Chatroulette: Menschen wegklicken

Immer wieder neue Hypes im Netz. Und welche Sau wird jetzt gerade durchs globale Dorf getrieben? Nun, ein angeblich ganz dickes Ding dieser Tage und Wochen sind „Chatroulette“-Angebote, bei denen Bilder, Töne und Texte in Echtzeit ausgetauscht werden. Es soll Leute geben, die süchtig danach sind. ABC News zitiert eine US-Studentin: „I think it’s a little creepy. And I can’t stand away.“ Ein bisschen gruselig und dennoch unwiderstehlich also?

Seiten dieses Zuschnitts sind an der Benutzer-Oberfläche sehr simpel und locken mit ausgesprochen laxen Bedingungen: völlig anonyme Teilnahme am weltweiten Video-Chat, keine Passwörter, Alterskontrollen, besondere Pflichten, Spielregeln oder sonstige Barrieren. Kein Wunder, dass sich angesichts solcher Vorgaben auch ungemein viele arme Würstchen (wahlweise „arme Teufel“), Spinner und Idioten mehr oder weniger offen hervorwagen. Ich werde mich hüten, hier einen Link zu setzen, denn etliche Vorgänge auf derlei Seiten sind alles andere als jugendfrei.

Die bislang bei weitem erfolgreichste, explosionsartig wachsende Seite des insgesamt expandierenden Genres wurde vom 17-jährigen Moskauer Andrej Ternowskij programmiert und auf Frankfurter Servern platziert: Nach dem „peer-to-peer“-Prinzip und per Zufallsgenerator werden überwiegend jüngere Leute aus allen Ländern zusammengeschaltet. Im Regelfall sehen sie sich selbst und (auf einem zweiten Screen) jeweilige „Partner“ via Webcam. Klingt doch im Ansatz spannend, oder?

Es gibt selbstverständlich –zig Arten, sich trotz Webcam zu verbergen. Ich bin etlichen Herrschaften mit Affen- oder vereinzelt gar Gasmasken „begegnet“. Andere verzerren ihre Gesichtszüge elektronisch, decken das Kameraauge ab, setzen z. B. Spielzeugfiguren davor oder richten ihre Kamera auf Heimkino-Filme – bevorzugt mit sexuellem oder sonstigem Schock-Potenzial, das sich freilich enorm abnutzt. Inzwischen gibt’s „best of“-Seiten, die im voyeuristischen Doppel den jeweiligen Anlass und die darüber empörte Mimik des Empfängers eingefroren haben. Zur weiteren Erheiterung…

Doch viele zeigen sich auch und setzen sich der Mitwelt aus: Über allem waltet ein gnadenloses „Ex und Hopp“, eine Wegwerf-Mentalität, die hier auf die soziale Ebene übertragen wird und Netzwerke wie „facebook“ vergleichsweise tiefgründig und dauerhaft erscheinen lässt. Denn jeden Menschen, der einem „nicht passt“, kann man hier sofort mit einem Extra-Button („Next“) wegklicken. Falls der andere einen nicht noch schneller von seinem Bildschirm fegt.

Es gilt die Parole: Her mit dem nächsten Gesicht! Das rücksichtslos rasche Aussortieren wird weidlich genutzt, oft genug im Sekundentakt. Wer psychisch auch nur ein wenig labil ist, könnte damit Probleme bekommen. Zumal sich da schadenfrohe Cliquen zum kollektiven Auslachen oder gestisch-verbalen Demütigen der Verletzlichen einfinden. Geile Partys! Diese Mobbing-Grüppchen kann man zwar ebenfalls wegzappen. Aber wer weiß, wie viel Kränkung da unterschwellig weiter wirkt. Unfrei nach Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“

Erbärmlicher noch. Man weiß ja zur Genüge, wie fies viele Internet-Ecken sind. Und doch hält man es nicht für möglich, wie viele Typen vor laufender Kamera Hand an sich legen. Grob geschätzt betätigt sich auf den Roulette-Seiten jeder zehnte Teilnehmer so. Männer sind ohnehin in erdrückender Mehrheit. Unter den wenigen Frauen im Chat dürfte es kaum eine geben, die nicht aufgefordert wird, sich zu entblößen. Um es mal ganz vornehm zu sagen. Das hier zwischen allen Nationen flottierende Englisch hat da eine hohe Ausdrucksvarianz aufzuweisen, und Vokabeln wie „boobs“ gehören entschieden zu den harmloseren.

