Ernst Barlach: Ruhige und unruhige Form

Bei jüngeren Kunstbetrachtern dürfte Ernst Barlach (1870-1938) als ausgesprochen vorgestrig und „uncool“ gelten. All diese hageren, ärmlichen, gebeugten Gestalten. Dazu asketische Apostel und Künder. Dieses pathetische, inständige Ringen ums Ganze der Existenz. Skulpturen mit Titeln wie „Geistkämpfer“. Das geht doch wohl nicht mehr…

Was aber, wenn uns jetzt – nach allen Ironien und sonstigen Kapriolen – ein neues Pathos oder wenigstens eine neue Gradheit anstünden? Und wenn wir nun Ausschau halten sollten nach historisch beglaubigten Arten, Not und Armut darzustellen? Dann kämen wir vielleicht um Barlach oder Kollwitz immer noch nicht herum.

Im Cappenberger Schloss kann man sich jetzt einen reichhaltigen Überblick zum bildnerischen Werk von Barlach verschaffen – anhand von rund 60 Skulpturen sowie 250 Druckgraphik-Blättern und Zeichnungen. Der in Wedel/Holstein geborene Künstler ist auch ein bedeutender, wenngleich recht selten gespielter Dramatiker gewesen. Die in Vitrinen dokumentierte Aufführungsgeschichte einzelner Stücke („Der tote Tag“, „Der blaue Boll“ u. a.) ergibt jeweils nur kurze Listen. Doch dies ist nur ein Nebenstrang der Schau.

Die noch von keinem eigenen Duktus geprägten bildnerischen Anfänge liegen im dekorativen, ornamentalen Jugendstil. Gediegen sieht das aus, durchaus gekonnt, aber ausdrucksschwach.

Erst beim Aufenthalt in Russland (heutige Ukraine) findet Barlach 1906 zu seinem eigentlichen Themenkreis. Fiebrig rasch hingeworfene Skizzen werden zu Musterblättern der späteren bildhauerischen Arbeiten. Armut und Drangsal erscheinen hier als Grundbefindlichkeiten des Menschen. Wer zählt all die Frierenden, die Bettler mit und ohne Krücken oder im Elend ruchlos Gewordene wie jene „Kupplerin“, die aus blanker Not ihre blutjunge Tochter feilbietet?

So sehr hat Barlach zum Wesentlichen und zeitlos Gültigen vordringen wollen, dass ihm viele Typisierungen gelungen (gelegentlich auch: unterlaufen) sind, aus heutiger Sicht zuweilen ziemlich nah am Klischee. Doch nur das kann zum Klischee gerinnen, was in irgend einer Weise zum Kern vorgedrungen ist. Auch kann man hier die pure Aussagekraft des Materials studieren. Was in Bronze ernsthaft wirkt, sieht in weißem Porzellan nach gefälliger Armuts-Folklore aus.
Derart „klassisch“ stillgestellt geraten einige Figurationen („Die lesenden Mönche III“, 1932), dass sie geglättet und blutleer erscheinen. Barlachs hehres Ziel, die Form zur Ruhe zu bringen, glich mitunter einer Gratwanderung. Doch war er auch zu mancherlei kaum gebändigter Unruhe, Drastik, Derbheit und Wildheit imstande. Da äußert sich manche Wahrheit, die eben keine Beruhigung verträgt.

Zwar gibt es in Barlachs Oeuvre auch irrlichternd spukhafte Erscheinungen (etwa in den Goethe-Illustrationen), allerdings nirgends verwaschene Zweideutigkeiten. Nicht einmal in der Gespensterwelt. Auch dort ist es, wie es ist.
Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg (dessen Ausbruch er anfangs, wie so viele, noch als reinigendes Stahlgewitter begrüßt hatte) war Barlach jeder Belanglosigkeit abhold. Kunst hatte stets dringlich und eindringlich zu sein. Barlachs Entwurf zu einem Ehrenmal für die Kriegsgefallenen zeugte von gebrochenem „Heldentum“, auch von namenlosem Leid. Vor dem damaligen Zeithorizont war dies bereits ein unerhörter Affront. Politische Reaktionäre empörten sich hysterisch. Dass Barlach in der NS-Zeit zu den als „entartet“ verfemten Künstlern gehörte, hat hier seine Ursprünge.

