„Humboldt-Box“: Temporäres Raumschiff mitten in Berlin

Nach der Wende wurde Berlin nicht zur Hauptstadt der Deutschen, sondern auch zur Metropole des Temporären und Unfertigen.

Keine Kunst, kein Neubau ohne Infobox und Eventprogramm. Die Baustelle am Potsdamer Platz konnte man von einem auf Stahlstelzen stehenden riesigen roten Container aus verfolgen. Weil ein Haus für moderne Kunst fehlte, baute man einen „White Cube“ vors Rote Rathaus.

Jetzt ist in der historischen Mitte Berlins, in direkter Nachbarschaft zu Lustgarten, Museumsinsel und Dom, ein außerirdisch anmutender Würfel aus Glas und Beton gelandet. Wo einst das vom Krieg zerstörte und von Walter Ulbrichts Baubrigaden weggeräumte Hohenzollernschloss stand und nach dem Abriss des asbestverseuchten Palastes der Republik ein städtebauliches Loch gähnt, steht nun die „Humboldt-Box“: 28 Meter ist sie hoch, auf fünf Etagen und 3000 Quadratmetern gibt es Ausstellungsflächen und Erlebnisräume, Veranstaltungsbereiche und Museums-Shops. Und ganz oben wartet nicht nur nicht nur ein schickes Restaurant, sondern auch ein fantastischer Rundblick über Berlins Mitte.

Die „Humboldt-Box“ soll Appetit machen und einen Überblick ermöglichen über das, was auf der daneben liegenden architektonischen Wüste einmal entstehen soll: Das Humboldt-Forum, das im wieder aufgebauten Berliner Schloss zur Heimstatt für ein multikulturelles Projekt aus ethnologischen Sammlungen, Universitätsforschung, Bibliothek und Debattenforum werden soll.

Wenn es denn entsteht. Denn seit der Bundestag 2002 ein parteiübergreifendes Bekenntnis zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses ablegte, ist viel architektonisches und politisches Porzellan zerschlagen worden. Der Wettbewerb, aus dem der italienische Architekt Franco Stella mit seinem Entwurf (drei barocke und eine postmoderne Fassade) als Sieger hervorging, hatte ein juristisches Nachspiel. Außerdem wurde der für 2011 geplante Baubeginn wegen der Finanzkrise auf 2013 verschoben. Ob die wieder aufgebaute Schlosshülle mit einer nach historischem Vorbild rekonstruierten Glaskuppel versehen wird, steht in den Sternen: Die dafür anfallenden 28 Millionen Euro will niemand berappen.

Überhaupt wird mehr um das liebe Geld als um das noch immer nebulöse museale und künstlerische Konzept des Humboldt-Forums gestritten. Bisher galt: 440 Millionen Euro kommen vom Bund, 32 Millionen vom Land Berlin, 80 Millionen aus Spenden, die ein von Wilhelm von Boddien gegründeter Förderverein auftreiben soll. Derzeit sind aber erst 15 Millionen in der Kasse, für 7 Millionen gibt es unverbindliche Zusagen. Boddien: „Ich hoffe, dass mit der Humboldt-Box der Spenden-Knoten platzt!“ Ob die vom Berliner Architekturbüro „Krüger Schuberth Vandreike“ und von der Firma Megaposter (Neuss) betriebene Box auch den Bund ermuntern wird, den wegen des späteren Baubeginns anfallenden Inflationszuschlag von 28 Millionen Euro auszugleichen, entscheidet sich in den kommenden Tagen.

Hermann Parzinger, als Leiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oberster Schlossherr, freut sich über die mit Architekturmodellen, ethnologischer Kunst und interdisziplinären Büchern voll gestopfte Box. Kritikern, die über das futuristische Raumschiff die Nase rümpfen, tröstet er: „Je schneller das Schloss kommt, desto schneller ist die Box wieder weg!“ Wenn alles gut geht, der Bau termingerecht abgewickelt wird und die versprochenen Gelder tatsächlich fließen, könnte das im Jahr 2019 der Fall sein. Ernsthaft glaubt daran aber niemand.

Humboldt-Box, Schlossplatz 5, 10178 Berlin, täglich 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2,50 Euro, Kinder bis 12 Jahren freier Eintritt, Humboldt-Terrassen: täglich bis 23 Uhr. http://www.humboldt-box.com

(Bild = Simulation: Megaposter GmbH, Neuss)




Soziale Miniaturen (8): Geschlossene Abteilung

Sie haben J. in die „Geschlossene“ eingewiesen, denn er ist mehrmals aus dem Altenheim geflüchtet. Die Polizei musste ihn jeweils einfangen. Wie schnell dann solch eine Einweisung geht.

Er gehört hier ganz offenkundig nicht hin. Ringsherum die schweren „Fälle“, stundenlang in endlos wiederholten Bewegungen kreisend. Ob ihnen noch zu helfen wäre? Das übersteigt nicht nur den Laienverstand.

Mit J. ist man schlichtweg „nicht fertig geworden“, wie es schon bei widerspenstigen Kindern heißt. Er beharrt auf seinen Rechten. Er will hier raus. Er schreibt Briefe an Behörden, „Eingaben“, mit sorgfältig ausgeschnittenen Pressezitaten gespickt. Er droht, dem „Focus“ das brisante Material zuzuspielen. Manchmal redet er krauses Zeug, das sich nicht erschließt, doch dann ist er wieder ganz und gar zugänglich und zugewandt. Ein Irrer ist er nicht, schon gar nicht gemeingefährlich.

Als der leitende Arzt über den Flur stolziert, macht J. seine Scherze über diesen „Cowboy“. Ja, so nenne man den. Und tatsächlich scheint es, als könnte der jederzeit den Colt ziehen und gegen die Verrückten richten. Der lässt sich nicht reinreden. Von niemandem. Der regiert seine eigene Welt, ein geschlossenes System. Er ist der mächtigste Insasse.




Aus der Sehnsucht nach einem „Käfer“ wurde eine Kunstsammlung

„Wäre ich nicht Westfale, Sie würden unschwer feststellen, welche Begeisterung mich gerade bewegt!“ Thomas Hengstenberg untertreibt. Selbst seine westfälische Herkunft kann nicht verdecken, dass dieser Mensch irgendwo zwischen Glückseligkeit und überbordendem Stolz schwebt, wenn er von Frank Brabant, vom „Haus der Moderne“, vom Werden der einstigen Schlossruine zum wundervollen „Haus Opherdicke“ in Holzwickede und wieder von Frank Brabant spricht. Thomas Hengstenberg stimmt einige Lokalpolitiker (darunter durchaus wuchtige Skeptiker) auf den Rundgang durch die obere Etage ein, wo sich, begleitet von seiner wahrhaft liebevollen Fürsorge, Werke aus der Brabant-Sammlung zu einer, selbst Laien berührenden Ausstellung „Frauenansichten“ zusammengefunden haben. Doch zuvor müssen/dürfen sich die etatgewaltigen Damen und Herren sich anhören, wie es dazu kam und was sie mit kommunalen Umlagefinanzen unterstützen.

