Kunst 1968: Alles auf Anfang

Zu „1968“ ist nun wahrlich so manches gesagt und gezeigt worden. Da fällt einem kaum noch etwas ein. Die meisten Restbestände vom Dachboden der Zeitgeschichte dürften zum 40. Jahrestag anno 2008 auf den Tisch des Hauses gekommen sein. Oder etwa nicht? *** (siehe Fußnote). Man glaubte jedenfalls, über die damalige Rebellion in groben Zügen einigermaßen Bescheid zu wissen.

Umso mehr verwundert nun der Ansatz der Bielefelder Kunsthalle. Dort steht die Kunst des Jahres 1968 unterm Leitwort „Unschuld“. Ja, das Motto lautet sogar „Die Große Unschuld“. Während andere Museen die politischen Aspekte von 1968 rauf und runter buchstabiert haben, steht Bielefeld mit dem ästhetischen Zugang ziemlich einzig da.

Nanu? Unschuld? Auf diesen vermeintlich Harmlosigkeit aufrufenden Begriff ist man nicht gerade gefasst, wenn man an jene Zeiten zurückdenkt. Doch beim Rundgang durch die Bielefelder Schau leuchtet die Perspektive so manches Mal ein. Um den geronnenen Klischeesatz gleich zu verwenden: So viel Anfang wie damals war selten. Sinnbildlich für weite Teile der Auswahl könnte der leere Globus des bei uns weitgehend unbekannten Slowaken Július Koller stehen: Da nimmt der innige Wunsch nach tabula rasa (reiner Tisch), nach völligem Neubeginn Gestalt an. Alles auf Anfang.

Allseits offen und frei gab sich sich seinerzeit die Kunst, gaben sich auch zahlreiche Künstler im Dasein. Gar vieles schien möglich zu sein. Kaum etwas, was nicht zum Experiment, zur Umschöpfung und gründlichen Umdeutung anregte. Diese wunderbare, vielfach zukunftsfrohe Vitalität des Veränderungswillens mutet im historischen Rückspiegel nicht nur unschuldig an, sondern gelegentlich auch ein wenig unbedarft und nahezu naiv. Aber man gäbe reichlich was drum, wenn wenigstens ein Hauch dieser Stimmung durch unsere Gegenwart wehen könnte.

Die Kunsthalle hat sich ein immenses Pensum aufgeladen, das beinahe ihre Dimensionen und Möglichkeiten sprengt. 350 Arbeiten von 150 Künstlern sind zu sehen. Nicht nur alle Etagen des Hauses werden (zuweilen dicht an dicht) „bespielt“, sondern die Flut der Exponate ist hie und da bis an den Rand der Treppenhäuser, in die Flure und ins Kellergeschoss geschwappt.

In dieser Fülle und aus dem gehörigen zeitlichen Abstand zu 1968 wird man einiges gewahr. So etwa auch die Leidenschaft des Zeitgeistes für allerlei aufblasbare Hüllen – von Christos berühmter Riesen-„Wurst“ auf der documenta bis zu Hans Holleins durchsichtigem, aufblasbarem „Büro“, das zugleich auf die schier grenzenlose Mobilität der Lebens- und Denkweisen und auf die Lust an der Transparenz verweist. Solche „Architektur aus Luft“ war gewissermaßen ein Prägezeichen der geschichtlichen Stunde. Gleich daneben vermittelt ein Flugzeugmodelle von Panamarenko das freudige Vorgefühl fürs Abheben.

Ausstellungs-Kurator Roman Grabner geht in der Interpretation noch weiter – und dabei zum Ursprung zurück. Er macht in den Kunst-Hüllen von und um 1968 imaginäre Gebärmütter aus, von denen sich die Menschen wohlig warm umhüllt fühlen konnten – auch ein Schutz gegen grellen Konsumterror, anschwellende Gewalt und (Vietnam)-Krieg? So betrachtet, gewinnt das Wort „Unschuld“ nochmals eine andere Qualität.