Der späte Barlach hatte zusehends etwas Gottsucherisches, mürrisch Weltabgewandtes, doch solche Widerständigkeit war eben kaum korrumpierbar, sie behauptete ihre kantige Einsprüche gegen die katastrophale Gegenwart.

Man schaue sich Blätter wie „Stürzende Frau“ (1911/12) an, ein bezwingendes Szenenbild zu Barlachs eigenem Theatertext „Der tote Tag“. Das springt einen immer noch ganz gegenwärtig an – auf eine Weise, wie nur große Kunst es vermag.

Ernst Barlach. Schloss Cappenberg (in Selm bei Lünen). Noch bis zum 27. Juni. Di-So 10 bis 17.30 Uhr, Eintritt frei.

Bild: Ernst Barlach „Der Buchleser“ (Katalog/Lizenzverwaltung Ratzeburg)




„Tatort“: Auf dem Seziertisch

Abgesehen von den eigentlichen Kriminalfällen, sind die „Tatort“-Folgen der ARD wenigstens in einem Punkt drastischer geworden: Immer deutlicher hat man uns in den letzten Jahren übel zugerichtete Leichen en detail gezeigt, wie man es vordem nicht gewagt hätte.

Ältere Folgen der Reihe fallen nicht nur durch betuliche (oder behutsame) Dialoge und langsame (oder sorgsame) Schnitte auf, sondern auch durch eine gewisse Diskretion. Wenn es gar zu brutal wurde, hat „die Kamera“ meist gnädig weggeschaut. Die Zuschauer haben trotzdem gewusst, worum es ging.

Anders heute. Bekanntlich beginnt ein „Tatort“ meist gleich mit dem (ersten) Mord. Sehr zeitig und zügig kommen somit die professionellen Leichenfledderer vom Pathologischen Institut ins Spiel. Hie und da sind sogar tragende Rollen daraus geworden. Man denke vor allem an Jan Josef Liefers als Gerichtsmediziner Boerne im Münsteraner „Tatort“ (siehe Info am Schluss), aber auch an Joe Bausch beim Kölner Pendant. Etwas Unheimliches, vermischt mit Groteske, umwölkt diese Sezierenden. Auch daran sollen wir uns weiden.

Da wird denn gern und ausführlich an nackten, allenfalls notdürftig mit Tuch verhüllten Toten (mit bestens sichtbaren Wundmalen und Gewaltspuren) herumgedoktert. Lakonische, neckische oder zynische Dialoge über jederlei Quetschungen und Risse sind inbegriffen. Ein arg strapaziertes Erzählmuster führt etwa junge Polizeikräfte (oder Angehörige des Opfers) auf die Szenerie, die sich an „so etwas“ noch nicht gewöhnt haben und sich daher übergeben oder wenigstens mit vor Entsetzen geweiteten Augen vor uns Wissenden stehen. Offenbar haben diese Frischlinge noch nie einen halbwegs hart gekochten TV-Krimi angeschaut.

Ohne näheres Ansehen einzelner Schauplätze und Personen ist die generelle Richtung beim „Tatort“ klar. Im Gefolge etlicher Kinodramen, skandinavischer oder US-amerikanischer Serien glaubt man, unsere ach so flüchtige Aufmerksamkeit mit „starken“, heftigen Bildern einfangen zu müssen. Gewiss gibt es auch nachdenkliche, melancholische „Tatort“-Varianten, doch auch sie bedienen manchmal die gängige Schaulust. Kaum einer durchbricht diesen vermeintlichen Zwang.

Apropos nackte Mordopfer auf dem Seziertisch. Gibt es wohl eine „Tatort“-Statistik, die anführt, ob und wie die Zahl ansehnlicher weiblicher Opfer zugenommen hat? Und wie sieht’s mit den Steigerungsraten bei Drehbuch-Sätzen über Spermaspuren in toten Körpern aus? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Dienststelle entgegen.