Thomas Bernhard: Er hasste die Preisreden – und nahm das Geld

Literaturpreise sind doch eine wunderbare Sache, sie bedeuten etwas Ruhm und Geld für den Autor, der sonst vielleicht arm und unbeachtet geblieben wäre.

Solche milden Gaben können aber auch Zorn erregen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so ist er hier zu finden: Aus dem Nachlass von Thomas Bernhard ist jetzt der schmale, aber ergiebige Band „Meine Preise“ erschienen, in dem der unbequeme Österreicher einige seiner Auszeichnungen durch den Wolf dreht. Klingt schon mal vielversprechend, denn Bernhard war als schimpfwütiger Rohrspatz der Literatur ohnehin kaum zu übertreffen.

Gelegentlich grinst einen hier das ganze absurde Elend des Literaturbetriebs zwischen Streichquartetten und blödsinnigen Festreden an. Ein bilanzierendes Bernhard-Zitat lässt den ewigen Zwiespalt ahnen: „Ich haßte die Zeremonien, aber ich machte sie mit, ich haßte die Preisgeber, aber ich nahm ihre Geldsummen an.” Welch eine lästige, stocksteife Notwendigkeit also. Hinfahren, abholen und alles andere vergessen. Das wäre wohl ratsam.

So kennt man ihn: Thomas Bernhard ist zutiefst beleidigt, wenn er einen Preis n i c h t kriegt – und er ist oft stinksauer, wenn er dann einen bekommt. Eigentlich kein Wunder. Denn tatsächlich kann er hanebüchene Szenen schildern: Da wird er von einem ahnungslosen Laudator mit der gleichzeitig geehrten Preisträgerin verwechselt („Frau Bernhard”), auch hernach wird der Schlendrian nicht korrigiert. Oder: Der Autor, der mal wieder in Begleitung seiner Tante erschienen ist, wird von der versammelten Festgemeinde im Saale gleich gänzlich übersehen und irgendwo hinten in Reihe soundsoviel platziert. Man kennt den Dichter überhaupt nicht, mit dem man sich schmückt.

Thomas Bernhard rächt sich nicht zuletzt damit, dass er ganze Städte (wie etwa Bremen) wortgewaltig als kulturlose Orte niedermacht. Man ahnt es: Derlei süffige Stadtbeschimpfungen aus berufenen Federn wären gewiss mal eine Extra-Edition wert.

Als schiere, mit voller Absicht betriebene Demütigung empfindet es Bernhard, dass man es wagt, ihm den kleinen (und eben nicht den großen) Österreichischen Staatspreis anzudienen. Diese mindere Ausführung trage doch fast jeder Nachwuchsschreiberling mit sich herum, befindet der Mann, der sich selbst zeitweiligen Größenwahn attestiert.

Als es den Schriftsteller selbst einmal in eine Jury verschlägt, merkt er, wie man dort „naturgemäß” (Bernhards Lieblingswort) nach kenntnisfreier Willkür, Lust und Laune entscheidet. „Nehmen wir doch Hildesheimer”, ruft da einer unvermittelt in die Runde. Alle anderen sind gleich einverstanden, denn das Mittagessen wartet ja schon.

Bernhard windet auch einige bunte Girlanden in seine Betrachtungen. So erfährt man, wie er sich von einem Preisgeld einen schicken Sportwagen gekauft und alsbald zu Schrott gefahren hat oder wie er ein marodes Haus anzahlen konnte.

Der Autor, der sich sonst (wie auch seine Preis-Dankesreden im Anhang belegen) vor allem auf pessimistische Litaneien verstand, wird hier sichtbar als jemand, dem es auch gegeben war, luftig leicht zu erzählen, ohne dabei an Schärfe zu verlieren.

Thomas Bernhard: „Meine Preise”. Suhrkamp. 144 Seiten. 15,80 Euro.




Knochenarbeit im Bergwerk des Humors – Vor 100 Jahren wurde Heinz Erhardt geboren

Er muss ein geradezu besessener Arbeiter im Bergwerk des Humors gewesen sein. Er selbst und seine Familie haben unter seiner nie versiegenden Schaffenswut gelitten. Doch kaum betrat der rundliche Kerl die Bühne, so war er eine Seele von Mensch – und vor allem: ein Schelm! Heute vor 100 Jahren wurde der Komiker Heinz Erhardt geboren.

