Silvester und der Alkohol

„In Sachen Alkohol ist Silvester eindeutig der gefährlichste Tag des Jahres.” Das sagt einer, der es wissen muss. Der Bottroper Peter Kruck hat sich tief ins Thema versenkt. Er ist Autor des Standardwerks mit dem glasklaren Titel „Alcohol”.

Am letzten Tag des Jahres sind Sekt, Wein, Bier und Konsorten so selbstverständlich wie sonst nie. „Da feiert man den ersten Tag vom Rest seines Lebens intensiver als sonst”, weiß Kruck (42). Auch werden womöglich negative persönliche Jahresbilanzen „ertränkt”. Andentags folgt unweigerlich der Neujahrskater.

Und noch eine Besonderheit zu Silvester: „Es wird zunächst oft nicht einfach drauflos getrunken, sondern eher mit Maß und Ziel – schließlich will man gegen Mitternacht noch die Uhr im Blick behalten.” Aber dann…

Gut möglich, dass Relikte aus der langen Kulturgeschichte des Alkohols ins Heute hineinragen. Kruck: „Vielleicht will man unbewusst böse Geister vertreiben. Aber vor allem gilt wie bei vielen Feiern: Man will sich lockern und entspannen, leichter ins Gespräch kommen.” Binsenweisheit: Bisweilen werden dabei die Grenzen zur Peinlichkeit oder zur Aggression rasch überschritten.

Und wenn man zum Ende des Jahres feststellen sollte, dass einen „kein Schwein” eingeladen hat? „Dann könnte auch das für manche Leute ein Anlass zum Trinken sein”, ahnt Kruck. Es wären keine sonderlich guten Vorzeichen.

Der promovierte Kommunikations-Wissenschaftler und Marktforscher verharmlost die Folgen des Alkohols keineswegs, sondern rät zum bewussten, vernünftigen Umgang mit den flüssigen Giften. Sorglosigkeit sei nicht am Platze, vorschnelle Hysterie aber ebenso wenig.

Fährnisse und Fluch des Alkohols seien „so alt wie die Menschheit”. Seine Ursprünge habe der Genuss von mehr oder weniger Hochprozentigem in kultischen Ritualen, die bei den alten Griechen in der Verehrung des Gottes Dionysos (bei den Römern dann Bacchus) gipfelten und schon mal tagelange Orgien mit Wein, Weib und Gesang einschlossen.

Kruck sieht ein stark gefiltertes und verdünntes Erbe dieser wüsten Zeiten auch in der katholischen Kirche walten – nicht nur in Form des Messweins. Statistiken belegen, dass in katholisch geprägten Ländern deutlich mehr gesüffelt wird als in protestantischen – von der muslimischen Welt ganz zu schweigen. Essenz: „Katholiken sind in der Regel genusssüchtiger.”

Vom Kult zur Kultur: „Goethe hat täglich zwei Flaschen Wein getrunken”, sagt Kruck. Beim Schreiben hat’s offenkundig kaum geschadet. Und der Dichterfürst ist immerhin bei besten Geisteskräften 82 Jahre alt geworden. Doch gerade in der Literatur gibt es auch sehr betrübliche Säufer-Biographien. Legendäre Trinker unter den Autoren waren Joseph Roth, Malcolm Lowry, Flann O’Brien oder Charles Bukowski. Und viele andere.

Peter Kruck kann Erstaunliches aus der Welt des Rausches erzählen. Im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein, so hat er herausgefunden, waren die Menschen praktisch permanent betrunken, selbst Kinder blieben selten nüchtern. Das Leben war gnadenlos hart und manchmal offenbar nur so zu ertragen. Bier als liquide Form von Getreide galt als Grundnahrungsmittel. Eine Folge: Die Lebenserwartung war erschreckend niedrig. Tiefpunkt: Zu den finstersten kapitalistischen Zeiten des 19. Jahrhunderts wurde im englischen Leeds ein Arbeiter im Schnitt nur 19 (!) Jahre alt.

Wann hat die große Sauferei sich gemildert? Als es in den Städten allmählich hygienischer zuging und Wasser nicht mehr durch Zusetzen von Alkohol desinfiziert wurde. Und als das Auto erfunden wurde.

