Schlingensief: Erst kommt das Chaos des Lebens

Der Regisseur Christoph Schlingensief ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Im November 2006 hatte er einen nunmehr doppelt denkwürdigen Auftritt im Dortmunder Konzerthaus. Dieser zwangsläufig noch nicht pietätvolle Artikel des jetzt trauernden B. B. stand am 15.11.2006 in der Westfälischen Rundschau und lässt vielleicht ein wenig ahnen, wie vital und springlebendig Schlingensiefs irrlichternder Geist gewesen ist. So viele überschießende Ideen wie er haben jedenfalls nur wenige Menschen. Längst nicht alle hat er ins Werk setzen können.

Dortmund. Konzerthauschef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000“) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene. Wegen des enormen Andrangs ist der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden.

Schlingensief (46) ist gebürtiger Oberhausener – wie Hape Kerkeling. Noch so ein witziger „Entlarver“. Kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert wie im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehtr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus.

Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Film)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft spannende.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief etliches erlebt und gelesen. Ganz gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Übrigens: Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal.

Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.

(Bild: Schlingensief bei der Verleihung des Nestroy-Preises, 2009 – Copyright Manfred Werner/Tsui – Wikipedia Creative Common Lizenz)




Ottmar Hörl: Haufenweise Kunst-Stoff

Es juckt mich schon lange, einmal über den Künstler Ottmar Hörl zu schreiben. Nur gleich frisch heraus mit meiner Meinung: Seine auffälligen Aktionen langweilen durch penetrante Wiederholungsträchtigkeit. Auch halte ich sie weder für gedankenreich noch für gedankenstiftend.

Jetzt ist der Hansdampf wieder zugange, diesmal auf dem Marktplatz zu Wittenberg, wo er gleich 800 Plastik-Figuren des einstmals ortsansässigen Martin Luther aufstellen lässt. Wenig einfallsreicher Titel der Aktion: „Martin Luther – Hier stehe ich.“ Er kann eben nicht anders. Bis zum 12. September sollen die grünen, roten, blauen und schwarzen Reformatoren in Wittenberg zu sehen sein, anschließend werden sie für 250 Euro pro Stück verkauft (signiert je 500 Euro, ab 2011 dann 700 Euro).

Der Süddeutschen Zeitung (SZ) ist dieses einfältige Brimborium heute sogar ein Aufmacherbild auf der Titelseite wert. Nun ja, `s’ist Sauregurkenzeit. Und ein Fotomotiv geben Hörls Installationen allemal her. Noch stark untertrieben ist die SZ-Bildzeile: „Hörl besitzt viel Erfahrung mit serieller Kunst.“

Das kann man wohl sagen. Im Grunde geht er seit Jahren mit einer einzigen Hauptidee hausieren. Grundmuster: Man nehme eine Stadt, dazu in rascher Assoziation eine passende Klischeefigur, reproduziere diese vielhundertfach in Kunststoff, stelle die multiplen Objekte just am Ort der Legende auf, warte möglichst einen plakativen Anlass (Großveranstaltung, Jubiläum) ab und gebe dem vermeintlichen Genius loci kräftig Zucker. Bloß nicht zu subtil werden. Fertig ist die Chose. So geht es immer, immer wieder.

Wir blicken zurück und nennen nur die spektakulärsten Beispiele:

2000 Berlin: Unter den Linden versammelt Hörl 10 000 – na, was wohl? Richtig: Bären (schmerzlicher Titelgag: „Berlin-Baerlin“).

2003 Nürnberg: Hörl postiert 7000 figürlich nachempfundene Dürer-Hasen auf dem Hauptmarkt.

2004 Athen: Zu den Olympischen Spielen bringt Hörl 10 200 Eulen in die griechische Hauptstadt. Abgründig vordergründiger Hintergedanke: „Eulen nach Athen tragen“.

2005 Bayreuth: Hörl lässt 800 Neufundländer aufstellen, denn dies war die Lieblings-Hunderasse des Festspiel-Präzeptors Richard Wagner. Aha.

2005 Rottweil: 500 Rottweiler.

2007 Wiesbaden: 3000 „hessische Löwen“ vor der Staatskanzlei.

2009 Krakau: 1500 Hermeline. Warum? Na, weil in der polnischen Stadt doch Leonardo da Vincis Gemälde „Dame mit dem Hermelin“ hängt…

2009 Straubing: 1200 Gartenzwerge, die jeweils die rechte Hand zum Hitlergruß heben. Fürwahr eine preiswerte, um nicht zu sagen billige Provokation. Der flexible Hörl hat aber auch einen „Sponti-Zwerg“ im Angebot, welcher den Stinkefinger zeigt.

2010 Mülheim: Auch in der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet lässt sich Hörl seriell nicht lumpen. Vor dem Aquarius Wassermuseum tummeln sich 300 Seelöwen.

Genug! Wahrlich genug!

Der veritable Professor Ottmar Hörl, der gar als Präsident der Nürnberger Kunstakademie firmiert, bietet in seinem Online-Shop noch etliche weitere Aktionsfiguren feil: Mops, Pinguin, Erdmännchen, Ratte, Rabe, Steckenpferd oder gestiefelter Kater gefällig? Kein Problem, alle Tierchen sind vorhanden.

Viel Kunststoff also. Und die Kunst?




Entwurzelter Riese

Einen Elefanten von Lissabon nach Wien bringen? Mit etlichen Mühen und ausgeklügelter Logistik kann es gelingen. Wie aber hat man das im 16. Jahrhundert angestellt, als noch kaum ein Europäer je einen Elefanten zu Gesicht bekommen hatte?

