Ein Mann zerstört sich selbst

Der erste Satz des Romans lautet so: „Im Spätsommer 1960 begann für Janice Wilder alles schiefzugehen.“ Das ist noch weit untertrieben.

Hier nimmt von Anfang an ein Verhängnis seinen Lauf, offenbar unaufhaltsam. John Wilder (36), Ehemann jener Janice, leidet an verschärftem Normalitäts-Koller, an Alltags-Überdruss. Der bislang recht erfolgreiche Anzeigenverkäufer (in Diensten des Edelblatts „Scientific American“) besäuft sich mal wieder und randaliert unflätig gegen Freund und Feind. Nicht ganz ohne eigene Vorahnung. Er hat „es“ kommen sehen und Frau und Sohn am Telefon gewarnt: Er werde von seiner Dienstreise lieber nicht heimkehren, sonst wäre er wohl imstande zu familiärem Mord und Totschlag. Fortan zerstört er sich selbst.

Fatal: Wegen eines Feiertags kommt Wilder nach dem Nervenzusammenbruch nicht in eine übliche Klinik, sondern gleich in die Psychiatrie. Nur dort ist man aufnahmebereit für akute Fälle. Was sich in der geschlossenen Abteilung für gewalttätige Männer abspielt, schildert der US-Schriftsteller Richard Yates (1926-1992) in seinem Roman „Ruhestörung“ als alptraumhaftes Kopfkino. Tatsächlich geht es im weiteren Verlauf der Handlung auch um eine mögliche Verfilmung dieser desolaten Zustände. Ein paar Junggenies, Studienfreunde seiner Freundin Pamela, planen das Filmdrama zu Wilders Auslöschung, er selbst wirkt beratend mit. Doch das Werk wird nie fertiggestellt. Erbärmlich und lachhaft zugleich, wie Wilders Erlebnisse derweil die Klischees des Kinos geradezu übererfüllen. Sein Leben ist auch nur so eine schmutzige, scheußliche Fiktion.

Die Ebenen des Erlebens und Erzählens werden dicht verwoben, bis zur Ununterscheidbarkeit. Man scheut sich freilich, dies „kunstvoll“ zu nennen, denn Yates hat an keiner Stelle artifiziell geschrieben. „Ruhestörung“ zählt zu den großen, erratischen Alkoholiker-Romanen. Größenwahn und höllischer Absturz liegen stets nah beieinander.

Das bereits 1975 im Original („Disturbing the Peace“) erschienene Buch, das zwischen 1960 und 1970 spielt, seziert alle Illusionen. Wie Yates die zunehmend wankende Wirklichkeit und den wachsenden Wahn ineinander schachtelt, das ist durchaus beklemmend. Umso erstaunlicher, dass dieser Autor bei uns immer noch zu „entdecken“ ist.

John Wilder wird aus der Psychiatrie entlassen. Doch hat er eine Chance? Eigentlich nicht. Er unternimmt Anläufe, um sein Leben neu auszurichten, doch sammelt er auf Dauer nur das Scheitern an. Kein Tag ohne Whiskey. Heillos schlingert er zwischen diversen Psychiatern und wechselnden Geliebten durchs Dasein. Allerlei Hoffnungen werden durchgespielt, sie verblassen jedoch zusehends. Samt und sonders.

Treffen der Anonymen Alkoholiker geben ihm keinen Halt. Ärzte und Psychologen sind hilflos, reden hohles Zeug oder verabreichen kurzerhand Psychopharmaka, damit Ruhe ist. Liebe erstickt in Eifersucht. Erklärungsversuche zwecklos. Filmkunst, auf die sich Wilder als Produzent stürzen will, führt zu nichts. Ortswechsel (von New York nach Vermont und Kalifornien, an den schäbigen Rand Hollywoods) bleiben gleichfalls fruchtlos. Hinzu kommt der zeitgeschichtliche Hintergrund: Auch die Verheißungen der Kennedy-Ära werden in jenen Jahren zunichte. Ja, Wilder versteigt sich in die Vorstellung, er selbst habe auf John F. Kennedy geschossen.

Was bleibt? Gefrorener Stillstand wie für alle restliche Zeit. Von wegen „amerikanischer Traum“.