Irgendwie fanden sich diese beiden, Thomas Hengstenberg, Kulturverantwortlicher des Kreises Unna, westfälisch-dynamisch-beharrlich, und Frank Brabant, Schweriner von Geburt, Wiesbadener vom Wohnsitz und seit jungen Jahren der Jäger des verlorenen VW-Käfers. Denn auf den hatte er eigentlich gespart, setzte dann aber die Barschaft ein, um sich das erste Bilde zu kaufen. Der Sammlertrieb war erwacht, der Käfer blieb ungekauft, dafür aber folgten um die 500 weitere Kunstwerke, deren Schöpfer sowohl die Hall of Fame der Moderne füllen, als auch der breiten Masse unerkannt blieben, dafür aber den kennenden Betrachtern ein ehrfürchtig-anerkennendes Zungenschnalzen entlocken.

Nur am Rande, wir reden hier von Marc, Pechstein, Kirchner oder Corinth. Und doch waren es nie die Namen, die Frank Brabants Interesse weckten, es war stets das Sujet des jeweiligen Bildes. Anekdotisch also auch der erste Kontakt der beiden Männer aus Westfalen und Schwerin/Wiesbaden. Thomas Hengstenberg stand da etwas zurückhaltend vor dem unbekannten, aber bekannteren Frank Brabant und erläuterte, dass er eine Ausstellung aus seiner Sammlung zusammenstellen wolle. „Was meinen Sie dazu“, sagte der und hielt ihm einen Picasso vor die Augen. Lakonisch entgegnete das Gegenüber: „Belangloses Bild, aber ein Picasso, Sie haben da ein Juwel.“

Das war die Sache mit dem Funken, nach dessen Sprung alles geklärt schien, nein war. „Machen Sie das und suchen Sie aus“, sagte Frank Brabant und ein paar Glas Wein später nur noch Frank bzw. Thomas. Und darauf begann der Gedanke zu keimen, dass man (also Frank und Thomas) der Brabant-Sammlung ein eigenes Haus geben sollte. Indes, Begehrlichkeiten nach dem kunstgeschichtlichen Schatz gab und gibt es viele, die Geburtsstadt des Sammlers Schwerin, oder der Wohnort des Sammlers Wiesbaden. Doch Thomas Hengstenberg ist zuversichtlich, dass er gemeinsam mit Frank Brabant die gangbaren Wege finden wird. So wie sich der Weg zum „Haus der Moderne“ im Schloss erschloss. Allerlei finanziell helfende Hände fand der Kulturförderer des Kreises Unna, viel Unterstützung grub er auch aus dem Kulturhauptstadtjahr und sorgte für ein Facelifting des ehemaligen Wasserschlosses (die Grafen Berghe von Trips waren mal Eigentümer), das seinesgleichen sucht. Das „Haus der Moderne“ hat einen historischen Anzug, und der steht ihm vortrefflich. Der Besuch lohnt sich, in allerlei Hinsicht. Es lohnt eine schöne Ausstellung, in schönem Ambiente – und es lohnt ein Abstecher in den Keller, wo handgemachter Kuchen gereicht wird, ebenso üppig portioniert wie schmackhaft.

Haus Opherdicke
Dorfstraße 29
59439 Holzwickede
Fon 0 23 01 / 9 13 40-20
Fon 01 71 / 7 44 78 53
Öffnungszeiten zur Ausstellung „Frauenansichten – Mutter, Muse, Femme Fatale“ aus der Sammlung Brabant: Noch
bis 10. Juli 2011
Dienstag bis Sonntag
10.30 bis 17.30 Uhr
Eintrittspreise: 4 Euro für Erwachsene, 3 Euro für Ermäßigungsgruppen (Schüler, Studenten, Wehrpflichtige, Zivildienstleistende mit Ausweis), 8 Euro für Familien
Für Schulklassen ist der Eintritt frei

Bild: Alexej von Jawlensky „Madame Curie“, 1905 (VG Bild-Kunst, Bonn, 2011)




Essen und gegessen werden

Das Verfahren hat sich bewährt: Man nehme einen ortsspezifischen Ort und rufe Kunstschaffende zur Einreichung ortspezifischer Werke auf. Dem Ort tut das gut, weil er in der Regel nicht gerade im Brennpunkt öffentlichen Interesses steht. Vielmehr gilt häufig das Prinzip „bring in the Clowns.“ Mit andern Worten: Wenn die Abrissbirne bereits Anlauf nimmt, holt die Künstler! So kommt man nochmal in die Zeitung und wird vieler schöner Synergieeffekte teilhaftig.

Den KünstlerInnen tut das auch gut, weil die Aufforderung zur Reaktion auf ungewohnte Gegebenheiten entweder zur Erweiterung des eigenen Aktionsradius verleitet, oder aber Gelegenheit bietet, bestehende Arbeiten umzuetikettieren – will sagen: „einer Revision zu unterziehen“.

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Entgegen dieser fahrlässigen Verallgemeinerung findet die neunte Ausgabe der Ausstellung „Vogelfrei“ in keiner zum Abschuss freigegebenen Asbestfabrik statt, sondern in einem Schloss und dessen Park. Letzterer ist traumhaft schön, Ersteres, ist was ortspezifische Orte nun mal sein müssen: eine Herausforderung. Gebildete BesucherInnen schätzen es als fürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jh., weniger gebildete Gutmenschen als Beinhaus, das über die gewöhnungsbedürftige Freizeitgestaltung dekadenter Feudalherren Aufschluss gibt.

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

Wo nämlich Fachleute Zeugnisse waidmännischer Großtaten erblicken, sieht das unbewaffnete Auge Gemächer voll Leichenteile. Dabei müssen Jagdtrophäen gar nicht derart bizarre Formen annehmen, um an die Opferriten zu erinnern, in deren Verlauf Tiere mit viel Erfindungsgeist nieder gemetzelt wurden.

Hinter jedem Geweih verbergen sich Hetzjagd und Todeskampf – Tatsachen, denen Werner Henkels Installation die Anschaulichkeit zurückgibt, welche die heroischen Ziegen an der Wand vermissen lassen.

Werner Henkel "5 Rotwild-Silhouetten", 11, © Ute Ritschel & Zentrum f. Kunst u. Natur e.V.Einige der 20 TeilnehmerInnen hat die von Kuratorin Ute Ritschel ausgegebene Losung „Jäger und Sammler“ auf die einfallsreichen Vorrichtungen aufmerksam gemacht, die den Herren zu Kranichstein das sportliche Massaker erleichterten – sogenannte Jagdschirme z.B, die den Schützen ungestörtes Zielen außerhalb des Einzugsgebiets ungehaltener Wildschweine erlaubten.