Sollte man sich gezielt berauschen wollen, so erreicht man dies laut Kruck am verträglichsten mit klarem „Sprit”, der eben hauptsächlich diesem Zweck dient. Vorausgesetzt, das Zeug ist nicht lebensgefährlich gepanscht. Kruck zieht den Vergleich: „In Bier und Wein schwimmen viele Nebenstoffe herum.” Und überhaupt – die ach so kultivierten Weintrinker, die in Jahrgängen und Lagen schwelgen wie in kostbaren Kunstwerken: „Sie machen sich nur selbst mehr vor als andere Alkohol-Konsumenten.”

Kruck selbst, der besonders zu Studentenzeiten gern feuchtfröhlich gefeiert hat, will sich zu Silvester eher „einigeln” – erzwungenermaßen. Denn der Familien-Hund fürchtet sich daheim dermaßen vorm Feuerwerk, dass er fortwährend beruhigt werden muss. Mit dem verheißungsvollen Geräusch beim Entkorken der Flaschen sollte das Tier hingegen kein Problem haben.

Peter Kruck „Alcohol“. 300 Seiten, gebunden. Herbig-Verlag. 17,90 Euro.




„Dialog mit meinem Gärtner“: Die Kunst des Lebens

Daniel Auteuil hat’s zur Zeit mit Männerfreundschaft. Vor zwei Wochen musste er in „Mein bester Freund” erst lernen, halbwegs sympathisch zu werden. Nun trifft er in Jean Beckers Film „Dialog mit meinem Gärtner” einen Kumpan aus Schultagen wieder.

Im hektisch brausenden Paris hat er als Maler leidlich Erfolg gehabt. Doch das affektierte Gehabe vieler Kunstwelt-Existenzen geht ihm auf die Nerven. Nun kehrt er zurück in die südfranzösische Provinz, ins ländliche Haus seiner Kindheit, sucht einen Gärtner – und findet just jenen Schulfreund (Jean–Pierre Darroussin), dem das Hegen der Pflanzen über alles geht.

Beide stehen vor dem Herbst des Lebens und schließen nun nach und nach aufs Neue Freundschaft, wie von milder Abendsonne beschienen. Unter Auslassung ihrer Vornamen nennen sie einander bald scherzhaft Dujardin (Herr von Garten) und Dupeigne (Herr von Pinsel) – und dabei bleiben sie.

Viel wichtiger ist ja auch, wie sie gelebt haben und noch leben möchten. Also reden sie über ihr Erdenwandeln: verwelkte Träume, Irrwege, kleine Fluchten, Enttäuschungen und das ganze biographische Zubehör. Zwischendurch amüsieren sie sich wie kleine Jungs bei den Wonnen des Gewöhnlichen, beim Angeln oder in sonstiger stiller Naturbetrachtung.

Der Maler sinniert, ob er nicht doch hätte Apotheker werden sollen. Der Andere hat sein Lebtag als Streckenarbeiter bei der Bahn geschuftet und hätte wohl von Anfang an lieber Gärtner sein wollen. Dieser einfache, offene, zutiefst uneitle Mensch macht jedenfalls Eindruck auf den Maler. Er fasst die Dinge des Lebens an, wie sie sich darbieten – und fragt wenig nach Widersprüchen, Windungen und Hintergründen. Man ahnt die sanft verabreichte Lebenslehre: Das Einfache ist das Wahre und Weise. Bloß kein falsches Getue mehr!

Mit ruhiger Konzentration auf all diese Gespräche fängt Regisseur Jean Becker das Geschehen ein. Er hat einen wohltuenden Film gedreht, aber gewiss keinen einzigartigen. Ähnliche Lebenshaltungen haben schon zahllose Werke empfohlen. Da ist es schwer, sich abzuheben. So hängt’s wieder an den Darstellern – und diese beiden sorgen dafür, dass man annähernd zwei Stunden willig bei der Sache bleibt. Vor allem etwas gereifte Zuschauer werden es zu schätzen wissen.

Bitterer Ernst kommt noch ins Spiel. Der Gärtner hat eine Krankheit zum Tode. Und der Maler wird sein Vermächtnis wahren, indem er ganz realistisch die einfachen Dinge auf die Leinwand bringt. Da mögen hochtrabende Kritiker rechten, wie sie wollen: Die größte Kunst ist ohnehin das Leben selbst.




