Bauer sucht genügsame Frau

Nach dem Tod seiner Frau (Kurzschluss des Melk-Apparates!) kommt der französische Landwirt Aymé nicht allein zurecht. In die Waschmaschine füllt er pfundweise Pulver ein – und merkt nicht, dass unterdessen eine Katze in die Trommel gesprungen ist. Sein Kühlschrank ist stets gähnend leer. Und überhaupt sieht das Haus nicht gerade picobello aus. Tja. Männer.




„Lonely Hearts Killers“: Schwarzes Loch in der Seele

Ray ist ein kleiner Gauner, der einsamen Frauen das Ersparte abschwatzt. Der Heiratsschwindler hätte so halbseiden und ölig weitermachen können, wenn er nicht eines Tages Martha getroffen hätte.

Sie verwandelt sein Leben in einen blutigen Thriller. Todd Robinsons Film „Lonely Hearts Killers“ (etwa: „Mörder der einsamen Herzen“) kommt entschieden stilisiert daher – vom buckligen Auto bis zur kargen, schnoddrigen Sprache im Retro-Design gehalten. Es geht denn auch um wahre US-Kriminalfälle aus den späten 1940ern, genauer: um eine grausame Mordserie an allein lebenden Damen, die per Inserat zärtlichen Anschluss gesucht hatten. Das war ihr Verhängnis, denn sie gerieten an den Gigolo Ray (Jared Leto) und seine angebliche Schwester Martha (Salma Hayek).
Ray hat auch Martha abzocken wollen.

Doch diese Frau, die ebenfalls auf eine seiner Lockanzeigen geantwortet hat, ist ein Vollweib und keineswegs altjüngferlich wie seine sonstigen „Objekte“. Zudem hat sie kein Geld, das er ihr abluchsen könnte – und sie ist ihm weitaus überlegen, weil besonders kaltblütig. Als Zehnjährige ist sie missbraucht worden. Seither hat sie ein steinernes Herz. Sie durchschaut Rays betrügerische Machenschaften sofort. Und sie will raus aus dem Armuts-Dreck. Also stachelt sie ihn zu weiteren Taten an – und steigert sie entsetzlich.

Die beiden haben sich blitzartig ineinander verliebt, nein: verkrallt. Fortan geht sie mit ihm auf Frauensuche. Doch wehe, wenn er es bei seinen Flirts zu weit treibt. Dann knallt Martha die Dame kurzerhand ab und tarnt es als Selbstmord. Völlig bedenkenlos. Es ist keine gewöhnliche Eifersucht, sondern bedingungslose Besitzgier aus existenzieller Verlassenheit heraus, ein „schwarzes Loch“ in der Seele.

Vielleicht gibt es nur einen, der dieser Furie ebenbürtig ist: den Polizisten Elmer Robinson, dessen Frau sich vor Jahren in der Badewanne das Leben genommen hat. Dies erhitzt ihn noch einmal für die jetzigen Mordfälle. Er mag auch hier nicht an Selbsttötung glauben – und ermittelt immer hartnäckiger. John Travolta, gedrungen, waidwund, irgendwo zwischen Resignation und Sprungbereitschaft, zwischen Betäubung und Hellsicht, gibt diesem „Bullen“ markante Gestalt. Sein finales Psycho-Duell mit Martha ist ziemlich gigantisch. Danach ist er freilich so erschöpft, dass er sich ins harmlose Privatleben mit Freundin und Sohn zurückzieht. Welch ein Eskapismus.

Schon die Anfangsszene hat vor der Todeszelle gespielt. Detailversessen wird später die Hinrichtung des mörderischen Paares gezeigt. Die Krämpfe auf dem elektrischen Stuhl wirken wie ein Exorzismus, die Austreibung des unnennbar Bösen aus der Welt. Eine befremdliche Reinigungs-Phantasie. Vielleicht liegt es daran, dass Regisseur Todd Robinson der Enkel des tatsächlichen Cops Elmer Robinson ist. Er wollte seinem Großvater ein Denkmal setzen – und hat beim Meißeln nicht immer die richtigen Stellen getroffen.




Alles ist schön – besonders das Geld / Ein Phänomen des Zeitgeistes: Heute vor 20 Jahren starb der Pop-Künstler Andy Warhol

Von Bernd Berke

Der Kerl war ziemlich unfassbar, und er gibt bis heute Rätsel auf. Eine verstörend maskenhafte Erscheinung war diese bleiche männliche Diva – mit starkem Hang zu Kommerz und Glamour, doch auch zum düsteren Inferno des Lebens. Heute vor 20 Jahren ist der legendäre Pop-Künstler Andy Warhol nach einer Gallen-Operation gestorben – unter letztlich ungeklärten Umständen.

Der vormalige, schon gegen Ende der 50er Jahre gut bezahlte Werbegrafiker hat nach 1960 gar vieles in die Kunst eingeschleust, was vorher nicht drin war. Vor allem: blanke Reklame-Ästhetik, grelle Konsum-Fetische. Und eine „coole“ Haltung, wie man sie vorher kaum gekannt hatte. Nicht nur die Kunst, auch die Gestalt des Künstlers hat sich mit ihm noch einmal schillernd gewandelt. Gelegentlich hat Warhol gar das Menschenbild überschritten und sich zum quasi maschinellen Phänomen stilisiert.

Glorienschein für die banale Welt der Waren

Bevor die Linke sich anschickte, den „Konsum-Terror“ zu geißeln, glorifizierte Warhol die banale Warenwelt mit Serienbildern von Campbell’s-Suppendosen, Cola-Flaschen und Dollarnoten, die unter seiner Hand zu Ikonen der Zeit wurden. Ehe liebreizend harmlose Hippies von befriedeten Blumenwelten träumten, vervielfältigte er 1963 ungeniert schockierende Pressefotos von Unfällen und Selbstmördern ins Riesenhafte. Und wo andere mal vorsichtig Haschisch probierten, kursierten in Warhols kaputten Kreisen ganz selbstverständlich die harten Drogen.