Eine deutsche Ahnenreihe der Hochkomik sähe in den Grundzügen wohl ungefähr so aus: Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Heinz Erhardt, Loriot, Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Otto Waalkes, Hape Kerkeling, Helge Schneider. Mögen da auch ein paar Bindeglieder fehlen (bitte wunschgemäß freihändig einsetzen), so gehören doch die Genannten hinzu. Heinz Erhardt steht dabei als singulärer Humor-Produzent für die 50er und frühen 60er Jahre, er war der Komiker des „Wirtschaftwunders“.

Erhardt kam am 20. Februar 1909 in der heutigen lettischen Hauptstadt Riga zur Welt. Sein Vater war Kapellmeister, der Großvater (bei dem er aufwuchs) ein achtbarer Klavierspieler. Heinz Erhardts Jugendtraum, Konzertpianist zu werden, erfüllte sich allerdings nicht. Erst 1994 kamen aus dem Nachlass einige seiner Kompositionen in klassischer Manier auf CD heraus.

1932 stand er erstmals in einem Lustspiel auf der Bühne des Deutschen Schauspiels in Riga. Entscheidender Schritt: 1938 wurde er ans Berliner Kabarett der Komiker geholt. Den Weltkrieg überstand er als schon recht prominenter Spaßmacher in der Truppenbetreuung, was ihn vor dem Dienst an der Waffe bewahrte.

Neubeginn in der Trümmerzeit: 1946 knüpfte Erhardt Kontakte zum NWDR in Hamburg, wo er Unterhaltungsprogramme wie „So was Dummes“ moderierte. Auch stand er in Komödien auf diversen Hamburger Bühnen. Seine Alleinunterhalter-Qualitäten sprachen sich schnell herum, so dass er bald erste Tourneen unternahm.

Durchaus auf der Basis traditionell überlieferter Verskunst und sprachlich manchmal höchst raffiniert, trieb Erhardt seine vorwiegend wortspielerisch grundierten Scherze. Das 1963 erschienene Buch mit dem Titel „Noch’n Gedicht“ wurde zum Verkaufsschlager. Es enthielt auch Erhardts wohlbekannte Zeilen über „Die Made“: „Hinter eines Baumes Rinde / saß die Made mit dem Kinde. / Sie ist Witwe, denn der Gatte, / den sie hatte, fiel vom Blatte …“ Und so weiter. Sein Erscheinungsbild war das eines allzeit netten, manchmal leicht verwirrten Onkels mit treuherzigem Mondgesicht. Er gab sich bewusst tollpatschig und gehemmt. So einen Menschen mochte man einfach gern, weil er so gar keine Bedrohung darstellte.

Vor allem im Kino (erste Hauptrolle 1957 als Marmeladenfabrikant in „Der müde Theodor“) hat er etlichen Klamauk mitgemacht und dabei zuweilen sein Talent unter Wert verschleudert. Möglicher Grund: Wie es heißt, war er ein Paniker, was seine finanzielle Situation anging. Auch sein Lampenfieber war legendär. Er soll es auch mit dem einen oder anderen Schnaps bekämpft haben.

1971 erlitt der bis dahin so rastlose Erhardt einen Schlaganfall und musste fortan deutlich kürzer treten. Er starb in der Nacht zum 5. Juni 1979. Etwa um 1983 kam es zu einer überraschenden Renaissance. Gerade Jüngere fanden plötzlich Gefallen an alten Erhardt-Filmen, die nun in den Programmkinos liefen. Und heute führt er ein beinahe schon gespenstisches Nachleben in Internet-Portalen wie „YouTube“, wo man viele Szenen mit ihm aufrufen kann. Was dort so flüchtig wirken mag, ist in Wahrheit unvergänglich.