Notorische Netzbewohner werden schon den Hauch kulturkritischer Nachfragen verschnarcht finden. Sei’s drum. Wenn man noch mit den Füßen in der wirklichen Welt steht, fragt man sich bang: Welche ohnehin grassierenden Haltungen werden da eingeübt? Beispielsweise ein schriller Wettstreit um die größtmögliche Aufmerksamkeit des Moments. Viele quälen sich damit ab. Sie glauben offenbar, gleichsam „Quote machen“ zu müssen wie ein Stand-up Comedian. Dem entspricht auf diabolische Art das gnadenlos sprungbereite Sofort-Urteil über Mitmenschen. Denkbar übrigens, dass hier abermals ein atavistisches Erbteil unserer Gattung („Fluchtreflex“ zwischen Steinzeit und Fußgängerzone) aktiviert wird.

Sicher: Zwischen all den Flüchtigkeiten im Menschenzoo sind wirklich herzwärmend nette Begegnungen möglich – mit Erdenbürgern, die man sonst niemals „getroffen“ hätte. Man erzählt einander von kleinen Freuden und Sorgen. Ein Japaner spielt dir einen Song auf seiner Gitarre vor, eine Schwedin ist zum Scherzen aufgelegt, eine freakige Amerikanerin stopft sich beim Plausch erst mal gemütlich „Gras“ ins Pfeifchen. Und so weiter. Auch ist so manches „Gesicht aus der Menge“ einfach sympathisch oder anrührend.

Vor allem aber: Wie viel trübe, betrübliche Einsamkeit da allenthalben umgetrieben wird! Wie sangen die Beatles: „All the lonely people – where do they all come from?“




Was bleibt von der Kunst der 80er Jahre?

„Neue Wilde“, „Junge Wilde“, „Heftige Malerei“ – an Etikettierungen für die Kunst der (frühen) 80er Jahre mangelt es nicht. Nach all dem prinzipiellen Misstrauen gegen Bilder, das die Szene schließlich geradezu gelähmt hatte, brach um 1979/80 eine offenbar lang angestaute Flut hervor. Schon bald gab es machtvolle Manifestationen wie die Großausstellungen „Westkunst“ in den Kölner Messehallen (1981), „Zeitgeist“ im Berliner Gropius-Bau (1982) und die von Rudi Fuchs geleitete documenta (ebenfalls 1982).

Unter dem verkaufsfördernden Motto „Es wird wieder gemalt“ nahm auch der Handel Aufschwung. Positiv gewendet: Die Kunst war also offenbar doch noch nicht tot. Ebenso wenig wie die vordem totgesagte Literatur. Mag immerhin sein, dass man sich für diese neuen Aufbrüche auch naiv (oder gar dumm?) stellen musste, damit es doch wieder einmal weitergehen konnte…

Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein erinnert sich an die Jahre, in denen auch seine Museumslaufbahn begonnen hat: Die Nachfrage sei dermaßen angeschwollen, dass die bekanntesten Maler Wartelisten abarbeiteten – oft unverschämt schnell und nachlässig. Zuweilen wurden aus lauter Bilderhunger sozusagen noch feuchte Leinwände erworben. War’s aus jetziger Sicht nur ein folgenloses Feuerwerk, oder hat einiges Bestand? Um es gleich zu sagen: Natürlich gibt es Bleibendes, man muss gewiss keine halbe Generation abschreiben.

