Wie geil is d a s denn, Alder?

Wie muss man es sich wohl erklären, dass auf einmal neue Redewendungen auftauchen, zeitweise grassieren und dann mehr oder weniger rasch vergehen, um auf ewig im Orkus der Wörter zu modern – oder um vielleicht eines Tages neu belebt zu werden?

Beileibe nicht alles, was im sprachlichen Organismus entsteht, ist schätzenswert. Manche Formulierung geht einem sehr schnell gründlich auf die Nerven und müsste Zahlungen in die Floskelkasse zur Folge haben. Das Gegenmittel „Ohren auf Durchzug“ hilft nicht immer.

Woher kommt es beispielsweise, dass man irgendwann nicht mehr „Alter“, sondern „Alder“ gesagt und geschrieben hat? Hat ein Film oder ein Musiktitel diese Ausdrucksweise geprägt? Oder irgendein flachsinniger Brachialkomiker im Fernsehen? Wer weiß Näheres?

Inzwischen meiern sich schon Siebenjährige so an: „Ey, Alder…“ Beknackt. Bleibt ein Trost: Bald wird dieser sprachliche Spuk vorbei sein und dem nächsten Platz machen.

Noch dürftiger kommt mir derzeit diese inflationäre Standard-Redewendung vor:

„Wie geil is‘ d a s denn?“

Oder auch:

„Wie cool is‘ d a s denn?“

(Hausaufgabe: Finde weitere Beispiele!)




Visionen von der Schattenseite

Neulich via DVD wieder auf Michelangelo Antonionis Kinoklassiker „Blow Up“ von 1966 gestoßen. Mal reinschauen, dachte ich mir. Mal sehen, was man davon noch weiß. Und was er einem heute noch gibt.

Frei heraus: Man kann ihn beinahe anschauen wie eine Neuerscheinung. Dieser staunenswerte Film hat immer noch und wohl für einige weitere Zeit Bestand. Haltbar bis 2100. Oder so ähnlich. Er ist visionär, klar- und weitsichtig, vollgesogen mit dem Zeitgeist von 1966, mit Essenzen jener Jahre – und doch wird das alles bereits mit distanziertem Blick geprüft. Nacht- und Schattenseiten von Swinging London und der damaligen Pop-Kultur funkeln geradezu gefährlich. Bleiche Gespenster mit erschreckend leeren Gesichtern sind da unterwegs. Und das Ende aller Harmlosigkeiten ist gekommen. Etwas Tödliches ist an die Stelle von Carnaby Street, Twiggy und den frühen Beatles gerückt.

Alle monströsen Auswüchse von Coolness, die ohne weiteres in achtlose Gefühlskälte übergehen kann, sind da schon zu besichtigen. Da musste man gar nicht erst den bestialischen Mord an der Schauspielerin Sharon Tate durch die Manson-Family (August 1969) oder Gewaltexzess beim Stones-Konzert von Altamont (Dezember 1969) abwarten, um den endgültigen Verlust vermeintlicher Blumenkinder-Unschuld zu ahnen. Konsumfetischismus, Sexismus und Entfremdung gehen in diesem Filmkunstwerk eine morbide Mischung ein. Ein quasi surreales Element kommt hinzu: Zwischen Wahn und Lust kreischende Horden, ziellos unterwegs, lassen vielleicht schon an Flash Mobs denken, jedenfalls aber an ein sinnleeres Amüsement, das sich bewusstlos zu Tode rennt.

Hauptfigur ist ein offenbar rundum überdrüssiger, auch von lachhaft willigen Groupie-Girls gelangweilter Modefotograf (David Hemmings), der eines Tages im Park Schnappschüsse von einem ungleichen Paar macht und beim schrittweisen Vergrößern („Blow Up“) dieser Bilder grobkörnige Hinweise auf einen Mord entdeckt. Subtil wird das Verhältnis zwischen Abbild und Wirklichkeit erwogen, werden unendliche Verschachtelungen („Bild vom Bild vom Bild vom Bild“ etc.) angedeutet. Grundsätzliche Zweifel an der Wahrheit spielen zwanglos mit hinein.