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Infos

  • Filme (Auswahl): „Witwer mit fünf Töchtern“ (1957), „Immer die Radfahrer“ (58), „Natürlich die Autofahrer“ (59), „Der letzte Fußgänger“ (60), „Drei Mann in einem Boot“ (61), „Unser Willi ist der Beste“ (71).
  • Internet-Seite: http://www.heinzerhardt.de (betrieben von Heinz Erhardts Erben). Dort Hinweise auf viele Bücher, CDs und DVDs.

(Der Beitrag stand am 20. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Drama der Hündischkeit

Der jüdische Varieté-Star Adam Stein erhält im Berlin der 30er Jahre von den Nazis Berufsverbot. Sie deportieren ihn und seine Familie in ein Vernichtungslager. Grausame Fügung: Lagerleiter ist dort jener Kommandant Klein, den Adam Stein einst im Varieté mit verblüffenden Taschenspielertricks vor dem Selbstmord bewahrt hat. Klein musste damals unwillkürlich lachen – und seine Verzweiflung war verflogen.

Jetzt sieht sich dieser grüblerische SS-Mann (feingeistig maskierte Dämonie: Willem Dafoe) zu einer Gegenleistung verpflichtet, allerdings auf ungemein perverse Art: Adam Stein soll ihn – als menschlicher „Hund” – mit Apportier-Kunststückchen vom tristen Lagerleben ablenken. Woche um Woche, Monat um Monat. Dafür darf er weiter leben; doch nicht seine Familie. Stein sieht nicht nur, wie Frau und Tochter mit Tausenden anderen zu den Verbrennungsöfen getrieben werden, sondern wird auch noch genötigt, zum Abmarsch eine muntere Begleitmusik auf der Geige zu spielen. So ist er schuldlos „schuldig” geworden. Daran zerbräche jede Menschenseele.

Paul Schraders deutsch-israelische Koproduktion „Ein Leben für ein Leben“ geht zurück auf Yoram Kaniuks 1969 in Israel erschienenen Roman „Adam Hundesohn“ (deutsch erst 1989), der das nachwirkende KZ-Trauma auch mit Mitteln des schwarzen Humors aufgriff. In Israel ist das Buch bis heute umstritten, es gilt aber gleichwohl als moderner Klassiker.

Jeff Goldblum verkörpert diesen Adam Stein mit Haut und Haaren – in einem wahrhaft waghalsigen, manisch-depressiven Balanceakt zwischen Wahn und abgründigem Witz, Eleganz und Melancholie, Kapriolen und Depressionen.

Der Film besteht zum Teil aus düsteren Schwarzweiß-Rückblicken (bis in die „Goldenen Zwanziger” Berlins). Der spätere Hauptschauplatz aber liegt in der flirrenden israelischen Wüste. Am Beginn der der 1960er Jahre hat sich dort (in der Fiktion) ein Institut angesiedelt, in dem Holocaust-Überlebende psychiatrisch behandelt werden. In einem grotesken Panoptikum werden dort Bruckstücke schrecklicher Schicksale sichtbar. Beispiel: Ein Mann spielt mit der elektrischen Spielzeug-Eisenbahn zwanghaft die Deportation nach.

Adam Stein hat in diesem Institut Zuflucht gefunden, ja er ist gar so etwas wie eine messianische Hoffnung der anderen Insassen geworden. Er ist ein Stigmatisierter, der gleichsam auf Zuruf (wie einst im Variete´) sein Blut aus allen Öffnungen fließen lassen kann und somit Auferstehungs-Sehnsüchte weckt. Mit anderen Worten: eine literarische, mit allerlei Symbollast befrachtete Figur. Wie denn überhaupt dieser redliche Film das Übersinnliche und Religiöse trotz aller skeptischen Anwandlungen aufruft. Ganz ohne Glaubenskräfte geht es hier nicht.

Symbolschwer auch der finale Handlungsstrang. Stein, der einst als „Hund” leben musste, findet in einem Nebenraum der Anstalt einen kleinen Jungen eingesperrt, der dort sprachlos und zähnefletschend wie ein Hund vegetiert. Adam Stein nimmt sich seiner an, denn er ahnt: Wenn dieser Junge sich aufzurichten vermag, kann vielleicht auch er selbst sein inneres Drama der einstigen Hündischkeit bewältigen.