Die in diese Barrikaden eingelassenen Schießscharten bildet Anjali Göbel aus geflochtenem Holz nach, suggeriert aber durch deren Anordnung eine zeitgenössische Variante der einstigen Treibjagd. Schließlich erinnern die in alle Richtungen weisenden Trichter an primitive Lautsprecher, wie sie noch heute zwecks Verbreitung öffentlicher Botschaften zur Anwendung kommen (egal ob politische Agitation, oder auch nur „57, bitte an die 10“).

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Auch das für Jagdhunde damals gebräuchliche Stachelhalsband, das diese ebenfalls vor unerwünschter Annäherung seitens besagter Wildschweine schützte, empfindet die Künstlerin auf vieldeutige Weise nach.

Göbel, ohne Titel (Gleditschienendornen), 11, Foto CL

Apropos vieldeutig: Eine gewisse Bedeutungsoffenheit kennzeichnet etliche Arbeiten, die eine differenzierte Haltung der KünstlerInnen gegenüber dem Phänomen des Jagens von Tieren erkennen lassen. So sind sich viele der Bedeutung der Jagd als Kulturtechnik bewusst – und damit umso deutlicher der Diskrepanz zwischen der Jagd als Kampf ums Überleben auf Augenhöhe, und ihrer Perversion, bei dem eingepferchtes Wild vom Balkon aus erlegt wurde.

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Tatsächlich verdankt sich ihre kopflastige Körperlosigkeit einer Veranstaltung am Eröffnungswochenende, in deren Verlauf die Künstlerinnen das Publikum aufforderten, aus den von ihnen mitgebrachten Stofftieren jeweils ein Opfer auszuwählen, das darauf hin „geschlachtet“ und „zubereitet“ wurde. Die Ergebnisse dieser in Gastronomie und so mancher Religion gängigen Prozedur finden sich über das gesamte Anwesen verteilt.

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Eine wohltuend unseriöse Variante der Schädelstätte hingegen installierte Henkel inmitten der Totenkopf-Galerie.

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

So präzise die erste Hälfte des Ausstellungsthemas, so vage die zweite: das Sammeln. Die semantische Unschärfe des dehnbaren Begriffs erleichterte den TeilnehmerInnen die Auswahl geeigneter Arbeiten keineswegs, weil irgendwie halt irgendwie alles irgendwie irgendwas mit Sammeln zu tun hat.

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Umso bemerkenswerter, dass kaum jemand angesichts dieser nichts und alles sagenden Arbeitsanweisung ins Archiv griff. Waltraud Munz etwa reichert die ortsansässige Pilzansammlung mit Blech-Pilzen an.

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese versammelt Rindenstücke auf menschlichen Torsos – eine Reminiszenz an Daphne und die viel zitierte Verwandtschaft von Mensch und Baum.

Helina Hukkataival lädt zum Mineral-Orakel, indem sie von BesucherInnen mitgebrachte Lieblingssteine mit Grafit auf Papier frottiert und die BesitzerInnen die Zeichnung nach Art des Bleigießens interpretieren lässt.

Wem sich hierbei der Zusammenhang zum Stichwort Sammeln nicht auf Anhieb erschließt, sei getrost: Mir auch nicht.

Aber das ist ja das Interaktive an Themenausstellungen. Denn wo der Bezug zwischen aktuellem Thema und bewährtem Vorgehen nicht sofort ersichtlich ist, ist die Kreativität der BetrachterInnen gefordert, sie herbei zu fantasieren.

Bis 2. Oktober kann man sich bei Darmstadt persönlich davon überzeugen, wie unverzeihlich es von mir ist, ausgerechnet die dreizehn hier nicht erwähnten KünstlerInnen nicht zu erwähnen.

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

 





„The Tree of Life“: Evolution und Alltag

Meine weise Oma mahnte gern: „Kind, geh nicht am Samstagnachmittag ins Kino, wenn es regnet.“ Sie hatte wie immer Recht.

Mein Leib- und Magenkino, das Metropolis in Köln, war krachend voll, obwohl der Film als OF angekündigt war. Solchen Informationen ist nie zu trauen: es war OmU. Es wird allerdings im Film ziemlich wenig gesprochen, und das bisschen Text wurde nur blitzartig kurz eingeblendet. So gesehen…

Der Film also, von dem ich nicht mal Trailer gesehen, von dem ich generell nur kurz eingestöhnte: „Hach, schön…“ vernommen hatte, begann dramatisch. Weniger die Handlung (erst mal keine für ne gefühlte Stunde) als die Bilder. Bilder in überwältigenden Farben und Beweglichkeiten. Überwältigend! GEO und National Geographics all rolled in one mit orchestraler Musik dazu. Die Evolution im Zeitraffer. Prächtige Szenen mit Vogelschwärmen, die balletös ihre Choreographien in den Himmel tanzen.

Es ist eine solche Wonne, den Meeren und Urwäldern, den Vulkanen und Gletschern, Meteoriten und der eruptierenden Sonne beim Evolutionieren zuzuschauen, dass man vorübergehend ganz vergisst, dass doch nun bald mal Brad Pitt, Jessica Chastain und Sean Penn ins Bild treten sollten. Das tun sie dann aber auch. Die Menschenstory des Films beginnt. Bezeichnend ist, dass es kleine Episoden sind, die nicht sofort in einem Zusammenhang stehen. So erkennen wir zwar an den Reaktionen der Eltern, Mr. & Mrs. O’Brian (Pitt, Chastain), dass etwas Schreckliches passiert sein muss, aber wir sehen nicht, wie, wir ahnen das Was.

Wir sehen in Flash-backs die Geburten der drei Söhne, wie sie in den Fünfzigern in der Kleinstadt Waco in Texas aufwachsen, ein ganz normales Leben führen. In der ruhigen Straße spielen, Unsinn machen, mit Nachbarskindern Streiche aushecken. Wir fühlen ihre vertrauensvolle Zuneigung zur Mutter, einer elfenhaften jungen Frau, die ihre Kinder liebt, ihnen Raum gibt, ihre starke innere Bindung zu ihnen, ganz besonders zu Jack. Ihre Liebe soll ihnen die Kraft geben, die unkontrollierten Ausbrüchen des Vaters durchzustehen. Der Vater ist ein strenger Mann. Er ist emotional verschüttet. Er bedrängt die Kinder, misshandelt sie seelisch. Besonders der älteste Sohn, Jack, leidet unter ihm, versucht sich mit ihm auseinander zu setzen. Mr. O’Brian wäre gerne ein guter, ein perfekter Vater, er möchte gern eine funktionierende, eine liebevolle Beziehung zu seiner Frau und den Söhnen, aber er kann aus seinem Korsett nicht raus. Er wäre gern ein Künstler geworden, ein Pianist, spielt aber nur Orgel in der Kirche und zu Hause am Klavier.
Es ist ein Leben, das Millionen von Amerikanern so gelebt haben, so auch in Zukunft leben werden.