Bewirkt der zunächst vage mögliche, dann höchst wahrscheinliche Mord den schockierenden Einbruch einer furchtbaren Realität in all das gängige Szene-Gehabe? Rüttelt er gar Menschen wach? Nicht doch! Mit Sex, Drugs & Rock kommt eine dumpf schweigende Mehrheit der ach so „progressiv“ sich gebärdenden über solche Fragen rasch hinweg. In einer Art Trance bedienen sie sich nach Augenblicks-Belieben der Welt, tendenziell rücksichts- und gnadenlos, am liebsten mit wegwerfendem Gestus. Einzig und allein der besagte Modefotograf, ohnehin nebenher mit einem Fotoprojekt über Obdachlose befasst, scheint nunmehr völlig aus der popbunten Welt zu fallen. Ausgerechnet dieser anfänglich elend schnöselhafte, herrschsüchtige, unbeherrschte Typ mit Luxus-Cabrio und Funktelefon (früher Handy-Vorläufer) soll ein letzter Hoffnungsträger sein?

Überdies eröffnet der Film, in dem Vanessa Redgrave, Veruschka von Lehndorff und Jane Birkin mitspielen, einige interessante Nebenschauplätze. So könnte es ein lohnendes, nahezu dissertationswürdiges Thema sein, das von Antonioni komponierte London mit dem ein Jahr später datierten kulissenhaften Paris von Jacques Tati („Herrliche Zeiten“ alias „Playtime“, 1967) zu vergleichen.

Ganz zu schweigen vom viel beschworenen Rauschen der Bäume im Park und dem kuriosen Kabinett eines staubigen Antiquitätenladens. Oder von Jeff Beck („Yardbirds“), der für die Kamera mit stummer Aggression seine Gitarre zertrümmert. Auch dies ein Menetekel.

Gerade weil Antonionis Film so klaftertief in seiner Zeit verankert ist, weist er weit über sie hinaus. Ähnlich verhält es sich mit Werken, die regional oder örtlich verwurzelt sind. So wie just jene literarischen Werke, die aus angeblicher Provinz schöpfen, häufig die ganze Welt enthalten. Selbsternannte „Metropolen“-Kultur hingegen und Hervorbringungen, die sich selbstgewiss und vor aller Überprüfung „überzeitlich“ gerieren, wecken gerade den Verdacht, dass es in ihnen kurzatmig, eng und engstirnig zugeht.

P. S.: Warum ich jetzt über ein Kinoereignis von 1966 schreibe? Weil es mich eben jetzt beschäftigt und beeindruckt hat. Auch Romane, Gemälde oder Musikstücke von (beispielsweise) 1842, 1929 oder 1960 könnten ja jederzeit zu brennenden Themen werden. Eben darin liegt ein Wunder der Künste.

DVD (106 Minuten / Warner Home Video), ca. 15 Euro.




Flimmern und flirren

Gepriesen sei ein solches Tauschgeschäft auf Vertrauensbasis: Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt eine Auswahl seines expressionistischen Besitzes im Pariser Musée Marmottan Monet – und hat im Gegenzug leihweise rund 30 Spitzenwerke Claude Monets erhalten. Hinzu kommen passende Ergänzungen aus etlichen anderen Häusern. Grandioser Effekt: Jetzt können in Wuppertal herausragende Beispiele aus allen wesentlichen Werkphasen des berühmten Impressionisten präsentiert werden.

Mit dem Wort „Sensation“ sollte man allzeit vorsichtig umgehen. Doch hier dürfte es angebracht sein. Denn einen vergleichbaren Gesamtüberblick zu Monet hat es – kaum glaublich – in Deutschland noch nicht gegeben.

Gewiss: Das Weltkunstwerk „Impression – soleil levant“ (Impression – Sonnenaufgang) zählt n i c h t zu den Leihgaben. Eine entsprechende Anfrage verstieße gegen alle internationalen Gepflogenheiten unter Museumsleuten. Sie wäre nahezu ein unfreundlicher Akt und hätte vermutlich den sofortigen Abbruch aller weiteren Gespräche zur Folge. Es wäre, als wollte man mal kurzerhand die „Mona Lisa“ haben. Lachhaft! Absolut unmöglich! Übrigens hat das erwähnte Bild bei der anfangs spöttisch gemeinten Namensgebung des Impressionismus sozusagen Pate gehangen. Das Gros der (vielfach bornierten) Kritiker befand seinerzeit, bloße Impression reiche in den Künsten nicht aus.

