Ein Hyper-Chonder im Bochumer Prinz Regent Theater

Hypochonder? Dieser Mann ist eher ein Hyper-Chonder. Krank fühlt er sich, wälzt sich im Lehnstuhl, greift nach der Sauerstoffmaske, sehnt sich nach Einläufen und wohlklingenden Mittelchen.

Gestatten: „der eingebildete Kranke“, die Hauptfigur aus Molières letzter Komödie. Wolfram Boelzle verkörpert ihn leidenschaftlich, amüsant und stimmig auf der Bühne des Prinz Regent Theaters in Bochum.

DAS STÜCK
Nur ein Tag ohne Arznei? Nur eine Stunde ohne Klistier und Fremdwörter-lastige Rezepturen? Das wäre sein Tod, glaubt Argan. Und zahlt. Auch wenn die Rechnungen, der Ärzte und Apotheker ihn direkt in den nächsten Hustenanfall und zurück zum Inhaliergerät treiben.

Ach, hätte er doch schon einen Arzt als Schwiegersohn, wünscht sich Argan und träumt. Von der kostenlosen medizinischen Versorgung im eigenen Haus.

Dass er seine Familie tyrannisiert? Dass er seine Tochter ins Unglück zu stoßen droht? Egal, keine Zeit – der nächste Hustenanfall ist da.

BÜHNENBILD UND VIDEO

Weiße Stoffwände umgeben den eingebildeten Kranken – so wie die Notaufnahme-Patienten in US-Krankenhausserien. Und rasch wird die Rückseite dieser drehbaren Bühne wieder zur Projektionsfläche.

Scheußlich-schöne Schaubilder hat Peer Engelbracht in seine Video-Sequenzen eingebaut: die Details der menschlichen Anatomie: Skelette, Blutkreislauf, abgezogene Haut und als Krönung die Anleitung, wie man ein Loch durch die Stirn bohrt.

ART DER INSZENIERUNG

Ganz einfach, ganz effektiv – so inszeniert Regisseurin Sibylle Broll-Pape diesen Klassiker. Tiefgang und Slapstick haben nebeneinander Platz.

Während sich Kranken-Tochter Angélique und ihr Verehrer Cléante blumenhaft ihre Liebe gestehen, verzweifelt einige Meter weiter der tölpelhafte Arzt Diarrhoerius jun., der Schwiegersohn-Kandidat des eingebildeten Kranken. Kurz zuvor hat sich Diarrhoerius auf ein Buch gekniet und der Kranken-Tochter eine auswendig gelernte Liebeserklärung entgegengeholpert. Jetzt will er den Wälzer unter den Knien wegziehen, ohne aufzustehen.

Allein Martin Molitor in dieser Szene zu erleben, ist das Eintrittsgeld wert.

LEISTUNG DER SCHAUSPIELER

Bei allen Darstellern stimmen nicht nur Einzelleistung, Erscheinungsbild und Begeisterung, sondern auch Abstimmung und Zusammenspiel untereinander.

Einzelne textliche Verhaspler sind da mehr als verzeihlich. Auch weil die wichtigsten Pointen sitzen, weil das Timing exakt stimmt.

DAS STÜCK DAMALS….

1673 schrieb Molière diese Komödie über folgsame Patienten und überschätzte Ärzte. Am Puls erkennen sie: die Milz.

Ach, der Herr Kollege hatte die Leber in Verdacht…ja dann, hmm, muss es auch die Leber gewesen sein.

Blutkreislauf? Welch blödsinnige neumodische Theorie!

…UND HEUTE

2011 ist die Beziehung zwischen Arzt, Apotheker – und dem Pharmahersteller – immer noch undurchsichtig. Manch ein eingebildeter Kranker schluckt mehrfach: erst bei der Diagnose, dann die Pillen.

Umso wichtiger, dass dieses Stück auf den Bühnen bleibt. Umso wunderbarer, wenn es derart leicht umgesetzt wird wie am Prinz Regent Theater.

 

(Dieser Text ist – in leicht veränderter Form – auch im Westfälischen Anzeiger (Hamm) erschienen).