Die kurzen Episoden sind immer wieder von den dramatisch schönen Bildern der Schnee- und Sandwüsten und Gebirge und Tetonen, der Saurier und Meeresbewohner umrahmt. Eine ruhige Stimme legt sich über die Szenen mit der Familie.
Trotz der Wucht der Bilder, trotz der tyrannischen Vaterfigur, trotz der elfengleichen Mutter ist es ein harmonischer Film.
Jessica Chastain ist… lieblich und herb zugleich. Worte, die ich eher bei der Beschreibung von Wein anwende. Sie ist Harmonie in einen schönen kleinen Körper gegossen. Es gibt eine Szene, in der sie auf dem räudigen Rasen vorm Haus steht und sich mit dem Gartenschlauch die Füße – schöne Füße – abwäscht. Ich rieche den warmen Sommerabend, spüre die flirrende Luft, höre die Abendgeräusche – und mittendrin Jessica Chastain, Mrs. O’Brian, die Waldfee mit dem plätschernden Wasser. Sinnlich.

Brad Pitt gab diesmal nicht den knackigen Helden. Die ersten Bilder zeigen ihn von hinten seitlich, was ihn bräsig und ein bisschen schweinebackig aussehen lässt. Später tritt er als korrekt gekleideter, disziplinierter Büroangestellter auf. Sean Penn – der “dignified” altert – ist der erwachsene Sohn Jack. Sean Penn ist… nun, Sean Penn, den ich sehr schätze.
Der Regisseur, Terrence (Terry) Malick hat erst vier Filme gemacht. Nun kenne ich drei davon. “A thin red Line” ist einer davon. An seinen Ersten, „Badlands“ erinnere ich noch sehr gut. Da spielte übrigens Sissy Spacek mit, damals grade 24, sechs Jahre jünger als Chastain in „Tree of Life“. Die beiden sind sich frappierend ähnlich. Ich bin nicht überrascht über die Besetzung in Malicks nächstem – bisher titellosem – Film, der 2012 rauskommen wird. Hier spielt Chastain wieder mit. Zusammen mit Javier Bardem. Vorsichtige Vorfreude ist angesagt.

Bis dahin schaut Euch „Tree of Life“ an, lasst es auf Euch wirken, lasst Euch darauf ein. Trotz einiger Abstriche, auf die ich bewusst nicht eingehe, ist das ein sehenswerter Film.

Von mir vier Sterne auf meiner eigenen Richterscala von Fünf.




„Source Code“: Floh im Kopf

Meine Oma war eine weise Frau. Und sie kannte alle guten Ratschläge, die eine Oma zu kennen hat. Einer der wichtigsten war „Kind, lass dir keinen Floh in den Kopf setzen“. Oma zitierte nicht immer ganz korrekt, aber doch treffend. Um so einen Floh im Kopf geht‘s hier.

Colter Stevens (Jake Gyllenhaal) findet sich als Passagier in einem Zug, der nach acht Minuten Laufzeit des Films explodiert. Und nun kommt so eine Art Molekülar Science ins Spiel. Ein militärisches Team von Wissenschaftlern hat ausgetüftelt, wie man Hirne von Menschen auch nach deren Ableben noch anzapfen kann.

Also haben wir hier einen Science Fiction-Film. Nicht so mein Fall, normalerweise. Weil das oft so weit hergeholt ist, dass es bereits ans Fantasy-Genre grenzt. Und viel Fantasie braucht man hier schon, und allerhöchste Aufmerksamkeit. Außerdem tendiert der Film auch stark in Richtung Thriller. Die Science, auf der diese Operation beruht, scheint jedenfalls ziemlich fragwürdig, auch wenn der Zweck die Mittel heiligt. Denn im Verlauf des Films wird Colter versuchen, die Vergangenheit zu verändern.

Vielleicht sollte ich hier davor warnen, weiterzulesen, weil es nicht ohne einige verräterische Hinweise abgeht, wenn ich überhaupt irgendwas über den Inhalt des Films erzählen soll – spoilers also –, aber ich verrat doch mal ein bisschen.

Colter also befindet sich plötzlich in diesem Zug und spricht mit der ihm unbekannten Christina (Michelle Monaghan), die ihn aber zu kennen scheint, und die ihn “Sean” nennt. Als Colter sich im Bordklo im Spiegel anschaut, erkennt er sich nicht, ein fremdes Gesicht blickt ihm entgegen. Nach und nach erfährt er, was die Militärwissenschaftler vorhaben. Colter, der nach eigenem Wissensstand grad einen Einsatz im fernen Osten hinter sich hat, ist in den Kopf eines Mannes gebeamt worden, der an Bord des explodierten Zuges war. Colter Stevens jedoch befindet sich in einem militärischen Labor, seine Ansprechpartnerin ist die Wissenschaftlerin Colleen Goodwin.

Im Zug gab es keine Überlebenden. Um dem Attentäter auf die Spur zu kommen, muss Colter also wieder und wieder die letzten acht Minuten vor der Explosion durch die Wahrnehmung des Passagiers Sean erleben. Er soll jede noch so kleine Handlung, Äußerung, Bewegung registrieren und ihr nachgehen. So, das hoffen die Militärs, wird er ihnen helfen, den Bombenleger zu finden und weitere Anschläge zu verhindern. Wie er seine Beobachtungen verwertet, bleibt Colter überlassen. Er hat Handlungsfreiheit, aber schnell sollte es gehen. Immer wieder laufen die acht Minuten an ihm vorbei, und er merkt, dass er sich an seine vorherigen Beobachtungen erinnert. Die anderen in seinem Abteil haben diese Erinnerungen nicht. Alles, was Colter in den jeweiligen acht Minuten tut, erleben sie zum ersten Mal.

Im üblichen Action-Thriller dieser Art gibt der Täter meistens nachträglich kleine Hinweise, er ruft an, droht, fordert, pöbelt oder hinterlässt ganz allgemein Spuren, denen die Polizei nachgehen kann. Das ist hier nicht der Fall, denn alle Spuren, die auf ihn hinweisen könnten, sind ja mit der Explosion in Feuer und Flamme verschmaucht.

Das alles ist wirklich sauspannend, wenn man es einfach auf sich wirken lässt. Hinterfragen sollte man die wissenschaftliche Durchführbarkeit nicht. Nicht umsonst nennt man solche Filme Science FICTION. Andererseits, Männer sind über den Mond spaziert, Herzen wurden verpflanzt, ganze Körperteile sogar… warum nicht auch Hirnaktivitäten?

