Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.

 




Bad Painting. Zu den Offenbacher „Kunstansichten“

Wieder eine dieser konzertierten Aktionen, bei denen sich die sonst Konkurrierenden versöhnlich in die Arme sinken, um sich ein Wochenende lang als würdig zum Empfang kommunaler Zuwendungen zu erweisen. Dies ist keinesfalls so polemisch gemeint, wie es klingt – ich persönlich liebe solche Wimmelveranstaltungen und fahre stoisch alles ab (nicht um!), was sich mir in den Weg stellt: Galerien beim Galerien-Wochenende, Ateliers beim Atelier-Wochenende.

Das einzige Auswahlkriterium meines planlosen Besichtigungsrausches, die verkehrstechnische Machbarkeit, führt mich in – sagen wir mal „abwechslungsreiche“ Umgebungen. Es gibt halt solche und solche, und letztere überwiegen zuweilen bei solchen Gemeinschaftsevents.

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 2010, Foto CL

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 10, Foto CL

Harmoniebedürftig wie ich bin, verschone ich euch mit visuellen Belegen der beachtlichen Spannbreite des künstlerischen Niveaus. Weniger, um unsere Bildschirme nicht mit diesen ganz besonderen Werken (sprich Sondermüll) zu belasten, als vielmehr, da die Tatsache, dass ich etwas überflüssig finde, nicht bedeutet, dass es das ist. Lieber beschreibe ich das Grauen, wohlwissend, dass ihr über einen ausreichenden Vorrat an ähnlichen „Großer Gott!“-Erlebnissen verfügt, um meine Schilderungen aus eurem persönlichen „Nee, oder?“-Ordner zu schmücken. Denn wenn es eine aller Kunst gemeinsame Eigenschaft gibt, ist es die Unverbindlichkeit individueller Urteile. Ungeachtet aller noch so tragfähigen Kriterien hängt ihre Anwendung von den EndverbraucherInnen ab, die ihre Entscheidung über Daumen rauf oder runter aufgrund einer individuellen Kombination vergangener und gegenwärtiger Bedingungen treffen: Prägungen und Erinnerungen, körperliche und geistige Verfassung, sowie Hoffnungen und Ängste hinsichtlich der Zukunft.

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Ich habe mir angewöhnt, vor der Bekanntgabe eigener Urteile die Meinung des Gegenübers in Erfahrung zu bringen. Wenn diese positiver ausfällt als meine, bin ich heilfroh, rechtzeitig den Schnabel gehalten zu haben und schmarotze probeweise an der Wahrnehmung meines Gesprächspartners. Manchmal eröffnet mir dieses Ausleihen anderer Leute Augen und Hirne Neuland, manchmal wird es gewogen und zu leicht befunden. Immer aber bestätigt es mich darin, dass das Einholen verschiedener Ansichten der Meinungsbildung immer zuträglich, vorlautes Watschen hingegen Kunstzerstörung ist.

Daher auch das hiesige Bildfasten. Denn würde ich jeden geifernden Satz mit entsprechendem Anschauungsmaterial krönen, würde diese negative Programmierung jegliche andersgeartete Sichtweise erschweren und somit das aller Kunst eigene Potential auf Emoticon-Format schrumpfen.

Insofern geht es mir hier nicht darum, eine Aufzählung persönlicher Zu- und Abneigungen zu bebildern, als vielmehr um das grundsätzliche Phänomen des Angebots ohne Nachfrage.

In diesem Fall waren es also die sog. „Kunstansichten Offenbach“, bei denen ca. 45 Ateliers einer mittelgroßen Stadt mit Kunsthochschule zwei Tage lang das Volk über sich ergehen ließen.

Naturgemäß werde ich, das Volk, auf diese Weise mit einem bemerkenswerten Qualitätsgefälle konfrontiert. Dass KünstlerInnen Schrott produzieren, ist nicht weiter bedrohlich – Shit happens. Beklemmend ist vielmehr, dass manche es so hartnäckig tun. Und mit dieser Feststellung begeben wir uns auch schon vom kunstspezifischen Terrain auf die kosmische Ebene, denn die Investition von Zeit und Energie in Aktivitäten, die niemand braucht, ist ein uns alle verbindendes Hobby.