Andy Warhol hat sich und seine Kunst vermarktet wie niemand zuvor. Ja, er hat just Geschäfte als Kunstform gepriesen. Zitat: „Ein gutes Business ist die faszinierendste Kunst überhaupt.“ So könnte auch ein Börsen-Guru reden. Joseph Beuys behauptete, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Warhol postulierte: „Alles ist schön.“

Anything goes – auch schon mit Videotechnik

Klingt ja wirklich tolerant, kann aber geradewegs auf Verächtlichkeit und auf fürchterliche Nivellierung hinauslaufen. Alles gilt dann gleichermaßen viel oder wenig. Warhol ist Vorläufer einer so genannten Postmoderne, die sich um ästhetische Wertigkeiten und Hierarchien nicht mehr bekümmert: Anything goes. An der Spitze des Zeitgeistes betrieb er seine Sache so multimedial, wie es seinerzeit nur irgend möglich war. Auch die Videotechnik hat er als einer der ersten Künstler genutzt. Hätte er das Internet schon gekannt, so hätte er es wohl entscheidend mitgeprägt.

In seiner New Yorker „Factory“ (Fabrik) jedenfalls, wo sich Durchgeknallte jeder Sorte unter seinem Leitstern ausleben durften, entstanden nicht nur Siebdruck-Bilder (Porträt-Motive von Monroe bis Mao) wie am Fließband. Hier tobte sich die von Warhol geförderte Rockformation „Velvet Underground“ (Lou Reed, John Cale, Nico & Co.) im Stroboskop-Gewitter aus. Warhol schuf das berühmte Bananen-Cover der finster charismatischen Gruppe.

Monströse Filme aus der „Factory“

Im Umfeld der „Factory“ entstanden monströse Filme wie etwa „Empire“ – ein achtstündiger, starrer Kamerablick auf das Empire State Building. Oder wüste Streifen mit schäbigem Porno-Touch wie „Flesh“, „Trash“, „The Chelsea Girls“ und „Blue Movie“. Es war Warhol keinesfalls wurscht, was diese chaotische Werkstatt ausstieß. Alles musste am Ende seinen Stempel tragen. Trotz allem Laissez-faire ließ er in diesem Punkt nicht mit sich spaßen. Er galt als „Kontrollfreak“.

Wie ein Vampir, der das Leben aussaugt, fotografierte Warhol alles und jeden mit seiner Polaroid-Sofortbildkamera (damals eine avancierte Apparatur), am liebsten freilich Prominenz wie etwa Brigitte Bardot oder Bianca Jagger, die er auch bei den berüchtigten Partys im New Yorker „Studio 54″ um sich scharte. Denn da witterte er stets schon den Duft des Geldes, das diese Bilder einbringen würden. Er verlangte (und bekam) alsbald um die 30 000 Dollar für jedes Porträt.

Apropos: Die Preise für seine Werke haben jüngst noch einmal enorm zugelegt. Ein Mao-Bildnis von 1972 erzielte kürzlich in New York den Rekordpreis von 17,4 Millionen Dollar. Solche Zahlen hätten Warhol sicherlich gefallen.

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ZUR PERSON

Eltern aus der Slowakei

  • Warhol wurde am 6. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh (USA) geboren.
  • Seine Eltern waren slowakische Einwanderer.
  • Mit 21 zog er nach New York, wurde Werbegrafiker und zeichnete für Magazine wie „Glamour“, „Vogue“ oder „Harper’s Bazaar“.
  • Seine erste Ausstellung als Künstler hatte er 1962 in einer Galerie in Los Angeles. Er zeigte Bilder von Campbell’s-Suppendosen.
  • 1963 gründete er die „Factory“ in New York.
  • 1968 schoss die radikale Frauenrechtlerin Valerie Solanas auf Warhol. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
  • Später vermarktete er jene Bilder, die durch die Schüsse durchlöchert worden waren .. .

 




Die Zeit fließt still und langsam durch die Bilder – Zeichnungen und Graphiken von Malte Sartorius im Schloss Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“ Das gute alte Goethe-Zitat trifft häufig zu. Für das künstlerische Werk von Malte Sartorius, das jetzt auf Schloss Cappenberg präsentiert wird, gilt es gleichfalls.

Früh hat Sartorius (Jahrgang 1933) erkannt, dass er als Maler scheitern würde, denn: „Ich denke nicht in der Farbe.“ Schon die schlierige Feuchtigkeit auf der Leinwand gefalle ihm an der Ölmalerei nicht, sagt er.

Also hat er er sich alsbald auf seine eigentlichen Begabungsfelder beschränkt: Zeichnung und Druckgraphik – zunächst noch mit fahlen Farben, dann in feinsten Graustufen. Darin hat es der emeritierte Professor (Kunsthochschule Braunschweig) längst zur handwerklichen Perfektion gebracht.

Seine Bilder sind geradezu auf fotorealistische Weise wirklichkeitsgetreu. Jeder Falten- und Schattenwurf, jedes Aufglimmen oder Gleißen des Lichtes sehen aus, als seien sie ganz unmittelbar da. Doch es ist Kunst, und also verbirgt sich etwas hinter der offensichtlichen Wirklichkeit.

Über 200 Arbeiten zeugen in Cappenberg von seinem präzisen Blick und von ungemein detailfreudiger Ausführung. Vor allem in Serien arbeitet dieser Künstler. Hat er einmal ein Thema für sich gefasst, so lässt er es so schnell nicht wieder los.

Oft stellt Sartorius nur ein paar Gefäße vor sich hin, breitet Textilien oder Früchte aus und zeichnet diese Stillleben dann geduldig bei wechselnden Tageszeiten. Immer wieder anders ergießt sich das Licht auf die gleichen Dinge. Es ist, als schleiche oder fließe die vergehende Zeit hindurch. Doch hier herrscht keine Verzweiflung über Vergänglichkeit, sondern milde, weise Betrachtung. Und manchmal scheinen die gezeichneten Dinge insgeheim miteinander zu flüstern.

Beim Erzählen über seinen Werdegang (schon mal wochenlang die Schule geschwänzt,, stattdessen durch Frankreich getrampt und dergleichen „Jugendsünden“) kann sich Sartorius auf Nebenwegen ausgeschmückter Einzelheiten verlieren. Durchläuft sein Schaffensprozess wohl ähnlich selbstvergessene Phasen?