Mir hat der Film gut gefallen, abgesehen von der hochgradigen Spannung seh ich Jake Gyllenhaal sehr gern, und Michelle Monaghan (keine der Hollywood- Zuckerbäcker-Cuties) auch.

Duncan Jones, der Regisseur, der ja schon 2009 mit „Moon” ein spannendes SciFi-Thema verfilmte, hat die richtige Einstellung: Man nimmt eine abwegige Idee und schaut mal, wohin sie führen kann. Übrigens ist Jones der Sohn von David Bowie und „Source Code” ist erst sein zweiter Film. Bleibt Sci-Fi vielleicht sein Thema? Wenn die kommenden Filme auch so spannend werden, why not? Da geb ich gern 4 Punkte auf einer Skala von 5.

(Foto: Szene mit Jake Gyllenhaal – Bild: Kinowelt Verleih)




Lesefreuden: Pawel Huelle, Fontane, Thomas Mann

(1) Was ist für Sie der mit Blick auf das Ruhrgebiet wohl wichtigste Roman? Stammt der von Erik Reger? Oder von Max von der Grün? Oder von Ralf Rothmann? –

Gesetzt den Fall, ein bedeutender Autor wäre ehedem oder unlängst auf die Idee gekommen, eine wiederholte Behauptung des manchmal bei uns heute noch als ehemaliger Expressionist bekannten Exilautors Paul Zech, er habe als junger Mann zwei, drei bzw. mehrere Jahre lang in den Kohlegruben von Herne, Bottrop, Charleroi und Mans gearbeitet, entschieden aufzugreifen, wir hätten vielleicht einen bedeutenden Revierroman um Zech oder Zechs expressionistische Generation herum.

Vorausgesetzt, dieser Autor wäre dabei ähnlich vorgegangen, wie es der polnische Autor Paweł Huelle mit einem Thomas-Mann-Zitat aus dem „Zauberberg“ getan hat. Dieses Zitat ist der deutschen Ausgabe des Romans „Castorp“ (nicht der originalen polnischen!) noch vor dem Kierkegaard-Motto (des Originals UND der Übersetzung) als Einstiegsmotto eigens vorangestellt: „Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich (…)“. Aus diesem in Thomas Manns Roman eher beiläufigen Satz hat Paweł Huelle nun sein ganzes, weit darüber hinausgehendes Erzählprojekt entwickelt. Mit einem für mich als Leser sehr überzeugenden Ergebnis.

(2) Als wir am Pfingstsamstag von Bottrop über Essen und Hamburg-Harburg und Stralsund mit dem Zug zu unserer ersten größeren Reisestation Swinemünde, wie Świnoujście einst hieß, fuhren, und noch ehe die zwei abschließenden Reisetage in Danzig (Gdánsk) 9 Tage später gekommen waren, war die Zeit für dieses von mir bisher dummerweise immer nur angelesene Buch endgültig gekommen. Im Zug beschränkte ich mich, weil es ab Hamburg-Harburg so viel Neues für mich zu sehen gab, wohlweislich auf die beiden ersten Kapitel. Doch an den drei, vier nächsten Tagen begann ich jeweils (und sehr gerne) meinen frühen Tag mit ihm, bis ich es ausgelesen hatte. Und kaum hatte ich das Buch ausgelesen, fand ich es wert, noch einmal gelesen zu werden. Und in der Tat: Das erste Kapitel wurde bei erneuter Lektüre nach der Lektüre des gesamten Romans noch plastischer und um vieles sprechender als beim ersten Mal.

(3) Wer einen Einstieg in Thomas Manns „Der Zauberberg“ sucht oder eine Wiederanknüpfung, der greife zu diesem leichtfüßigen und en passant tiefsinnigen Buch. Nach der Lektüre wird man durch Huelles dezentes Präludieren und unplumpes Variieren erneut Lust auf Thomas Manns „Zauberberg“ bekommen, und ganz sicher wohl auch auf weitere Werke Paweł Huelles, zumal die, die – nicht unbeträchtlich – bereits vorliegen.

(4) Auf unserer literarisch akzentuierten Reise nach Pommern hatten wir Swinemünde natürlich auch als Fontane-Stadt wahrgenommen: Vgl. Fontanes „Meine Kinderjahre“ und Fontanes an Swinemünde und Umkreis gemahnende Kessin in „Effi Briest“. Nachdem wir uns auf unserer Wanderung am Sonntag unter anderem auch die Duell-Szene aus „Effi Briest“ in einer dem Romanschauplatz vergleichbaren Gegend bewusst gemacht hatten, stieß ich ausgerechnet am nächsten Morgen bei meiner allmorgendlich fortlaufenden Huelle-Lektüre auf jene Stelle, in der Hans Castorp – erst nachträglich über sich selbst erschreckend – ein zufällig in seine unmittelbare Nähe geratenes Geschenkpäckchen entwendet, das eigentlich dem weiblichen Part eines von ihm nach Ersterblickung beharrlich beobachteten Paars zugedacht gewesen war. Als er nach seinem ersten Erschrecken über sich selbst als eines spontanen Diebes seine Neugier nicht mehr zu zügeln vermag, öffnet er das Päckchen und findet darin ein sorgfältig eingepacktes Buch, das sich schließlich als eine deutsche Ausgabe von Fontanes „Effi Briest“ herausstellt; da es sich um ein miteinander verstohlen französisch sprechendes Paar (sie eine junge Polin, er ein Russe) handelt, das sich wohl heimlich in Danzig getroffen hat, ein nicht unbedingt gleich erwartbares Buch. Diesen Fontane-Roman nun, den Hans Castorp vor seinem Abitur schon einmal zu lesen begonnen hatte, der ihn damals aber schrecklich langweilig vorkam, liest er nun in dieser spezifischen Situation (er hat sich – ohne es sich gleich einzugestehen – längst in diese Fremde verliebt) auf einmal ganz anders, er kommt die ganze Nacht nicht mehr von diesem Roman los und liest ihn ganz aus und später immer wieder. Fortan wird in Huelles Roman nicht mehr nur das Thomas-Mann-Thema, sondern auch das Fontane-Thema eine bedeutsame Rolle spielen, aber niemals plump und lastend, immer grazil und liebevoll und manchmal leise ironisch.