Woran Goethe glaubte

Düsseldorf. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war von Haus aus Protestant, sein Vater gar ein recht strenger, orthodoxer Lutheraner. Warum ist einem das nicht bewusst? Weil der Dichter weit über Konfessionen hinaus gedacht hat und als Weltbürger vielfältige Toleranz walten ließ.

Auf seiner berühmten Italienreise ließ er sich auch von der sinnlichen Bild- und Symbolkraft des Katholizismus „anstecken”. Und im Umkreis seines Werks „Der west-östliche Diwan” hat er sich auch mohammedanische Anschauungen anverwandelt.

Mit der weihnachtlichen Ausstellung „Goethe und die Bibel” betritt das Düsseldorfer Goethe-Museum wahrlich ein weites Feld. Von der Taufanzeige bis zu Goethes letzten Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann reicht der zeitliche Bogen der ansprechenden Vitrinenschau. Zahlreiche Originalausgaben, zeitgenössische Illustrationen und Handschriften sind zu sehen. Wer viel davon haben will, muss sich hier über manches Schriftstück beugen.

Jenseits der
amtskirchlichen
Verkündigung

Schon als Kind hatte Goethe in Frankfurt reichlich religiöses Anschauungs-Material. Der Vater besaß eine umfangreiche Büchersammlung zu geistlichen Fragen, so auch eine bebilderte Merian-Bibel (1704), in der Goethe neugierig geblättert hat, als er des Lesens noch unkundig war.

Ein mächtiger Foliant wie die „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie” (1699) des Gottfried Arnold führte Goethe später auf Wege jenseits der amtskirchlichen Verkündigung. Hinzu kamen Einflüsse der gefühlvollen Frömmigkeits-Strömung des Pietismus, deren Anhänger den Weg zum (ganz persönlichen) Glauben in stiller Einkehr suchten.

Goethe hielt denn auch alsbald die offizielle Kirche mit ihren Riten und Dogmen für bloßes Menschenwerk und zeigte eher Sympathien für eine pantheistische Naturreligion. Seliger Grundgedanke: Gott ist in allen Dingen, in jeder Pflanze und jedem Stein. Passende Goethe-Weisheit, mit kaum verhohlenem Selbstbewusstsein hingeschrieben: „Die Natur verbirgt Gott. Aber nicht jedem.”

Stets legte Goethe überdies Wert darauf, dass Vernunft und Glauben einander nicht widersprechen. In diesen Zusammenhang gehört auch seine intensive Beschäftigung mit den Büchern des Philosophen Immanuel Kant. Überhaupt dachte der „Dichterfürst” im Horizont der Aufklärung. So fand er es „in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel”, dass der Mensch die Bewegung der Erde um die Sonne nachgewiesen hat.

Goethes Bibelkenntnis kann durch Hunderte von Fundstellen im Werk belegt werden. Er hat sich auch zum Atheismus geäußert. Zitat aus „Dichtung und Wahrheit”: „Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit all seinen Gestirnen verschwand . . .”

Besonderes
Interesse
an einer Sekte

Allen Anfechtungen zum Trotz, hat Goethe wohl zeitlebens seinen Glauben nicht verloren, wenn er auch wechselnden Gottes-Vorstellungen anhing. In einem Brief schrieb er: „Des religiösen Gefühls wird sich kein Mensch erwehren, dabei aber ist es ihm unmöglich, solches in sich allein zu verarbeiten . . .”

Sein Hauptwerk „Faust”, an dem er Jahrzehnte arbeitete, enthält etliche religiös inspirierte Passagen – vom „Prolog im Himmel” bis zur Formel über Gretchen: „Sie ist gerichtet . . . ist gerettet.” Sprichwörtlich wurde die mädchenhaft bange „Gretchen-Frage” an Faust: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?”

Ein emsiger Kirchgänger soll Goethe jedenfalls nicht gewesen sein. Lange Zeit bewegte ihn jene Frage, die auch heute noch viele Menschen umtreibt: Wie kann Gott das Böse, wie kann er Katastrophen zulassen? Die Nachrichten übers schreckliche Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 rund 70 000 Todesopfer forderte, erschütterten seinen bis dahin naiven Kinderglauben.

