Melancholischer Reigen der einsamen Menschen – Kinofilm „Herzen“ vom Altmeister Alain Resnais

Von Bernd Berke

Schnee. Schnee. Schnee. An den Nahtstellen dieses Films schneit es unentwegt; nicht nur draußen, sondern häufig – so wirkt es – bis in die Zimmer hinein. Doch obwohl Altmeister Alain Resnais in „Herzen“ lauter einsame Menschen zeigt, fallen die Flocken nicht etwa als Zeichen für Seelenkälte.

Vielmehr gibt das weiße Gestöber der Bilderfolge eine durchweg flüchtige Gestalt. Ein weiteres, häufig wiederkehrendes Element der festeren Art sind jene Wände und Gitter, hinter denen die Menschen sich hier häufig verbergen. Dass keiner sich preisgeben mag, ist insgeheim ein Hauptthema dieses großartig besetzten, formbewussten und vielschichtigen Films.

Die episodische Handlung ist als Reigen aus 54 Sequenzen angelegt. Fast kaum zu glauben, dass die Theater-Vorlage vom britischen Komödien-Vielschreiber. Pariserisch ist das Flair, alles Britische wurde getilgt, Melancholie weht durch jede Szene.

Nicole (Laura Morante) und Dan (Lambert Wilson als arbeits- und antriebsloser Mann, der stets in derselben Bar versackt) sind reif für die Trennung. Trotzdem suchen sie noch halbherzig eine neue Wohnung. Quälend die fruchtlosen Besichtigungen. Herzzerreißend ihr Unvermögen, miteinander zu reden.

Nach religiösen Liedern kommt der heiße Striptease

Die Handlung gleitet nun hin und her – zunächst zum etwas linkischen Wohnungsmakler Thierry (André Dussollier). Er lebt neben seiner nicht minder einsamen Schwester Gaëlle (Isabelle Carré) her, die abends in Lokalen trübsinnig auf Annoncen-Bekanntschaften wartet. Der Makler himmelt unterdessen seine Kollegin Charlotte (Sabine Azéma) an. Die wiederum ist fromm, hegt aber eine heimliche Lust an der Versuchung: Erst inständig beten, um sich dann der Sünde auszuliefern. Charlotte leiht dem Makler Video-Kassetten mit religiösen Liedern. Doch wenn die aufgenommenen TV-Sendungen enden, beginnt plötzlich ein heißer Striptease mit Gestöhne. Sollte sie etwa selbst…?

Barkeeper Lionel (Pierre Arditi), bei dem besagter Dan Stammgast ist, braucht mal wieder eine neue Pflegerin für seinen kranken, immerzu Obszönitäten sabbernden Vater – und engagiert just Charlotte für die langen Abende. Wie die ach so fromme Frau wohl mit dem polternden Lustgreis zurande kommt?

Gebannt verfolgt man, wie all diese Verlorenen und Vergessenen in die Ascheresten ihrer Gefühle pusten. Um jede Figur herum gibt es so etwas wie einen Strahlenkranz der Einsamkeit. Doch eine freundliche Geste genügt, um ihre verborgenen Hoffnungen zu wecken. Vor Verletzungen flüchten sie in Verzicht, Lüge und Versteckspiel. Man ahnt: Samt und sonders haben sie viel mehr Leben in sich, als sie zeigen können. All das lässt dieser Film mit weiser Zurückhaltung anklingen. Unaufdringlich, daher doppelt eindringlich.




Martin Walser wird 80: Panoptikum der Mittelschicht

Handelsvertreter, Chauffeur, Werbefachmann, Studienrat, Leitender Angestellter einer Zahnersatz-Firma. Schon ein Auszug aus der Berufsliste, die Martin Walser in seinen Romanen erkundet, lässt ahnen: Hier ist einer durch etliche Untiefen des Kleinbürgertums gewatet. Der literarische Schwerarbeiter wird morgen 80 Jahre alt.

Der Gastwirtssohn vom Bodensee hat, wenn schon kein literarisches Universum, so doch ein schattierungsreiches Panoptikum der deutschen Mittelschicht errichtet.

Des Kleinbürgers ständiger Zwiespalt ließe sich analog zur Bundesliga skizzieren: mal Abstiegsangst, mal Überlegenheits-Phantasien. Mit Walsers Büchern, angefangen bei den famosen „Ehen in Philippsburg” (1957) und der Anselm-Kristlein-Trilogie („Halbzeit”, „Das Einhorn”, „Der Sturz” – 1960 bis 1973), kann man das Innenleben solcher Gestalten mit allen Anpassungsnöten und Versagensängsten nachfühlen.