Für besagte „Ikone“ muss man sich also weiterhin nach Paris bemühen. Doch die wichtigen Serien sind an der Wupper prächtig vertreten. So müsste man sicherlich sehr lange suchen, um an einem Ort drei Monet-Bilder der Kathedrale von Rouen beisammen zu finden. Paris und Wuppertal dürften derzeit die beiden einzigen Orte sein, an denen man diese Ergießungen wandelbaren Lichts genießen kann.

Damit längst nicht genug. Etwa 20 Bilder ranken sich ums legendäre Seerosen-Thema. Zeitweise waren bis zu zehn Gärtner damit beschäftigt, in Giverny (Normandie) ein japanisch inspiriertes, weitläufiges Gärtengelände mit Seerosen für den Künstler anzulegen – nach wohlüberlegtem Muster. So blieb inmitten der Pflanzen eine Wasserfläche frei, in der sich die Wolken spiegeln sollten. Mit höchstem Raffinement hat Monet das schwebend Schwerelose dieser atmosphärischen Erscheinungen eingefangen. Profane Kehrseite: Einige Bauern murrten, weil das (für Seerosen nötige) erwärmte Wasser angeblich ihre Kühe krank machte. Monet zahlte ihnen eine Entschädigung.

Überdies bekommt man in Wuppertal mehrere Gemälde aus der kaum minder bedeutsamen Getreideschober-Serie zu sehen, die einen Betrachter namens Wassily Kandinsky auf den Grundgedanken der Abstraktion gebracht haben, ungefähr so: Wenn etwas so ins irritierende Flirren geraten ist, dass man es als Objekt kaum noch erkennt – warum dann nicht den gänzlichen Abschied vom Gegenstand proben?

Vorwiegend chronologisch geordnet, zudem sinnreich nach Motivgruppen gestaffelt, blättert Wuppertal die Abfolge der meisterlichen Werke auf. Es beginnt mit Karikaturen des jungen Monet und gipfelt beispielsweise in zauberhaft duftigen Landschafts-, Schiffs- und Eisenbahnbildern. Gar manches Gemälde vergeht nahezu vor Zartheit und Zartsinn. Die Stimmungsvaleurs wechselnder Tageszeiten und Lichtreflexionen hat gerade dieser Künstler unendlich differenziert erfasst. Da will man zum flüchtigen Augenblicke sagen: Verweile doch. Hier darf man sich idyllischen Sehnsüchten hingeben. Wer sich daraus ein schlechtes Gewissen macht, dem ist nicht zu helfen.

Monet ging nicht so spontan vor, wie man meinen könnte. Seine Arbeiten verdanken sich oft akribischer Planung. So soll er bewirkt haben, dass ein Zug – nicht nur der schön gekräuselten Rauchfahnen wegen – eigens für die Zeit des Malens angehalten wurde. Ja, er soll sogar, weil er ein winterliches Baumbild nicht mehr rechtzeitig hatte vollenden können, im folgenden Frühjahr veranlasst haben, dass man selbiges Geäst wieder entlaube… Für gutes Geld ging auch das.

Claude Monet wurde erst nach vielen Jahren des Darbens finanzieller Erfolg zuteil. Um 1900 galt er freilich als einer der teuersten Maler seiner Zeit. Vom heute ungeheuren Marktwert seiner Schöpfungen kann man sich eine vage Vorstellung machen, wenn man dies in Rechnung stellt: Monet hat (als er später unter dem Grauen Star litt) viele vermeintlich misslungene Gemälde zerrissen. Ein solches (nachträglich zugeschnittenes und gerahmtes) Fetzen-Relikt wird auch in Wuppertal gezeigt – und auf einen Wert von 300 000 Euro geschätzt. Man stelle sich vor, was für die großen Meisterwerke fällig wäre. In Wuppertal gilt daher Sicherheitsstufe eins plus mit Extra-Wachpersonal und weiteren Maßnahmen, die natürlich niemand verrät.

Auch beim Marketing lässt man wenig aus. Eine Schwebebahn fährt mit schmuckem Monet-Motiv, und bei vielen Bäckereien gibt’s Kuchen mit Seeröschen-Verzierung. 2000 Besuchergruppen haben sich bereits im Vorfeld angemeldet. Man rechnet insgesamt mit mindestens 100 000 Menschen. Eine eher konservative Schätzung. Besucherströme sollen so gelenkt werden, dass sich höchstens 300 Menschen zugleich in der Schau befinden. Andernfalls sähe man oft nur die Hinterköpfe kunstsinniger Leute.