Welch ein Dämonium, welch eine Depression! Man sollte einigermaßen gefasst und gefestigt sein, um dieses Buch zu lesen. Zumal der Befund sich ins Allgemeine weitet und gleichsam uns alle zu Insassen macht. Ansicht eines beliebigen Büros im Vergleich zur Psychiatrie: „Die Wände waren weiß und die Beleuchtung war indirekt; es befanden sich sowohl Männer als auch Frauen hier; alle trugen anständige Kleidung und niemand bat darum, gerettet zu werden, oder schrie oder masturbierte oder trat gegen ein Fenster. Nichtsdestoweniger waren in jedem Gesicht im Verlauf des Tages zunehmend Zeichen der Verzweiflung zu erkennen…“

Richard Yates: „Ruhestörung“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube. Deutsche Verlags-Anstalt, München. 315 Seiten. 19,95 Euro.




Rauschen der Ferne

Man muss schon ein paar Jährchen verbracht haben, um es noch zu kennen – das Rauschen der weiten Entfernungen, die man mit einem herkömmlichen Weltempfänger-Radio mehr schlecht als recht überbrückte. Wie man gefiebert hat, ob heute wohl Korea oder Mexiko „hereinzukriegen“ wären…

Fürs heutige Empfinden hat das alles erbärmlich geklungen. Selbst mit den besten Empfangsgeräten war vieles Glückssache. Wie stolz war man, wenn man zwischen dem Grundrauschen und ebenso kurzwellentypischen Kratz- oder Fieptönen ein paar schüttere Sätze aus Südamerika zu hören bekam. Enthusiasten ließen sich dann eigens Bestätigungskarten als Trophäen von Stationen aus aller Welt schicken. Man befasste sich ernsthaft mit Phänomenen wie Sonnenflecken, die großen Einfluss auf die Qualität des Fernempfangs haben. Fachzeitschriften ohne jegliche Hochglanz-Attitüde verkündeten tabellarisch die allfälligen Frequenzwechsel, sofern bis Redaktionsschluss bekannt.

In den eisesstarren Zeiten der Ost-West-Propagandaschlachten war Radio Moskau eine vielsprachige Dominante und Radio Tirana blies vollends abstruse Ideologie-Partikel in den Äther. Sie überdeckten und störten oft ungleich interessantere Angebote.

Längst hat das Internet die Kurzwelle in weiten Teilen der Welt überflüssig gemacht. Zigtausend Sender von überall sind online glasklar zu empfangen. „Unübersichtlich“ ist gar kein Ausdruck für diese Vielfalt. Und die großen Kurzwellenstationen stellen seit Jahren reihenweise Programme ein.

Wo ist das verheißungsvolle Rauschen geblieben, das einst auch die Sehnsucht nach Ferne enthalten hat?

Gepriesen sei die Unvollkommenheit. Vielleicht gibt es ja irgendwo schon Internet-Radios, bei denen man solche Störgeräusche künstlich hinzufügen kann, so wie man digitale Fotos auf Schwarzweiß trimmt oder mit Sepiatönen versieht – damit’s noch einmal so schön heimelig wird.

P. S.: Ob im besagten Rauschen auch etwas mitschwingt, was beseelt Hörende an der analogen LP festhalten lässt?




Mythos Minox: Nicht nur für Spione

Wer weiß noch, was eine Minox ist? Selbst in manchen Fotofachgeschäften kann man nicht mehr sicher sein, dass dort einschlägige Kenntnisse über den einstigen Mythos der Kleinstbildfotografie (Negativformat 8 x 11 Millimeter) vorhanden sind. Ein Jammer.

Etwas ältere Leute, sofern nicht allseits desinteressiert, erinnern sich wahrscheinlich: Das waren doch diese Mini-Kameras, mit denen damals so viele Spione ihre illegalen Aufnahmen gemacht haben. Das ist zwar zu kurz gegriffen, aber sicherlich richtig. Die Liste prominenter Minoxianer früherer Tage ist jedenfalls lang, sie reicht von Queen Elizabeth bis Heinz Erhardt und Götz George.

Ausführlich erfährt man die Einzelheiten jetzt (etwas abseits von den üblichen Kulturpfaden) im Stadtmuseum zu Iserlohn. Dort breitet der Hagener Sammler Reinhard Lörtz noch bis zum 19. April seine Minox-Kollektion aus. Er weiß so gut wie alles über das Phänomen. Wenn sich Privatleute derart leidenschaftlich in ein Hobby versenken, so häuft sich eben manches Spezialwissen an.