Heute scheint das alles unendlich lang her zu sein. Die Museen lassen den Bildermassen jener Jahre kaum noch besondere Aufmerksamkeit angedeihen. Gerade deshalb will sich die Bielefelder Kunsthalle nun einiger Substanzen der 80er vergewissern. „The 80s Revisited“ stützt sich auf die Sammlung des Schweizer Galeristen Bruno Bischofberger. So umfangreich ist deren Fundus, dass er auf zwei Ausstellungen verteilt wird. Jetzt sind erst einmal die Europäer (ergänzt um den Graffiti-Anreger Keith Haring) an der Reihe. 2011 werden die New Yorker Leitfiguren (u. a. Andy Warhol, Julian Schnabel, Jean-Michel Basquiat) folgen. Selbst Warhol kehrte damals von der Factory-Produktion gelegentlich zur herkömmlichen Handarbeit zurück.

Man kann mit Fug von Bilderrausch oder gar Bilderwahn sprechen, wenn man in die 80er zurückblickt. Mit unbekümmertem Furor, zuweilen mit aggressiver Erregung gingen viele Künstler zu Werke. Punk und New Wave auf der Leinwand, wenn man so will. Bloß keine kopflastigen Konzepte mehr. Schrankenlose, oft grelle Subjektivität brach sich Bahn, notfalls roh hingefetzte Handarbeit triumphierte über alles Durchdachte und Geschliffene. Da konnte auch mancher Pfusch mit durchgehen. Hauptsache spontan. Freiheit erwies sich zuweilen als bloße Frechheit. Kein Wunder, dass all dies das Marktgefüge durcheinander brachte, die Szene aufwühlte und spaltete. Nicht wenige Galeristen lehnte die neuen Bilderwelten rundweg ab.

Vor allem Künstler aus Italien und Deutschland zählten zu Vorreitern. Beginnen wir im zweiten Stock der Kunsthalle: Hier bekommt Francesco Clemente einen imposanten Auftritt. Seine dauerhaften Selbstbefragungen und flimmernden Ich-Überblendungen fließen in subtile, innige und zartsinnige Darstellung ein. Er zählt keineswegs zu den bedenkenlosen Tempo-Malern, im Gegenteil: Hier hat sich ein Werk über viele Jahre hinweg konsequent entfaltet. Auch Enzo Cucchi erscheint in diesem Kontext als Schwergewicht. Er findet immens dichte Sinnbilder fürs große Ganze der Existenz, für schreiende Ängste und kommende Katastrophen.

Der Künstlerkreis ums Kölner Gemeinschaftsatelier „Mülheimer Freiheit“ verschrieb sich hingegen anfangs dem fröhlichen Dilettantismus. Doch die einzelnen Maler fanden dann doch ihre je eigenen Wege – und sei’s die des „anything goes“. Paradebeispiele hierfür ist Dokoupil, von dem u. a. Beispiele aus den Serien der Schnuller- und der Ruß-Bilder zu sehen sind. Immer wieder wendet er sich anderen Stilrichtungen zu, er meidet jede persönliche Handschrift, jegliches Markenzeichen. Fast täglich alles anders. Es ist, als deute dies schon voraus auf die schier unendlichen, anonymen Bilderberge im Internet. Schnoddrige Beliebigkeit oder „postmodern“ gewieftes Spiel mit medialen Horizonten?

Rainer Fetting und Salome vertreten die schrille Berliner Richtung. Fetting wird hier als Nachfahre der Expressionisten (Kirchners Badebilder) sichtbar, selbst die spontanste Wallung ist eben nicht voraussetzungslos, sondern fußt auf Tradition. Fetting und vor allem Salome setzen heftige Zeichen einer schwulen Kultur, die hier ein für allemal aus subkulturellen Verstecken ausbricht. Folgt man den Pfaden der Bielefelder Schau, so waren die 80er in der Kunst ohnehin eine weitgehend frauenferne Angelegenheit, was Themen und Protagonisten angeht.

Hinunter ins erste Geschoss der Kunsthalle. Hier finden sich weniger fulminante Statements, jedoch spezielle Positionen von Wegbereitern der beharrlich besessenen Art. Peter Halley wurde nicht müde, mit seinen spröden Gitterbildern die Abstraktion als Gefängnis der Künste zu schildern. Philip Taffee trieb abstrakte und ornamentale Formen derart auf die Spitze, dass sie wie Tapetenmuster erscheinen. Auch bei den vertrackt zitierenden Schöpfungen des Schweizers John Armleder drängt ein grundsätzliches Unbehagen an vorheriger Kunst zum Ausdruck.