Dass in einem Atelier mehrere bunte Probleme nebeneinander hängen, ist allein noch kein Grund zur Sorge. Das kann in jeder Ausstellung geschehen, ohne die Befürchtung nahezulegen, der Täter könne nicht anders. Vielmehr mag es sich einem Augenleiden der KuratorInnen oder einem treudoofen thematischen Schwerpunkt verdanken. Jedenfalls besteht Anlass zur Hoffnung, bei den Exponaten möge es sich um Entgleisungen handeln, die immerhin Entwicklungspotential ahnen lassen.

Stehe ich aber inmitten eines Ateliers, in dem nur ein Teil des Grauens die Wände ziert, während ein identischer Rest aus Regalen, Schränken und Mappen lugt, beginne ich über die Vergeblichkeit menschlichen Mühens zu sinnieren.

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Vergangene Woche zeigte Tacita Dean, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, Ausschnitte aus einem Film über Claes Oldenburg. Entsprechend ihres Prinzips, Personen in einem für deren Lebenswerk bezeichnenden Kontext zu dokumentieren, hatte sie Oldenburg vorgeschlagen, er möchte seine umfangreiche Sammlung kleiner Gegenstände namens „Mouse Museum“ abstauben und sortieren. Bereits 1972 auf der Documenta 5 präsentiert, füllte diese Masse von manuell und industriell gefertigtem Klimbim – Spielzeug, Werbemittel, Ziergegenstände – ein ganzes Wandregal in Oldenburgs Studio.

So schrullig das klingt, ist eine umfangreiche Sammlung aus Sicht der Außenwelt nur bedingt wertvoller Objekte keinesfalls selten, sondern fast die Regel innerhalb einer Bevölkerungsschicht, deren Grundbedürfnisse gesichert ist. M.a.W. verfallen viele Menschen außerhalb der Notstandsgebiete irgendeiner Art von Gegenständen, deren Attraktivität sich anderen nicht zwangsläufig erschließt.

Ein gemeinsames Merkmal von Deans Filmen ist ihre Fähigkeit, das Aufgezeichnete durch kommentarlose Dokumentation über sich selbst hinausweisen zu lassen. Landschaften, Architektur, Objekte, Personen – sie alle entfalten eine über größere und tiefere Dimension durch den schnörkellosen Blick der spektakelfreien Kamera.
So auch im Fall von Oldenburgs Pflege seines archivierten Unsinns. Nach kurzer Zeit gerät das Abstauben und Ordnen persönlicher Kleinodien zur beklemmenden Metapher für menschliche Aktivität allgemein – von Misanthropen schon mal als „Stühlerücken auf der Titanic“ bezeichnet.

Während die Kamera dem Künstler näher kommt, nimmt der Betrachter dessen Perspektive ein – die mikroskopische Sicht auf dieses jahrzehntelang vervollständigte Universum aus Bling. Der Anblick der Versenkung einer Person in eine Aktivität einerseits, und das Wissen um deren Bedeutungslosigkeit für anderen andererseits1 gibt Anlass zur Frage nach ähnlich absorbierenden, dabei aber objektiv verzichtbaren Aktivitäten im eigenen und anderer Leute Alltag.

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Den gleichen Effekt hat der Anblick des erhöhten Kunstaufkommens in den Ateliers derer, die am vergangenen Wochenende Einblick in ihre Arbeits- und Lagerstätten gewährten. Seit Jahrzehnten hat der weltweit steigende Ausstoß von Kunst vormalige ProduzentInnen von der Erzeugung zusätzlicher Objekte zu prozessorientierten oder konzeptuellen Arbeiten wechseln lassen. 2010 fand Michael Landys Art Bin – ein Plexiglas-Container, der KollegInnen erlaubte, misslungene Werke vor aller Augen und in aller Form in die Tonne zu treten, begeisterte Zustimmung, schien er doch die zeitgenössischste aller zeitgenössischer Kunst in einer Phase, da das Angebot die Nachfrage in beängstigendem Ausmaß übersteigt.