Künstlergruppe Freiraum2010 verabschiedet sich von der Lukaskirche

Zweite Freiraum2010-Ausstellung in der LukaskircheDie entweihte Lukaskirche in Essen-Holsterhausen soll modernisiert werden, die Kunst muss raus. Nach zwei erfolgreichen Austellungen verlassen die Künstler von Freiraum2010 das einst christliche Gebäude in der Planckstraße.

Am 1. Mai war letzter Ausstellungstag. Zum Abschied verkündete Joscha Hendricksen, Pressesprecher der Gruppe, die „100 Thesen zum Freiraum“ – in Anlehnung an René Polleschs „Der perfekte Tag“, wie er betonte. Entsprechend nachdenklich wirken nun die teils lustig, intelligenten und immer irgendwie abgedreht klingenden Thesen nach. „Nach fast einem Jahr auf der Suche nach Freiräumen, ist unsere Gruppe gewachsen. Dass wir jetzt wieder ohne Ort zum Zusammenkommen und Arbeiten dastehen, ist eine Tragödie. Dies schwächt unsere Gruppe und erschwert die Möglichkeit, künstlerische anspruchsvolle Projekte zu entwickeln und zu verwirklichen“, sagte Hendricksen nach der Veranstaltung.

Friedlicher Protest – Durch Hausbesetzung ans Ziel gelangt

Zur Kirche als Arbeits- und Ausstellungsort gelangte Freiraum2010 nachdem sie vergangenes Jahr das DGB-Gebäude in der Essener Innenstadt friedlich besetzt hatten. Auch wenn die Besetzung nur wenige Tage andauerte, so verschaffte sie den Künstlerinnen und Künstlern zumindest Gehör bei der Presse und schließlich auch bei der VEWO Wohnungsverwaltungs GmbH. Sie stellte ihnen das Gebäude für einige Monate als Arbeits- und Ausstellungsraum zur Verfügung.

Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zur ersten Ausstellung ist bereits ein Katalog erschienen, der, wie auch die zweite Ausstellung, eine breite Facette junger Kunst – von Streetart über Fotografie bis zu Installationen – zeigt.

Unsicher in die Zukunft

Zweite Freiraum2010-Ausstellung in der LukaskircheBereits fest steht: Aus der Kirche soll ein integratives Wohnprojekt werden. Doch wie es für die Künstlergruppe weiter geht, bleibt ungewiss. Bislang hat sich noch kein entsprechendes Gebäude beziehungsweise Investor oder Vermieter gefunden, der den Künstlern langfristig eine Bleibe geben würde. „Hätte es die Kulturhauptstadt nicht gegeben, dann wären wir wohl nicht so erstaunt über das geringe Interesse seitens der Verantwortlichen in Kultur und Politik an einer vitalen Kunstszene in Essen- der Einkaufsstadt“, erklärt Joscha Hendricksen. Denn „angesichts der geringen Mittel, die benötigt würden, um unserer Initiative eine Plattform zu ermöglichen, und den großen Reden über Nachhaltigkeit, wundert es uns schon, dass eine Odyssee, die mehr als 100 Kunstschaffende und 2500 Besucher in einen Leerstand gebracht hat, auf der Straße stranden muss.“

Doch so schnell wollen die Künstler nicht aufgeben. „Der Freiraum ist auf der Suche nach einem neuen Objekt!“, steht auf der Homepage. Bleibt zu hoffen, dass der Nachhall dieser Ausstellung auf offene Ohren trifft.




Well established? Mäßige Ware beim Spinnereirundgang

Die Zeiten des Undergrounds sind vorbei. Die Leipziger Baumwollspinnerei ist gentrifiziert und im allgemeinen Kunstbetriebseinerlei angelangt. Vergangenes Wochenende bewies der Rundgang am Ort der Verheißungen abseits der Bundeshauptstadt, die mit ihrem Gallery Weekend wieder Rekorde brach, dass in Plagwitz die Luft raus ist.