Doch natürlich lässt sich die vielfältige Kunst nicht so ohne weiteres auf wenige Begriffe bringen. Das ist auch gar nicht das Ziel dieser keineswegs eindimensionalen Ausstellung. Sie rekonstruiert Partikel eines Zeitklimas und eines Energiestromes, der zumindest in Rinnsalen bis heute fließt. Und es drängt sich der Eindruck auf: Alles, was wir heute als Kunst akzeptieren, hat damals einen Neuanfang genommen.

Viele Protagonisten der Zeit waren allerdings ausgesprochene Sonderlinge und Einzelgänger, die jeweils ureigenes Neuland betraten. Zahlreich also die „Positionen“, deren Hervorbringungen den Betrachter in wahre Wechselbäder tauchen und die sich nicht einfach gesellschaftlich „verrechnen“ lassen.

Einige Beispiele: Der noch junge Sigmar Polke drehte das bis dahin gängige Kunstvokabular durch den Wolf – stets in dem Sinne, nichts „Höheres“ mehr gelten zu lassen. Umgekehrt erlangten bei ihm rüde Schimpfwörter (auf einer Art Bildteppich versammelt) „Museumswürde“, die freilich zugleich wieder grundsätzlich dementiert wurde. Eine windungsreiche Kunst gegen jede hierarchische Ordnung.

Die Wiener Aktionisten (Otto Muehl, Hermann Nitsch, Günter Brus) ergingen sich derweil in rituellen Orgien mit Blut, Urin, Kot und Sperma. Der zur rigorosen Askese neigende Brus riskierte bei Performances des öfeteren seine physische Unversehrtheit.

Die Anfänge der avancierten Lichtkunst (Dan Flavin) kommen ebenso in Betracht wie die Entgrenzungen der Body Art und der Land Art, die letztlich ins Unendliche zielte und von der im Museum nur vage Spuren gezeigt werden können. Die fast vollkommene formale Zurückhaltung der Minimal Art wird hier – gerade im Kontrast zu aufgeregteren Spielarten – als Quell erhabener Ruhe erfahrbar. Die Arte povera (mit „armen“ Materialien geschaffen) spendet weitere, nochmals anders gelagerte Energien, etwa mit den (Uterus-förmigen!) Iglus des Mario Merz. Und die feministisch oder matriarchalisch inspirierte Kunst beispielsweise der grandiosen Louise Bourgeouis lässt auch die Frage nach einer etwaigen „spezifisch weiblichen“ Ästhetik aufkommen. Schwieriges Gelände.

Ebenso plakativ vordergründig wie abgründig wirkt der „Auftritt“ des Andy Warhol mit einem Motiv von 1963, das er just 1968 erneut aufgriff. Er stellte einen Elektrischen Stuhl auf die Bildbühne und „porträtierte“ das furchtbare Möbel in schillernd wechselnder Farbgebung. Ob dies irgend eine Kritik an Hinrichtungen bedeutet oder nur das Spiel mit visuellen Werten, ist ganz und gar nicht gewiss. Explizit „politische“ Kunst (z.B. Edward Kienholz) wird in Bielefeld eher in Nischen gezeigt. Der brachiale Einbruch des Vietnam-Krieges in spießige US-Wohnzimmer ist dabei ein Standardthema.

Auch gegenläufige Richtungen, an die man bei der Stichzahl „1968“ nicht sofort denkt, wurden just damals eingeschlagen und füllen das Maß in Bielefeld noch üppiger: In der DDR orientierte sich der frühe A. R. Penck (bürgerlich Ralf Winkler) an archaischen Signaturen der Höhlenmalerei. Georg Baselitz irritierte mit Hund- und Jagd-Bildern die linken Präferenzen, er wurde zunächst geflissentlich ignoriert. Noch heftiger am kritischen Zeitgeist zielte Anselm Kiefer vorbei, der sich vor diversen Hintergründen unverdrossen mit dem Hitlergruß zeigte. Um das Mindeste zu sagen: Eine ausgesprochen störrische, monströse Arbeit, die bis heute Rätsel aufgibt.

