Ehebriefwechsel der Tolstojs: „Du schienst mir alt, mager und bedauernswert“

„Nun will ich mich meinem Ideal der guten, vor allem tätigen und zu allem begabten Hausfrau annähern.“ So bereitwillig diente sich Sofja Tolstaja geb. Behrs ihrem weltberühmten Ehemann an, dem russischen Schriftsteller Lew Tolstoj („Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“).

Das Zitat stammt vom 5. Dezember 1864 und steht damit noch ziemlich am Beginn des umfangreichen Briefwechsels, der das beständig wogende Auf und Ab dieser Beziehung nachzeichnet. Das gemeinsame Glück war auf Dauer gleichsam streng bemessen.

Die Briefsammlung wird als Weltpremiere angepriesen: Erstmals sind die Schreiben beider Eheleute im Dialog zu lesen. Erstaunlich nur, dass dies erst jetzt möglich ist. Zur editorischen Vorgeschichte gehört, dass Sofja Tolstaja auf Lews misogyne „Kreutzersonate“ entschieden mit ihrem Kurzroman „Eine Frage der Schuld“ antwortete, der allerdings seinerzeit nicht erschienen ist, sondern erst 75 Jahre nach ihrem Tod. Seither ist sie ein wenig aus seinem Schatten herausgetreten.

Gegen Ende der langen Ehezeit, als ihr Mann sie aus weltanschaulichen Gründen brüsk verlassen hat, fleht sie am 29. Oktober 1910: „Ljowotschka, mein Liebster, kehre nach Hause zurück, Lieber, rette mich vor einem neuerlichen Selbstmordversuch (…) ich werde alles, alles tun, was du willst…“ Es gab keine Gelegenheit mehr: Lew Tolstoj starb wenige Tage später, am 7. November 1910.

Die beiden bisherigen Zitate täuschen. Sofja Tolstaja ist nicht all die Jahre über unterwürfig geblieben, sie hat phasenweise schroffe Kritik an Tolstojs (zunehmend asketischer) Lebensführung geäußert. Sie sorgte sich um die insgesamt 13 (!) Kinder, die sie (unterstützt von Gouvernanten aus Westeuropa) fast ohne tätige Mithilfe ihres Gatten aufzog, falls sie nicht schon früh starben. Zudem kümmerte sie sich in durchwachten Nächten mit Abschriften seiner Werke sowie als Lektorin und Herausgeberin aufopferungsvoll um Lew Tolstojs Ruhm.

Umso entsetzter war sie, als Tolstoj schließlich seine lukrativen Autorenrechte für „frei“ erklärte und damit die eigene Familie quasi enterbte. Die schreckliche, allgegenwärtige Armut in Russland hatte ihn auf einen Weg der christlich motivierten Entsagung gebracht, den er immer radikaler und ohne Rücksicht auf Angehörige beschritt. Hass auf die eigene, privilegierte Klasse bricht sich in etlichen seiner Briefe Bahn: „Das Leben unserer gesamten Schicht ist (…) errichtet auf Stolz, Grausamkeit, Gewalt, Übel…“ Tolstoj betrieb Garküchen zur Armenspeisung, doch überließ er sich andererseits einem Hang zur Esoterik. Er scharte Jünger um sich, die ihm schmeichelten und seiner Frau arg ins editorische Handwerk pfuschten.

Der Briefwechsel konnte sich in oft langen Trennungsphasen entfalten. Auf der Suche nach dem einfachen Leben zog sich Tolstoj immer häufiger nach Jasnaja Poljana und auf andere entlegene Landgüter zurück. Sofja hingegen blieb vor allem den Winter über in Moskau – wegen der ungleich besseren Schulen.

Man muss kein großer Frauenkenner sein, um die Wirkung solcher Zeilen einzuschätzen, mit denen sich Tolstoj 1871 für eine Briefsendung Sofjas bedankte: „Deine Photographie war auch dabei. Sie hat mich sehr gefreut (…), obwohl der erste Eindruck nicht gerade angenehm war. Du schienst mir alt, mager und bedauernswert.“

Immer wieder versichern die beiden einander ihrer bleibenden Liebe, der gegenseitigen Sorge ums leibliche und seelische Wohlbefinden, doch immer greller werden vor allem Gegensätze und Brüche sichtbar. Mühsam geschlossene Kompromisse erweisen sich rasch als bröckelnder Kitt.

Er tadelt ihren angeblichen Hang zum Luxus. Sie beklagt sich über seine Misanthropie. Er wirft ihr Garstigkeit und Streitsucht vor. Sie moniert, er stelle die Liebe zur Menschheit über die Familie. 1883 gelangt sie zum deprimierenden Fazit: „…zu wissen, daß Du mein ganzes Leben und mich als Menschen nicht gutheißt und nicht ernst nimmst.“ Dramatischer ausgedrückt: „Mit der einen Hand liebkost Du mich, während Du mir das Messer zeigst, welches Du in der anderen hältst.“

Als folgenloser Ausbruch erweist sich Tolstojs Zerknirschung: „(…) besonders aber bin ich mir selbst widerwärtig geworden. An allem trage ich die Schuld – ich, das grobe, egoistische Tier!“

Dann wieder sie: „(…) ich bin Deiner Güte nicht würdig, fühle mich um so vieles schlechter als Du…“ Oder auch so: „Du kannst mich nicht einfach fallenlassen, denn meine Bestimmung ist es, Deine Frau zu sein…“

Manche Passagen lesen sich qualvoll. Derlei Selbstaufgabe kann man sich kaum noch begreiflich machen. Ob der andere Zeithorizont zur Erklärung ausreicht? Oder ob hier zwei große, erbittert beharrliche Liebeszerstörer am Lebenswerke waren?

