Ürzung für Ürzung

Mit Abkürzungen hat man oft seine liebe Not. Erläuterungen füllen dickleibige Speziallexika. Einiges hat sich ja eingebürgert, doch vor allem Fachleute aller Art verstehen einander mit Kürzeln. Wenn umständliche Wörter häufig vorkommen, so empfiehlt sich halt eine knappe, möglichst prägnante Buchstabenfolge. Zum Exempel sagen sie beim Westdeutschen Rundfunk intern „Nami“ statt „Nachrichtenminute“. Warum auch nicht? Klingt doch putzig.

Eine spezielle Sorte von Abkürzungen zielt allerdings gerade nicht auf Experten, sondern eher auf unbedarfte Endverbraucher: Es sind jene furchtbar bemühten, sprachlich arg überstrapazierten Fügungen, deren ausgewählte Initial-Buchstaben mit Ach und Krach ein ganzes Wort ergeben, das man sich im Idealfalle leichter merken kann. Um einigermaßen Deckungsgleiche zu erzielen, denkt man sich irrwitzige Wortketten mit „passenden“ Anfangslettern aus. Für trockene bürokratische Akte darf dann schon mal gern ein Frauenname herhalten, der geradezu verführerisch klingt. Oder es wird ein womöglich heikler Sachverhalt verniedlicht. Fast immer kommt das Resultat gequält daher.

Beispiele gefällig? Bitte:

PFIFF = „Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer“ (Fortbildung älterer Arbeitnehmer bei Opel)

EGON = Erziehungsgeld online

IGEL = Individuelle Gesundheitsleistungen (Klartext: zusätzliche Einnahmequelle für Ärzte)

ELSTER = Elektronische Steuererklärung (hehe, was sagt man diesem Vogel nur nach?)

VerDi = Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (mit peuso-kultureller Attitüde)

ZOPF = Zentrales OP- und Funktionszentrum (an den Dortmunder Kliniken)

ELENA = Elektronischer Entgeltnachweis

DAKOTA = „Datenaustausch und Kommunikationen auf der Basis Technischer Anlagen“… (müsste eigentlich Dakobata heißen).

Na, und so weiter, bis zum erschöpften Abwinken.

In schwachen Stunden habe ich schon einmal gedacht, man müsse derlei Beispiele systematisch sammeln, um daraus eine Typologie zu gewinnen. Doch dann hat sich die Vernunft gemeldet und mir zugeflüstert: „Es gibt Wichtigeres im Leben.“ Recht hat sie!




Zurück zum Körper

Immer raffiniertere Techniken haben unser Leben entsinnlicht, so dass sich das Bedürfnis einstellt, verlorene Körperlichkeit wiederzugewinnen. Das ist ein Grundgedanke, der den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht umtreibt – und beileibe nicht nur ihn.

Der in Würzburg geborene Gumbrecht (Jahrgang 1948) war bereits mit 26 Jahren Professor in Bochum, wechselte dann an die Uni Siegen, lehrt seit 1989 an der Stanford University (Kalifornien/USA) und gilt als einer der einflussreichsten Geisteswissenschaftler deutscher Herkunft. Geographisch, biographisch und thematisch hat er einen weiten Horizont. Beispielsweise hat er schon früh (bevor es intellektuelle Mode geworden ist) auch Phänomene des Sports in den Blick gefasst.

Im neuen Aufsatzband „Unsere breite Gegenwart“ verfolgt er Spuren einer noch ausführlich zu schreibenden Geschichte der Körperlichkeit. Ein schmales Buch, doch wie gedankenreich! Freilich ziehen sich einige Kernsätze arg wiederholungsträchtig durch alle Kapitel. Und leider ist Gumbrecht kein Stilist, der seine Denkpracht in sprachlicher Eleganz erstrahlen ließe.