Walser zeigt Menschen, die halbwegs „nach oben” gekommen sind, am dringlichsten nach ihrem Zenit – in Phasen des Innehaltens, wachsender Isolation, eben bei der „Seelenarbeit” (Roman, 1979) des Scheiterns. Bezeichnend auch der Titel des Romans von 2006: „Angstblüte”. Dieser botanische Ausdruck meint das allerletzte Aufblühen vor dem Vergehen.

Dieser Schriftsteller will aber auch im Wort bewahren, was noch nicht vollends beschädigt ist. Anfangs mit ätzender Schärfe registrierend, verfolgt Walsers Prosa später ein „Rettungs-Programm”. Ungestillte Sehnsucht nach Harmonie tritt gelegentlich (etwa in „Der Lebenslauf der Liebe”, 2001) redselig, ja fast kitschig hervor. Oder ist es milde Altersweisheit, die gelten lässt und gönnt?

Wie viele große Autoren, so wurzelt auch Walser in einer Region. Was Dublin für Joyce war, Köln für Böll und Danzig für Grass, ist der Bodensee für Walser. Doch all diese Ortschaften erweitern und verdichten sich in den Büchern zur Welt.

Regional verwurzelt,
doch politisch
stark verwandelt

Auch dies wird man nebenbei erwähnen dürfen: Walsers vier Töchter Franziska, Alissa, Johanna und Theresia verkörpern in Literatur, Schauspiel und Malerei eine derart geballte Kreativität, wie sie zuvor allenfalls in Thomas Manns Familie zu finden war.

Zu Zeiten des Vietnamkrieges hegte Walser noch Sympathien für den Kommunismus („Die Gallistlsche Krankheit”, 1972). Wer hätte damals gedacht, dass er einmal als CSU-Gastredner in Wildbad Kreuth auftreten würde? Folgte er ehedem einem sozialistischen „Auftrag” an die Literatur, so hält er sich nun längst an geistige Leitfiguren wie Nietzsche und Heidegger.

Sehr zeitig hat Walser das Schmerzliche an der deutschen Teilung verspürt und benannt. Man müsse diese „Wunde” offen halten, befand er 1987. Seine Romane „Dorle und Wolf” (1987) und „Die Verteidigung der Kindheit” (1991) umkreisten abermals das Themenfeld.

Wer von Walser spricht, muss seine Paulskirchen-Rede von 1998 erwähnen, die seinem Ruf ungemein geschadet hat. Was als intime Äußerung im kleinen Kreis vielleicht hinnehmbar gewesen wäre, geriet zum öffentlichen Debakel. In seiner Dankrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verstieg sich Walser in ein Lamento gegen die „Instrumentalisierung des Holocaust” und verbat sich jede moralische Belehrung über die NS-Verbrechen.

Für manche klang es, als wolle der Autor die deutsche Schuld relativieren. Man kann schwerlich in seinen Kopf schauen: Doch eine solche Ungeheuerlichkeit hat er wohl nicht im Sinn gehabt. Auch als er 2002 in „Tod eines Kritikers” gegen seinen Lieblingsfeind Marcel Reich-Ranicki anging, war dies eher ein unbedachter Zungenschlag, eine Geschmacksverirrung.

Wahrhaftig liest sich hingegen Walsers Auseinandersetzung mit dem NS-Alltag im autobiographischen Kindheits-Roman „Ein springender Brunnen” (1998). Als hätte Goethe es geahnt: „Bilde, Künstler, rede nicht!”




Goethe: Liebe, Geld und weise Worte

Kinder, wie die Zeit vergeht: Goethes Tod ist morgen auch schon wieder 175 Jahre her. Ist denn nicht alles über ihn gesagt? Offenbar sind nicht mehr die ganz großen Würfe über den angeblich größten Dichter der Deutschen gefragt, sondern eher anregende „Häppchen” zu Werk und Leben. Gepflegte Lektüre-Anstöße für eilige Leser. Dabei muss es ja nicht bleiben.

Der Germanist Gero von Wilpert rückt mit seinem vergnüglichen Buch „Die 101 wichtigsten Fragen – Goethe” dem Phänomen recht nahe. Was man da lernt! Der Dichterfürst war im Altersdurchschnitt 1,74 Meter groß – so viel zum Thema „Größe”. Wir erfahren, wie der Olympier sich in verschiedenen Phasen seines Lebens gekleidet hat (teils ziemlich geckenhaft); dass er 12 bis 20 Prozent (!) seines Jahreseinkommens für Wein ausgegeben hat, aber ein unwirscher Raucher-Feind gewesen ist. Auch Hunde und Brillen hat er gehasst.