All das gerät zum schmerzlichen, doch schließlich glückhaften Lehrstück über das Ringen zwischen zerstörerischen und heilsamen Kräften. Am Ende beschwört der Film einen Zustand herauf, in dem das Wünschen noch geholfen hat.




Triebstau und Freiheitsdurst – der Roman „Empörung“ von Philip Roth

Das ist das Wunderbare an Literatur: Dass sie einen in alle Zeiten und Rollen eintauchen lässt. Wollte man nicht immer schon mal wissen, was ein US-Student 1951 (zur Zeit des Koreakrieges) so getrieben und wie er sich dabei gefühlt hat? Bitte sehr: Der famose Philip Roth lädt in seinem Roman „Empörung” unsere Phantasie mit solchen Erlebnissen auf.

Der Student heißt Marcus Messner, ist Sohn eines jüdisches (koscheren) Metzgers in New Jersey und weiß auch anschaulich von diesem blutigen Metier zu berichten, weil er seinem Vater einige Zeit im Geschäft geholfen hat.

Nun aber besucht Marcus das College – und wird seines Erzeugers nicht mehr froh. Denn der macht sich auf einmal derart viele Sorgen um seinen Sohn, dass er ihm nachspioniert und ihn am liebsten vor aller bedrohlichen Welt wegsperren würde. Bisher konnte man vernünftig mit dem Manne reden, doch nun? Es ist fürchterlich. Auch die Mutter leidet sehr.

Marcus zieht die Konsequenz und schreibt sich an einem anderen, weit vom Elternhaus entfernten College ein. Dort erlebt er nun diverse Reifeprüfungen des Lebens – keineswegs nur geistige.

Da ist vor allem die bezaubernde Olivia Hutton, die es ihm gleich beim ersten Date oral besorgt – und das in jenen prüden Zeiten, die sonst meist nur den sexuellen Triebstau kennen. Wow! Er kann’s kaum glauben, dass ihm so viel Gutes widerfährt.

Doch aus der unverhofften Fleischeslust erwachsen Sorgen. Olivia erweist sich als Problemfrau sondergleichen. Mit ihren nicht einmal 20 Jahren ist sie schon Alkoholikerin und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Außerdem sind Marcus‘ Zimmergenossen auf dem Campus unerträgliche Stinkstiefel, so dass er mehrmals umzieht – bis es dem Dean (etwa: Dekan) zu bunt wird. Er bittet Marcus zur hochnotpeinlichen Aussprache übers Sozialverhalten (Vorwurf: ständige Flucht vor unangenehmer Realität). Dabei steigert sich der eloquente, eigensinnige Student aus lauter Freiheitsdurst in eine Empörung hinein, ja er redet sich wohl schier um Kopf und Kragen . . .

Wenn man das alles mit fliegendem Atem liest, möchte man meinen, es mit dem Buch eines ganz jungen Autors zu tun zu haben, der aus unmittelbar praller Erfahrung berichtet. Frisch und frech klingt alles hier. Philip Roth ist 1933 geboren, er kannte also die Zeit um 1951 als ganz junger Mann. Und sie ist ihm offenbar sprühend lebendig geblieben. Staunenswert.

Marcus und viele seiner Altersgenossen fühlen sich allseits gefesselt – von starren gesellschaftlichen Konventionen, religiösen und familiären Rücksichten. Da droht sich etwas gewaltsam zu entladen. Doch die Revolten der 60er Jahre sind noch weit entfernt. Jungspunde, die nicht spuren und über die Stränge schlagen, werden um 1951 kurzerhand in den schrecklichen Kriegseinsatz nach Korea geschickt. Dieses mögliche Verhängnis schwebt jedenfalls als vage, düstere Verheißung über dem gesamten Geschehen dieses Romans und färbt insgeheim jede Handlung ein.