Anno 1551 vollzieht sich ein solcher Haupt- und Staatsakt mit Hintergedanken: Der König von Portugal (Johann III.) schenkt dem Herrscher von Spanien just den Dickhäuter Salomon (später Soliman genannt). Insgeheim will der König mit dieser Zeremonie einen lästig gewordenen, zudem höchst gefräßigen Kostgänger loswerden und ihn dem weitläufigen Verwandten Maximilian (seinerzeit Statthalter in Spanien für Kaiser Karl V.) aufhalsen – mitsamt dem Elefantenführer, dem indischen Mahut namens Subhro. Der ist der einzige, der mit dem exotischen Tier artgerecht umgehen kann. Diese Fähigkeit nutzt er, seiner subalternen Stellung zum Trotz, listig aus.

Auf historischen Vorgaben fußt „Die Reise des Elefanten“, der letzte Roman des im Juni verstorbenen portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago. Doch das geschichtliche Gerüst wird weit überwölbt von literarischer Kunst.

Ein wenig irritierend zunächst, dass Saramago ganze Dialogfolgen nur durch Kommata trennt und somit in langen Satzketten aufzieht. Doch man gewöhnt sich rasch daran. Das Stilmittel fügt sich sogar bestens zu den höfisch ziselierten Umständlichkeiten, die sich hier immer wieder zur Farce verdichten. Groteske Zeremonien und lachhafte Hierarchien machen jedes Unterfangen doppelt schwierig; erst recht eine Herkules-Aufgabe wie den Elefantentransport durch den halben Kontinent. Eigentlich ist das ganze Unterfangen ein Irrwitz, um des schönen Scheins willen verfügt vom Monarchen und zähneknirschend auszuführen von niederen Chargen.

Machtpolitisches Misstrauen und religiöse Konflikte im Spannungsfeld von Reformation, beginnender Gegenreformation (und Inquisition) wirken erschwerend mit hinein. Ach, Europa! Als der Elefant vor der Basilika von Padua niederkniet (dank einer vom Klerus dringlich erwünschten Dressur durch den Mahut), deuten die Katholiken dies nur zu bereitwillig als „Wunder“. Bei den Habsburgern, die bereits dem Protestantismus zuneigen, ist dies hingegen nicht opportun. Auf solch spiegelglattem Gelände hat sich schon die bloße Übergabe des Elefanten im portugiesisch-spanischen Grenzgebiet recht heikel gestaltet. Doch das alles ist noch nichts gegen die lebensgefährliche Überquerung der Alpen im eisigen Winter. Sagt da jemand „Hannibal“? Ja, auch der wird mal kurz als Bezugsgröße erwähnt.

Immer wieder wird das damalige „Hier und Jetzt“ auch aus der Perspektive späterer Epochen betrachtet und damit sanft, aber bestimmt relativiert und in seiner zeitlichen Bedingtheit herausgestellt. Freilich geht es dabei recht diskret zu, als sei man nur heimlich zu Gast in jenen Jahren.

Auch der rigide Deutungsanspruch der christlichen Konfessionen wird durch Vergleiche in Zweifel gezogen, denn da wäre ja auch noch der Hinduismus mit seinen Elefanten-Gottheiten. Überhaupt duldet flagrante Fabulierfreude keine allzu starren Fakten, in ihrem Fluge schert sie sich nicht um „diese verdammte Realität“, wie es an einer Stelle heißt. Als Schreibender muss man wohl wendiger sein als die träge Wirklichkeit.

Der nahezu allwissende Erzähler, der sich allerdings selbst ironisch nimmt, schwebt leichthin über den Dingen, ist ihnen (gemeinsam mit den Lesern) manchmal voraus, stolpert jedoch auch schon mal hinterdrein. Zitat: „Wir werden nicht mehr dabei sein, wenn sie den Rückweg ins Dorf organisieren.“ Oder: „Wir werden laufen müssen, um sie einzuholen.“ Dabei schreitet dieser Roman so langsam voran ein Elefant.

Das mag in etlichen Passagen betulich und behäbig klingen, sorgt aber auch für einen ruhigen Erzählfluss, dem ein unaufgeregtes Alltagswissen entspricht, das eben alle Hierarchien hinter sich lässt. Und so rückt in all den kleinen oder größeren Wirren auf der langen Strecke jener indische Mahut mehr und mehr ins wahre Gravitationszentrum des Geschehens, noch vor allen erlauchten Häuptern, grimmigen Soldaten oder geknechteten Ochsenkarrenziehern. Dieser Mahut ist ein weiser, verschmitzter Narr, der sich stets sein Teil denkt, sich aber nicht gern den Mund verbrennen möchte. Und so lässt er manche Verletzungen seiner Würde stillschweigend über sich ergehen. Denn wer weiß, ob man ihn in Wien noch brauchen oder zum Teufel jagen wird?

Der gleichfalls heimatlose, entwurzelte Elefant scheint sich derweil um nichts zu bekümmern – außer ums Fressen, das man ihm auch unterwegs tonnenweise herbeischaffen muss. Ansonsten weiß er nicht, wie ihm geschieht auf der langen Reise. Dieser Umstand gewinnt bei Saramago existenzielle Bedeutung, wenn er den Mahut sinnieren lässt: „Ich glaube, in Salomons Kopf vermischen sich das Nichtwollen und das Nichtwissen zu einer großen Frage über die Welt, in die man ihn hineinversetzt hat, aber diese Frage betrifft ja uns alle, uns und die Elefanten.“

Ein Satz, bei dem man wie unterm endlos weiten Sternenhimmel steht.

José Saramago: „Die Reise des Elefanten“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Verlag Hoffmann und Campe. 236 Seiten. 19,95 Euro.