Weiter geht’s mit dem historischen Tratsch: Goethe hatte angeblich wenig Humor, schlief für gewöhnlich etwa von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens, besaß rund 6500 Bücher, war Pazifist, verabscheute Revolutionen, verschmähte vermutlich Sex ohne Anflug von Liebe (die ihn freilich manchmal rasch ereilte). Er hat leidlich gezeichnet, war aber unmusikalisch.

Goethe hat stets knallhart mit seinen Verlegern verhandelt. Wie hoch waren seine literarischen Gesamteinnahmen zu Lebzeiten? Nun, sie werden auf 140 000 Taler geschätzt, was etwa 5 Millionen Euro entspräche. Und wie weit ist er gereist? Insgesamt rund 40 000 Kilometer, für die damalige Zeit beachtlich. Aber in den Metropolen Paris, London und Wien ist er nie gewesen. Doch als junger Mann wäre er um ein Haar nach Amerika ausgewandert.

Genug, lieber Gero von Wilpert, an dieser Stelle erst mal genug! Nur noch ein nettes Anekdötchen. Goethe trat als Intendant des Weimarer Theaters zurück, weil gegen seinen Willen ein Hund auf der Bühne erschien . . .

Zwei weitere Bände wollen uns die Goethe-Lektüre anhand von konzentrierten Auszügen schmackhaft machen. Holger Noltze, der an der Dortmunder Uni Musikjournalismus lehrt, offeriert das Bändchen „Goethe für die Westentasche”, alphabetisch nach Sachgebieten geordnet. Die 56 Kapitel (jeweils strikt auf zwei Seiten begrenzt, wie zähneknirschend mag Noltze da zuweilen gekürzt haben!) sollen ganz verschiedene Zugangswege eröffnen. Aufs Stichwort Internet folgt hier Iphigenie. Das genüsslich schweifende Interesse am Gegenstand findet dabei nicht nur Hauptstrecken, sondern auch ein paar exquisite Nebenwege. Wir finden hier übrigens auch die ersehnte Vergleichsziffer zur Körpergröße: Während Goethe – wie gesagt – 1,74 maß, brachte es Schiller auf 1,81 Meter. Jetzt wissen wir’s.

Manfred Wolf geht in „Leser fragen – Goethe antwortet” gleichfalls nach dem Alphabet vor. Auch dieser Band ist gewiss als Anregung, nicht als Ersatz für die eigentliche Goethe-Lektüre gemeint. Der Zitatenschatz reicht von Aberglaube und Alter bis Zufall und Zustand. Die Fragen werden gestellt, als befinde sich Goethe im Interview. Dann antwortet er mit seinen weisen Sentenzen.

Aus dem reichen Fundus hier drei Beispiele. Goethes gereimter Rat im politischen Streit: „Nichts wird rechts und links mich kränken, / Folg ich kühn dem raschen Flug; / Wollte jemand anders denken, / Ist der Weg ja breit genug.” Übers Lesen: „Man liest viel zuviel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat.” Und zum Lebensgenuss, recht rustikal: „Ohne Wein und ohne Weiber / Hol der Teufel unsre Leiber.”

Hier vorgestellte Bücher:

Gero von Wilpert „Die 101 wichtigsten Fragen”. C. H. Beck, 166 S., 9,90 Euro.
Holger Noltze: „Goethe für die Westentasche”. Piper, 128 Seiten, 9,90 Euro.
Manfred Wolf: „Leser fragen – Goethe antwortet”. Eichborn. 128 S., 9,95 Euro.

Außerdem neu:
Goethe: „Der Mann von 50 Jahren”. Novelle. Insel-Taschenbuch, 115 S., 8 Euro.
Goethe: „Sämtliche Gedichte”. Insel, Sonderausgabe, 1141 Seiten, 15 Euro.

Daten und Fakten:

Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt/Main geboren. Er starb am 22. März 1832 in Weimar – morgen vor 175 Jahren.
Berühmteste Werke: „Die Leiden des jungen Werther(s)”, „Faust”, die „Wilhelm Meister”-Romane und zahllose Gedichte.
Auch naturwissenschaftlichen Ehrgeiz hat er entfaltet, so etwa bei eingehenden Studien zum Zwischenkieferknochen. Doch seine Farbenlehre fand nicht den Beifall der Fachwelt.