Sartorius` Wahrnehmung richtet sich meist aufs Unscheinbare, bewegt sich an den Rändern des Geschehens, meidet jedes Lärmen und Getue. Selbst New Yorker Straßen finden bei ihm zu einer fast erhabenen Ruhe – all jene Mülltonnen, Feuerleitern oder Hydranten in der Stille von Sommernachmittagen. Wie auf Pinnwänden hat Sartorius Motiv an Motiv gefügt und dabei manche Bilder halb hinter anderen versteckt. Die Kunst des Weglassens.

Eine andere (Zeit)-Reise führte ihn 1989 in die entlegene chinesische Provinz Anhui, in der sich noch eine vormoderne Atmosphäre gehalten hatte. Auch hier waltet Stille. Und die angeschauten Dinge kommen einem so vor, wie es jener Filmtitel von Wim Wenders paradox besagt: „In weiter Ferne so nah.

Malte Sartorius: „Von der Suche nach Größe im Kleinen“. Selm, Sçhloss Cappenberg. Bis 20. Mai. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr. Eintritt frei, Katalog 20 Euro.

 




Im Wettstreit um die Wirklichkeit – Wuppertaler Museum folgt Malern und Fotografen durchs „Abenteuer Barbizon“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Anno 1849 wurde eine neue Eisenbahnlinie von Paris bis in den Wald von Fontainebleau getrieben. Was das mit Kunst zu tun hat? Eine ganze Menge. Denn fortan mussten Maler (und frühe Fotografen) nicht mehr die teuren, noch dazu engen und wackligen Postkutschen nehmen, um mit ihren sperrigen Utensilien in die Natur zu fahren.

In Scharen dampften sie nun mit dem Zug in die noch recht wilden Wälder rund um Paris. Hier im Grünen entstanden bald Künstlerkolonien, in denen man sich vorzugsweise der Freiluftmalerei widmete. Tatsächlich wäre der Impressionismus ohne diese neuen Verhältnisse nicht so entstanden, wie wir ihn kennen.

Wuppertals Von der Heydt-Museum betrachtet nun die Schöpfungen der unmittelbaren Vorläufer, die in der „Schule von Barbizon“ gipfelten. Rund 200 Leihgaben und 50 Exponate aus eigenem Besitz bietet man dafür auf. Museumsleiter Gerhard Finckh hat dem Haus eine neue Abfolge für den Rundgang und somit einen neuen „Rhythmus“ verordnet. Das zahlt sich auch bei „Abenteuer Barbizon“ aus. Trotz der zahllosen Landschaftsbilder wirkt die Schau abwechslungsreich und legt etliche Aspekte des Themas frei.

Fotografie fast gleichwertig vertreten

Werke von sieben Malern (bekannteste Namen: Jean-Baptiste Camille Corot,François Millet) und sieben Fotografen (Gustave Le Gray : u. a.) stehen im Mittelpunkt. Während die Lichtbildnerei sonst meist nur als Anhängsel gezeigt wird, ist sie hier fast gleichgewichtig vertreten. Nur muss man bei den empfindlichen alten Fotos (30 Lux Beleuchtungsstärke) genauer hinsehen als bei den Gemälden (200 Lux).

Fotografen und Maler haben seinerzeit offenbar einen recht friedlichen Wettstreit um die Wirklichkeit ausgetragen. In Barbizon schlossen sie Freundschaften und lernten voneinander. Manche Bildidee, deren Ausführung hernach in Öl prangte, dürfte auf den seinerzeit noch frischen „fotografischen Blick“ zurückzuführen sein. Etliche Maler bedienten sich bereits fotografischer Vorlagen, sie redeten nur nicht so gern darüber. Es hätte vielleicht an ihrem Genie-Status gekratzt.

Als die Realität im flirrenden Licht zerstob

Besonders aufschlussreich ist die Abteilung „Intime Landschaften“: Unter freiem Himmel gemalte Ansichten kommen nicht mehr mythologisch, anekdotisch oder sonstwie „aufgeladen“ daher. Statt dessen dominiert die puristische Nahsicht auf einzelne Phänomene, das Licht fällt natürlicher, stimmiger (und stimmungsvoller) als ehedem beim Nachvollzug im Atelier.

Den Übergang zur nächsten, heute ungleich berühmteren Stilrichtung kann man in Wuppertal bestens nachvollziehen: Denn bei den „Abenteurern“ von Barbizon konnten die Impressionisten anknüpfen. Ihnen zerstob die neu gewonnene Realität schließlich in flirrende Lichterscheinungen.

Barbizon hatte weitere Folgen: Angesichts massiver Waldrodungen für die Bahnstrecken formierten die Maler und Fotografen eine „grüne“ Bewegung. Sie gaben bedrohten Bäumen eigene Namen („Karl der Große“ usw.), um sie – gleichsam als beseelte Persönlichkeiten – zu retten.

Andererseits stimulierten gerade die Künstler den Ausflugstourismus mit ihren Bildern, die sie zuweilen im Taschenformat als Souvenirs anboten. Den Mechanismus glaubt man zu kennen: Jemand entdeckt und preist eine Naturschönheit – und leitet damit letztlich auch deren künftige Zerstörung ein.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 6. Mai. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 20 Euro.

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HINTERGRUND

Treffpunkt Gasthaus

  • Feuchtfröhlicher Treffpunkt der Künstler im Dörfchen Barbizon bei Paris war ein Gasthaus, die „Auberge Ganne“.
  • Barbizon wurde zum Muster vieler Künstlerkolonien, die im 19. Jahrhundert entstanden sind.
  • Die sieben wichtigsten Maler wurden „Pléiade“ (Siebengestirn) genannt.
  • Sie wurden in ganz Europa berühmt. Doch als die Impressionisten (Renoir, Manet, Monet usw.) aufkamen, gerieten die Vorläufer in Vergessenheit.
  • Das etwas zwiespältige Verhältnis der damaligen Maler zur 1839 erfundenen Fotografie formulierte der Spätklassizist Dominique Ingres: „Was für eine wunderbare Sache ist doch die Fotografie (…) aber man darf es nicht laut sagen.“

 




Alltägliche Vorfälle in schmerzlicher Nahsicht – Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“

Von Bernd Berke

Dieter Rotmund ist Controller in einer Frankfurter Pharma-Firma. Doch den Vor- und Nachnamen des Finanzexperten erfährt man erst an weit verstreuten Stellen im hinteren Teil des Romans „Mittelmäßiges Heimweh“. Tatsächlich muss die neue Figur des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ihre schüttere Identität mühsam behaupten.