„1968. Die Große Unschuld“. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). Bis 2. August. Geöffnet täglich 11-18 Uhr, Mi 11-21 Uhr, Sa 10-18 Uhr. Pfingsten (31. Mai/1. Juni) geöffnet). Eintritt 7 €, ermäßigt 2 bis 5 €, Familie 14€. Katalog (576 Seiten) im Museum 28 € (im Buchhandel 49,95 Euro). Internet: http://www.kunsthalle-bielefeld.de

_______________________________

*** Die neueste Debatte (um den 2. Juni 1967, Kurras und die Stasi) lassen wie hier mal geflissentlich außen vor.




Gerhard Richter und seine Aura

Zunächst einmal ganz nüchtern, klipp und klar gesagt: Gerhard Richter stellt in der Duisburger Küppersmühle aus. Doch kann man so seine Begeisterung bändigen?

Diese Ausstellung hält, was der große Name verspricht. Da ohnehin kundige Kunstfreunde von nah und fern hierher pilgern werden, schenke ich mir mal eine „klassische Rezension“ mit den handelsüblichen Lobpreisungen.

Stattdessen dies: Bei der gestrigen Vorbesichtigung zeigte sich abermals das erstaunliche Phänomen einer inzwischen weitgehend fraglosen Richter-Verehrung, der man sich selbst nur schwer entziehen kann. Gestandene Journalisten und äußerst wählerische Kunstkritiker, die sonst schon mal gern die Nase rümpfen, werden da flugs zu gläubigen Jüngern. So mochte es auch gestern scheinen.

Jedes Wort aus dem Munde des Meisters wird da dankbar lächelnd als quasi-priesterliche Weisheit empfangen. Tatsächlich nehmen einen ja immer wieder seine völlig uneitle Art und sein leiser Humor für diesen Künstler ein. Doch das ist es nicht allein. Offenkundig umgibt ihn eine Aura aus weltweitem Erfolg mit nahezu religiösem Anhauch. Gerhard Richter – eine Art Dalai Lama der Kunstwelt? Einer, auf den sich alle freudig strahlend einigen können? Mh. Wer weiß. Er selbst würde es ungern hören.

Der Rundgang durch die Säle gerät in Richters Gefolge gleichwohl zur kunstfrommen Prozession. Wer immer da in der Gemeinde demutsvoll sinnend einher schreitet, muss dies vor sich selbst und seinen Kolleg(inn)en ein klein wenig ironisieren – aber bitte auch nicht zu sehr. Ein Redakteur fühlt sich an eine halbgöttliche Chefarztvisite bei den Bildern erinnert. Nicht ganz verkehrt. Nur dass Richter sich solche Rollen bestimmt nicht anmaßt. Sie werden ihm zugesprochen, zugemessen. Mal stillschweigend, mal marktschreierisch.

Ich bin schon eine lange Reihe von Jahren im berichtenden Gewerbe. Doch noch nie habe ich eine Kunst-Pressekonferenz erlebt, bei der die versammelte Kulturjournaille (ganz gleich, ob Text oder Bild) schließlich samt und sonders die Katalog-Exemplare signieren lassen wollte. Solch profanes Begehr gilt für gewöhnlich als fachfremd und naiv. Genug davon. Es gibt zu denken. Und natürlich schließe ich mich da selbst nicht aus.

Hier aber doch noch ein paar strohtrockene Fakten zur Ausstellung: Gerhard Richter hat seine Bilder in der Küppersmühle höchstselbst gehängt. Somit ist die von Götz Adriani konzipierte Schau mit ihren bezwingenden Raumfolgen vom Urheber mit Hingabe autorisiert worden. Und sie ist zur facettenreichen Retrospektive angewachsen, denn man sieht hier beispielhafte Gemälde aus allen Schaffensphasen seit 1963. Quellen sind drei große Privatsammlungen: Böckmann (Berlin), Frieder Burda (Baden-Baden) und Ströher (Darmstadt). Welches Museum bietet mehr?