„Tannöd“: Plötzlich ein Bestseller

Fast schon märchenhaft: Eine bislang völlig unbekannte Autorin hat Anfang 2006 im Hamburger Kleinverlag Edition Nautilus ihr Romandebüt mit dem wenig aufregenden Titel „Tannöd” vorgelegt. Jetzt führt das Buch auf einmal die Bestsellerliste an. Woran liegt es?

Zunächst gab es im Januar für „Tannöd” den Deutschen Krimipreis. Das hat schon mal ein wenig geholfen. Viel wichtiger noch: Kurz darauf war am 19. Januar die Schauspielerin Monica Bleibtreu bei Elke Heidenreich („Lesen!” im ZDF) zu Gast. Just Bleibtreu war es, die den „Tannöd”-Text fürs Hörbuch gesprochen hat. Sie dürfte Elke Heidenreich bewogen haben, das Buch (und damit die CDs) zu empfehlen, was prompt geschah: „Fabelhaft! Ein unglaubliches Buch”, befand die Vorleserin der Nation.

Von Stund‘ an ging’s rasant bergauf. Jetzt hat der Krimi von Andrea Maria Schenkel sogar Daniel Kehlmanns Dauerbrenner „Die Vermessung der Welt” von Platz eins verdrängt. In Zahlen: 2006 wurden etwa 15 000 „Tannöd”-Exemplare verkauft, seit Januar sind laut Verlag bislang rund 85 000 hinzugekommen. Inzwischen ist die zehnte Auflage gedruckt.

Und was ist dran am Buch? Der Roman spielt Mitte der 1950er Jahre in einem entlegenen bayerischen Dorf. Inständige Stoßgebete zwischen den kurzen Kapiteln deuten darauf hin, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Es hebt eine ganze Reihe von Zeugenaussagen an. Nach und nach entsteht das grausame Bild einer Bluttat auf dem Tannöd-Hof.

Vor allem aber gerät der Roman zur vielstimmigen sozialen Feldstudie mit regionalem Kolorit. Hofnachbarn, Lehrer, Postbeamter, Pfarrer, Bürgermeister und viele andere äußern sich – meist misstrauisch und wortkarg. Ihre kleine Welt ist ins Wanken geraten, man munkelt von Gier und Geiz, von Inzest und anderen schlimmen Verfehlungen.

Nach dem Mord sind sie alle wie gelähmt vor Entsetzen. Dass so etwas in ihrem Ort passieren konnte! Noch dazu mitten in der Wiederaufbauzeit, als man endlich seine Ruhe haben will. Diese Ruhe aber ist höchst trügerisch . . .

Das immer dichtere Bündel der Spuren führt schließlich nicht nur zum jetzigen Täter, sondern auch zurück in den Krieg, als „Fremdarbeiter” aus Polen und Frankreich hier gelitten haben. Es lastet eine Art Fluch auf dem Dorf. Der Fluch einer allgemeinen Schuld.

„Tannöd” ist kein gewöhnlicher Krimi. Ein erstaunlicher Erstling, zielstrebig und treffsicher erzählt. Doch es kommt nicht nur auf solche Qualitäten an. Ohne Elke Heidenreichs Fürsprache hätte das Buch wohl wenig Chancen gehabt. Solcher Einfluss macht schon beinahe Angst.

Andrea Maria Schenkel: „Tannöd”. Edition Nautilus. 125 Seiten, 12,90 Euro.




Solch ein Glück ist einfach goldig

In den 80er Jahren war er ein Pop-Star, seitdem ging’s bergab. Jetzt erinnert sich ein New Yorker TV-Sender an diesen Alex Fletcher.

Doch ihm winkt nicht etwa ein Solo-Auftritt zum Comeback, sondern ein demütigendes Show-Spielchen: Gegen die Konkurrenz von „damals” soll Alex erst mal boxen. Falls er gewinnt, darf er ein Lied vortragen. Ansonsten buchen ihn nur noch billige Vergnügungsparks für lauwarme Nostalgie-Nachmittage.