Der 43-Jährige lebt, getrennt von Frau und Tochter, in einem lieblos möblierten Appartment und vereinsamt dort zusehends. Buchstäblich mit Controller-Blick streift er in seiner Freizeit durch die Stadt. Das heißt, er registriert das Verhalten seiner Mitmenschen sçhmerzlich genau.

Gleich anfangs verändert ein surrealer Vorfall sein „Leben in wortloser Verdutztheit“: Abends in einer Kneipe verliert er unversehens ein Ohr. Er lässt es liegen. .Später wird er noch einen Zeh vermissen. Einfach so. Beinahe schmerzfrei. Durch diese groteske Absonderung  wird ihm die Welt noch fremder.

Was nimmt er von seiner Umgebung wahr? Immer wieder Anzeichen der Verwahrlosung im Stadtraum. Menschen „mit Gesichtern wie niedergebrannte Kerzen“. Viele kleine Peinlichkeiten. Lärm, leere Betriebsamkeit, stumpfes Sich-Abfinden mit herrschenden Zuständen. Untiefen des Angestellten-Daseins zwischen lauen Büroflirts und trostloser Blödelei. Kurzum: etliches Mittelmaß, das jede Sehnsucht dämpft.

Rotmund rückt sogar zum Abteilungsleiter auf, doch das Chefzimmer in der 14. Hochhaus-Etage steigert seine Vereinzelung. Besucht er seine Frau Edith und Tochter Susanne im Schwarzwald, so zeigen sich auch dort immer größere Risse. Einzige, halbwegs tragfähige Verbindung zur Außenwelt ist seine Vormieterin. Doch auch mit der hat es schließlich seine armselige, betrübliche Bewandtnis…

Auf Rotmunds ziellosen Gängen durch Frankfurt sammelt dieser Roman eine hohe Dosis von Alltagsgeschehen in ungemein präziser Nahansicht ein. Genazino schreibt eine immens verdichtete Prosa, deren Fluss man sich getrost anvertrauen kann. Da gibt es keinen falschen Zungenschlag, sondern stets diesen verlässlichen Grundton der Zurückhaltung und der Verwunderung. Oft nah am Rande sanften Irrsinns, doch immer bereit zum Staunen – und empfänglich für unverhoffte Aussichten auf ein besseres Weiterleben.

Wilhelm Genazino: „Mittelmäßiges Heimweh“. Roman. Hanser. 189 Seiten, 17,90 Euro.

 




Spuk zwischen den Fischkonserven – Roberto Ciulli inszeniert die Uraufführung von Wilhelm Genazinos „Der Hausschrat“

Von Bernd Berke

Mülheim. Wenn ein Stück „Der Hausschrat“ heißt, so stellt man sich seelisch auf Verschrobenes ein – etwa auf ein Zottelwesen, das aus den Wäldern in die Wohnküche verschlagen wird. So konkret kommt’s dann zwar nicht. Aber Wilhelm Genazinos Theatertext, der jetzt in Mülheim uraufgeführt wurde, ruft tatsächlich merkwürdige Gespenster wach.

Überdruss zu zweit, trostloses Altern: „Schrat“ Karl und Sophie, seit 22 Jahren verheiratet, gründeln in ihrem erstarrten Alltag. Sie strickt, er guckt einen Boxkampf im Fernsehen. Banale Verfehlungen rund um Käsebrote, Hosen, männliche Pinkel-Gepflogenheiten (im Stehen!) und Zahnbürsten kommen zur Sprache. Eine Ehekomödie der kleinen, gemeinen Vorwürfe – wie von Loriot ersonnen. Das Publikum gluckst.

Doch mehr und mehr ahnt man, wie grundsätzlich verlassen die beiden sind. Tochter Marlene mit ihrem Verfolgungswahn (leider nervtötend überdreht: Simone Thoma) potenziert noch das familiäre Unglück. Eingepfercht ins Immergleiche, hocken sie auf ihren Gefühlstrümmern. Unterdessen horten sie Berge von Fischkonserven. Bizarre Frustkäufe.

Sehnsuchtsworte wie Sansibar oder Timbuktu

Das im Stück herbeizitierte, fast anheimelnd gestrig wirkende Vokabular der Psychoanalyse („anal fixiert“) erfasst derlei Verhältnisse kaum. Nostalgische Sehnsuchtsworte wie „Sansibar“ oder „Timbuktu“ scheinen dem Geheimnis näher zu kommen.

Die Bühne in Roberto Ciullis Inszenierung ist mit Koffern vollgestellt. Keine Zeichen des Aufbruchs, sondern der angehäuften Lebenslast, doch auch der Flüchtigkeit.

Das isolierte Paar bekommt seltsam geisterhaften Besuch. Zuerst erscheint Else (Christine Sohn), unbehauste Gefährtin von Karls jüngst verstorbenem Bruder. Flugs gibt’s einen Kleider- und Rollentausch mit Sophie (Petra von der Beek). Sofort bildet sich Karl (Albert Bork) ein, er könne künftig mit der Besucherin zusammenleben. Drum fragt er sie nach Gewohnheiten: Wie oft sie heult, wann und warum. Wie und wo sie schlafen will.

Nutzlose Weisheiten großer Geister

Später erscheint seine 1 Schwester Hilde (burschikos: Rosmarie Brücher) mit Ottmar (Klaus Herzog) der im Seniorenstudium Philosophie betreibt und nun die Sprüche großer Geister von Kant bis Adorno einstreut. Nutzlose Weisheiten – angesichts der existenziellen Kinderfrage, die hier beschworen wird: „Was ist hier eigentlich los?“ Tag für Tag und überhaupt.