Nicht, dass es in Berlin besser sei, aber: Langeweile bei Judy Lybke, der am Samstag Nachmittag nicht an der Spree weilte, sondern seiner Heimatstadt den Vorzug gab. Er zentriert sein Angebot um eine Arbeit von Carsten Nicolai, „pionier I“. Die Gallerina am Eingang sagt mit Wimpernaufschlag: „In fünf Minuten geht’s los“, als ob im Zoo die Pinguinfütterung begänne. Hatte aber vorher schon gesehen, dass eine Windmaschine einen weißen Fallschirm blähte. Das bisweilen zappelige Ding solle laut Handzettelprosa „im übertragenen Sinne als Metapher für die unsichere Balance zwischen Ordnung und Entropie“ dienen. Abgesehen davon, dass man sich mal diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen sollte (was ist eine Metapher im übertragenen Sinn? Der scheinbare Gegensatz zwischen Ordnung und Entropie!), destillierte sich die Bedeutungslosigkeit jenes Objekts zum Sinnbild der maximal denkbaren Banalität künstlerischer Inkompetenz – dies, um auch mal ein wenig zu schwurbeln.

Matthias Kleindienst offerierte eine Personale von Tilo Baumgärtel. Nun gut, seine Narrationen kennt man ja ebenfalls. Was soll man noch dazu sagen, zu diesen postsurrealen Albdrücken? Wenn nur die Malerei ein wenig schmackhafter wäre. Die flauen Oberflächen wirken ein wenig lieblos in ihrer Machart. Auch der Laden für Nichts hat schon bessere Zeiten erlebt. Kathrin Thieles „Weiße Lügen“. Von ihr habe ich in der Vergangenheit spannendere Bilder gesehen. Das alles kommt gedruckt im Katalog ganz gut, jedoch im Original? Fragwürdig.

Thomas Sommer (maerzgalerie) hingegen weckte, sieht man von den Objektkästen aus der „C“-Serie ab, mit seinen teils apokalyptischen Landschaften gelegentlich das müde Auge. Am meisten beeindruckte noch Hartwig Ebersbach in der Dogenhaus Galerie. Seine „Tötende Madonna“, mit dem Fuß gemalt, ist großartig und sowohl satter Stoff fürs Auge als auch genug Anregung fürs Hirn. Selbst wenn die Hochformate mehr als die Queren überzeugen. Kunterbuntes dann in der Werkschauhalle. 14 internationale Galerien präsentierten Schlaglichter aus ihrem Programm. Lustig: Ein Typ, mit dicker Fototasche bepackt und in Begleitung einer ziemlich schönen Frau, beide im Gespräch mit dem Düsseldorfer Gastgaleristen Michael Cosar, schaut auf sein Handy und skandiert zwischen den Betrachtern plötzlich peinlich laut dreimal „Meister“. Ja, die bewegenden Ereignisse des Tages fanden andernorts statt.

Gut, dass das Wetter so prima war. Draußen eine Bratwurst plus Pils. Danach noch ein Blick in die Halle 14. Und wieder ein Ärgernis. „Changes“ heißt die international hochkarätig besetzte Gruppenschau. Robert Longo, Nina Berman, Harun Farocki und weitere mit Werken über 9/11 und wie das Ereignis den Planeten veränderte. Erstaunlicherweise zu einem Zeitpunkt, als die Ermordung Osama bin Ladens kurz bevor stand. Bermans „Marine Wedding“, ein Schock! Diese Fotografin ist sensationell. Ja, auch Magnum-Altmeister und „Bilderfabrikant“ gemäß Selbstbeschreibung, Thomas Hoepker lohnt. Wenn man aber ein Foto wie „Blick von Williamsburg/Brooklyn auf Lower Manhattan New York 11. September 2001“ aufs Ruffsche Format aufbläht, ist es ein Frevel am Werk. Dieses sensationelle Foto leidet unter der Bürde, aus dem Magazinkontext ins museale Groß verwachsen worden zu sein.

Vor Boesners Künstlerbedarfsladen ein einziger silbergrauer Porsche SUV vom Shuttlesponsor. Sinnbild des Zustands heuer. Security-Personal bewacht mittlerweile die Zufahrt, Rasen dort, wo man vormals noch parken konnte. Die Luft ist raus, Großsammler wurden nicht gesichtet. Aber dennoch gibt es kaum ein Ambiente mit einer derart angenehmen Stimmung. Die Hoffnung verebbt jedenfalls nicht. Denn die Kunst in den Räumen wechselt, der Charme der Spinnerei jedoch bleibt.

http://spinnereigalerien.de

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