Dann aber lockt die wirkliche Chance. Die jetzt allseits angesagte Pop-Prinzessin Cora Corman (Haley Bennett) hat als Siebenjährige seine Musik gehört. Nun braucht sie den neuen Superhit und zettelt einen Wettbewerb an. Problem: Alex hat seit Jahren keinen Song mehr geschrieben. Da trifft es sich, dass Sophie, die eigentlich nur seine Zimmerpflanzen versorgen soll, eine ungeahnt lyrische Ader hat. Spontan plappert sie beim Blumengießen inspirierte Zeilen vor sich hin. Nun aber drängt die Zeit. Er sorgt für die Töne, sie soll den Text zum Herzschmerz liefern. Wenn das mal gutgeht . . .

Natürlich geht es gut. „Mitten ins Herz – Ein Song für Dich” heißt der herzlich harmlose Wohlfühl-Film von Marc Lawrence („Ein Chef zum Verlieben”, „Schlaflos in New York”). Nach und nach ergibt sich alles wie im Märchen. Alex und Sophie verlieben sich. Sowieso. Ihr gemeinsamer Song wird zum Welterfolg, obwohl er eigentlich gar nicht zu Coras Image passt. Doch hier findet letztlich alles seinen Platz im harmonischen Gefüge. Ein paar kleine Seitenhiebe aufs manchmal so hohle Pop-Business fallen da kaum auf.

Freilich: Dank gekonnter Charme-Offensive von Hugh Grant (Alex) und Drew Barrymore (Sophie) lässt sich der etwas fadenscheinige Stoff verschmerzen. Die zwei sind miteinander einfach goldig.




Doppelter Kitzel mit Nazi und Porno

Will man öffentliches Ärgernis erregen oder wenigstens Aufmerksamkeit wecken, so bieten sich zwei Zutaten an: Irgendetwas mit Nazis – oder irgendetwas mit Sex. In diesem Sinne ist es günstig, wenn beides sich mischt. Idealtypisch lässt sich das jetzt am Fallbeispiel des Echos auf die Autorin Ariadne von Schirach studieren.

Der doppelte Kitzel ergibt sich hieraus: Die 28-Jährige ist Enkelin des NS-„Reichsjugendführers” Baldur von Schirach und legt nun mit „Der Tanz um die Lust” (Goldmann, 384 Seiten, 14,95 Euro) ein Buch über den pornographischen Blick vor. Nur scheinbar paradox: Sie schreibt pornographisch gegen allgegenwärtige Pornographie an.

Eine Kernthese, ausgebreitet in einer Haltung zwischen Erzählung und Essay: Das Prinzip „Porno” dominiert immer mehr und besetzt unsere Phantasien dermaßen, dass wir kaum noch zu wirklicher, selbstbestimmter Erotik finden. Ein diskussionswürdiger Ansatz. Ariadne von Schirach garniert ihn mit drastischen Passagen etwa rund um „Nippelklammern”, „Wichswettwerbe” und die daseinsfromme Formel „Ficken als Gebet”. Geschenkt. Letzteres gab es im Grunde bereits, biblisch besungen, im „Hohelied der Liebe”.

Die ätherisch attraktive Autorin kann wahrlich nichts dafür, dass sie Enkelin eines NS-Verbrechers ist. Sie hat ihn nie kennengelernt und distanziert sich sehr glaubhaft von ihm. Was der offenkundig klugen Frau ebenfalls bewusst ist: Ob sie will oder nicht – die prekäre Verwandtschaft lenkt so manchen gierigen Blick auf ihr Buch, das sie Ende letzter Woche in Berlin-Mitte vorgestellt hat. Dort also, wo sie ihre diagnostischen Beobachtungen gemacht hat, wo es angeblich so brodelt wie nirgendwo sonst in der Republik – und wo allerhand blasierte Großfeuilletonisten gern die rasch wechselnden Trends für die „digitale Bohème” ansagen. Wieviel davon wohl in Westfalen und anderen Provinzen ankommt – und in welcher Verdünnung?

Bezeichnend ist jedenfalls der zuweilen lechzende Medien-Hype, den „Der Tanz um die Lust” angestoßen hat, sprich: (Nicht nur) der Boulevard stürzt sich auf das Buch, seine Urheberin und ihren schrecklichen Großvater, der auch für Judendeportationen in Wien verantwortlich war.

„Bild” versteigt sich zu der bebenden Familien-Frage: „Was hätte der Opa der Autorin wohl dazu gesagt?” Dazu gibt’s online eine kleine Fotostrecke mit dem „Reichsjugendführer” Baldur von Schirach – mal allein, mal mit seinem Idol Hitler. Fehlt eigentlich nur noch eine hirnrissige Einlassung à la „Wenn das der ,Führer‘ wüsste . . .”