Das Spektrum der rund 80 (teils großformatigen) Arbeiten reicht vom fotorealistischen Bild bis zur furios farbsprühenden Abstraktion. Laut Richter selbst gibt es da eh keinen substanziellen Unterschied, denn all das entstehe just aus Farb- und Form-Elementen. Was also mit gleichen Mitteln geschaffen wird, könne auch mit gleichem Sinn betrachtet werden. Gut denn. So sei es.

Gerhard Richter. Bilder aus privaten Sammlungen. Museum Küppersmühle, Duisburg, Philosophenweg 55 (Innenhafen). 21. Mai bis 23. August. Geöffnet Mi 14-18, Do 11-18 Uhr, Fr nach Vereinbarung, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Führungen sonntags 11 und 15 Uhr, Anmeldung Tel.: 0203/3019 4812. Katalog 24 €. Internet: http://www.museum-kueppersmuehle.de




Varusschlacht: Phantombild der Antike

Das ist nun mal wirklich ein „runder“ Gedenktag: Vor 2000 Jahren (also 9 n. Chr.) schlug der germanische Cheruskerfürst Arminius („Hermann“) den römischen Feldherrn Varus – irgendwo in den heute niedersächsischen oder westfälischen Gegenden rings um den Teutoburger Wald.

Das heißt: Es war selbstverständlich kein bloßer Zweikampf, sondern eine massenhafte Schlacht zwischen den jeweiligen Gefolgsleuten, vulgo Soldaten (die ja immer dran glauben müssen, wenn mächtige Herrschaften ihren Namen „für alle Zeit“ vergolden wollen). Womit der erforderlichen political correctness halbwegs Genüge getan wäre.

Unerhört für die damalige Weltmacht Rom: Gegen die vermeintlich wüsten „Barbaren“ aus dem Norden verlor man gleich drei Legionen – eine Schmach, die man südlich der Alpen und westlich des Rheins nicht wahrhaben wollte.

Jetzt soll ein schier unüberschaubarer Ausstellungsreigen gleich an drei Orten (Haltern am See, Detmold und Kalkriese) das historische Ereignis wachrufen, so gut es eben geht. Eine leitende These richtet sich gegen altgediente Klischees. Ganz knapp und knackig gefasst: Varus war beileibe kein Depp oder geborener „Loser“, und Arminius war zwar offenkundig listenreich (bis hinterhältig), doch keinesfalls ein makelloser Held nach Art eines „David gegen Goliath“.

Überhaupt zogen die Germanen gegen die überlegenen Römer immer wieder nur deshalb zu Felde, um schlichtweg Beute zu machen, um zu plündern und zu brandschatzen. Sie betrieben – wie man heute weiß – eine „Raub-Ökonomie“. Kein schmeichelhafter Zug der Altvorderen, fürwahr.

Haltern skizziert mit hochinteressanten Funden und sonstigen Schaustücken das ungeheure Anschwellen und Aufblühen des altrömischen Imperiums („vom Dorf zur Weltmetropole“) und behält dabei nach Möglichkeit stets die Biographie des Publius Quinctilius Varus (geboren 47 v. Chr.) im Blick. Dies kann allerdings – trotz aller Ausgrabungserfolge und Deutungsschläue – buchstäblich nur in Bruchstücken geschehen.

Die rund 300 aufwändig inszenierten Exponate in der gründlich umgebauten Seestadthalle (Seitenaspekte sind zudem im örtlichen Römermuseum zu finden) führen zurück in ein „Goldenes Zeitalter“ Roms unter dem Kaiser Augustus.

Varus war Augustus eng verbunden, er absolvierte damals eine fulminante Karriere im Römischen Reich, war 13 v. Chr. Konsul und begleitete Augustus auf heikler diplomatischer Mission (u. a. Verhandlungen mit den Parthern, die im heutigen Iran herrschten).

Münzfunde aus Nordafrika lassen zumindest vage auf Varus’ Physiognomie schließen. Populäre Weiterung: Daraus hat das Landeskriminalamt von NRW gar im Museumsauftrag ein Phantombild erstellt, das nun die Ausstellung ziert. Ganz so, als würde hierzulande noch nach Varus gefahndet.