Als gereifter Mann befasste sich Goethe eingehend mit der Hypsistarier-Sekte, die im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. in Kappadokien (heute Anatolien) „das Beste” aus antiker Götterwelt, Judentum und Christentum vereinen wollte. Solche Offenheit kam dem großherzigen Naturell Goethes gewiss entgegen: Nichts von vornherein ausschließen, alles wohlwollend wägen – und dann zur Synthese schreiten.

„Goethe und die Bibel”. Goethe-Museum, Düsseldorf, Schloss Jägerhof (Jacobistraße 2). Bis 20. Januar 2008. Di bis Fr und So 11-17, Sa 13-17 Uhr. Vom 24. bis 26. Dezember und Silvester/Neujahr geschlossen. Tel.: 0211/899 62 62.




Die „Neuen Wilden“ von Familie Berg

Bochum. So umfangreich haben die Sammler ihre eigenen Schätze noch nie beisammen gesehen: Die Eheleute Christine und Hans Berg füllen mit Teilen ihrer beachtlichen Kunst-Kollektion jetzt alle Etagen des Bochumer Museums.

Die Bergs hatten früher in Herne ein Familien-Unternehmen, das Röhren für Pipelines fabrizierte. In diesem Betrieb stellten sie alsbald Kunst aus – was vor über 30 Jahren noch nicht gang und gäbe war. Als die Firma im Mannesmann-Konzern (bzw. „Europipe“) aufging, zogen sie sich allmählich aus den Tagesgeschäften zurück. Heute leben sie komfortabel in der Schweiz (Luzern) und Italien.

Nicht so sehr mit kunsthistorischer Beratung haben sie ihre Sammlung aufgebaut, sondern eher spontan, persönlichen Vorlieben folgend – und fast immer einvernehmlich. Spekulationen auf steigende Werte hätten dabei keine Rolle gespielt, versichert Hans Berg. Er nennt einen anderen Beweggrund: „Ich habe eine Gegenwelt zur Wirtschaft gesucht.“ Eine Sphäre jenseits der Sachzwänge also.

Und tatsächlich: Nach den ersten Erwerbungen fingen die Bergs bald Feuer und knüpften Kontakte zu Künstlern – vor allem zu jenen, die in den frühen 80er Jahren im Umkreis der so genannten „Neuen Wilden“ die Szene beherrschten. Man irrte irgendwo in zeitgeschichtlichen Untiefen zwischen dem bleiernen deutschen Terrorherbst und den Vorboten der deutschen Vereinigung umher. Die Atmosphäre: Etliche Nachtseiten mit dem einen oder anderen (Neon)-Licht-schein. Und viel Archaisches, das in die Gegenwart ragte.

Inzwischen ist es weitaus stiller um K. H. Hödicke, Helmut Middendorf oder den gebürtigen Dortmunder Norbert Tadeusz geworden, so dass die Bochumer Präsentation einer Wieder-Entdeckung gleichkommt. Besonders eine Raumfolge mit Großformaten beschert diesen Malern einen grandiosen Auftritt – mit so exquisiten Bildern wie etwa Hödickes „Schrott“ (1976), einem geisterhaften Trio verrosteter Automobile. Middendorf s Berliner „Großstadteingeborene“ (1980) sind geradezu vollgesogen mit dem Zeitgeist von damals. Tadeusz‘ wüste Fleischbeschauen (egal, ob beim Metzger oder als Frauenakt) rücken dem Betrachter immer noch verstörend zuleibe. Den Kontakt zu Tadeusz bekam das Sammlerehepaar übrigens nach dessen Werkschau im Dortmunder Ostwall-Museum.

Auch Einzelstücke der klassischen Moderne (Nolde, Macke) und der informellen Nachkriegskunst (Emil Schumacher, Bernard Schultze) finden sich in der Auswahl. Hans Berg: „Wir hätten gern noch viel mehr gezeigt.“ Doch Bochums Museumschef Hans Günter Golinski hat ihn davon überzeugt, dass die Ausstellungsräume nicht „überladen“ werden dürften. In der Tat: Auch so gibt es reichlich zu sehen. Und vielleicht ist das Ganze ja fürs Bochumer Museum eine Option auf die Zukunft? Wer weiß.