Meist unauffällig gleiten all diese Figuren ins Irreale. Genazino erweist sich abermals als Spezialist für die Sensationen des Unscheinbaren. Am Ende des Kreislaufs ist fast alles wie zu Beginn. Jetzt aber scheint das Ehepaar sich sanftmütiger in Resignation und Todeserwartung einzuspinnen. Traurig und rührend. Um Genazino zu zitieren: „Traurig wie ein kleiner verstopfter Salzstreuer.“

Ciulli und sein Ensemble schaukeln die menschlichen Rätsel mit sohwankendem Geschick über die Bühne. Gewiss: Schwer ist’s, das Ungreifbare zu spielen. Theatralisch fest zupackend geht’s schon mal gar nicht. Mehr Gelassenheit wäre ratsam.

Trotzdem: Wenn man das Theater verlässt, ist man mit diesem Text lange nicht fertig. Er spukt im Kopf herum.

Termine im Mülheimer Theater an der Ruhr: 24. Feb., 8. 14., 24. März. 0208/599 01 88.

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ZUR PERSON

Satirische Anfänge

  • Wilhelm Genazino wurde 1943 in Mannheim geboren.
  • Bis 1971 war er Redakteur des legendären Satire-Blattes „Pardon“.
  • Buchtitel: „Abschaffel“ (Angestellten-Trilogie, 1977-79), „Fremde Kämpfe“ (1984), „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (1996), „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001),„Die Liebesblödigkeit“ (2005) und „Mittelmäßiges Heimweh“ (2007).
  • 2004 erhielt Genazino den Georg-Büchner-Preis.



Die Klassik lockt mit Sex-Appeal – Während der CD-Absatz insgesamt schrumpft, wächst das Segment der E-Musik

Von Bernd Berke

Die Nachricht lässt aufhorchen: Während der CD-Absatz insgesamt seit Jahren rückläufig ist, ist der Markt für Klassikplatten zuletzt spürbar gewachsen. Woran könnte es liegen?

Die Deutschen haben 2006 rund 11 Millionen Klassik-Scheiben und damit 6 Prozent mehr gekauft als im Jahr zuvor. Der Absatz von Klassik-DVDs ist im selben Zeitraum sogar um 28 Prozentpunkte gestiegen. Auch der Klassik-Fan will seine Favoriten nicht nur hören, sondern sehen. Möglicherweise ist dies eine Nach- und Nebenwirkung der Videoclip-Kultur.

Peter Michalk, Sprecher des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft, mutmaßt: „Es gibt ja eine Renaissance der Bürgerlichkeit. Vielleicht hat der Trend zur Klassik damit zu tun.“ In diesem Zusammenhang erfahre offenbar der Musikunterricht für Kinder wieder höhere Wertschätzung. Denkbar sei also auch, dass manche Eltern Klassik-CDs erwerben, um sie ihrem Nachwuchs ans Herz zu legen.

Pop-Business prägt Konsumverhalten

Wir spekulieren mal mit: In den neuen Verkaufsziffern deutet sich wahrscheinlich an, dass das gesamte Publikum der Platten-Käufer im Schnitt etwas älter ist als früher. Klassikfans sind in der Regel gediegene Leute, die sich die meist nicht ganz billigen CDs leisten (können). Jedenfalls surfen sie wohl nur sehr selten durchs Internet, um dort Raubkopien ihrer Lieblingsmusik zu ziehen.

Andererseits ist auch diese etwas ältere Generation größtenteils mit Rock- und Popmusik aufgewachsen. Das prägt Hör-, Seh- und Konsumgewohnheiten. Da trifft es sich, dass die heutigen Klassik-Stars sich häufig wie Pop-Größen geben. Man muss hier gar nicht an wildere Vertreter wie etwa den Geiger Nigel Kennedy denken. Ein Mann wie der chinesische Pianist Lang Lang begreift sich ganz unverkrampft als Teil der weltweiten Pop-Kultur und viele andere ebenfalls. Mehr noch: Die strahlende Diva Anna Netrebko wird global glitzernd vermarktet – auf einem manchmal schmalen Grat zwischen zwischen seriöser Ausstrahlung und verhaltenem Sex-Appeal.

Auch hat sich hie .und da eine Hit- und Häppchen-Denkweise im Klassikbereich durchgesetzt. Gewisse „Format-Radios“ liefern unentwegt lediglich die „schönsten Stellen“ aus umfangreichen Werken. Nicht nur für puristische, konservative Hörer ist diese Praxis ein Graus, doch sie funktioniert im Sinne einer leichten Konsumierbarkeit.

Auch die HiFi-Technik spielt wohl eine Rolle

Wenn man sich die Plattenhüllen ansieht, ahnt man, wohin die Reise geht. Interpreten der klassischen Musik wirken längst nicht mehr so wirr-genialisch, weltenfern oder knorrig wie einst. Sie werden (mehr oder weniger dezent) erotisch in Szene gesetzt – in erster Linie natürlich die schönen Frauen der Zunft. Man denke nur an all die zierlichen Asiatinnen mit ihren schmucken Violinen. Aber auch so mancher Latin Lover spreizt sich da auf dem Cover. Imagepflege dieser Sorte ist fast schon inflationär.

Ähnliche Tendenzen zur glamourösen Oberfläche setzen sich im Literaturbetrieb gleichfalls durch. Gut aussehende Autor(inn)en haben am Markt erhöhte Chancen. Wenn sie überdies schreiben können, dürfte es in der Regel kein Hindernis sein…

Zurück zu den Klängen: Wer sich ernsthaft mit ambitionierter Rockmusik befasst, müsste sich über kurz oder lang ohnehin auch dem Jazz und der Klassik zuwenden. Hier finden sich eben die anderen Wege der Vollendung. Große, hinreißende Könner sind in all diesen Sparten zugange – um nicht gleich vollmundig von Genies zu reden.