Dieser Varus war zeitweise römischer Statthalter in Syrien. Als solcher regierte er auch ins angrenzende Judäa hinein, wo er Unruhen niederschlug, indem er ungefähr 2000 Aufständische kreuzigen ließ. Davon zeugt ein auf den ersten Blick unscheinbares Vitrinenobjekt. Es ist das Fragment eines Fersenbeins, durch das seinerzeit ein Nagel getrieben wurde. Aus all dem kann man wohl folgern: Varus war durchaus ein mehr als harter Widersacher, wenn es darauf ankam.

Noch so ein verräterisches Detail: Anhand der Inschrift auf einer Bleischeibe (die als eine Art persönlicher „Gepäckanhänger“ diente) konnten Experten nachweisen, dass Varus schon 15 v. Chr. im Alpen-Feldzug jene Legion kommandiert hatte, mit der er rund 20 Jahre später im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen wurde.

Funde aus Haltern selbst wiederum bezeugen, dass die Legion 19 (Inschrift auf einem Bleibarren: L XIX) eben hier wenigstens teilweise stationiert war. Jedenfalls wurden auf der Lippe nachweislich auch Luxusgüter wie Wein und Austern zu den römischen Truppen geliefert. Weitere Fundstücke wecken neuerdings Spekulationen, dass Haltern das sagenumwobene Aliso gewesen sein könnte – die wohl letzte rechtsrheinische Bastion der Römer.

In Kalkriese stehen unter dem Schlagwort „Konflikt“ die eigentlichen militärischen Auseinandersetzungen im Brennpunkt, die sich mit Ausläufern bis etwa 16 n. Chr. hinzogen. Man scheut sich auch nicht, nebenher zur fassbaren Verdeutlichung ganze Legionen aus Playmobil-Figuren aufzubieten. Und man glaubt recht felsenfest, in Kalkriese inzwischen genügend Beweise gesammelt zu haben, um einigermaßen schlüssig zu belegen, dass die Varus-Schlacht just hier stattgefunden habe; ein altes Streitthema, das sich (etwa wegen heikler Datierungsfragen) immer noch nicht völlig erledigt hat.

In Detmold schließlich thematisiert man unter der Überschrift „Mythos“ die vielfältigen, nicht selten auch gefährlichen Phantasien, die aus der Schlacht hergeleitet worden sind. Schon der antike Autor Tacitus hatte ja die „deutschen Tugenden“ mutmaßlich zugespitzt und übertrieben, um die dekadenten Römer aufzurütteln.

Oft genug handelte es sich bei uns später um „Helden“-Verehrungen mit arg deutschnationaler („germanischer“) Schlagseite oder sogar mit faschistischer Prägung. So sieht man sich jetzt auch in Detmold veranlasst, den heutigen Frieden im vereinten Europa zu beschwören und gleichzeitig besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen einen etwaigen Missbrauch der Schau zu ergreifen. Traurig genug, dass so etwas nötig zu sein scheint.

Viel lieber reden die Veranstalter des 12 Millionen Euro teuren Dreifach-„Events“ (Schirmherrin: Kanzlerin Angela Merkel, die morgen nach Detmold und Kalkriese zur Eröffnung kommen will) von den touristischen Vermarktungs-Chancen, die sich aus der geballten Kooperation ergeben. An allen Orten insgesamt rechnet man mit exorbitanten 500 000 Besuchern. Allein im doch recht kleinen Haltern kalkuliert man mit mindestens 150 000 Gästen. Damit geriete die Kapazität der Stadt an manchen Tagen an ihre Grenzen. Beinahe schon beängstigend: Schon jetzt sind weit über tausend Gruppenführungen vorgebucht.

Und um also auch diesen Kalauer des Anklangs noch schnell loszuwerden: Ein wahres Fieber, dieses Varus-Fieber.