Der Autor diagnostiziert ein Ende jenes linearen historischen Denkens, das ungefähr seit Beginn des 19. Jahrhunderts Habitus der Intellektuellen gewesen sei, das sich und die Menschheit stets unterwegs zu einer besseren Zukunft wähnte, immerzu die Welt erst deutend entschlüsseln wollte und sich dabei unter dem Descartes-Leitsatz „Ich denke, also bin ich“ fortwährend selbst beobachtete.

Die Zukunft lässt uns keine Wahl

Heute, so Gumbrecht, stehe keine offene Zukunft mit vielerlei Wahlmöglichkeiten mehr vor uns, sondern es komme allenfalls eine umfassende Bedrohung auf uns zu, vornehmlich in Gestalt der kaum noch aufzuhaltenden Klimakatastrophe. Nach der längst erkalteten Weltraum-Euphorie seien wir zurückgeworfen auf den desolaten Zustand der Erde. Gleichzeitig würden wir überflutet von Vergangenheiten, von denen wir nie mehr richtig loskommen. Wir haben nahezu alles abrufbereit gespeichert, aber was ist wirklich wichtig?

Die mehrfache Ausweg- und Richtungslosigkeit, so Gumbrecht weiter, verweise uns auf eine „breite Gegenwart“ simultanen Geschehens, in der wir zwischen (allzu) vielen Optionen oszillieren. Während wir uns nicht mehr so sehr in die (kommende oder verflossene) Zeit hinein projizieren, orientieren wir uns im Hier und Jetzt mehr räumlich und damit körperlich. Wir suchen nicht mehr den eigentlichen Sinn hinter den Dingen, sondern oft schon in ihrer schieren Präsenz. Man könnte auch sagen: an ihrer sinnlich wahrnehmbaren, gleichsam körperlichen Oberfläche.

Sprache streichelt die Haut

Derlei Gedankenfiguren wendet Gumbrecht auf verschiedene Lebensbereiche an. Im Lichte seiner Hypothesen gewinnt selbst die vermeintlich körperlose Sprache physischen Klang und Volumen. Die Schwingungen gesprochener Worte berühren demnach ganz sachte unsere Haut, noch bevor Fragen nach Bedeutung und Interpretation sich stellen. Auch schließe der Rhythmus von Gedichten eine körperliche Dimension ein, ebenso wie die beschwörende Sprache der Mystik. Gumbrecht hegt die Hoffnung, „daß (…) die Sprache (wieder?) zum Mittel der Versöhnung mit den Dingen der Welt werden kann.“ Ein uralter Traum unserer Gattung. Aber ist er denn nicht längst ausgeträumt?

Anderes Thema, ähnliches Theorie-Besteck: Die Globalisierung lasse räumliche Unterschiede immer unwichtiger werden, tendiere also letztlich zur Körperlosigkeit. Erschreckender Befund im Zeichen des Internets: „Es ist daher schwierig geworden, Situationen zu finden, die es verdienen, Situationen des ,Erlebens‘ genannt zu werden…“

Lob des zauberhaften Sports

Just in den (jedoch zunehmend kommerzialisierten) Erscheinungsformen des Sports sieht Gumbrecht Anzeichen einer Gegenbewegung, die auf eine Rückgewinnung der Physis hinauslaufen könnte. In einer allseits entzauberten Welt seien große Momente des Sports zugleich Augenblicke der Wiederverzauberung, die Stadien somit potenziell heilige Orte. Ein schöner Spielzug der eigenen Mannschaft bringe einen den Göttern näher. Prosaischer und fast schon banal kann man sagen, „…daß der Sport dem Körper einen Platz in unserer Existenz offenhält“.

Phänomene wie Tattoo, Piercing, offene Sexualität, expandierende Schönheitschirurgie, aber auch ein Hang zur Regionalisierung weisen Gumbrecht zufolge gleichfalls in die Richtung spürbar konkreten Daseins, allerdings (so wäre hinzuzufügen) mit womöglich schmerzlichen Nebenwirkungen. Zitat: „Es ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Raum, der nicht zu groß ist, um noch mit persönlichen Erfahrungen (…) gefüllt werden zu können…“ Ein solcher Weg könnte in die Enge führen, nicht ins Offene. Außerdem hat man über Regionalisierung und nachfolgende Dialektmoden auch schon in den 70er Jahren debattiert, es ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne.