Die Gründe für das Missverhältnis sind zu vielschichtig, um sie im Rahmen eines Blogbeitrags zu behandeln. Dass es sich aber so verhält, liegt auf der Hand angesichts des anhaltenden Verteilungskriegs um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Scharen von kurz- oder langfristigen Zusammenschlüssen, On- und Off-Spaces, kommerziellen Galerien, Bi-, Tri- und Quatriennalen usw. versuchen durch gemeinsame Initiative dem Schicksal der EinzelkämpferInnen „divided we stand, together we fall“ zu entgehen.

Das wichtigste Werkzeug dabei ist – wie überall – Kommunikation und Bildung. Denn nur durch das Bekanntmachen des Produkts, zusammen mit der Vermittlung des zur Rezeption erforderlichen Wissens lässt sich die Klientel erweitern.

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Darin liegt der Sinn solcher Gemeinschaftsaktionen, wie sie in unterschiedlichen Formaten zwischen Klein- und Groß-Posemuckel stattfinden. Und da ich mir öfter mal vorstelle, es ist wasauchimmerfürein „Weekend“, und keiner geht hin, gehe ich überall hin. Das ist meine Art donquichotiger Graswurzelarbeit gegen Blockbuster-Shows und prominente Bösewichter, wie sie als Star-KünstInnen oder allesfressende Mega-SammlerInnen durch die Medien geistern.

Ja klar, wie eingangs erwähnt, ist die Palette bei diesen basisdemokratischen Ereignissen ziemlich bunt, aber, wie ebenfalls erwähnt – es gibt halt nicht nur solche, sondern auch solche.




Kraut und Rüben im Regal

Als die Frankfurter Rundschau (FR) weitaus bessere Zeiten gesehen hat als heute, gab’s dort im Feuilleton eine Kraut-und-Rüben-Rubrik, welche da schlichtweg hieß: „Neue Bücher, die FR-Leser interessieren könnten“.

Unter dieser Larifari-Zeile ließen sich Bände auflisten, die die Verlage der Redaktion geschickt hatten und wofür die Lesekapazität und/oder der Platz im Blatt mutmaßlich nicht reichen würden. Man darf annehmen, dass eine Sekretärin die dürren bibliographischen Angaben abgetippt hat und die Redakteure somit ein paar Sorgen weniger zu haben glaubten.

Waghalsige Überleitung: Auch ich habe es nicht geschafft, alle mir zugesandten Bücher gewissenhaft von A bis Z durchzulesen, wie es sich für eine tragfähige Rezension gehören würde. Also muss ich es hie und da bei Schnelldurchgang und Kurzvorstellung belassen – wie es bisweilen noch jedem Kritiker und jeglichem Publikationsorgan ergeht. Zur Sache:

Nach dem fulminanten Erfolg von Zeitschriften, die das angeblich naturnahe Landleben konsumträchtig preisen, sind auch die Büchermacher hellhörig geworden. Man hat da einen „Trend gewittert“ und bedient ihn nun emsig. „Landleben. Ein Sehnsuchts-Lesebuch“ (Diogenes-TB, 363 Seiten, 10,90 Euro) passt in dieses Raster. Es versammelt (gleichsam als „Best of“) Textauszüge aus einschlägiger Literatur zwischen Tschechow („Das neue Landhaus“), Judith Hermann („Sommerhaus, später“), Adalbert Stifter („Der Waldsteig“) und natürlich Henry David Thoreau („Walden“). Es mag ja sein, dass man beim Durchstöbern die eine oder andere Anregung bekommt, der man später nachgeht, doch mich erinnert das Verfahren allzu sehr an die Barbarei, einzelne Sätze aus musikalischen Werken zu reißen und in allseits bekömmlichen Radioprogrammen abzududeln.

Im selben Verlag weckt man gärtnerische Frühjahrsgefühle auch mit sehr zartsinnigen Cartoons: Sempé „Für Gartenfreunde“ (Diogenes, 76 Seiten, 10,90 Euro) beweist abermals die unvergleichlichen Fähigkeiten dieses französischen Zeichners. Der Garten erscheint hier als letztes, oft ach so geringfügiges Refugium in brutalen Stadtlandschaften, aber auch als flirrende ländliche Idylle und erhabener Seelentrost. Wie Sempé das spielende Kind in jedem Menschen aufspürt und wie er das Individuum gegen alle kollektiven Zumutungen in Obhut nimmt, das ist so feinnervig und zugleich so groß gesehen, dass einem der Atem stockt. Keine Spur von Hass ist hier zu finden, im Gegenteil: Unverdrossene, unverbrüchliche Menschenliebe vibriert in jedem Strich. Chapeau!