__________________________________

Daten und Fakten:

„Imperium – Konflikt – Mythos“. 2000 Jahre Varusschlacht.

Haltern, Seestadthalle (Lippspieker 25) und LWL-Römermuseum (Weseler Straße 100). 16. Mai bis 11. Oktober. Di-Fr 9-18 Uhr, Sa 10-20 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 € (ermäßigt 6 €).
Kombikarte für alle drei Ausstellungsorte 18 €. Dreibändiger Katalog, Museumsausgabe 59,90 €. Weitere Infos, Buchungen von Führungen: 02364/93 76-38 (Führung oder Audio-Führung unbedingt empfehlenswert).
Internet (auch mit Daten für Detmold und Kalkriese) http://www.imperium-konflikt-mythos.de




Enzensberger: Festlegen gilt nicht

Wenn man jemals gedacht haben sollte, jetzt wüsste man aber, worauf dieser Hans Magnus Enzensberger hinaus will, so war er meist schon wieder ein paar Schritte oder Windungen weiter.

Auch als älterer Mann ist er gedanklich noch wendiger als die allermeisten Jüngeren. Allein schon der Tonfall des mittlerweile 79-Jährigen klingt auch im neuen Gedichtband „Rebus“ freiweg – wie in seinen frühen und seinerzeit zornigen Aufbruchsjahren. Oder will man es etwa nur gerne so haben und hört es sich so zurecht?

Es schwingt da mittlerweile auch eine gereifte Gelassenheit mit, die die letzten Dinge längst ins Auge gefasst hat und den Tod kommen sieht. Revolte? Umsturz? Ach was! Obwohl es doch einst so schön war, die Utopie zu erträumen. Zitat aus dem abschließenden Gedicht „Coda“, das von fern her an Bert Brechts selbstkritisches Lebensfazit „An die Nachgeborenen“ gemahnt: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid…“

Vielleicht noch ein leiser Anklang an Brecht, in diesem Falle an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Enzensbergers Gedicht „Angewohnheiten“ hebt so an:

„Wie oft musste Plato sich schnäuzen, / der heilige Thomas von Aquin / seine Schuhe ausziehen, / Einstein sich die Zähne putzen, / Kafka das Licht ein- und ausschalten, / bevor sie zu dem kamen, / was ihnen aufgetragen war?“

Und was sagt uns das letztlich? Etwas sehr Bedenkenswertes: Dass nämlich der vermeintlich unbedeutende Alltagskram, den wir alle miteinander teilen („Kochen, Waschen, Treppensteigen“), in seiner ganz gewöhnlichen Friedlichkeit viel unentbehrlicher sei als all die großen Werke…

Das Titelwort „Rebus“ erinnert an jene kombinierten Buchstaben- und Bilderrätsel, die sich eben just „mit den Dingen“ (wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen) abgeben. Der Titelumschlag zeigt ein Lehrbuch-Bild aus der Hirnzellenforschung. Enzensberger hat oft Klage geführt gegen unsere grundsätzlich gespaltene Kultur: hie Geistes-, dort Naturwissenschaften, fast immer getrennt von einem Graben gegenseitigen Nichtverstehens. Seinen Gedichten ist gelegentlich zu entnehmen, dass er über solche Gräben hinwegsetzen will. Würde das Wort „ganzheitlich“ nicht so inflationär entwertet klingen, so wäre es hier angebracht.

Die Überschriften der Zyklen lauten wie knappe Befunde: „Gleichgewichtsstörung“, „Es gibt Probleme“, „Schwere Koffer“ (lastendes Gepäck der Erinnerung bis zurück in die Weltkriegszeit) und „Erste Person Plural“ (kollektive Erfahrungen in einer zwangsläufig diffusen „Wir“-Form). All diese durchaus noch unentschiedenen Bilanzen werden ausgesprochen lakonisch aufgesetzt. Unaufgeregt. Oft unterschwellig ironisch. Doch im Bewusstsein, dass da einiges ins krisenhafte Schlingern geraten ist – und dass der Mensch dem Verfall zu keiner Zeit entkommt. Das alte, natürlich nie erledigte Thema der Vergänglichkeit.