Der Briefwechsel ist zugleich ein fortlaufendes Dokument zur Historie. Das Spektrum reicht von Wohn- und Lebensverhältnissen über den ständigen Kampf mit staatlichen und kirchlichen Zensurbehörden, schließt Wetterunbill (oft bitterste Kälte), Erziehungsfragen und Gesundheitswesen ein, reicht schließlich bis zu gesellschaftlichen Verwerfungen im weiteren Vorfeld der russischen Revolution. Sofja zeigt sich stets besorgt, dass ihr Mann mit seinem Eintreten für die Armen als radikaler Sozialist gelten könnte und mahnt ihn inständig zur politischen Mäßigung. Die Familie stellte sie über alles, auch über den Gang des Weltgeistes.

Lew Tolstoj / Sofja Tolstaja: „Eine Ehe in Briefen“. Herausgegeben und übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Insel Verlag. 494 Seiten. 22,90 Euro.




Die Berliner Mauer küssen

Die ARD-„Tagesthemen“ schaue ich nur selten an. Umso verblüffter war ich gestern, als am späten Abend ein geradezu launiger Beitrag über Objekt-Sexualität die Sendung beschloss – gleichsam als Überleitung zu Harald Schmidt, der anschließend auftrat.

Objekt-Sexualität? Jawohl. Manche Menschen können keine Menschen lieben, sie verlegen sich auf Dinge. Die „Tagesthemen“ stellten eine Amerikanerin namens Erika Eiffel vor, die einst den Eiffelturm geliebt und sogar geheiratet hat, sich dann aber wieder ihrer Jugendliebe zuwandte: der Berliner Mauer. Beziehungsweise dem, was davon übrig ist.

Gleich in der ersten, künstlich romantisierten Einstellung sah man, wie die Frau die Mauerreste an der Bernauer Straße innig küsste. Versonnen blätterte sie in einem Album mit Mauerbildern und zeigte ihre Tattoos (klar: Eiffelturm und Mauer). Hernach wurde ihre erotische Biographie im Sekundentempo umrissen. Und natürlich kam auch der übliche Psychologe zu Wort, der das Ganze nicht weiter schlimm fand.

Es liegt mir fern, mich über die Frau lustig zu machen. Soll sie auf ihre Weise glücklich werden. Mag man ihre Begierden auch reichlich seltsam finden, so schaden sie doch wohl niemandem.

Allerdings frage ich mich, ob auf der weiten Welt sonst nichts Wesentliches geschehen ist, so dass man in der „Tagesthemen“-Redaktion entschieden hat, die Sendung mit diesem Beitrag ausklingen zu lassen. Bedenkenswert auch die Frage, ob man sie nicht davor hätte bewahren müssen, ihre Neigung vor einem Millionenpublikum derart auszustellen.

Um sich halbwegs ernsthaft mit der Materie auseinanderzusetzen, war die Zeit nämlich viel zu knapp. Statt dessen kam der Beitrag als schiere Bizarrerie daher. Folglich hatte man den unangenehmen Eindruck, dass sich die Moderatorin Caren Miosga im (für die Zuschauer stummen) Nachspann scheckig lachte. Sie hatte Erika Eiffel zuvor mit ironisch gekräuseltem Mund als besonderes „Mauerblümchen“ angekündigt.




Fuchteln für den Vorteil

Eine Fußball-Untugend geht mir zunehmend auf den Geist, auch weil sie weit über den Sport hinausreicht und vom Zustand der Gesellschaft zeugt.

Ist eine Szene noch im Gange oder gerade vorbei, wird sofort (in Zehntelsekunden-Schnelle) ein Vorteil für die eigenen Farben reklamiert. Schon vollends automatisiert sind die Gesten, mit denen Spieler immer gleich lauthals Einwurf, Ecke oder gar Elfmeter „für uns“ fordern. In hitzigen Spielphasen wird fast in jeder Situation derart wild gestikuliert und dramatisch gefuchtelt. Also nicht, weil die Protagonisten tatsächlich glaubten, sie lägen richtig, sondern just, weil der Schiedsrichter beeinflusst werden soll. Auch will man so die Emotionen der eigenen Fans anstacheln. Die wahrhaftigen Anhänger, so wäre zu hoffen, sähen ihr Team lieber ohne solche Hampelei gewinnen. Es wirkt ja auch doppelt lächerlich, wenn sich stets alle Hände recken und simultan für beide Teams Freistöße & Co. anmahnen.

Ebenso ist es nach rüden Fouls international kläglich üblich, mit beiden Händen eine Kugelform anzudeuten. Will heißen: „Ich habe doch den Ball getroffen, da hinten rollt er.“ Mag sein. Doch daneben windet sich der ebenfalls oder ausschließlich getroffene Gegenspieler. Es sei denn, der hätte (um mal eben zwei Vogelarten ins Spiel zu bringen) lediglich eine „Schwalbe“ vollführt und mimte den „sterbenden Schwan“. Ich fürchte, dass schon manche erfolgshungrigen Kindermannschaften darauf getrimmt werden, auf solch hinterhältige Art Vorteile zu schinden.

So. Das wär’s. Nur eins noch: Rote Karten für alle fiesen Widersacher und ein paar Elfer ohne Torwart für mich, mich, mich! Sonst gibt’s was auf die…