Philip Roth lässt den Leser nicht nur schwelgen und bangen, sondern gibt dem Buch gegen Schluss eine ungeahnte Wende, die alles Vorherige in ein anderes Licht stellt. Viel mehr wollen wir hier nicht verraten, sonst würde der Kunstgriff des Romanciers an Wirkung einbüßen. Nur so viel: Schmerzlinderndes Morphium ist im Spiel. Doch es gibt Schmerzen, die letztlich niemals aufhören . . .

Philip Roth: „Empörung”. Roman. 201 Seiten. Hanser Verlag. 17,90 Euro.




Suhrkamp – verhext?

Der traditionsreiche Suhrkamp-Verlag zieht von Frankfurt nach Berlin um. Mit diesem Entschluss hat sich Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz nicht nur über den Willen von 80 Prozent der Verlagsmitarbeiter hinweggesetzt, sondern auch über die (geistige) Verwurzelung dieses Verlages im Umkreis der „Frankfurter Schule“. Ob sich Adorno nun im Grabe umdreht?

Wie der Süddeutschen Zeitung (heutige Ausgabe) zu entnehmen ist, hat Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit offenbar seit langem heftig gelockt, dass Suhrkamp an die Spree kommen möge. Wer weiß, ob und aus welchen Töpfen da womöglich noch Subventionen / Ansiedlungs-Prämien fließen. Falls es so wäre, könnte man von einem handfesten Skandal sprechen. Wie gleichfalls in der SZ von heute steht, ist just Hessen einer der größten Geber beim Länderfinanzausgleich, Berlin hingegen das Empfängerland mit den meisten Ansprüchen. Somit hätte es Hessen den Berlinern ermöglicht, etwaige Subventionen überhaupt erst aufzubringen, um einen der wichtigsten deutschen Verlage abzuwerben, ihn von Hessen nach Berlin zu holen.

Das Satireblatt „Titanic“ hat die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz einst als „schwarze Witwe“ und als „die neue Yoko Ono der deutschen Schriftkultur“ bezeichnet. Beatles-Kenner wissen, was damit gemeint sein könnte. U. B. gibt offenbar ohnehin ein geradezu hexenhaftes Feindbild ab. Auch mit dem Umzugsbeschluss (oder besser: Umzugsbefehl) hat sie sich außerhalb Berlins wohl keine neuen Freunde gemacht.




Im Billiggetümmel der Vorstädte – Wilhelm Genazinos Roman „Das Glück ins glücksfernen Zeiten“

Gerhard Warlich hat einst Philosophie studiert. Brotlose Weisheit, wie sich sehr bald zeigte. Irgendwann verdingte er sich als Auslieferungsfahrer einer Großwäscherei. Jetzt ist er dort seit vielen Jahren Geschäftsführer. Immerhin. Aber ist der 41-Jährige auch glücklich?

Diese schwierige, vielfältige Frage wird im neuen Roman von Wilhelm Genazino genauestens durchbuchstabiert. Der Ich-Erzähler mit dem sprechenden Namen Warlich sucht „Das Glück in glücksfernen Zeiten” (Titel), doch er verzagt immer wieder.

Er führt ein Leben auf Beobachter-Posten und nimmt Alltags-Ereignisse bis in die letzten Verästelungen wahr – wie es Genazinos Streuner und Flaneure seit jeher tun. Dabei verstrickt er sich in ziellosen inneren Aufruhr, den er mit einer „Schule der Besänftigung” ruhigstellen möchte – ein rätselhaftes Vorhaben, das er seinen Mitmenschen kaum vermitteln kann.

Bei seinen Streifzügen durch die Stadt und das „Billiggetümmel der Vorstädte” (Zitat) blickt Warlich in die Abgründe landläufiger „Normalität”. Lauter Halbverrückte und fast Verwahrloste scheinen durch die gesichtslose Gegend zu irren. Die (von Rentner-Schwärmen durchzogene) Tristesse erzeugt ständiges Unbehagen.

Spitzeln im Auftrag
der Großwäscherei

Eigentlich versteht Warlich all diese „Gespenstereien” (oft wiederkehrendes Wort) überhaupt nicht. Am liebsten möchte er still kapitulieren. Da klafft die offene Frage, ob es nicht vielleicht vielen so ergeht: Sie verstünden das große Ganze nicht mehr und schauten nur fassungslos den verstreuten Einzelheiten zu.