„Als ich zwanzig war, lange her / kam ich mir vor wie ein Toter, der keine Zukunft hat“, heißt es einmal weit rückblickend. Kaum ein prinzipieller Unterschied: Damals wie heute reicht, wenn man’s recht bedenkt, die halbwegs gesicherte Lebensperspektive im Grunde nur bis zum nächsten Tag. Man übersteht und überlebt, bis auf weiteres. Allem westlichen Luxus und allen momentanen Glücksgefühlen zum Trotz: „Auch das blühende Leben ist rutschig.“ Und selbstverständlich hat dieser Autor den Vorwurf des Jammerns auf hohem Niveau („Der hat gut reden“) stets schon klug mitbedacht.

Hinter jeder Zeilenbiegung kann hier eine kleine oder größere Überraschung lauern, hier gilt keine Festlegung, hier herrschen allemal schwer lösliche Widersprüche. Enzensberger ist eben nie so recht zu fassen. Nur ganz selten stört ein wenig seine Marotte des Aufzählens, diesmal z. B. auf Seite 85, im Gedicht „Bringschulden“. Da erfährt man nahezu komplett, was der Mensch „bringen“ kann – vom Opfer bis zum Ständchen…

Doch ein solcher Einwand ist läppisch im Vergleich zum reichlichen Gewinn, den man sich hier erlesen kann. Weitläufig sind die Felder, die in den kurzen Gedichten (gleichwohl ohne Eile) durchmessen werden, groß ist die Zeiten- und Themenfülle dieser Inventur zwischen Physis, Psyche und Gesellschaft. Nur zum Beispiel die Feier der vitalen Vielfalt, über alles nicht zu leugnende Elend hinaus: Diese immer noch wirksame Sinnlichkeit unserer wechselnden Jahreszeiten (ach, auch in dieser Hinsicht verwöhntes Europa!), sogar die wundersame Lebendigkeit der babylonischen Sprachverwirrung: „…sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“

Und weiter, weiter, angetrieben von Ungewissheit (nur Scheitern und Niederlage seien gewiss): Der lebenslängliche Konflikt zwischen der Chemie in grauer Hirnmasse und dem widerspenstigem „Ich“, welches doch so schwammig zu sein scheint: „Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Das bedrohliche, womöglich aber auch beruhigende Nichts. Der flüchtige, jedoch erregende Augenblick: „Alles, was du spürst, ist gleich gültig. Das bloße Leben, bis in den kleinen Zeh.“ – Man beachte: „Gleich gültig“ statt „gleichgültig“, welch ein fundamentaler Unterschied!

Das Leben pulst und zittert also Tag für Tag fort und fort. Hingegen werden die großen, abstrakten Systeme und Behauptungen mit der Zeit relativiert. Vermeintlich felsenfester Glaube und Unglaube, Staatswesen („Leviathan“), angeblich weltbedeutende Werke. Ganz zu schweigen von den Torheiten neuester technischer Moden und der grassierenden, sinnleeren Betriebsamkeit…

Am besten, man begibt sich nicht in die Hauptströmung, sondern ergeht sich „dazwischen“ als jemand, der ruhig in eigenem Fahrwasser paddelt und aus der Distanz etwa dies amüsiert und befremdet wahrnimmt: „Alles, was wichtig ist, / zieht am Ufer vorbei – / Oberlandesgerichte, Tankstellen, / Mehrzweckhallen.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 120 Seiten, 19,80 €.




Andere Luft, anderes Licht

Unter dem schlichten Titel „Auf Reisen“ versammelt Matthias Zschokke (geboren 1954 in Bern, seit 25 Jahren vorwiegend in Berlin wohnend) Skizzen aus wechselnden Gegenden. Das Buch firmiert als „Erzählung“, als bestehe es aus Erfundenem. Dabei handelt es doch von unterwegs Vorgefundenem. Von anderer Luft, anderem Licht, anderem Sein.