Und noch eins kommt schließlich hinzu, nämlich die Segnungen der Technik. Wer sich eine bessere HiFi-Anlage gönnt, kommt an Klassik eigentlich gar nicht mehr vorbei. Denn die Dynamik guter Lautsprecher lässt sich mit einer Beethoven-Sinfonie ja noch mal ganz anders ausschöpfen als etwa mit den Beatles oder Beyoncé.

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HINTERGRUND

Zahl der Downloads steigt ständig

  • 2005 wurden in Deutschland insgesamt rund 124 Millionen CDs abgesetzt. Die Klassik oder so genannte „E-Musik“ hatte daran einen Anteil von immerhin rund 10 Prozent –  mit offenkundig steigender Tendenz.
  • Im ersten Halbjahr 2006 sank der gesamte Tonträger-Absatz um 3,4 Prozent. Im Vorjahreszeitraum war der Verkauf sogar um 10,1 Prozentpunkte gesunken.
  • Die abschließende Bilanz fürs Jahr 2006 wird erst Ende März vorliegen.
  • Unterdessen steigt die Zahl der Downloads im Internet Im ersten HalbJahr 2005 wurden 7.5 Millionen Einzeltracks legal heruntergeladen, im ersten Halbjahr 2006 rund 10,2 Millionen Titel.
  • Die Statistiken führt der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft.



Sons meck Chef

Ob diese Zeilen gelingen? Das wage ich zu bezweifeln. Langsam fürchte ich nämlich, dass ich zu den „Pechvögeln der Woche“ gehöre. Vielleicht sollte ich schnell noch einen Blick ins tägliche WR-Horoskop werfen. Da steht doch tatsächlich unter Steinbock: „Bereits wegen einer Kleinigkeit könnte es Ärger geben.“ Stimmt.

Meine Strähne fing mit einem kostspieligen Auffahrunfall an. Tags darauf gab der Dienst-Computer seinen Geist auf. Wahrscheinlich hat das hundsgemeine Auto ihn dazu angestiftet. Geräte-Verschwörung!

Am Wochenende ging’s unverdrossen zum schwedischen Möbelhaus. Beim Öffnen des Pakets hat mich eine tückische Metallschiene geschnitten. Keine Details. Klar, dass anderntags die EC-Karte nicht mehr am Geldautomaten funktionierte. Wozu braucht man auch den schnöden Mammon? Apropos: Am selben Morgen lag prompt Post vom Finanzamt im Briefkasten. Keine Details. Hauptsache gesund.

Wie geht es jetzt weiter? Bloß nicht geduckt auf den nächsten Vorfall warten! Sondern: Das zerzauste Karma striegeln und dann dem Schicksal froh entgegen blicken.

Wie? Was? Oh je, der Redaktionsschluss naht. Jetzt also erst mal diesen Beitrag fix zum halbwegs guten Ende bri, abschlie und fertig ma … Sons meck Chef.




Jetzt mehr Geld in den Westen lenken – In die neuen Länder sind viele Renovierungsmittel geflossen / Bei uns wurde manches vernachlässigt

Von Bernd Berke

Seit der „Wende“ sind im Osten viele bedeutende Baudenkmäler, ja komplette historische Ensembles renoviert worden. Jetzt aber müsse man den Blick wieder verstärkt nach Westen richten, wo unterdessen so manches vernachlässigt worden sei. Das sagt Prof. Gottfried Kiesow, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, im Gespräch mit der WR.

Kiesow, der unter anderem als „Retter“ von Görlitz gilt, hat in den neuen Bundesländern selbst vieles bewirkt. Doch jetzt sieht er erhöhten Handlungsbedarf – beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Ein konkreter Schritt: In NRW erzielte Stiftungseinnahmen aus Lotterien sollen ab sofort überwiegend für den hiesigen Denkmalschutz verwendet werden. Sprich: Es fließen nicht mehr so hohe Beträge in die neuen Länder ab.

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Blickpunkt Denkmalschutz

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Der prominente Denkmalschützer Kiesow findet es betrüblich, dass in den westlichen Bundesländern die öffentlichen Mittel für diesen Bereich vehement gekürzt worden sind: „In NRW waren es zuletzt 20 Prozent weniger, anderswo sieht es noch schlimmer aus.“ Auch Kommunen und Landschaftsverbände hätten ihren finanziellen Einsatz für Denkmalschütz vielerorts reduziert.

Schlimmer noch die Langzeit-Entwicklung. Laut Auskunft aus dem zuständigen NRW-Ministerium für Bauen und Verkehr stand dem Land Anfang der 90er Jahre noch das Dreifache für den Denkmalschütz zur Verfügung. Heute sind es jährlich nur noch 8,9 Millionen Euro – und das für für rund 77 500 erfasste Baudenkmäler.

Mehr Substanz in Westfalen als im Rheinland

Reichlich vorhandene Mittel, wenn sie in „falschen“ Händen liegen, können auch Schaden anrichten: „Geld kann Städte zerstören“, betont Gottfried Kiesow – und denkt vor allem an die Jahre des „Wirtschaftswunders“ in den frühen 1960ern, als dem Boom überall historische Bauten geopfert wurden. Doch auch in den letzten 30 Jahren ist – teilweise fast unbemerkt – ungemein viel Substanz zerstört worden.

Wo hapert es hier und heute besonders? Kiesow nennt für NRW vor allem verfallene Kirchen. Auch müsse man ein Augenmerk auf die vielen westfälischen Wasserschlösser haben, wie denn überhaupt-Westfalen an wertvollen Baudenkmälern letztlich mehr zu bieten (und zu schützen) habe als das Rheinland. Hinzu kommen Zeugnisse der Industriegeschichte und Gründerzeithäuser. Für die Erhaltung schmucker Jugendstilbauten hat Kiesow z. B. in Leipzig gefochten – nur teilweise mit Erfolg. Eine prekäre Gesetzeslage machte zeitweise den Abriss solcher Kleinode finanziell verlockender als die Sanierung; obwohl Sanierungskosten steuerlich absetzbar sind.

Städte mit „Gesicht“ bevorzugt

Umstrittene Maßnahmen wie der geplante Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses haben Kiesow zufolge nichts mit Denkmalschutz zu tun: „Das wäre vielmehr ein Neubau von heute – aus nostalgischen Beweggründen. Das Schloss müsste ja von Grund auf neu errichtet werden.“ Denkmalschutz aber setze voraus, dass noch irgend etwas von der Substanz übrig ist, die man bewahren will. Eigentlich logisch.