Gesammelte Kolumnen enthält dieses Buch: Susanne Wiborg „Bin im Garten!“ (mit Bildern von Rotraut Susanne Berner, Kunstmann Verlag, 182 Seiten, 16,90 Euro). Hier darf man sich wirklich tief eingraben in die Gartenwelt. Nicht-Liebhaber dürfen staunen, müssen aber wohl letztlich draußen bleiben. Schon ein speziell versessenes Völkchen, diese Menschen mit dem grünen Daumen.

Noch so ein Zug der Zeit, diesmal „auf Lunge“: Abgesänge auf die Kultur des Rauchens und des Tabaks, der ja auch gleichsam gärtnerisch betreut sein will. In dieser Saison beispielsweise Gregor Hens‘ „Nikotin“ (S. Fischer, 190 Seiten, 17,95 Euro). Der 1965 geborene Schriftsteller hat mit dem Rauchen aufgehört, erinnert sich aber mit einer gewissen Dankbarkeit an so manche Zigarette und ihre zeichenhafte biographische Bedeutung. Hier darf jeder (gewesene) Raucher von Herzen mitseufzen. Und vielleicht lässt sich die unstillbare Vehemenz der Nikotinsucht ja tatsächlich auf andere Mühlen lenken?

Schon der Lokalstolz gebietet es, einen Krimi aus dem derzeit wohl einzig nennenswerten Dortmunder Verlag zu erwähnen: Lucie Flebbe „Fliege machen“ (Grafit Verlag, 251 Seiten Paperback, 8,99 Euro). Grafit hat unter Ägide seines Gründers und langjährigen Chefs Rutger Booß (der inzwischen ausgestiegen ist) den deutschsprachigen Regionalkrimi sozusagen miterfunden. Mit der Glauser-Preisträgerin Lucie Flebbe („Beste Newcomerin“) haben die Dortmunder erneut ein Talent entdeckt. Die Geschichte spielt im Bochumer Obdachlosenmilieu.

Uralte Frauen- und Männerfrage, immer wieder neu zu stellen: Geht es vielleicht auch ohne einander? Diesmal versucht sich Siri Hustvedt in dieser Disziplin. Ihr Roman „Der Sommer ohne Männer“ (Rowohlt, 253 Seiten, 19,95 Euro) beginnt mit der Krise einer altgedienten Ehe und nimmt das Frauenleben an und für sich ins Visier. Selbsterfahrung? Gewiss. Auch das. Doch auf beachtlichem Niveau, geweitet ins allgemeiner Gültige. Haben wir von dieser Autorin etwas anderes erwartet? By the way: Ich würde mal gerne Mäuschen spielen in ihrer Ehe mit Paul Auster. Ob es da noch Streit um Wichtigkeit und Ruhm gibt?

Einer der merkwürdigsten Hypes des literarischen Frühjahrs ist wohl die vom Verlag herbeigeredete Wiederauferstehung eines Romans von 1946, der in den frühen Vierzigern spielt: Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ (Aufbau Verlag, 704 Seiten, 19,95 Euro). Die eindringliche Schilderung Berlins in der NS-Zeit und einer hoffnungslosen Widerstands-Geschichte kommt auf Umwegen über Frankreich, die USA und einige
weitere Länder zu uns zurück. In der Ferne gilt Fallada nun angeblich als eine der Größen der deutschen Literatur. Der Roman liegt hier erstmals auf Deutsch in ursprünglicher Gestalt vor – mitsamt der zwischenzeitlich getilgten Stellen, die ein Lektor aus Gründen politischer Korrektheit eliminiert hatte. Der Text wirkt somit roher und unbehauener als vordem. Man lese – oder man lese nicht. Mit der brunzdummen „Must have“-Attitüde der aufgekratzten Marketing-Leute ist auf diesem Gebiet eh nichts zu holen.