(5) Als eine See- und Mordgeschichte, wie ein Zeitgenosse Theodor Fontanes einen seiner eigenen wichtigen Romane – etwas irreführend, aber auch nicht ganz falsch – untertitelt, könnte Huelles Roman „Castorp“ bei understatementhaft wohl bewusst ausgesparter Kriminalästhetik durchaus auch gelesen werden: Ziemlich am Anfang steht so Castorps Seereise von Hamburg nach Danzig, wo er für einige Semester Schiffbau zu studieren gedenkt und von Mord und Totschlag und anderen Verbrechen ist im Gesamtverlauf durchaus nicht nur die Rede, es wird vielmehr Ernst damit; auch mindestens ein Detektiv und Geheimdienstliches spielen eine wichtige Rolle. Am Ende, auf der allerletzten Seite des Romans, weitet der Erzähler in einer nun ganz direkt an den Protagonisten Hans Castorp gerichteten Anrede den Zeithorizont aus und macht bewusst, was alles zwischen dieser im Jahr 1904 angesiedelten Geschichte und uns heute liegt.

(2004 ist dieser Roman auf Polnisch, 2005 auf Deutsch erschienen; eine polnische Ausgabe habe ich noch am letzten Dienstag in einer Danziger Buchhandlung gesehen und auch ein wenig angeblättert.)

Das Foto zeigt Pawel Huelle (Aufnahme: Slawek)




Gsellas Schmähgedichte: Jede Stadt ist fürchterlich

Da haben wir also das nächste Listen-Buch: Stichwörter anhäufen, launig assoziieren, alphabetisch abhaken – und fertig. Nach dem Muster entstehen mittlerweile nennenswerte Anteile des Buchmarkts. Doch hier verhält es sich etwas anders.

Der geübte Reimschmied Thomas Gsella, vormals schon mal Chefredakteur des Satireblatts „Titanic“, hat sich über weite Strecken Mühe gegeben, um in seinen Versen Städte zu schmähen, zu besudeln, zu beleidigen und in den Orkus verdienten Vergessen hinabzustoßen, aus dem sie möglichst nie wieder auftauchen sollen. Die kleine Gedichtsammlung ist aus einer Gsella-Kolumne bei Spiegel online hervorgegangen.

Nun gut, zu München („stinkt“), Hannover („Am katastrophsten und saudoph“) und ein paar anderen Kommunen ist Gsella praktisch nichts eingefallen, was er freilich allemal durch Unverfrorenheit wettmacht. Doch es finden sich etliche Kleinode aggressiven Städte-Bashings, die gekonnt alle verfügbaren Klischees verwursten. Was Gsella ausgerechnet zu Düren rhapsodiert, klingt beinahe nach Rilke-Parodie. Und in der ersten Strophe über Frankfurt/Main heißt es

Wo scheißt die Sau ins Marmorklo?
Wo trägt man hohe Häuser
Und noch beim Lieben Anzug? Wo
Hält jeder Duck sich Mäuser?

Bis zur dritten Strophe hat sich die Wut derart vernichtend gesteigert, dass man insgeheim alle Frankfurter bedauert. Doch bitte keine Häme andernorts! Hier wird nahezu jede Gemeinde gemobbt, vielfach aus glaubhaft verbalisiertem Angewidertsein. Offenbach erscheint als Stadt der Arschgesichter („Arschgesichter ziehn per pedes / Durch die Arschgesichterstadt / Arschgesichter im Mercedes / Fahren Arschgesichter platt…“), Bonn als unbekanntes Nest, Köln als Sitz nichtswürdiger „Medienhäschen“, Düsseldorf als Stein gewordene Sinnlosigkeit, Hagen als schieres Nichts. Und so weiter, und so fort.

Im allermeist bevorzugten Kreuzreim und mit büttenverdächtigen Rhythmen (man wartet gelegentlich auf das „Tätäää“) intoniert, hört sich das alles natürlich ungleich witziger an. Jedenfalls lässt Gsella kaum eine Technik des Niedermachens aus, vergiftetes Lob ist mitunter schlimmer als frontale Attacke.

Das Ruhrgebiet kommt naturgemäß grottenschlecht weg – das hoffnungslose Duisburg, das leider vorhandene Mülheim, das aus allen Himmelsrichtungen gleich deprimierende Bochum und Dortmund, wo die Bewohner unter Tage vegetieren, so dass sie gottlob nicht wissen, wie fürchterlich die Stadt erst oben aussieht.

Als Dreingabe hat Gesella noch einige Zeilen übers gesamte Revier verfasst, die wir bei den Revierpassagen mit der gebührenden Empörung zur Kenntnis nehmen und komplett zitieren:

Hier im Revier

Hier sieht man jedem Straßenzuge an,
Dass Hitler nicht gewann.
Hier redet jeder platt
Vor Stolz, dass keiner was zu sagen hat.
Und hält sich, weil er aufrecht sein will, krumm.
Hier kommt, wer hier zur Welt kam, um.
Hier sind noch die da oben subaltern.
Hier geh ich gern.

Bodenlose Unverschämtheit! Doch wir trösten uns: Auch Orte im Süden, Norden und Osten sind ja keineswegs besser dran. Nur mal en passant zitiert: „O Stuttgart, bleiche Mutter du, / Wie sitzest du besudelt“.

In der Schlusskurve knöpft sich Gsella noch ein paar europäische Hauptstädte vor, um erst ganz am Ende (allein das schon ein Affront!) Berlin abzuwatschen. Letzte Strophe:

Und sind, dem Herrgott sei’s geklagt,
Zu blöd zum Brötchenholen.
Wer Hauptstadt der Versager sagt,
Der meint Berlin (bei Polen).

Thomas Gsella: „Reiner Schönheit Glanz und Licht – IHRE STADT ! im Schmähgedicht“. Eichborn Verlag, 124 Seiten, 9,95 Euro.

 

Nachspann:
Das Buch ist also bei Eichborn erschienen, jenem Verlag, der zur Zeit ein Insolvenzverfahren durchläuft und dessen Maschinerie daher – laut FAZ von gestern – gesetzesgemäß „in ein künstliches Koma versetzt“ worden ist, so dass gegenwärtig auch keine Autorenhonorare gezahlt würden.
Die Zukunft des Hauses ist ungewiss, eventuell wird man beim Berliner Aufbau Verlag unterschlüpfen.




Kriegsende an der Ruhr: Bei Hattingen gab es „Friendly Fire“

Immer im Mai wird in Deutschland an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im Ruhrgebiet erlebten die Menschen diese Befreiung, die es ja objektiv war, in den Wochen von Anfang bis zum 18. April, als die im sogenannten Ruhrkessel eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht kapitulierten. An einige Details dieser Militäraktionen soll hier erinnert werden.

Für die alliierten Truppen bedeutete die Stadtlandschaft Ruhrgebiet eine gefährliche Herausforderung. Deshalb näherten sie sich mit ihren Panzerverbänden von mehreren Seiten. Bereits am 3. März 1945 hatten deutsche Soldaten die Rheinbrücken in Düsseldorf gesprengt, andere Übergänge folgten. Bei Wesel gelang es britischen und amerikanischen Pioniereinheiten am 23. und 24. März, den Rhein zu überqueren. Nacheinander werden die Städte Dorsten, Dülmen und Hamm befreit. Gleichzeitig näherten sich von Süden durch das Sauerland und das Bergische Land Verbände in Richtung Ruhr. Am 2. April hatten sich bei Siegen die von Norden kommende 2. US-Division und die aus Süden kommende 3. Division getroffen, so dass der geplante Kessel großräumig geschlossen und zugezogen werden konnte.