Erfinder der fotografischen Winzlinge war in den 1930er Jahren der hochbegabte Tüftler und Autodidakt Walter Zapp (1905-2003), der anfangs in seiner Geburtsstadt Riga (Baltikum) wirkte. 1936 lag die noch nicht zum Verkauf bestimmte Ur-Minox vor. Zapp, so geht die Legende, war höchst betrübt, als er erfuhr, wer 1938 der erste Erwerber eines marktreifen Modells war: ein osteuropäischer Diplomat. Da fing’s also offenbar schon an mit den Heimlichkeiten.

Alles andere wäre aber auch verwunderlich gewesen. Denn eine Kamera, die flugs in jeder Jackentasche verschwinden konnte, rief geradezu nach hinterlistigen Anwendungen. So gab’s denn auch bald passendes Spionage-„Zubehör“ wie etwa Rasierpinsel, in deren Holzgriff der Fotoapparat über Staatsgrenzen geschmuggelt werden konnte.

Nach 1945 wurden die Kameras in Wetzlar bzw. zwischenzeitlich in Heuchelheim (Kreis Gießen) gefertigt. Im „Kalten Krieg“ kam die ganz große Zeit der Minox. Auch der DDR-Topspion Günter Guillaume, der sich das Vertrauen des Bundeskanzlers Willy Brandt erschlichen hatte, soll auf dieses offenbar zuverlässige Arbeitsgerät zurückgegriffen haben. Eine Folge war bekanntlich der Kanzlersturz im Mai 1974.

Kurios: Erst sehr spät ließ sich die Firma Minox die längst berühmte Markenbenennung schützen, als nämlich in den USA Salben und Seifen gleichen Namens angeboten wurden. Verwechslungsgefahr war da eigentlich nicht gegeben.

In der reichlich bestückten Iserlohner Vitrinenschau sieht man die praktisch lückenlos dokumentierte Entwicklung der verschiedenen Baureihen. Die Vielfalt der Geräte, die sich hinter Kürzeln wie Minox A, B (ab 1958), C (ab 1969), BL, LX verbergen, ergibt weit verzweigte Stammbäume. So unübersichtlich ist diese „Familie“, dass nur der Eingeweihte diverse Fälschungen als Markenpiraterie erkennt. Auch solche Täuschungs-Exemplare finden sich in der Ausstellung, überdies etliche Sonder-Editionen wie etwa jene Minox-Modelle, die für besonders betuchte Kundschaft mit einer 24 Karat-Goldschicht veredelt wurden.

Original-Schaukästen und andere Reklamemittel, die im Lauf der Jahrzehnte eigens für die Kultmarke eingesetzt wurden, zeugen vom wandelbaren Zeitgeist. Ein Stoffteddy mit Minox-Mütze ist das Relikt einer gemeinsamen Werbeaktion mit der nicht minder legendären Firma Steiff. Einschlägige Literatur und Zubehör (Filme, Stative, Taschen etc.) runden den musealen Minox-Kosmos ab.

Wie es bei solchen Ausstellungen mit Nostalgiefaktor häufig zu gehen pflegt: Der Ablauf der Zeiten erscheint (gewollt oder ungewollt) als allmähliche Entfernung von den einzig wahren, authentischen Ursprüngen, mithin als gewisse Dekadenz.

Reinhard Lörtz hat sich zunächst vor allem auf Trödel- und Sammlermärkten umgetan, später auch bei Internet-Auktionen. „Bis vor einiger Zeit konnte man dort noch fündig werden, heute ist der Markt weitgehend leergekauft.“

Natürlich haben sich Minox-Sammler in einem Club organisiert, der weltweit rund 400 (überwiegend ältere) Mitglieder hat. Eins steht für den Bahnangestellten Lörtz’ fest: „Wenn ich in ein paar Jahren pensioniert bin, habe ich endlich Zeit, ein Minox-Museum einzurichten – irgendwo in Westfalen.“

„Die Minox“. Noch bis zum 19. April im Stadtmuseum Iserlohn, Fritz-Kühn-Platz 1. Geöffnet Di, Mi, und Fr. bis So. 10-17, Do 10-19 Uhr (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag geschlossen). Eintritt frei. Tel.: 02371/217-1963.