Meerjungfrauen und mongoloide Kinder: Eine postdramatische Theaterparodie

"Die Schauspielerin (Katharina Ley) reißt Josef Ackermann engagiert die Maske vom Gesicht. Foto: Thomas M. Jauk

"Die Schauspielerin (Katharina Ley) reißt Josef Ackermann engagiert die Maske vom Gesicht. Foto: Thomas M. Jauk

Auch wenn man als Dramatiker gerade einmal 30 Jahre alt ist, kann man dem Theaterbetrieb einmal so richtig den Zerrspiegel vorhalten. Genau das tut Autor Wolfram Lotz in seinem bereits mit dem Kleist-Förderpreis gekrönten Stück „Der große Marsch“, das nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen seine Uraufführung erlebte. Seine Thesen sind zwar nicht unbedingt originell, aber unterhaltsam und durchaus ungewöhnlich verpackt. Leider haben sie in der lahmen Inszenierung des Saarländischen Staatstheaters keine Chance.

Die Bühne (Florian Barth) ist eine Showbühne samt Treppe, gegeben wird Theater im Theater: Eine Schauspielerin (Katharina Ley) moderiert eine Revue, mit der das Theater beweisen will, wie kritisch und politisch es doch ist. Allzu schnell zeigt sich jedoch die ideologische Verbohrtheit der Theatermacher, die echte Sozialhilfeempfänger auf die Bühne zerren („Sie sind die Opfer der Gesellschaft!“) und in pseudokritischen Interviews Josef Ackermann und Arbeitgeberpräsident Hundt auf den Zahn fühlen. („Armut findet konkret statt in unserer Wirklichkeit!). Der erste Teil handelt also vom Scheitern dieses Ansatzes – am Ende liegt das Theater, wie die Regieanweisungen genussvoll schildern, in Trümmern, der Regisseur flieht, das Publikum verlangt sein Geld zurück.

Das tat das Recklinghäuser Publikum nun nicht, was vielleicht an der schönsten Szene des Abends liegt: Das üppige, für die Sozialhilfeempfänger gedachte Buffet („Sie armen Leute, jetzt nimmt jeder einen Gemüsebratling“) wurde vor der Pause für das Publikum freigegeben. Während „der Autor“ (Gertrud Kohl) aus seinen Regieanweisungen vorliest, dass sich das Publikum zögernd an die Buletten wagt, tut das Publikum eben dies. Regieanweisungen und Realität werden eins.

"Die Sozialhilfeempfänger" stehen schüchtern am Buffet, von dem sich am Ende das Publikum bedienen darf. Foto: Thomas M. Jauk

"Die Sozialhilfeempfänger" stehen schüchtern am Buffet, von dem sich am Ende das Publikum bedienen darf. Foto: Thomas M. Jauk

Und so erschien das Publikum zum dritten Teil nahezu vollzählig wieder und verfolgte nun von der Bühne aus, wie Lotz das Theater gerne hätte. Der Zerrspiegel war verschwunden, es ging nun um Visionen. Als Kronzeugen lässt Lotz unter anderen Prometheus und Anarchie-Theoretiker Bakunin auftreten sowie einen gelähmten Dichter und seine eigene Mutter. Nach Lotz’ romantischem Ideal agiert das Theater komplett autonom, befreit sogar von den Gesetzen der Schwerkraft oder der Sterblichkeit: Theater hat sich gefälligst nicht an der Realität zu orientieren. Fiktion muss die Wirklichkeit verändern!

In der zweitschönsten Szene des Abends erklärt ein engagiert-entrückter Prometheus (Klaus Meininger) der verzweifelten Moderatorin, wie man die Sterblichkeit abschaffen kann: „Wir müssen nur die Seegurke fragen!“ Das ist schön irre, das ist interessant – schließlich ist der Meeresbewohner tatsächlich potentiell unsterblich, doch die Schauspielerin dreht durch und stellt ihre Rolle in Frage, ganz im Stil von René Pollesch: „Ich muss hier einstehen für irgendwas, für das Theater muss ich hier immer einstehen!“

"Der Regisseur" (Georg Mitterstieler) im Kampf mit der Schlange, Symbol des Kapitalismus (Nina Schopka). Foto: Thomas M. Jauk

"Der Regisseur" (Georg Mitterstieler) im Kampf mit der Schlange, Symbol des Kapitalismus (Nina Schopka). Foto: Thomas M. Jauk

Schon die Liste der handelnden Personen macht klar: Dieses Stück kann nicht einfach abgespielt werden, es verlangt nach einer Regie, die sich alle Freiheiten nimmt. Lotz hat ein Stück postdramatisches Theater geschrieben und beim Schreiben wohl an Regisseure wie Frank Castorf (oder Pollesch) gedacht. Was er mit Regisseur Christoph Diem bekommen hat, ist das Gegenteil: Eine mutlose Inszenierung, die sich fast sklavisch an die Vorgaben hält und dort, wo es nicht geht, ins Theatralisch-Platte ausweicht. Statt der geforderten 50 singenden Meeres-Nymphen tritt stellvertretend eine attraktive Schauspielerin im Meerjungfrau-Kostüm auf, und wenn Lotz „21 mongoloide Kinder“ fordert, lässt Regisseur Diem tatsächlich das gesamte Ensemble samt Technikern dümmlich lächelnd herumlaufen. Am wenigsten bekommt dem Stück aber die unerträgliche Langsamkeit. Vor allem in den Dialogen fehlt Tempo, ganzen Szenen mangelt der Schwung.