Ein hochinteressanter Sonderfall ist die Kunst von David McDermott & Peter McGough, die all ihre Bilder mit (weitgehend von historischen Inhalten losgelösten) Jahreszahlen versehen und selbst ein Leben wie zu viktorianischer Zeit führen. Abschied von der linear fortlaufenden Geschichte, in der man nunmehr willkürlich überall „andocken“ kann.

Mag es aus zeitlichem Abstand auch einige ästhetische Gemeinsamkeiten geben, so zählt doch auch in den 80ern die Stringenz des konkreten Lebenswerks, ja ganz zuletzt kommt es auf das einzelne Bild an, das in den besten Fällen den bloßen „Zeitgeist“ weit übersteigt.

„The 80s Revisited“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 20. Juni 2010. Geöffnet Di-So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro. Katalog (umfasst auch die Exponate des 2011 folgenden zweiten Teils der Ausstellung): In der Kunsthalle 29,90 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro.




Philip Roth „Die Demütigung“ – Macht des Schicksals

Plötzlich ist der Schauspieler Simon Axler erloschen. Einfach aus und vorbei. Er kann nicht mehr spielen. Weder „Macbeth“ noch sonst etwas. In Film und Theater hat der bisher so begnadete Koloss das Publikum verzaubert. Jetzt macht er sich auf der Bühne nur noch lächerlich, verfällt in Depression, hegt Selbstmordgedanken, begibt sich mit letzter Anstrengung in eine Psychoklinik.

Die Insassen der Anstalt reden derart überbietend vom Freitod, als sei’s ein Sport. Und dort klammert sich zerbrechliche, zerbrochene Sybil an ihn. Sie hat ihren mächtig reichen Mann beim Inzest mit der 8-jährigen Tochter überrascht und ist seither vollkommen aus Zeit und Sinn gefallen. Flehentlich bittet sie Axler, ihren Mann für sie umzubringen. Das lehnt er ab, eher aus Kraftlosigkeit denn aus Überzeugung.

Nach der Entlassung aus der Klinik vergisst er Sybil beinahe. Fühllos ermattet lebt er fortan vor sich hin, bestenfalls dumpf ruhig gestellt. Niemand kann ihn umstimmen. Er legt es sich so zurecht: Erst ist das Talent gekommen, dann ist es eben über Nacht geschwunden. Launen des Schicksals. Widerstand zwecklos.

So verhängnisvoll geht es in „Die Demütigung“ (Originaltitel „The Humbling“) zu, dem neuen Roman von Philip Roth. Es handelt sich um den zweiten einer auf fünf Kurzromane angelegten Reihe, die mit „Empörung“ begonnen hat.

Explizit lässt Philip Roth diesmal die klassischen Tragödien des Theaters anklingen, „die ewigen Themen der dramatischen Literatur (…): Inzest, Verrat, Unrecht, Grausamkeit, Rache, Eifersucht, Rivalität, Verlangen, Verlust, Entehrung, Trauer.“ Das Arsenal dürfte fürs Erste reichen.

Partikel all dieser Themen rührt Roth in seinen kurzen Roman ein, sie drohen die begrenzte Form schier zu sprengen. Abgründig böse Kräfte scheinen hier am Werk zu sein und die Menschen ins Verderben zu ziehen. Gibt es denn keine heilsamen Gegenkräfte? Kann ein Mensch nicht sein Leben ändern, ihm eine andere Richtung geben, es „umbauen“? Oder muss er die Demütigung hinnehmen, vom Schicksal abhängig zu sein?

Wie in einem Laborversuch ordnet Roth Elemente einer möglichen Rettung an. Doch das alles erweist sich zusehends als bloßes Konstrukt, das irgendwann in sich zusammenstürzen muss.