Bis zum 11. April zogen die südlichen Truppen der Alliierten etwa der heutigen B 54 folgend über Olpe, Meinerzhagen und Kierspe Richtung Hagen, Ennepe-Ruhr und Wuppertal. Wenn es Widerstand gab, wurde mit Panzerwaffen zurückgeschossen, so zum Beispiel in Schmallenberg-Oberkirchen oder in Ennepetal-Voerde. Dort hatte eine deutsche Panzerbesatzung einen amerikanischen Panzer in Brand geschossen. Als Folge gingen zahlreiche Häuser im Dorf durch Granatfeuer in Flammen auf. Unna war am 11. April „überrollt“ worden, wie die Menschen es ausdrückten, während Dortmund von der Wehrmacht kampflos geräumt wurde.

Von Osten aus erreichten die alliierten Soldaten Bochum und die Ruhr, während von Süden amerikanische, britische und belgische Einheiten über Schwelm und Sprockhövel Richtung Hattingen vorrückten. Diese erreichten am Abend des 15. April 1945 den Fluss, doch bevor es zur Teilung des Ruhrkessels durch den Zusammenschluss der alliierten Einheiten kam, lieferten sich die befreundeten Truppen noch ein Gefecht – „Friendly Fire“ genannt, weil man sich nicht rechtzeitig erkannte. Diese und andere Details finden sich in den zunächst als geheim eingestuften Tagesberichten der 8. US-Infanterie-Division, die als Kopien im Stadtarchiv Ennepetal liegen.

Drei Tage später, am 18. April, kapitulierte die deutsche Wehrmacht im Ruhrkessel. Etwa 350.000 Offiziere und Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft, die meisten lagerten zeitweise in den Rheinwiesen bei Düsseldorf. Die NS-Gauführung hatte sich kurz vor der Überrollung noch einmal in Hasslinghausen versammelt, dann schlug man sich in Zivil in die Büsche.

Am 25. April trafen in Torgau an der Elbe amerikanische und sowjetische Truppen zusammen, am 8. Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos – der Krieg war in Europa beendet, im Fernen Osten dauerte er noch bis zur Kapitulation Japans am 2. September.

Wie die Befreier mit den NS-Funktionären umgingen, soll bei anderer Gelegenheit erzählt werden.




Viertes Gebot: Du sollst dich nicht über Neil Young ärgern!

Ich habe mir – aus altgedientem, bislang oft belohntem Vertrauen – gleichsam „blind“ Neil Youngs CD „A Treasure“ besorgt. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit ohne jedes Probehören, ohne jede vorherige Information, quasi hechelnd im Pawlowschen Reflex, auf den bloßen medialen Zuruf hin: „CD von Neil Young kommt auf den Markt“.

Und schon war das Ding bestellt. Hätte ich nur zur Kenntnis genommen, dass der Kanadier hier mit den „International Harvesters“ (benannt nach einem Landmaschinenhersteller, daher auch das sorgsam auf „verblasst“ getrimmte Coverbild mit Traktor) musiziert hat, so wäre ich hellhörig geworden. So aber habe eine bittere Enttäuschung mit einem ansonsten verehrten Musiker erlebt. Eigene Schuld. Über mich selbst muss ich mich ärgern, nicht so sehr über Neil Young.

Nebenbei: Ich habe die Platte auf eigene Rechnung gekauft, nicht etwa ein Rezensionsexemplar erhalten. Also kann ich mich frei von der Leber weg echauffieren. Ein recht angenehmer Zustand.

„A Treasure“ also, namentlich zum „Schatz“ deklariert. Doch es ist eine dieser elend putzmunteren Fiedel-Country-Platten, wie man sie in den Staaten sicherlich in ähnlichem Zuschnitt von etlichen Musikanten bekommen kann. Auch beim zweiten und dritten Hören will es sich nicht besser fügen.

Schon nach wenigen Nummern habe ich jenen Rufus Thibodeaux verflucht, der als Fiddler verzeichnet ist. Nicht, dass er sein Handwerk nicht beherrschte. Doch er darf sich penetrant in den Vordergrund spielen und unwiderruflich den flauen Charakter der Platte prägen. Der geht bisweilen in Richtung quietschfidele, biedere Lagerfeuer-Folklore. Genau davon wollte die Plattenfirma Young damals abbringen. Er blieb widerspenstig aus Prinzip. Man kann beide Positionen verstehen.

Schaut man etwas genauer hin, so wird schnell klar, dass hier eine Tournee von 1984/85 wieder aufgewärmt wird. Die Produzenten halten sich einiges darauf zugute, dass sechs Songs bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. So what! Meinethalben mag es dokumentarischen Wert besitzen und im gesamten Oeuvre seinen gebührenden Platz einnehmen. Übrigens liest man in anderen Quellen von einer Tour 1985/86 und von fünf bisher unveröffentlichten Titeln. Habe ich Lust, in derlei Detailkunde einzusteigen? Nicht doch! Das sollen die Unentwegten unter sich ausmachen.

Da frage ich mich lieber: War ich beim Hören nur nicht in der passenden Stimmung? Nein, daran hat es wohl nicht gelegen. Selbst ein Neil Young hatte immer mal wieder schlaffere Phasen. Hin und wieder wird sehr deutlich, dass er im Grunde des Herzens auch ein verdammt konservativer Knochen ist. Die alten („uramerikanischen“) Werte und die Natur bewahren, jajaja. Gewiss. Bei uns wäre er wahrscheinlich für die schwarzgrüne Option zu haben. Was ja kein Vergehen ist, aber bitteschön: „Hey hey, my my, Rock’n’Roll will never die…“ Diese hymnischen Zeilen hat Neil Young schließlich selbst inbrünstig gesungen. Von Rock, Blues oder Punk-Anwandlungen aber spürest du kaum einen Hauch auf „A Treasure“.

Ich bin seit Anfang der 70er Jahre von Neil Young eingenommen, häufig auch hingerissen. Er gehört zu jenen, die einen quasi auf dem Lebensweg begleitet haben wie sonst nur wenige andere. Man ist ihm seither weit gefolgt, manche Biegung des Flusses entlang, bergauf und bergab, in verschiedenste Gelände, an ferne Gestade. Meistens bereitwillig, manchmal verzückt, selten widerspenstig.