Museumschef Gerhard Finckh ist vom hohen Rang seiner Auswahl überzeugt und stellt kein Licht unter den Scheffel. Auf die Journalisten-Frage, ob die Monet-Ausstellung (bis Ende Februar 2010) touristisch auch vom beginnenden Kulturhauptstadt-Jahr im Ruhrgebiet profitieren könne, meint er halb scherzhaft, es verhalte sich wohl eher umgekehrt: „Vielleicht wird man einmal sagen: Monet war das Allerbeste an der Kulturhauptstadt…“ A la bonheur!

Von der Heydt-Museum, Turmhof 8 in 42103 Wuppertal (Tel.: 0202/563-26 26). Geöffnet bis 28. Februar 2010. Di/Mi 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 € (ermäßigt 10 €), Familie 20 €, Katalog 25 €, DVD mit Film zur Ausstellung 15 €. Internet: http://www.monet-ausstellung.de




Max Goldt: Zimbo, Zimbo und nochmals Zimbo

Skandal ! Betrug ! Ich habe „Ein Buch namens Zimbo“ gelesen – und nirgendwo auch nur die leiseste Äußerung darüber gefunden, was es mit diesem „Zimbo“ denn auf sich hat. Oder sollte ich ausgerechnet jene zwei bis drei Zeilen auf Seite xyz übersprungen haben, in denen mir Auskunft zuteil geworden wäre? Wohl kaum. Es wäre fahrlässig, in diesem kanari-knallgelben Buch überhaupt etwas auszulassen.

Ist aber auch schnurzegal. Denn es handelt sich ja um ein Werk von Max Goldt, der die Leser schon mal ganz gern nett nasführt. Doch im Grunde treibt er beileibe nicht nur Schabernack, sondern gibt vielfach ein vernünftiges Maß der tagtäglichen Dinge. Man unterschätze das nicht in einer Zeit, in der so vieles verrutscht ist. Wir könnten einen neu geeichten „common sense“ allemal gebrauchen. Der unaufgeregte Gebrauch des Verstandes kann – paradox genug – aufregend und überdies erzkomisch sein. Hier spürt jemand haarfein auf, was vorgeht im Lande und was anders werden sollte. Nun gut. Jetzt aber Schluss mit der öligen Jury-Prosa.

Was haben wir vor uns: Sprachlich bestens gefeilte Kolumnen? Unterhaltsame, ja höchst vergnügliche Ratgeberliteratur zur Lebenshilfe im besten Wortsinne? Alltagsphilosophie der dezent gehobenen Sorte? Mal dies, mal jenes. Aber darin erschöpft es sich nicht.

Selbst wenn man seit vielen Jahren Bücher von Max Goldt liest, staunt man immer wieder, welche Haltungen er im Einzelnen zu den Zeitläuften einnimmt. Er kann da sehr eigen sein. In einem Umfeld, das allerlei Schrankenlosigkeiten zelebriert, wagt er es beispielsweise, auch Verbote als mögliche Kulturleistungen zu preisen. Hohe Zeit für solche Gedanken!

Nur ganz selten beschleicht einen das Gefühl, dass Goldt auch schon mal willkürlich gewagte Gegenpositionen zum Gängigen einnimmt, um just ihre Tragweite zu erproben. Warum auch nicht, wenn dabei so viel herauskommt, was anderen im Leben nicht einfiele?

Dem politisch korrekten Herumgeeiere ist Goldt jedenfalls abhold, ohne deshalb freiheitliche Positionen preiszugeben. Irgendwann, so spottet er, werde in Zeitungen nur noch stehen, Gewalt sei von „Geschöpfen“ verübt worden – ohne Nennung der Herkunft, des Alters, der Religion und des Geschlechtes. Es könnte ja „diskriminierend“ sein…

Max Goldt erweist sich abermals als Meister der Abschweifung. Herrlich zu sehen, welche rasanten Kurven seine Texte bisweilen nehmen, um in tollkühnen Volten bzw. Loopings zum Ursprungsthema zurückzukehren – oder vollends artistisch abzuheben.