Simon Axler lernt eine Frau kennen, die sich ihm aufdrängt. Nicht irgend eine. Er hat diese Pegeen schon als Baby in der Wiege gesehen, als er mit ihren Eltern frühe Schauspiel-Projekte betrieb. Sie ist „eigentlich“ lesbisch, hat mit einer Frau geradezu in Symbiose gelebt – bis die sich entschlossen hat, zum Mann zu werden. Eine radikale „Daseins-Korrektur“. Die bitter enttäuschte Pegeen will jetzt ihr Leben ebenfalls grundlegend umgestalten. Ihr Entschluss, nunmehr heterosexuell zu werden, erscheint willkürlich.

Jedenfalls zieht Pegeen (40) als Geliebte zu Axler (65) – und der blüht endlich auf, schenkt ihr haufenweise teure Kleider und Schuhe, modelt die vordem struppig-burschikose Anorakträgerin zum Luxusweibchen für Männerphantasien um. Sie lässt es sich offenbar gern gefallen.

Nur die lesbische Dekanin, an deren Uni Pegeen arbeitet, hört nicht mit eifersüchtigen Nachstellungen auf – und verrät Pegeens Eltern, mit wem ihre Tochter es treibt. Peinliche Einmischung seiner einstigen Freunde ist die Folge. Schlimmer noch: Für elterliche Bedenken scheint Pegeen empfänglich zu sein. Gift des Misstrauens sickert in die Beziehung. Zwischendurch hat sich ein anderes Verhängnis vollendet: Jene Sybil hat ihren Mann eigenhändig umgebracht.

In solcher Gemengelage ergibt sich reichlich Gelegenheit, kontroverse Positionen in Dialogen auszutragen. Philip Roth nutzt dies weidlich. Das Hin und Wider wirkt zuweilen wie einem Baukasten der Argumente entnommen. Fertigteile der Auseinandersetzung, Präparate wie für einen (freilich avancierten) Debattierclub. Was einem sonst bei Roth-Lektüren nur höchst selten widerfährt: Stellenweise kommt es einem vor, als dürfe man ganze Abschnitte auslassen, ohne Wesentliches zu versäumen.

Sexuelle Saftigkeit macht derlei Schwächen kaum wett. Axler und Pegeen beziehen Frauen in ihre wilden Spiele mit ein. Darauf folgt noch so ein willkürlicher Umschwung: Pegeen will ein Kind haben. Als auch der zunächst skeptische Axler sich in diesen Wunsch hineinsteigert, verlässt sie ihn. Einfach so. Grausam unerklärlich. Wozu wird Axlers restlicher Mut noch reichen?

Philip Roth: „Die Demütigung“. Roman. Hanser Verlag. 138 Seiten. 15,90 Euro.




Martin Walsers Tagebücher 1974-1978: Wachsende Verbitterung

Also schreibt Martin Walser: „Ich schlug Günter vor, in ein Pornokino am Ku’damm zu gehen. Günter wollte nicht. Ich habe Phantasie, ich geh doch in keinen Porno.“

Richtig geraten. Jener Günter ist Günter Grass. Nach einem langen Diskussionstag in der Berliner Akademie der Künste mochte er sich offenbar nicht „unter Niveau“ entspannen. Oder war es die unverhoffte Gelegenheit, dem Marktkonkurrenten Walser „Phantasielosigkeit“ zu unterstellen? Egal.

Die läppische Episode begab sich im Mai 1976 und ist in Martin Walsers Tagebüchern verzeichnet. Er hätte die Passage, in der Grass vermeintlich „besser wegkommt“ als er selbst, gewiss nicht in den neuen Band aufnehmen müssen. Doch er hat es getan. Auch sonst ging er in den jetzt erschienenen Tagebüchern der Jahre 1974-1978 nicht gerade schonend mit sich um. Seine Wahrheit muss heraus. Mit anderen Worten: Dies ist ein notwendiges Buch.