Ungeheuerlich abermals, welch immens reichen Erzählstoff Wilhelm Genazino aus der feingliedrigen Betrachtung gewöhnlichster Ereignisse gewinnt. Es ist, als würden die alltäglichen Vorgänge in all ihrem möglichen Schrecken, aber auch als Verheißung ungeahnter Möglichkeiten erstrahlen. Die Sprache, in der Genazino den widrigen Verhältnissen nachspürt, wiegt kein Gramm zu wenig und keins zu viel.

Warlich unternimmt eine desolate Werbetour durch Hotels, um sie von den Vorzügen „seiner” Wäscherei zu überzeugen. Auch soll er im Auftrag des kontrollsüchtigen Besitzers Eigendorff (noch so ein Name) Fahrer bespitzeln, die ihre Liefertouren zu locker angehen – und wird selbst überwacht. Horror aus der Arbeitswelt. Da braucht man keine künstlichen Monster.

Noch mehr gerät Warlich aus der Balance, als seine Partnerin Traudel (Sparkassen-Filialleiterin) Druck ausübt: Sie will partout ein Kind. Auch sie sucht eben nach neuem Glücksgelände. Er lässt sie im Unklaren, flüchtet sich in eine heillose Hinhaltetaktik.

Dieses ebenso sanftmütige wie schmerzvolle Buch kann, obwohl es auch komische Gefilde streift, schwerlich „gut ausgehen”, allenfalls glimpflich. Die drängende Überfülle unscheinbarer Ereignisse treibt Warlich in nervliche Zerrüttung. Alles erscheint ihm so kompliziert, dass er lieber „Generalverzicht” üben will. Am Schluss sieht es gar so aus, als hätte er in der Psychiatrie eine neue Heimstatt gefunden, in der er nicht über Gebühr behelligt wird. Soll man diese Weltverweigerung etwa Glück nennen? Oder besiegen die „glücksfernen Zeiten” alles und jeden?

Wilhelm Genazino: „Das Glück in glücksfernen Zeiten”. Roman. Hanser Verlag. 158 Seiten, 17,90 Euro.




Ein Lieblingsbuch der Engländer – James Boswell: „Dr. Samuel Johnson“

Vorfälle aus dem 18. Jahrhundert kommen nur gar zu oft in altertümlicher, gravitätischer Sprache daher. Deshalb scheinen uns das Zeitalter und die Menschen von damals so fern zu liegen.

Jetzt aber liegt ein Buch wieder vor, das einen mit all seiner Lebendigkeit sehr rasch vom Gegenteil überzeugt. Wir reden von James Boswells famoser Lebensbeschreibung über „Dr. Samuel Johnson”.

Der Titel klingt staubtrocken, dahinter aber verbirgt sich anregender Lesestoff über viele hundert Seiten. Der Band empfiehlt sich nachdrücklich zur (Wieder-) Entdeckung. Nicht von ungefähr gilt dieses Werk bis heute als ein Lieblingsbuch der Engländer.

Besagter Johnson (1709-1784) war Studienabbrecher im schon damals ehrwürdigen Oxford, doch später ein lebenskluger Gelehrter, wie er im Buche steht. Vom Naturell her etwas faul, zwang er sich oft zu übermenschlicher Tüchtigkeit. Alle Achtung!

Kunst des
kultivierten
Gesprächs

Zudem war Johnson ein Genie der gehobenen, beredsamen Geselligkeit. Im London jener Jahre (damals die Welthauptstadt schlechthin) scharte er einen weitläufigen Kreis von Schriftstellern, Denkern, Malern und Schauspielern um sich. Man tafelte und trank, redete dabei recht freimütig über alles und jedes, was die Gemüter irgend bewegte. Das reicht vom ganz gewöhnlichen Alltag übers politische Tagesgeschäft (dessen Gebräuche oft stark an heute erinnern) bis hin zu Fragen von der Art, ob man Freunde und Verwandte im Jenseits wiedersehe (manche ja, manche nicht) und ob dies ein freudiges Ereignis sein werde. Kommt drauf an, denn (so Johnsons bemerkenswerte Ansicht): „Nach dem Tode sehen wir einen jeden in seinem wahren Licht.” Oha!