Das Themenspektrum ist mal wieder denkbar breit. Da geht’s z. B. um vermeintlich allgegenwärtige Klagen über Sodbrennen, um Vor- und Nachteile von Umhängetaschen oder um die nach seiner Ansicht unsinnige Wendung „kreatives Chaos“. Wahre Künstler seien keineswegs Chaoten, sie entwirrten vielmehr das Durcheinander, befindet Goldt. Ferner erfahren wir, wie erhellend ein Pakistani und ein Texaner deutsche Marotten (Hunde-Manie und Polit-Debatten-Rituale) beschreiben, wie sich Worte mit bloßer Tralala-Bedeutung anfühlen und wie das „Berliner Plusquamperfekt“ klingt. Und köstlich ist’s zu lesen, wie sich Rechthaber und Besserwisser der inzwischen allzu vielen „Irrtümer“-Lexika bedienen, um mal wieder zu triumphieren.

Manche Formulierungen Goldts sind so trefflich und kostbar, dass man sie am liebsten in Seidenpapier einschlagen und verschenken möchte. „Dieser eisige Beauty-Apparatschik“ – wer könnte damit wohl gemeint sein? Doch nicht etwa Heidi Klum? Nun ja, eventuell doch.

Goldts Kunstfertigkeit ist mittlerweile hoch dekoriert worden, auch mit dem Kleist-Preis. Des Autors Dankrede dafür steht gleichfalls in diesem Buch. Kategorien wie „Alltag“ und „Satire“ lehnt er zur Selbstbeschreibung ab, auch sei er gar kein Kolumnist. Ja, was zum Teufel ist er denn dann? Am Ende vielleicht ein „Zimbo“?

Max Goldt: „Ein Buch namens Zimbo“ (Untertitel: „Sie werden kaum ertragen, was Ihnen mitgeteilt wird“). Rowohlt Berlin Verlag, 198 Seiten, 17,90 Euro.

P. S.: Kürzlich ebenfalls bei Rowohlt Berlin erschienen und ideal auch für Goldt-Leser geeignet ist der prachtvolle Sammelband „Titanic – Das endgültige Satirebuch – Das Erstbeste aus 30 Jahren“ (416 Seiten, 25 Euro) mit zahllosen satirischen, parodistischen etc. Frechheiten sowie gepflegtem Nonsens im Gefolge der „Neuen Frankfurter Schule“ seit 1979. Prädikat: Gehört pfeilgrad in jede Hausapotheke.




Wo man endgültig stirbt

Ein Mann in den frühen Sechzigern kommt morgens in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch sitzt seine Ehefrau. Er schöpft zuerst keinen Verdacht. Sie scheint in Lektüre versunken zu sein. Wahrscheinlich korrigiert sie wieder einen seiner Aufsätze – wie schon so oft seit so vielen Jahren.

Doch sie ist tot.

Sie hat ein letztes Schriftstück hinterlassen, korrigierende Anmerkungen offenbar, die sich freilich nach und nach als grundsätzlich gegen ihren Mann gerichtete Suada erweisen. Am Schluss dieser Ausführungen, aus denen fortan ausgiebig zitiert wird, verläuft ihre Handschrift zunehmend fahrig, schließlich taumelt sie ins Nichts.

Nach und nach scheint uns der Autor Matthias Politycki (wohl bekanntestes Werk: „Weiberroman“) nun die Anatomie der ehelichen Beziehung nachzureichen. Aber seine „Jenseitsnovelle“, der Titel deutet es schon an, soll nicht nur von dieser Welt sein. Zur „Novelle“ fällt einem die „unerhörte Begebenheit“ ein, die Goethe als gattungsbildend ansah.

Doch eigentlich geht es hier gemächlich zu. Stunde um Stunde hält Schepp nun Totenwacht, liest mit wachsendem Befremden, ja Entsetzen ihre finalen Aufzeichnungen, die bittere Bilanz eines langen Ehelebens.

Dieser Hinrich Schepp und seine Frau Doro haben sich gegen Ende der 70er Jahre kennen gelernt. Scheinbar unzertrennlich wurden sie, als er sich auf ihre Phantasie von Jenseits eingelassen hat. Ihre beunruhigende Vision: Nach dem irdischen Tod werde man zu einem See gelangen, der einen magisch anzieht und in dem man dann erst endgültig stirbt. Er sichert ihr zu, ihr in solchem Falle vorauszueilen und das Terrain zu sondieren. Für diese wohlfeile Zusage heiratet ihn Dorothee Wilhelmine Renate Gräfin zu Hagelstein (welch ein gebastelter Name!) – und opfert ihre mögliche Karriere.