Man kann hier noch einmal tief in den Kultur- und Literaturbetrieb der 70er Jahre eintauchen, als Autoren wie Grass und Walser, Max Frisch, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger die hiesigen Debatten prägten. Als dominanter Präzeptor des Betriebs, ja als geradezu mythische Gestalt – jedoch mit manchen menschlichen Schwächen – erscheint der offenbar allzeit virile Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der sich außerehelich gern mit ausgesprochen jungen Gespielinnen schmückte wie nur je ein „Pate“. Auf ähnlichen Anhöhen thronte Max Frisch, den Walser als eitlen Altvorderen schildert. Und Enzensberger? War demzufolge ein Hallodri. Das durfte man erwarten.

Doch hier geht es weder um Tratsch noch um bloßes name dropping. Das hat Walser wahrlich nicht nötig. Er hat die meisten Kulturschaffenden (und Politiker), die er erwähnt, sehr gut gekannt und weiß Treffliches über sie mitzuteilen. Dabei werden Strukturen und Mechanismen des Betriebs bloßgelegt. So erfährt man einiges über Mauscheleien im Vorfeld wichtiger Literaturpreise, über bezeichnende Interna des Leitfossils Suhrkamp-Verlag oder über die teilweise gehässige Konkurrenz zwischen Schriftstellern.

Auch Walser ist natürlich nicht gänzlich frei von Anwandlungen der Missgunst. Mehrfach lässt er Futterneid just auf Grass durchblicken, der für Lesungen deutlich höhere Honorare kassierte und zudem höhere Prozentanteile an Buchverkäufen einstrich. Im Zuge der damaligen Tendenzwende (Zurückdrängung linker Positionen während des deutschen RAF-Terrorherbstes) fallen auch bissige Bemerkungen etwa über Peter Handke, der sich auf „wahre Empfindung“ kapriziert, während Walser seinerzeit immer noch im Umfeld der DKP (deren Mitglied er nie war) angesiedelt wird. Dabei ist auch er längst in andere Richtungen unterwegs.

Allerdings plagt sich Walser mit einer typischen 70er Jahre-Befürchtung, nämlich der, dass er als Hauseigentümer zu den verhassten Besitzenden gezählt werden könne.

Andererseits treiben den doch einigermaßen arrivierten Autor ständige, kleinmütig (und kleinbürgerlich) anmutende Geldsorgen um. Zitat: „Böll und Grass haben ihre enormen Geldreserven. Ich habe nichts.“ Jeder selbst bezahlte Hotelaufenthalt und erst recht ein Autokauf bereiten ihm Kopfzerbrechen. Will sich etwa jemand darüber mokieren? Wer steht schon für alle Zeit auf sicherem Grund?

Den bleiernen Schwerpunkt des Bandes bildet denn auch ein existenzgefährdender Vorgang, bei dem Walser übel mitgespielt worden ist, und zwar vom damaligen FAZ-Literaturchef Marcel Reich-Ranicki. Der hat am 27. März 1976 Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ total verrissen, ja geradewegs verbal zerfetzt und dabei die literarische Eignung Walsers grundsätzlich in Zweifel gezogen.

Walser protokolliert in jenen Tagen, Wochen und Monaten seine nachhaltige Verbitterung. In der Rezension Reich-Ranickis glaubt er einen veritablen Vernichtungswillen zu spüren. Der Kritiker wolle ihn, Walser, „heraus haben“ aus der Literatur. Daran arbeitet sich Walser mühsam ab – zwischen Selbstzweifeln, Selbstzerfleischung und Selbstbehauptung, zwischen Rachedurst, Verfolgungswahn und aufblitzenden Selbstmordgedanken. Seine nächste Begegnung mit Reich-Ranicki stellt er sich im Tagebuch so vor: „Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde.“

Martin Walser erhielt damals etliche Solidaritätsbekundungen, so auch vom Freund Jürgen Habermas. Doch so gut wie niemand von medialem Belang wagte es, Reich-Ranicki öffentlich zu widersprechen. Besonders enttäuscht ist Walser über sozusagen schulterklopfende Großkritiker wie Joachim Kaiser („Süddeutsche Zeitung“) und Rolf Michaelis („Die Zeit“), die ihre Ablehnung in fadenscheinige Komplimente kleiden.