Das alles ist fatal. Denn Lotz’ wichtigste Botschaft – das Theater erschaffe seine eigene Welt – ist nicht so tiefschürfend und kompliziert, dass man sie dem Zuschauer einhämmern müsste (was die Inszenierung mit einem Chor im Epilog tatsächlich tut!). Am Ende entsteht also genau die Art von Theater, gegen die Wolfram Lotz mit „Der große Marsch“ angeschrieben hat.

(Der Artikel ist aus dem Westfälischen Anzeiger).




Was hättest Du getan?

Melanie Lüninghöner und Liam Adler in "Waisen". Foto: Birgit Hupfeld

Melanie Lüninghöner und Liam Adler in "Waisen" Foto: Birgit Hupfeld

Ein Stück „über das, was hier und jetzt passiert“ und über das, „woran man glaubt“ wollte der britische Dramatiker Dennis Kelly schreiben – und hat mit „Waisen“ tief in das Herz unserer Gesellschaft geschossen. Schauspieldirektor Kay Voges positioniert seine Inszenierung im ehemaligen Gebäude des Ostwallmuseums und rückt sie so atemlos nah an uns heran.

Im ersten Moment fühlt man sich wie bei einer Vernissage: Videos von Daniel Hengst zeigen Szenen der Stadt, interessiert beschaut von den Besuchern, die durch die wohlbekannten Museumsräume wandeln. Die Holzbox im Lichthof wirkt da fast wie ein Störfaktor, eine Black Box, in die sich doch nach und nach alle hineinbegeben. Um den eigenen Monstern hallo zu sagen.

Gut 80 Menschen passen in den geschlossenen Raum, den Michael Sieberock-Serafimowitsch erdacht hat: Wie in einer Art Karton im Karton sitzen sie zweireihig um ein winziges Wohnzimmer herum, zum Greifen nah an Helen (Melanie Lüninghöner) und Danny (Frank Genser), die sich gerade auf ein romantisches Abendessen vorbereiten – als plötzlich Helens Bruder Liam (Christoph Jöde) blutverschmiert hereinbricht in diese gediegene Atmosphäre. Er habe einem verletzten Araber helfen wollen. Doch Liam verstrickt sich in Lügen, so dass schon bald nicht mehr klar ist, wer Opfer und wer Täter ist. Helen aber will partout nicht die Polizei rufen, um ihren vorbestraften Bruder zu schützen.

Mit schrecklicher Konsequenz treibt Kay Voges das Geschehen voran: Was als beinahe Hitchcockscher Krimi mit satirischen Akzenten beginnt, wird bald zu einem Kammerspiel des bürgerlichen Grauens. Die drei Figuren bewegen sich rasant auf den Abgrund zu. Kelly treibt sie mit unerbittlicher Härte in immer komplexere Fragen. Es geht um das Verhältnis von dem Eigenen und dem Fremden und darum, wie schnell unsere moralischen Werte korrumpiert werden, wenn jene involviert sind, die wir lieben. Unterdrückte Sehnsüchte, Ängste und Aggressionen sowie dumpfer Fremdenhass zeigen immer deutlicher ihre Fratzen.

Melanie Lüninghöners Helen wirkt wie ein Vulkan, in dem Wut, bedingungslose Loyalität und gewalttätige Mitleidlosigkeit brodeln, hin- und hergerissen zwischen vernunftheischender Kontrolle und gnadenloser Manipulation. Christoph Jöde schafft als Liam den Sprung vom hyperaktiven, nervösen Asozialen zum bösartigen Neider. Zwar fällt Frank Genser als Danny am Ende im Vergleich ein wenig ab – insgesamt jedoch erzeugt das Trio einen beklemmenden Sog, dem man sich als Voyeur nicht entziehen kann.

Die Zuschauer leiden, schwitzen, atmen mit, schauen zu den anderen und in sich hinein: Was hättet Ihr getan – und was ich?

(Der Artikel ist aus der Westfälischen Rundschau).




Soziale Miniaturen (2): Kontoauszug

Ein stilecht abgewrackter Punk schlurft daher, heftig tätowiert, flächendeckend gepierct. Wie es das Klischee verlangt.

Auf seinem rissigen Shirt prangt die Aufschrift „Ihr seid alle ätzend!“ Hasserfüllt die ganze Haltung, jeder Blick Abwehr und Angriff. Oh, der hat Schluss gemacht mit allen Übereinkünften. Der ist sternenweit entfernt von jedem Spießertum, von jeder Normalität. Fast könnte man ihn beneiden.

Doch was tut er jetzt? Er nestelt aus dem abgewetzten Rucksack seine EC-Karte der Volksbank hervor, verschafft sich routiniert Zutritt zum Raum mit den Geldautomaten seines Vertrauens. Zieht alsdann noch die Kontoauszüge, damit das gleichfalls seine Ordnung hat. Gewiefte Marketing-Strategen könnten mit ihm ein Filmchen drehen und so für die allseits tolerante Bank werben. Man will nicht wissen, über wie viel Geld er verfügt. Doch posiert er mit blindwütiger Verachtung gegen allen Besitz. Darf man das nicht Verlogenheit, gar Idiotie nennen?

Jaja, gewiss: „Das System hat alle vereinnahmt, man kann ihm nicht entrinnen.“ Welch eine betrüblich billige Schlussfolgerung aus solch einem winzigen Vorfall. Doch ist sie falsch?