Über Jahrzehnte hinweg hat sie sich einlässlich mit dem chinesischen Weisheitsbuch „I Ging“ befasst, wohingegen er sich als Sinologe eine entlegene, aber leidlich auskömmliche Expertennische gesucht hat. Esoterikerin trifft Skeptiker mit zynischen Anwandlungen. Kann das gut gehen? Wohl kaum. Sie sind einander immer fremd geblieben. Weiterer Dreh: Der vormals kläglich Kurzsichtige Schepp ließ eines Tages seine Augen lasern, sah auf einmal in mehrerlei Hinsicht klar und wurde ungeahnt welthungrig, menschengierig.

Doro hat am Ende noch einmal eine Erzählung hervorgekramt, die Schepp vor vielen Jahren begonnen und dann beiseite gelegt hat. Auch daraus wird streckenweise zitiert. Und Doro schreibt dazu ihre zornige Interlinear-Version. Noch eine Ebene also, noch eine Spiegelung – und es bleibt nicht das letzte Vexierspiel in diesem intimen Kabinett. Schepps Erzählung handelt von einem gewissen Marek, einem 70er-Jahre-Freak und chaotischen Alkoholiker mit Citroen-„Ente“; von der Szene- und Säuferkneipe „Blaue Maus“ und der Bedienung Hanni, die es Marek angetan hatte. Bei Politycki kleiden sich diese Episoden in süffige Genre- und Sittenbilder aus den 1970ern. Die Jahre, die ihr kennt…

Wie in einer Metamorphose wird das besagte Lokal zum „La Pfiff“, in dem die irrlichternde Dana bedient, die ausgerechnet ein Tattoo-Zeichen trägt, das dem „I Ging“ entnommen ist. Eine lockende Hure, doch gleichzeitig eine Unberührbare. Und überhaupt: Was ist real, was ist Fiktion? Was ist bloße Säufer-Hirngeburt? Hat Hinrich Schepp sich in Marek selbst porträtiert und seinen Willen zur Untreue verdruckst durchblicken lassen? Und welchen Anteil hat Doro an all dem? Offenbar einen gehörigen. Sie hat ja sogar Dana regelmäßig getroffen.

So wogt die Novelle recht gemächlich auf und nieder, manchmal plätschert sie leise. Der Autor streut gezielt Rätsel aus, betreibt routinierte Geheimnistuerei. Wie ungreifbar sind hier doch letztlich die menschlichen Beziehungen! Irgendwann beschleicht den Leser ein grauslicher Verdacht: Sind wir etwa schon im Zwischen- oder gar im Totenreich angelangt, in dem all üblichen Mutmaßungen über so genannte „Wirklichkeit“ keine Rolle mehr spielen?

Und tatsächlich. Auf Seite 121 hebt der ganze Bericht noch einmal von vorn an, zunächst mit exakt den gleichen Worten wie zu Beginn. Literatur in der Endlosschleife? Wo soll das nur hinführen?

Ja, wohin? Das Buch ist phasenweise umstandskrämerisch geraten. Politycki will seine Geschichte umwölken und zum Wabern bringen. Wir haben verstanden: Wir sollen nicht verstehen. Also gut. Dann bleiben wir eben hübsch ratlos und vermuten etlichen Tiefgang.

Matthias Politycki: „Jenseitsnovelle“. Verlag Hoffmann und Campe. 126 Seiten. 15,99 €.




Musiker-Anekdoten: Mi-mi-mi-mausetot

Man denke nur: Auch den großen Musikern entfährt schon mal ein Fluch – oder es unterläuft ihnen sogar ein falsches Tönlein. Und die Tücke des Objekts (Instrument, Aufnahmetechnik) kommt immer mal wieder der hehren Kunstanstrengung in die Quere. Teufel auch!