Fast immer geht es in den Gesprächszirkeln meinungsfreudig, häufig weise oder zumindest originell und schlagfertig zu; mal ist die Stimmung verhalten melancholisch, mal geradezu kalberig albern, ganz selten mit einem Stich ins Törichte.

Gewiss, da gibt es ziemlich zeitgebundene Themen und Urteile (etwa über Frauen und Ehe), die allerdings gerade aus weitem Abstand heraus historisch interessant sind. Im übrigen kam schon Johnson zur Loriotschen Einsicht, dass Männer und Frauen im Grunde nicht zusammen passen (aber einander brauchen).

In den allermeisten Momenten hat man jedenfalls den erstaunlichen Eindruck, mittendrin zu sitzen und aktuellen Streitgesprächen zu lauschen. In jedem Satz kann eine Überraschung lauern. Die Kunst des Gesprächs erwächst hier allemal aus edlem Wettstreit möglichst scharfsinniger Argumente. Wenn das keine Kultivierung ist!

Der Autor muss rundweg gepriesen werden: Der Schotte James Boswell (1740-1795) war rund 30 Jahre jünger als Samuel Johnson, den er bewunderte. Doch dieser fein-sinnige Beobachter hatte durchaus seinen eigenen Kopf und Willen. Amüsant die Sticheleien des überzeugten Engländers Johnson gegen alles Schottische. Boswell hat’s nicht krumm genommen. Auch Amerikaner und Franzosen bekamen schon damals ihr Fett weg. Wie gesagt: Es ist ein Lieblingsbuch der (gebildeten) Engländer.

Wir Deutschen kennen als entfernt vergleichbares Unterfangen Eckermanns getreulich notierte Unterhaltungen mit dem greisen Geheimrat Goethe. Diese erscheinen freilich geradezu devot vorgetragen, monologisch strukturiert und klassisch geglättet, während Boswells Aufzeichnungen auch in der herrlichen Übersetzung als quicker Quell sprudeln.

Gottlob hat dieser Boswell die munteren Dialoge bei Tisch und sonstwo zunächst in einer Kürzelsprache spontan mitgeschrieben und erst später genau ausgeführt. Somit sind wir hier ganz nah am ersten Eindruck der frischen wörtlichen Rede. Welch eine anregende Zeitreise!

James Boswell: „Dr. Samuel Johnson”. Diogenes, 848 S., 26,90 €.

INFO:

  • Zum Gesprächszirkel um Samuel Johnson zählten (neben dem Biographen James Boswell) u. a. der Maler Sir Joshua Reynolds, der Schauspieler David Garrick, der Autor Oliver Goldsmith sowie der Politiker und Philosoph Edmund Burke. Zuweilen gesellten sich kluge Damen hinzu.
  • Samuel Johnson ist bei den Briten „unsterblich”, weil er praktisch im Alleingang das erste große Wörterbuch der englischen Sprache schuf, das über 150 Jahre lang Maß aller Dinge war. Außerdem verfasste er eine englische Literaturgeschichte seiner Zeit.



Dortmunder Handschriftensammlung: Friedrich der Große bedankt sich für Heringe

Dortmund. Das soll Friedrich der Große geschrieben haben? Diese unscheinbaren, winzigen Buchstaben, jede Linie ausgesprochen blass, macht- und kraftlos wirkend? Ja, es stimmt. Und es war sogar der wohl letzte Brief, den der berühmte Preußenkönig (am 1. Juli 1786) verfasst hat. Das historische Papier gehört zu den wertvollsten Stücken der Dortmunder Handschriftensammlung.