Man kann in dieser Schau farblichen oder energetischen „Grundklängen“ nachspüren, die sich mitunter quer durch die Sammlung ziehen. Nur ein Beispiel: Es ist, als werde das magische Leuchten auf Noldes Bildern von Gotthard Graubners subtilen Farbkissen beantwortet. Bestimmt kein bloßer Zufall, denn: Wo mit Leidenschaft gesammelt wird, ergeben sich solche Zusammenhänge.

Deutsche Malerei aus der Sammlung Berg. Museum Bochum, Kortumstraße. Bis 6. Januar 2008. Geöffnet Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 20 Euro.

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  • Die Sammlung Berg umfasst rund 300 künstlerische Arbeiten. In der Ausstellung im Museum Bochum sind davon rund 130 zu sehen.
  • Auch persönliche Erinnerungen verbinden sich mit den Werken. Bei vielen Bildern haben die Sammler den Entstehungsprozess beobachten können.
  • In einem zerklüfteten „Saurier“-Bild von Bernard Schultze versteckten die Kinder gar einst Ostereier – nahezu unauffindbar. Das robuste Werk nahm dabei keinen Schaden.
  • Der Maler Bernd Finkeldei hat 1995 gleich die ganze Familie Berg nach fotorealistischer Manier großformatig verewigt.
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(Der Artikel stand am 13. Dezember 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




Lektionen des Lächelns

Keine schöne Zwischenbilanz im Leben: Wenn man auf einmal feststellt, dass man gar keine wirklichen Freunde hat. Alles nur flüchtige Bekanntschaften.

So ergeht’s dem Antiquitätenhändler François (Daniel Auteuil) in Patrice Lecontes Film „Mein bester Freund”. Bei einer Beisetzung mit sehr kleiner Trauergemeinde kommt er ins Grübeln. Wer wird eines Tages bei ihm am Grab stehen? Nicht mal zu seiner erwachsenen Tochter hat der Geschiedene einen Draht.

Abends im Restaurant kommt’s noch schlimmer: Die vermeintlichen Freunde in der Runde sagen schlankweg, dass er ihnen gar nicht so wichtig sei. Seine Geschäftspartnerin Catherine setzt einen drauf: „Was wetten wir, dass du mir binnen zehn Tagen keinen Freund vorweisen kannst?!” Hoher Einsatz: Eine antike Freundschafts-Vase (mit Bildnissen der legendären Blutsbrüder Achilles und Patroklus), die François just in einer sentimentalen Aufwallung für sündhafte 200 000 Euro ersteigert hat.

Die Suche beginnt: Wo stecken sie nur, seine Freunde? Bis in die Schulkindheit zieht’s ihn zurück, doch der Kumpel von damals ist nur empört, als François ihm jetzt auflauert: „Ich habe dich schon früher nie gemocht.”

Das alles läuft bei Leconte keineswegs auf Tristesse hinaus, sondern ergibt hintersinnigen Komödienstoff. Und man sieht zwei inspirierte Hauptdarsteller.

Die andere Hauptfigur ist der Taxifahrer Bruno (Dany Boon). Der geht – im Gegensatz zu François – leutselig lächelnd durchs Leben. Nun soll er François nicht nur auf Freundessuche kutschieren, sondern ihm überdies beibringen, wie man Leute kennenlernt und freundlich behandelt. Doch all die Übungen in Parks und Bistros geraten zum komischen Fiasko.

Bruno ist zu allen Menschen nett. Doch wenn einen alle mögen, mag einen keiner richtig. Also ist er doch allein; ein Sonderling, der noch sehr an seinen Eltern hängt. Zudem paukt er in jeder freien Minute Quizfragen, um mal groß ‚rauszukommen beim französischen Pendant zu „Wer wird Millionär?”

Erraten! Die beiden könnten Freunde werden. Doch François muss erst lernen, dass man Freundschaft weder erkaufen noch forcieren kann. Leconte erteilt die Lektionen so beschwingt, dass einem leicht wird ums Gemüt.




Der Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba

Essen. Schlager, Schmachtfetzen, Swing und höherer Blödsinn – aus solchen Quellen schöpften die „Comedian Harmonists“ in den 1920er Jahren ihre unvergleichlich Sangeskünste. Jetzt greift das Essener Schauspiel im Grillo-Theater auf die intelligente Erfolgsmischung zurück.