Ein neues (das abertausendste?) Buch mit „Musiker-Anekdoten“ strotzt nur so vor lauter lauen „Ach was!“-Effekten, verabreicht unter heftigem „Augenzwinkern“. Es zeugt damit offenbar vom allgemeinen Übelstand der vermeintlich humorigen Gattung: Solche Anekdoten sind nicht nur überwiegend fade, sie sind tot. Mausetot. Röchelnd und rasselnd atmen sie den Geist einer Zeit, als Sänger noch unentwegt „Mi-mi-mi“ machten und als sich überhaupt Musikant wie Musikus klischeegerecht zu verhalten hatten.

Mal ein beliebiges Beispiel:

„Karl Böhm kam 1980 nach einem Liederabend, den Dietrich Fischer-Dieskau in der New Yorker Carnegie Hall gegeben hatte, in die Garderobe des Sängers und sagte: „Darf man denn so schön singen? Und rauchen tun Sie auch noch!“

Hehe. Nein, da fehlt nichts. Das war’s bereits. Bitte j e t z t schmunzeln oder lachen! Köstlich, oder etwa nicht?

Bleiben wir bei der traurigen Wahrheit: Das Zitat ist vergleichsweise noch wohltuend kurz. Meist werden die schmalen Sachverhalte langatmiger, tapsiger und treuherziger erzählt. Die Haltung aber ist typisch: Insgeheim bebend vor Ehrerbietung, was die bloßen großen Namen anbelangt. Dazu passt das nervtötende name dropping (hier: Böhm, Fischer-Dieskau, Carnegie), eine angebliche Beglaubigung durch die Nennung der Jahreszahl – und eine derart schwachbrüstige, ja schwindsüchtige „Pointe“, dass Gott erbarm.

Noch eine gefällig? Was richtig Schlagfertiges? Bittschön:

„Als Michael Gielen mit den Wiener Philharmonikern ein Stück moderner Musik probte, hörte er einen der Musiker murren: „Mein Gott, der ist aber präpotent!“ Gielens Antwort: „Immer noch besser als impotent.“

Da schweigt, wie man früher übers musikalische Metier hinaus zu sagen pflegte, des Sängers Höflichkeit.

Die Beispiele sind wahrhaftig keine extremen „Ausreißer“ nach unten, sie halten in etwa noch die wacklige Mittellage. Man findet hier noch weitaus umständlichere, betulichere, tranigere Passagen. Die Kollektion scheint sich ohnehin zufällig gehäuft zu haben. Die vor allem nach Instrumenten (Bläser, Streicher, Pianisten, Organisten) gruppierte Auswahl lässt ansonsten kaum ordnende Struktur oder Leitgedanken erkennen. Das akribische Namensverzeichnis im Anhang riecht auch deshalb nach vergeudetem Fleiß.

Ermüdend geht es Seite um Seite. Die mitunter gravitätisch stolzierende Sprache kann nicht verbergen, dass hier kaum tiefere Erkenntnisse zu gewinnen sind. Vielfach handelt es sich nicht einmal um Anekdoten im eigentlichen Sinne, sondern um reichlich angestaubte Kuriosa oder um schlichte Kurzmeldungen, bekannte und berühmte Musiker betreffend. So erfährt man (beileibe nicht zum ersten Male), dass Leonard Bernstein ein Hallodri und Franz Liszt ein wilder Gesell’ gewesen sein muss, welcher hin und wieder Klaviere ramponiert hat. Potztausend! Übrigens: Urheber und Interpreten experimenteller Musik stehen in diesem kläglich gestrigen Kontext fast immer im Ruch des Übergeschnapptseins. Aus welcher Zeit diese reaktionäre Denkungsart wohl herrühren könnte?!

Manche mühevollen Witzchen sind zudem von zweifelhafter, ranziger Komik. Etwa „Karajans trockener Kommentar“ (Zitat) über eine Beschwerde des Paukisten Werner Thärichen, der fand, seine Sitzposition bei einer Aufführung sei zu sehr dem Orchester-Lärm ausgesetzt. Und nun aber Karajan: „Das hätten Sie sich früher überlegen müssen, ob Sie zur Artillerie gehen wollen!“

Ja, so haben sie wohl einst geklungen – die von ganz oben herab ausgeteilten Kasino-Scherze eines sattsam bekannten Herrenreitertums…

„Fortissimo“. Musiker-Anekdoten. Herausgegeben von Friedrike C. Raderer und Rolf Wehmeier. Reclam Verlag, Stuttgart. 96 Seiten. 6,90 Euro.