Walser kommt immer wieder auf seine notorischen Bauchschmerzen zu sprechen. Psychosomatische Symptome? Wer weiß. Jedenfalls vernimmt man einen Grundton des Verzagens, wechselnd mit trotzigen Wallungen und nur gelegentlichem Übermut, der auf verschüttete Lebenslust schließen lässt. Erst ein mehrmonatiger Arbeitsaufenthalt in West Virginia/USA bringt Linderung durch Distanz.

Das Ganze ist kein geringes Lehrbeispiel für Rezensenten aller Kunstgattungen, denn hieran lässt sich ermessen, was eine rücksichtslose Kritik mit einem Autor machen kann. Sie kann ihm schlimmstenfalls an die Lebensgeister gehen. Diese Feststellung ist beileibe kein Plädoyer für lediglich ergriffen nachzeichnende „Kunstbetrachtung“, wohl aber eine Mahnung zum Anstand. Auch entschiedenste Kritik sollte ihre Grenzen kennen.

Das rastlose Leben auf Lesetourneen (deprimierende Hotels, Provokateure im Publikum usw.) hält nur selten Trost bereit. Walsers auffällige Marotte: Wie ein akribischer Kursbuchhalter nennt er all die An- und Abfahrtzeiten der Züge, die er benutzt. Seine nervösen Zettel-Kritzeleien, deren Faksimiles den ganzen Band durchziehen, zeugen in kryptischer Form von seelischen Aufregungen (mit einem damals entstehenden Walser-Romantitel gesagt: von „Seelenarbeit“), sie geben dem Leser zudem das Gefühl einer großen Nähe zum Entstehungsmoment der Notizen. Ein sinnreicher Kunstgriff dieser Edition, die im Anhang aufschlussreiche Erläuterungen zum zeitgeschichtlichen Kontext enthält. Der vielleicht einzige Schwachpunkt des Primärtextes sind pseudo-lyrische Einsprengsel. Walser war und ist kein Lyriker. Er hat gut daran getan, sich anders zu orientieren.

Zauber der Nähe in vertrauter Region, heilsame Verwurzelung: Penibel hält der in literarischer Fron weltweit gereiste Walser fest, bis zu welchem Punkt er jeweils im heimischen Bodensee hinausgeschwommen ist. Und was der zuweilen arg besorgte Vater von vier Töchtern übers Familiäre äußert, ist auch nachträglich interessant. Franziska, Johanna, Alissa und Theresia Walser haben schließlich ihre je eigenständigen Wege als Autorinnen und beim Schauspiel (Franziska) beschritten. Es gibt bewegende Stellen in diesem Buch, die besagen, dass das Wachsen und Werden der Kinder Walser mindestens ebenso wichtig ist wie die eigenen Werke. Beispielsweise diese Aufzeichnung vom 31.8.1975:

„Die einzige Freude, die ich hatte, sind die Kinder. Wenn es zweien von diesen vieren gut ginge, könnte ich im Anschauen dieses Gutgehens meine restliche Zeit verbringen…“

Martin Walser: „Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978“. Rowohlt Verlag. 591 Seiten, 24,95 Euro.




Wohltuend wortkarg

Nur selten ist Pathos mit allerlei verbalen Girlanden und Tremolo angebracht. Häufiger Gebrauch bedeutet allemal Entwertung, wenn nicht gar hohl tönendes Geschwätz.

Wenn etwas in wenigen, knapp gesetzten Worten aufblitzt, so ist das meist wirksamer. Dies macht auch den Reiz gelungener Werbeslogans aus.

Ein schönes Beispiel für lakonischen Witz ist die Äußerung des legendären Langstreckenläufers Emil Zatopek, der sein Metier so trennscharf umrissen hat:

„Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.“

Mehr muss man nicht sagen.

Noch ein Ausspruch dieser erhellend knappen Sorte, der aus einem Interview mit Marlene Dietrich stammt. Ihre drei Worte taugen als Lebensmotto:

„Hingehen, machen, weggehen.“

Mehr muss man nicht sagen. Mehr muss man nicht tun.