Franz Wittenbrink (Musik-Arrangements) und Gottfried Greiffenhagen (Texte) haben bereits 1997 das Stück um die berühmte Gesangsgruppe kreiert, das seither seine Runden durch deutsche Theater zieht. Auch in Dortmund war’s schon mal zu sehen.

Just 1997 war auch das Jahr, in dem Joseph Vilsmaiers famos besetzter Film über die „Comedian Harmonists“ herauskam und Maßstäbe setzte. Man hat diesen Film auch im Sinn, wenn sie nun in Essen die Geschichte des A-cappella-Ensembles erzählen -von entbehrungsreichen Gründungstagen über glanzvolle Erfolge bis zur erzwungenen Auflösung unter dem NS-Regime im Jahr 1934. Die Nazis verfemten die Musik der „Comedian Harmonists“ als „entartet“, weil drei der sechs Gruppenmitglieder jüdischer Herkunft waren. Es war einer von zahllosen Akten der NS-Kulturvernichtung. Diese Wunden verheilen nicht.

Gegen besagte Kino-Erinnerungen käme das Theater nur unter vehementer Aufbietung all seiner spezifischen Mittel an. Doch in Essen dauert’s schon mal rund 40 Minuten (eine gefühlte Ewigkeit), bis der erste vollständige Song erklingt. Bis dahin sieht und hört man die Genese der Gruppe nach einer Zeitungsannonce (sogar Johannes Heesters sang – vergebens – vor). Man erlebt mühsame Proben, absichtliches Falschsingen. Dazu köcheln Konflikte der 1928 noch im Werden begriffenen Gruppe. Hie unbezahltes Üben bis tief in die Nacht; da der Traum, der US-Formation „Revelers“ nachzueifern, sie sogar zu übertreffen.

Das Sechser-Ensemble ist eine Mixtur aus Essener Sprechtheater-Schauspielern und Gästen. Die unterschiedlichen Charaktere sind passend ausgewählt (neudeutsch: gecastet), sie decken ungefähr das tatsächliche Spektrum ab. Auch bekommt diese sympathische Truppe das Liedgut erstaunlich gut hin. Doch ebenso verblüffend ist stellenweise die holprige Darstellung. War’s Lampenfieber? Vielleicht gibt sich das in den Tagen und Wochen nach der Premiere.

Regisseur Gil Mehmert setzt die Lieder mit wechselndem Geschick in Szene, am besten gelingt die Umsetzung beim „Onkel Bumba“ (der reimgerecht nur Rumba in Kalumba tanzt). Überhaupt bricht irgendwann das Eis, wenn endlich launige Klassiker wie „Schöne Isabella von Kastilien“, „Mein kleiner grüner Kaktus“, „Wochenend und Sonnenschein“ und „Veronika, der Lenz ist da“ geschmettert oder gesäuselt werden. Da geht das Publikum frohsinnig mit.

Wenn schließlich die Gruppe sich unter diktatorischem Druck spaltet, gewinnt das sonst kitschverdächtige Lied „Irgendwo auf der Welt (gibt’s ein kleines bisschen Glück)“ die ungeahnte Qualität eines utopischen Gegenentwurfs zu den schrecklichen Verhältnissen. Stoff zum Heulen.

Termine: 7., 15., 16., 26., 31. Dezember; 12., 25. Januar. Karten: 0201/8122-200.

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(Der Beitrag stand am 6. Dezember 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Peter Handke: Mal provokant, mal priesterlich

Es muss ein starker Auftritt gewesen sein, damals im Jahre 1966: Frontal attackierte ein 23-Jähriger mit Beatle-Frisur und dunkler Brille die in Ehren ergrauten Nachkriegs-Größen der deutschen Literatur. In Bausch und Bogen warf der zornige junge Mann der in Princeton (USA) tagenden „Gruppe 47” fruchtlose „Beschreibungs-Impotenz” vor.

Das nachfolgende Geraune kann man sich ungefähr vorstellen: Wie kann dieser Jungspund es nur wagen, uns alle auf diese Weise . . .

Der Provokateur hieß Peter Handke und hatte seinerzeit nur einen Text („Die Hornissen”) veröffentlicht. Jetzt wird er 65 Jahre alt und hat ein Werk von enormer Fülle und Prägekraft geschaffen.