Mit historischen Stadtbildern können Kommunen im Wettbewerb um zufriedene Bewohner und um Firmenansiedlungen punkten. Diese Konkurrenz werde noch zunehmen, glaubt Kiesow. Bürger könnten sich eben eher mit einer Stadt identifizieren, die ein „Gesicht“ habe.

Insgesamt sei die Lage des Denkmalschutzes in Deutschland relativ glimpflich. In Westeuropa gelte man sogar als „Musterland“. Aber; „Die Polen identifizieren sich noch viel mehr mit ihrer Baukultur. Dort stehen auch noch die alten Handwerkstechniken in Blüte.“

Hat Kiesow eine Lieblingsstadt? „Ach, das ist ja, als solle man die schönste Frau wählen. Doch er nennt Görlitz, Stralsund, Wismar, Quedlinburg. Und in Westfalen schätzt er besonders Soest.

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HINTERGRUND

Nur jeder siebte Förderantrag hat Erfolg

  • Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz wurde 1985 gegründet.
  • Die grundlegenden Finanzmittel stammten aus Kreisen der Wirtschaft.
  • Weitere Erträge kommen aus Lotterie-Einnahmen, Spenden und gerichtlich verhängten Bußgeldern.
  • Prof. Gottfried Kiesow ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender der Stiftung.
  • Nur etwa jedem siebten Förderantrag kann die Stiftung nachkommen.
  • Zum „Tag des offenen Denkmals“ (9. Sept.) kamen 2006 bundesweit 4,5 Mio. Besucher.

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Mit Investoren muss man rücksichtsvoll verhandeln –

Kommunaler Denkmalschutz am Beispiel Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Wie bilden sich Probleme und Chancen des Denkmalschutzes in einer Stadt ab? Beispiel Dortmund. Die WR sprach mit Michael Holtkötter von der örtlichen Denkmalbehörde.

Auch auf kommunaler Ebene, so der Fachmann, hat man erhebliche Mittelkürzungen zu spüren bekommen. Das „Gießkannen-Prinzip“ habe aber alle Ressorts betroffen. „Wir sind eben keine Insel der Glückseligen.“

Immerhin habe Dortmund in den letzten 20 Jahren stets jene Landesmittel abgerufen, die es nur dann gibt, wenn die Stadt ihren gleich großen Eigenanteil leistet. 2006 schien es allerdings prekär zu werden. Zunächst sagte das Land nur einen kläglichen Betrag 3000 Euro zu. Holtkötter scherzt: „Davon hätten wir eine nette kleine Feier mit den Denkmal-Eigentümern veranstalten und sagen können: Schön war’s…“ Dann aber kam man mit großer Kraftanstrengung doch noch auf einen Gesamtbetrag von rund 40000 Euro. Nicht gerade immens viel, aber wenn man es wirksam einsetzt, mag’s noch angehen.

Manchmal lasse sich fehlendes Geld durch Ideen und Verhandlungsgeschick aufwiegen, meint Holtkötter unverdrossen. Generell sei die Arbeit der Denkmalschützer anspruchsvoller geworden. Man müsse Rücksicht auf Investoren nehmen, die sich mit dem Erwerb eines denkmalgeschützten Gebäudes natürlich keine ruinösen Folgekosten einhandeln wollen. Holtkötter stellt klar: „Was in der Denkmalschutzliste steht, ist dadurch nicht für alle Zeit vor dem Abriss geschützt.“

Trotz aller Mittelknappheit gibt es Erfolgsgeschichten: So etwa die umfassende Restaurierung des Wasserschlosses Haus Rodenberg in Dortmund-Aplerbeck. Oder neuerdings die stilgerechte Herrichtung des Südbades, eines typischen Sportbaus der späten 1950er Jahre. In der Schwebe ist noch dieser Dortmunder Fall: Ein Architekturstudent entdeckte unverhofft das Kleinod eines namhaften Bauschöpfers und informierte sogleich die Denkmalbehörde. Just am selben Tag flatterte dort der Abrissantrag des neuen Eigentümers auf den Tisch. Da ist guter Rat teuer.

Ein Großprojekt für die nächste Zeit könnte das Dortmunder „U“ sein, der markante ehemalige Brauereiturm, der nach dem Willen der Stadtspitze zur Museums-Attraktion für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010 umgebaut werden soll – wenn denn entsprechende Landesmittel fließen. Holtkötter gibt sich zuversichtlich: Die Bausubstanz des „U“ sei „sehr solide“. Und im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs kann er sich gut vorstellen, dass finanziell Bewegung in die Sache kommt.

Überhaupt sind Industriedenkmäler ein vorrangiges Thema in Dortmund, dessen Denkmalliste immerhin rund 1200 Positionen aus diversen Epochen umfasst. Holtkötter: „Das macht die Arbeit in dieser Stadt so spannend. Es gibt die ganze Bandbreite – bis hin zum Ziegenstall des Bergmanns. Anderswo versucht man, ein Barockhaus nach dem anderen zu retten.“ Probleme, die man vielleicht dennoch manchmal gerne hätte. Denn, das räumt auch Holtkötter ein: „Romantische Denkmäler fürs Herz, die gibt’s in Dortmund kaum.“

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FAKTEN

Begrenzter Zuschuss

  • Die Städte sind zuständig für Denkmäler im privaten und städtischen Besitz. Um die Kirchen kümmert sich vorwiegend das Land.
  • Private Baudenkmalbesitzer werden mit bis zu einem Drittel der anfallenden Kosten gefördert. Die Kosten-Obergrenze beträgt 15 000 €, die Fördergrenze also 5000 €.
  • Es besteht kein Rechtsanspruch auf direkte Förderung, wohl aber auf Steuerabzug.
  • In Dortmund wurden die Mittel für Denkmalschutz seit Anfang der 90er von 150 000 auf etwa 40 000 Euro gekappt.
  • Insgesamt hat die Stadt von 1984 bis 2002 fast 2 Mio. Euro für Denkmalschutz ausgegeben.