Fast schon erheiternder namentlicher Anklang: Ein besonderer Schwerpunkt des im Zürcher Ammann-Verlag erschienenen Buches sind Impressionen aus Amman (Jordanien). Zschokke schildert (jenseits aller politischen Konflikte) diese stets auf Würde bedachte Kultur als immense Bereicherung. Allein schon die althergebrachten Rituale öffentlichen Rauchens könnten Lockung genug sein. Auch verstreiche die Zeit in jenen Breiten ganz anders als bei uns. Gerade fürs unendlich gelassene Dahindämmern an den Rändern zu einer vollkommenen Stille hat Zschokke ein empfängliches Sensorium.

Die orientalischen Aufenthalte gipfeln in einem Zitat mit Goldrand: „Jeder Europäer sollte dringend dann und wann nach Arabien, um sich daran zu erinnern, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn sie nur wollen.“ Wir lassen das mal so stehen. Freimütig gesteht der Autor, Schattenseiten auszublenden, denn: „An Schlechtes zu denken tötet das Vergnügen und verdirbt die Laune.“

Jeder aufgesuchte Ort erhält hier – mitunter in wenigen Absätzen – sein spezifisches Gewicht. Man spürt in manchen Passagen, was eine Stadt tatsächlich unterscheidet, im besten Falle einzigartig macht. Die etwas mutwillig erscheinende Abfolge im Buch sorgt zuweilen für Wirrnis, dann aber auch für erhellende Kontraste. Gerade eben noch ist man in Berlin aufgebrochen, dann flugs im beschaulichen Baden-Baden gewesen, schon findet man sich in Budapest mit seiner unnachahmlichen Patina, seinem abgeblätterten Charme wieder.

Hier wie dort sucht der allzeit (auch gastronomisch) genussgeneigte Autor die Stätten traditioneller, reich entfalteter Badekultur auf. Sein spezielles Vergnügen. Auch in Porto (seltsam melancholisch), Rotterdam (eher langweilig) oder im Elsaß (entgegen dem Ruf: vielfach mieses Essen) macht er Station. Bei Abstechern in Gegenden der heimischen, doch gelegentlich sehr fremdartigen Schweiz (Zürich, Genf, Ascona, Chur, Hasliberg) sucht sich Zschokke offenbar seiner Herkunft zu versichern. Schließlich gibt es ein paar passende Exkurse ins Land der eigenen Kindheit, dessen geheimnisvolle „Geographie“ ja jeder späteren Reise zugrunde liegt.

Die meisten Episoden und Einsprengsel betreffen freilich Zschokkes Erfahrungen in New York, wo er eine Zeit lang gelebt hat. Dieses Inbild einer Metropole erhält hier etwas vom alten Glanz zurück. Die Stadt erscheint als weltweit wandelbarster, immer noch sturzvitaler Schauplatz andernorts ungeahnter Konzentrate, kühnster Lebensentwürfe. Wo, wenn nicht hier? Nirgendwo mehr Gegenwart, mehr Möglichkeiten, mehr Toleranz. Im Vergleich kommt ihm Berlin grau, still und fast menschenleer vor. Zschokke scheint sich da hart am Rande altbekannter Klischees zu bewegen, und doch kommt einem frisch und lebendig vor, was er gleichsam atemlos zu berichten hat.

Übrigens plädiert der Autor keineswegs für „exklusive“, exotische Ziele, sondern gerade für viel besuchte Stätten. Aus albernem Abgrenzungs-Bedürfnis heraus versäume man sonst viel. Zitat: „Wir umfahren Venedig, meiden die Pyramiden, wenden uns ab vom Schloß Neuschwanstein, um dafür Livorno, Ouagadougou und Schloß Thun aufzusuchen.“

In diesem Buch kann man mancherlei anregende Lebenswürze nachschmecken. Es könnte Gelüste wecken, wieder einmal ausgiebig unterwegs zu sein. Woher und wohin auch immer.

Matthias Zschokke: „Auf Reisen“. Ammann Verlag, Zürich. 235 Seiten. 19,90 €.