Die wenigen Zeilen, die der kranke König aufs Blatt strichelte, sind auch inhaltlich bemerkenswert, wenn auch unscheinbar: Der Monarch bedankt sich bei einem Markthändler für die jüngste Herings-Lieferung. Derlei höfliche Bescheidenheit wirkt in dieser Schriftform schlichtweg anrührend. Kein Abdruck könnte ein solches Gefühl wecken. Dies vermag nur die originale Handschrift. Die Dortmunder Sammlung in der Stadt- und Landesbibliothek, die auch frühe Druckwerke und Dichter-Nachlässe umfasst, ist mindestens bundesweit bedeutsam. Ob Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Karl Marx, Thomas Mann, Albert Schweitzer oder auch US-Präsidenten wie Coolidge und Nixon – hier werden eigenhändige Schriftstücke vieler Größen aus Kunst, Kultur und Politik verwahrt.

Heinrich Zilles Entschuldigung für „Radaubetragen“

Wenn Jens André Pfeiffer, der Leiter der Handschriftenabteilung, einen ins „Allerheiligste“ vorlässt, kann einem schon etwas feierlich zumute werden: Im weitläufigen, akkurat klimatisierten Tresorraum lagern etliche Schätze der Geistesgeschichte. Forscher aus allen Weltgegenden verbringen hier zuweilen mehrere Wochen, um Handschriften buchstäblich mit der Lupe zu untersuchen.

Jede Schrift hat ihre spezielle Aura. Archivar Pfeiffer sagt, dass es längst nicht immer um Hochgeistiges geht, sondern um Alltag: „In vielen Briefen ,menschelt‘ es sehr.“ Kurzum: In diesem Paradies für Graphologen glaubt man häufig, den Schreibenden gleichsam über die Schulter zu schauen. Da beschleicht einen auch schon mal das Gefühl, ein klein wenig indiskret zu sein. Beispiel: Der „Milljöh“-Zeichner Heinrich Zille dürfte kaum geahnt haben, dass seine zerknirschte briefliche Entschuldigung für ein bierseliges „Radaubetragen“ in unbefugte Hände Nachgeborener geraten könnte. Recht privat muten auch Goethes Wein-Bestellungen und seine Klagen über Gallenbeschwerden an. Und an einen Tierpräparator, der für Goethe eine Schnepfe aufbereiten sollte, schreibt der Geheimrat, er erwarte jedes Knöchelchen des Vogels zurück. Klingt nach Ärger, falls denn doch etwas gefehlt haben sollte.

Karl Marx, der des öfteren an den Dichter Ferdinand Freiligrath geschrieben hat, meldet dringenden Geldbedarf an und lamentiert wieder einmal über seine Furunkel. Und Hermann Hesse hat einen Brief geradezu kindlich kunterbunt illustriert – Zeichen eines sonnigen Gemüts?

Wie kamen all diese Dinge nach Dortmund? Nun, in der Gründerjahren der 1908 er öffneten Bibliothek waren so genannte Autographen noch vergleichsweise preiswert zu haben. Zudem spendeten Stahlbarone und andere betuchte Bürger Geld für den Erwerb kostbarer Manuskripts und Drucke. Der damalige Bibliotheksdirektor Erich Schulz hatte ein Faible für Handschriften und konnte den Grundstock für die Sammlung legen, die dann stetig ausgebaut wurde und heute zigtausende von Katalognummern enthält.

Was man in Dortmund nicht unbedingt erwartet: Auch ein unvergleichlich gut erhaltenes Exemplar vom Text des Deutschlandliedes findet sich hier. Die sorgsame Reinschrift, die August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 angefertigt hat, wird nicht verliehen – zu wertvoll, zu empfindlich ist das Kleinod.

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Infos:

  • Die Dortmunder Handschriftensammlung umfasst nahezu 30 000 Einzelstücke, etwa 115 Nachlässe und mehrere Tausend Frühdrucke ca. ab 1500 n. Chr., so auch die deutsche Erstausgabe von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“(1720).
  • Hinzu kommen rund 900 historische Landkarten und Stadtansichten.
  • Ältester Besitz ist ein Pergament-Schriftblatt von Gregorius Magnus, das zu einem Codex des 9. Jahrhunderts gehört.
  • Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Westfälisches Handschriftenarchiv. Königswall 18, 44137 Dortmund. Leitung: Jens André Pfeiffer 0231/750-23 206

(Der Beitrag stand am 2. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)