Längst hat er eine Gemeinde um sich geschart, die seine zuweilen geradezu priesterlich gesetzten Worte gläubig aufnimmt. Seit er allerdings im Kosovo-Konflikt ab 1996 ungeahnt starrsinnig für Serbien und den Diktator Slobodan Milosevic Partei ergriffen hat, verweigerten ihm einige die „Jüngerschaft”. Tatsächlich war seine Querköpfigkeit in diesen Fragen vielleicht biographisch und psychologisch, nicht aber politisch nachvollziehbar.

In seinen besten Büchern hat Handke sich als „Seher” erwiesen, gesegnet mit feinster Beobachtungs- und Formulierungs-Gabe, die sich besonders den unscheinbaren, vergehenden und bedrohten Verhältnissen behutsam zu-wendet. So über alle Maßen detailsinnlich geht es dabei oft zu, dass es keineswegs nur verstiegene Innerlichkeits-Prosa ist, sondern eine höchst eigene, durchaus welthaltige Literatur.

In Text-Gebirgen wie „Mein Jahr in der Niemandsbucht” oder „Der Bildverlust” konnten sich Leser auch schon mal verirren. Doch seine Bücher bergen stets kostbare Funde. Sie gleichen langen Wanderstrecken, wie denn dieser Autor auch buchstäblich ein großer Wanderer der Literatur ist. Das Gehen als eine Daseinsform – wie das Schreiben.

Berühmt wurde seine von Widerspruchsgeist getriebene „Publikumsbeschimpfung” (Uraufführung durch Claus Peymann 1966), die im Handstreich das gesamte Zeichen-System des Theaters verwarf. Gewiss wirkten der allen Systemen abholde Protest-Furor von 1968 und die Lebensimpulse der Rockmusik (über die er wunderbare Texte wie „Versuch über die Jukebox” geschrieben hat) auch bei Handke. Im Bann der damals herrschenden Pop-Kultur interessierte sich der leidenschaftliche „Kinogeher” (just so hieß auch Handkes Übersetzung eines Buchs von Walker Percy) für Kulturphänomene wie James Bond, Schlagertexte und Fußball. Von wegen nur weltfremd!

Immer entschiedener richtete Handke sein Augenmerk aufs Projekt einer „Rettung” des geduldigen, unverstellten, von keiner schnellen Meinung getrübten Blicks auf die Welt. Gelegentlich schwelgte er dabei in verklärender Ding-Betrachtung. Doch seine Literatur erschloss auch utopisches Gelände.

Nicht das geringste Verdienst Handkes ist es, dass er auf andere herausragende Autoren aufmerksam gemacht hat, die vergessen zu werden drohten – zum Beispiel Heimito von Doderer, Hermann Lenz oder Emmanuel Bove.

Manche seiner Titel wurden sprichwörtlich: Handke beschwor die existenzielle „Angst des Tormanns beim Elfmeter”, stellte eigensinnig klar „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms”, wog „Das Gewicht der Welt” und beschwor „Die Stunde der wahren Empfindung”.

Überdies hat er ungemein innige Texte aus familiärer Nahsicht verfasst: Nach dem Freitod seiner Mutter entstand ihr bewegendes Lebensbild „Wunschloses Unglück”. In der „Kindergeschichte” kam die zwiespältige Beinahe-Symbiose mit seiner ersten Tochter Amina zu leuchtender Sprache. Man sieht: Auch an der Schwelle zum Elfenbeinturm macht das alltägliche Leben nicht Halt.

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Zur Person:

  • Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten/Österreich) geboren. Er wuchs bei Mutter und Stiefvater in ärmlichen Verhältnissen auf.
  • 1945 bis 1948 lebte die Familie in Berlin.
  • Zurück in Kärnten, besuchte Handke die Schule eines katholischen Priesterseminars und ein Internat. 1961 Abitur in Klagenfurt.
  • Ab 1961 Jura-Studium in Graz – ohne Abschluss.
  • 1965 Erstlingsbuch „Die Hornissen”.
  • Weitere Lebensstationen: u. a. Düsseldorf, Berlin, Paris, Kronberg/Taunus, Salzburg.
  • Seit 1991 lebt Handke in Chaville bei Paris.
  • Handkes Lebensgefährtinnen: die Schauspielerinnen Libgart Schwarz, Sophie Semin und Katja Flint.
  • Umfangreiche Internet-Seite: http://www.peterhandke.at/