Sohn Robert.

Eckhard Rhode als Brinkmann wirkt bestürzend authentisch. Der große Unduldsame bewies nur dann Langmut, wenn er seinem Sohn das Sprechen beibringen wollte. Doch als er nur noch zürnte, verließ ihn die Frau und nahm das Kind mit.

Mit Brinkmann irrt der Zuschauer durch die wirren 70er Jahre. Der wilde Blick der Kamera krallt sich oft an mikroskopischen Details fest. Jede Kleinigkeit kann hier den Zorn auslösen. Sogar die seltsam verwaschenen Filmfarben jener Zeit hat Regisseur Harald Bergmann erzeugt. Eine innige Rekonstruktion also, die den Zuschauer tief hinein zieht – und zugleich radikal wegstößt.

Der rasende Wildwuchs der Bilder entspricht einer Flüchtigkeit, die irgendwie hinaus will aus der Welt – wie der Autor, dem auf Erden kaum zu helfen war. Oder etwa doch? In England hat er sich 1975 offenbar beruhigt. Mit anrührender Zuneigung sprach er über Cambridge und London. Umso schmerzlicher: Nach einer Lesung wurde er dort von einem Auto überfahren.