Doch wiederum kommt der heutige US-Staatsbürger Gumbrecht zu einem erstaunlich hoffnungsvollen Schluss: „In der neoliberalen Welt der Globalisierung haben wir die Freiheit, uns ständig neu zu erfinden.“ Das erzähle mal einer den Verlierern des entfesselten globalen Wirtschaftens. Vielleicht erweist sich die gepriesene Freiheit ja als furchtbarer Zwang.

Unter der Überschrift „Stagnation“ lässt Gumbrecht bisherige Denkweisen und Ideologien Revue passieren. Ob Marxismus oder Strukturalismus, sie alle hätten mit immer neuen Projekten in eine erstrebenswerte Zukunft gezielt. Doch irgendwann war es offenbar genug mit Zuversicht und Gewissheit, und es trat Stillstand ein. Der Fortschrittsgedanke sei implodiert. Auch die Kultur habe einen Bedeutungswandel durchgemacht. Nicht mehr Irritation und Provokation sei ihr Hauptfeld, sondern sie trete in die Sphäre der Rituale ein. Auch unser Verhältnis zu den literarischen Klassikern wird beleuchtet. Bis vor einiger Zeit habe es vor allem widerspenstig politische Lektüren gegeben, heute würden Autoren wie Kleist eher „lebenskundlich“ und existenzialistisch rezipiert, also gleichsam körpernah. Gumbrechts Beispiel: Kleists gemeinsamer Freitod mit Henriette Vogel ergreift selbst brasilianische Studenten.

Im Schlusskapitel zieht Gumbrecht eine interessante Parallele zwischen einem körperlosen Denken und den von jeder fassbaren Realität abgehobenen Spekulationen mit Derivaten, die in die tiefste Wirtschaftskrise geführt haben. Und wieder dämmert eine vage Hoffnung: Mehr Körper – weniger Krise?

Hans Ulrich Gumbrecht: „Unsere breite Gegenwart“. edition suhrkamp. 144 Seiten. 12 Euro.




Ergiebige Heimatkunde

Das glauben vielleicht viele zu können: „Einfach“ über einen seltsamen Verwandten schreiben, dessen Dasein einem auf der Seele liegt. Aber wehe, wenn man es versucht. Dann kommt in den seltensten Fällen Literatur dabei heraus.

Umso höher ist dieser Schriftsteller einzuschätzen: Andreas Maier (Jahrgang 1967, Romanerfolg „Wäldchestag“) erinnert sich in „Das Zimmer“ eingehend an seinen „Onkel J.“ Dieser nur mit dem Initial benannte Mensch war geistig zurückgeblieben, nach seinerzeit landläufigen Maßstäben also ein „Idiot“. Doch sein nahezu unbemerkt und folgenlos verstrichenes Leben war, so wie Maier davon berichtet, durchaus bemerkenswert.

Zum einen verblieb Onkel J., trotz (vornehmlich nach innen gekehrter) aggressiver Anwandlungen, im nahezu kindlich-naiven Stande der Unschuld, zum anderen brachte er ungewollt einige Wesenszüge der Wetterau auf den (weitgehend wortlosen) Begriff. Der Erzähler sieht es als seine Aufgabe an, „dem Onkel eine Sprache zu geben…, denn sonst wäre er gar nicht da und einfach tot und vergessen…“ Er legt Wert auf die Feststellung, dass dieser bedauernswerte Mensch „auch ein Leben hatte und von Gott in dieses Leben hinein geschaffen war…“ Und er versetzt sich nun in diesen Menschen hinein, indem er in dessen früherem Zimmer schreibt. Doch wahrt er auch die nötige Distanz.