Doch auch die eher gediegene Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung leckt sich gleichsam lüstern die Lippen und steigt so ins Thema ein: „Sie ist jung, blond und die Enkelin eines Großnazis . . .” Alle Achtung, der Satz sitzt. Und steht. Nur: In der „Tageszeitung” (taz) heißt es, dass Braun ihre natürliche Haarfarbe sei. Wie irritierend.

Die Deutsche Presseagentur (dpa) sucht derweil das schaurig geile Geschehen einzuordnen und sichtet eine „Pornodebatte”, die in Berlin schon seit einiger Zeit „kultiviert” werde. Als untrügliche Beweise werden angeführt: ein „intellektuelles Porno-Filmfestival” im letzten Jahr und Thomas Brussigs neues Buch „Berliner Orgien”. Oh, Mann! In der Hauptstadt scheinen sie’s ja heftig zu treiben. Wahrscheinlich ist deswegen der neue Bahnhof schon marode.

Aber das Schlimmste kommt wohl noch: Gar nicht auszudenken, was die britischen Boulevard-Blätter aus all dem machen, wenn sie’s spitz kriegen. Nazi-Themen greifen sie sowieso mit Vorliebe auf. Erst recht (siehe oben) in todsicherer Traum-Kombi mit Porno. Da wäre man lieber des Englischen unkundig.

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INFO

  • Ariadne von Schirach wurde 1978 in München geboren – rund vier Jahre nach dem Tod ihres Nazi-Großvaters.
  • Mit 14 Jahren flog sie wegen diverser jugendlicher Verfehlungen (Blasphemie, Alkohol) aus dem Internat. Das Abi schafft sie später trotzdem.
  • Studium (u. a. Philosophie) zunächst in München, dann in Berlin.
  • Ihr Großvater Baldur von Schirach (1908-1974) war ab 1928 Führer des NS-Studentenbundes, ab 1931 „Reichsjugendführer”, ab 1933 „Jugendführer des Deutschen Reiches”, später Gauleiter in Wien. 1946 bei den Nürnberger Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt.



Jenseits der bloßen Ästhetik – Bundeskongress der Kunstpädagogen in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die letzten Treffen gab’s in München und Leipzig, nun ist Dortmund an der Reihe: An der Uni und im Harenberg City-Center tagt von morgen bis Sonntag der Bundeskongress der Kunstpädagogen.

Welche Themen stehen auf der Agenda der rund 300 Teilnehmer? Die WR fragte den Dortmunder Kunstwissenschaftler Prof. Klaus-Peter Busse, der beim Kongress federführend ist.

In der wahrlich vielzitierten Pisa-Studie, bei der deutsche Schüler bekanntlich im Schnitt nicht geglänzt haben, seien die ästhetischen Fächer (Musik, Kunst) gar nicht berücksichtigt worden, sagt Busse. Also wollen die Kunsterzieher jetzt selbst eine Standortbestimmung vornehmen. Ein wachsendes Problem, doch auch eine Chance ist offenbar die kulturelle Verschiedenheit in den Klassenzimmern. Busses Wunsch: „Man sollte Fremdheit aushalten und ins Produktive wenden.“

In manchen Kulturkreisen herrscht gar ein religiös motiviertes „Bilderverbot“. Das dürfte herkömmlichen Kunstunterricht nicht gerade begünstigen. Busse erklärt, dass künstlerisches Denken zunehmend auch ohne (fertige) Bilder gelehrt werde. So etwa bei der Stadtteilarbeit und in Jugendzentren. Da gehe es eher um genaue Wahrnehmung („Wo leben wir eigentlich?“) und fruchtbare Phantasien zur Umgestaltung städtischer Räume. Auch Formen der Aktionskunst spielen eine Rolle.

Das Kongress-Motto beschwört etwas wolkig „Das (Un)vorhersehbare in kunstpädagogischen Situationen“. Damit dürften auch Störungen im Unterricht gemeint sein. Busse: „Im Fach Kunst sind manche ,Störungen‘ sogar erwünscht, weil sie die Kreativität fördern können.“

An neueren Bildwelten kommen auch Kunstlehrer nicht vorbei. Akuten pädaogischen Handlungsbedarf sieht Busse in Sachen Computerspiele und Handy-Videos. Mit den darin häufig enthaltenen (Gewalt)-Botschaften würden Kinder und Jugendliche bislang oft allein gelassen. Ein Themenfeld, das weit über bloße Ästhetik hinaus reicht.