 

 




Die im Dunkeln sieht man nicht…: Bis zu 90 Prozent deutscher Museumsschätze schlummern in Depots – Beispiel Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Kaum zu fassen, was in den Kellern der Museen schlummert: Je nach Art des Hauses lagern etwa 40 bis 90 (!) Prozent der Besitztümer in den Depots. Beileibe kein Gerümpel, sondern vielfach Reichtum, der praktisch nie gezeigt wird.

Man kann es allerdings nur schätzen, denn vielfach sind die Bestände gar nicht aufgearbeitet. Die im Dunkeln sieht man nicht. Selbst Museumsdirektoren wissen oft nicht genau Bescheid – oder wollen nichts verraten. Eine komplette Erfassung wäre jedenfalls ein aufwendiges, kostspieliges Unterfangen.

Im Dortmunder Ostwall-Museum ist die Lage allerdings in diesem Punkt günstiger. Hier kennt man auch die „unsichtbaren“ Kunstwerke recht genau. Vor etwa zwei Jahren gab’s einen herben Wasserschaden im Stammhaus. Folge: Das Depot musste an drei Behelfs-Standorte ausgelagert weiden, in denen die sorgsam verpackten Kunstwerke in drangvoller Enge verwahrt werden. Die Adressen sind natürlich geheim, fotografieren ist dort strikt untersagt.

Die Dortmunder haben die Umzüge notgedrungen zur gründlichen Inventur genutzt. Rosemarie Pahlke, stellvertretende Museumsleiterin: „Aufräumen ist immer gut. Jetzt kennen wir uns aus.“ Dabei konnte man die Bilder nach Dringlichkeit ordnen: Welche müssen zuerst restauriert werden?

Wasserschaden zur Inventur genutzt

Rund 1200 Bilder und Skulpturen besitzt das Ostwall-Museum. Hinzu kommen fast 4000 graphische Blätter, die wegen ihrer Lichtempfindlichkeit meist drunten bleiben. Nur rund zehn Prozent der Bestände können ständig gezeigt werden.

Dortmund macht daraus eine Tugend: Seit zwei Jahren zeigt das Haus im Rotations-Verfahren immer wieder andere Werke, die aus dem Depot geholt werden. Titel der Reihe, die etwas Licht in die Finsternis bringt: „Sammlung in Bewegung“. Bis zum 4. März ist Teil III zu sehen, Museumsleiter Kurt Wettengl bereitet Teil IV vor und verspricht weiterhin Qualität: „Es lohnt sich immer noch.“

Gibt es auch Depot-Stücke, die er am liebsten abgeben würde? Wettengl verneint entschieden: „Alles hat seinen Wert!“ Selbst Kunstrichtungen, die heute weniger geschätzt werden, könnten später einmal Furore machen. Auch gelte es, das Museum mit seiner eigenen Sammlungsgeschichte als Ort des Gedächtnisses zu erhalten.

Ans Thema Depot knüpfen sich Nebenaspekte. Zu denken wäre an NS-Raubkunst, nach der immer intensiver gefahndet wird – oft auf Betreiben von Anwälten, die für die Erben tätig wrden. Was mag sich in dieser Hinsicht noch in deutschen Depots befinden? Museen in Hagen, Wuppertal und Duisburg sind mit derlei Rückgabe-Forderungen konfrontiert worden, Dortmund (noch) nicht.

Filzanzug und Lollis in der Werkstatt

Ein weites Feld ist just die Restaurierung. Selbst bei guten Bedingungen können im Depot auf Dauer Schäden entstehen. Das Ostwall-Museum hat wiederum Glück im Unglück. Erstmals gibt es hier eine feste Stelle für eine Restauratorin. Anke Klusmeier versieht den spannenden Dienst zwischen Chemie, Materialkunde, Handwerk und Kunstgeschichte. Derzeit überprüft sie einige monochrome Bilder mit Argusaugen auf winzige Schadspuren. Zuweilen trügt der Schein: Ein Bild von Anselm Kiefer zeigte arge Kratzer. Recherchen ergaben freilich, dass der Künstler sie willentlich erzeugt hat.

Spezielle Sorgen bereitet „Fluxus“-Kunst der 1960er Jahre, die sich aus Stoffen des Alltags nährte. So musste in Dortmund ein löchrig gewordener Filzanzug von Joseph Beuys „geflickt“ werden. Für ein Bild von Wolf Vostell, zu dem Dauerlutscher gehören, brauchte man Ersatz. Die Lollis waren schmierig ausgelaufen. Allerdings gibt es kaum noch Lutscher, die den „historischen“ Exemplaren entsprechen. Viele Süßwaren-Firmen mussten passen. Eine konnte schließlich helfen.

Eine Dauerlösung ist das verstreute Dortmunder Depot schon wegen der weiten Wege nicht. Eine Rückkehr in den Ostwall-Keller ist ausgeschlossen. So hoffen die Museumsleute auf den großen Wurf: Falls der frühere Brauereiturm „Dortmunder U“ eines Tages zum Museum umgebaut würde, wäre wohl auch die Depotfrage gelöst.

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INFO

In Siegen wird der Platz schon knapp

  • Weiteres Beispiel: das Museum für Gegenwartskunst in Siegen, das von Eva Schmidt geleitet wird. Hier enthält das Depot u. a. Teile einer wertvollen, stetig wachsenden Privatsammlung. Der Platz wird allmählich knapp.
  • Siegen hat ein reguläres Depot mit idealen Bedingungen: konstante Temperatur (18 bis 20 Grad), optimale Luftfeuchtigkeit von 58 Prozent.
  • Im Regelfall lagern hier beispielsweise auch Bilder des Hagener Malers Emil Schumacher, die allerdings derzeit (bis zum 20. Mai) im Hause ausgestellt sind.
  • Weitere Spitzenstücke im Depot sind einige Großformate von RupprechtGeiger. Sie verschwinden dort freilich nicht für Jahrzehnte, sondern werden immer mal wieder(als Leihgaben) irgendwo präsentiert. (bw/bke)