Es handelt sich um eine besondere, ergiebige Form der „Heimatkunde“. Die Wetterau, jener provinzielle Landstrich im Hessischen (Bad Nauheim, Friedberg), wird im Wesentlichen um die Mitte bis gegen Ende der 1960er Jahre geschildert (Gipfel- und Wendepunkt: die im Fernsehen zelebrierte Mondlandung 1969), und zwar durchaus unaufgeregt, wie es der Randlage entspricht. Doch selbst die vermeintlich unscheinbarste Beobachtung birgt noch Bezeichnendes. Zumal es einst Brückenfiguren zur großen Welt gegeben hat: Der russische Zar absolvierte hier Kuren, auch Sissi und Einstein sind hier gewesen – und Elvis war hier 1958 bis 1960 als Soldat stationiert, so dass sich dessen Wege mit denen des Onkels sogar vage gekreuzt haben. Doch welch ein Kontrast zu jedwedem Glamour!

Das stickige Aroma der 60er kann man geradezu lesend einatmen. Es war eine Zeit des „Noch“: Noch keine großen Staus, daher auch noch keine Ortsumgehungsstraßen, noch ein wenig Dialekt und noch sehr viele Frauen in Kittelschürzen auf den Dörfern. Es wird noch kräftig geraucht und tagsüber bei der Arbeit gesoffen, doch man legt auch noch verbissen Wert auf Sauberkeit und Ordnung – und die Züge haben noch keine Verspätung. Zitat: „In den sechziger Jahren hatte bereits die Gegenwart einen Gelbstich.“

Vor diesem Zeithorizont hat Onkel J. ein armseliges Leben geführt (richtiger wohl: „es“ hat ihn geführt). Dieser detailgesättigte, sanftmütige, emphatische, nur in Maßen ironische Roman gleicht einem nachträglichen Rettungsversuch, einer Bewahrung, Bergung und Verteidigung dieses kleinen, abgeschiedenen Daseins, folglich ist der Text mit Vergeblichkeit, Melancholie und Zeitweh getränkt. Denn für eine wirkliche Rettung ist es ja viel zu spät. Und im krassen Gegensatz zu Thomas Bernhard, mit dem Maier öfter verglichen wird, steigert sich Letzterer niemals in haltlose Hasstiraden hinein.

Eine unheimliche Hauptrolle spielt der Wagen des Onkels, ein brauner VW Variant Kombi (der auch das Buchcover ziert), mit dem er sozusagen den Laufburschen der Familie spielen muss; stets zähneknirschend und in sich hinein fluchend, doch kläglich machtlos. Zwangsneurotisch rituell prüft er jedes Mal das nazifarbene Fahrzeug, als ginge es ins Weltall: „Nun sitzt er drin. Alle Armaturen noch da. Tacho da. Drehzahlmesser da. Schaltknüppel, alles an seiner Stelle. Lenkrad noch nicht angreifen! Rückspiegel kontrollieren. Türe bereits geschlossen? Türe geschlossen! Auch die Uhr kontrollieren, Uhrenvergleich mit seiner Uhr am Handgelenk. Uhrzeit normal, Vergleich richtig. Alles ordnungsgemäß und einwandfrei und startbereit…“

Einflussreiche Verwandte haben dem Onkel einen Job bei der Paketstation am Frankfurter Hauptbahnhof besorgt. Ein Posten, den er nahezu als hoheitliche Aufgabe versteht. Manchmal wandelt ihn sexuelle Versuchung im Rotlichtviertel der benachbarten Kaiserstraße an, doch dann kehrt er pünktlich zu seiner Mutter heim. Sie und die Waldnatur sind seine Ruhepunkte. Seine sonstigen Sehnsüchte heften sich an Militärtechnik oder an Gestalten wie Luis Trenker und Heino. Ein Wunder dieses Romans: Selbst solche Irrungen vermag man nachzuvollziehen; wiewohl man weiß, dass sie eine politisch fragwürdige Tönung annehmen können.

Das Buch ist angeblich der Beginn einer weit ausgreifenden, vielbändigen hessischen Familiensaga. Nur zu!

Andreas Maier: „Das Zimmer“. Roman. Suhrkamp Verlag.203 Seiten. 17,90 Euro.