Doch dies geschieht eben von Zeit zu Zeit gerade bei begnadeten Singer-Songwritern wie Bob Dylan (dessen dylanologische Anhängerschaft ungleich strenger ist) oder eben Neil Young. Sie tun einen Teufel, deine Erwartungen zu bestätigen. Längst ein Gemeinplatz: Sie durchlaufen Phasen des Suchens und Findens. Sie wollen sich nicht immerzu wiederholen und schiffen daher auf mehreren Fahrwassern. Auf einigen könnte man unbesehen mitfahren. Doch nicht auf jedem mag man ihnen folgen.

Und jetzt freue ich mich schon mal auf seine nächste Neuschöpfung.

Neil Young: „A Treasure“. Reprise Records/Warner Music, Juni 2011, ca. 16 Euro.




Dortmund am See

Burg mit Schilf

Wenn das Schilf am Ufer höher steht, wird der See seinen endgültigen Pegelstand erreichen. Noch fehlen 20 Zentimeter.

Manchmal geht Strukturwandel so schnell, dass einem ganz schwindelig werden kann. Vor fünf Jahren bauten Hunderte chinesische Arbeiter ein Stahlwerk in Dortmund-Hörde ab, heute stählen Inlineskater ihre Waden bei der Fahrt um einen See, der die Industrievergangenheit des Geländes einfach weggespült hat.

Jeden Moment wird es nieseln. Der Himmel hängt wolkenlos grau-blau über Dortmund-Hörde, der Wind pfeift über die kahlen Hänge hinweg, auf denen an Werktagen Dutzende Bagger Erde verschieben – demnächst werden sie von Betonmischern und Kränen abgelöst. Später wird man versuchen, alle Fotos, die an diesem Tag entstanden sind, nachzuschärfen – doch die Diesigkeit lässt sich auch mit dem Computer nicht vertreiben. An solchen Samstagen bleibt man gerne zu Hause, eigentlich. Nicht aber, wenn außergewöhnliche Dinge in der Stadt vor sich gehen. Wenn zum Beispiel Dortmund plötzlich am See liegt – ein Fakt, auf den man noch vor wenigen Jahren keine größere Beträge hätte verwetten wollen. Auch deshalb kommen sie wohl alle an diesem Samstag, den Regenschirm in der einen Hand, die Kamera in der anderen, um ihn mit eigenen Augen zu sehen und fotografisch festzuhalten. Gibt es ihn tatsächlich, den See?

Es gibt ihn, und um von ihm zu erzählen, muss man ein wenig ausholen. In der ägyptischen Mythologie gab es den wundersamen Vogel Benu. Man erzählte sich, er erscheine nur alle paar hundert Jahre, verbrenne in der Glut der Morgenröte – und erstehe aus seiner Asche verjüngt wieder auf. Auch die alten Griechen kannten den Mythos. Bei ihnen hieß der Vogel Phönix. Die alten Dortmunder kennen sogar zwei Phoenixe: Phoenix Ost und Phoenix West. Beide Namen standen für Industriestandorte im Ortsteil Hörde, 170 Jahre lang. In den Hochöfen im Westen wurde Roheisen hergestellt und im östlich gelegenen Stahlwerk weiterverarbeitet, bis 2001 die Fackel für immer ausging.

Wer heute in Dortmund-Hörde aufwächst, der wird mit dem Begriff „Phoenix“ vor allem eines verbinden: ein Naherholungsgebiet mit See, der zu Beginn des neues Jahrtausends eben dort entstand, wo die Väter und Großväter Stahl kochten. Von der Schwerindustrie zur Leichtigkeit des Seins, vom Feuer zum Wasser – das ist kein Strukturwandel mehr. Das ist radikaler. Die Wiederauferstehung des Feuervogels geschieht in Dortmund auf quasi buddhistische Weise: Der Phoenix ist diesmal im chinesischen Shagang auferstanden, wo das Dortmunder Stahlwerk längst wieder in Betrieb ist. Seine Reinkarnation in Dortmund jedoch ist ein 24 Hektar großer See. Er ist Wiedergutmachung und ein Versprechen. Ein Ort, der den Dortmundern zwar nicht die verschwundenen Arbeitsplätze zurückgibt, aber die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn in Hörde ein See entstehen kann, dann ist alles möglich.

Trotz des ungemütlichen Wetters also ist der Parkplatz vor der Hörder Burg, 5 Kilometer von der Dortmunder Innenstadt gelegen, voll mit Autos und Fahrrädern. Doch die Besucher interessieren sich nicht für die Wasserburg aus dem 12. Jahrhundert, in der später der Direktor der Hermannshütte und heute der „Verein zur Förderung der Heimatpflege“ logiert. Direkt hinter der Burg beginnt der Phoenix See.

Es ist kein Badesee, nein, aber schon jetzt ist klar, dass sich von dem Verbot niemand ernsthaft wird abschrecken lassen. Den Anfang machen die Hunde, dann kommen die Kinder, die in Unterwäsche im knietiefen Hafenbecken plantschen. Vorsichtig wagen sich nun auch die Eltern, krempeln die Hosen hoch und waten einmal von links nach rechts oder lassen zumindest die Füße ins Wasser hängen. Neuankömmlinge zücken erst die Fotoapparate und strecken dann die Finger in alle Himmelsrichtungen: Dort entsteht ein Wohnsiedlung, dort Gewerbe, nein, da! Und da hinten im Süden, am anderen Ende des Sees, das ist ein neuer Hügel, aufgeschüttet aus dem Erdaushub für den See. Die Landschaftsarchitektur trägt vor allem die Handschrift des Berlin-Dortmunder Ingenieurbüros „Landschaft planen und bauen“.  Die Planer ersannen großzügige Holzdecks und Stege, Aussichtspunkte und eine Kulturinsel am Hafen, auf der zum Beispiel Konzerte stattfinden können.

Doch, tatsächlich: Auf der Emscher schwimmen wieder Enten.

Erfunden hat den Phoenix See ein Beamter im Dortmunder Stadtplanungsamt, der seinem damaligen Chef Ulli Sierau davon erzählte. Der fand Gefallen an der Idee, Hörde wieder ans Wasser zu legen – vor der Industrialisierung war das Phoenix-Gelände eine Auenlandschaft, sogar einen kleineren See gab es damals. Straßennamen wie „An der Seekante“ erzählen noch davon. Und dann ist da schließlich noch die Emscher, die derzeit sowieso in einem gigantischen Kraftakt aus ihrem Betonbett befreit wird. In Hörde hatte die Schwerindustrie den Fluss sogar unter die Erde gedrängt. Heute ist die ehemals kanalisierte Köttelbecke von der Quelle zumindest bis zum Phoenix See ein renaturiertes, sauberes Flüsschen. Gesäumt von Auenlandschaften und beschwommen von Enten, verbindet sie den See, der ihr bei Hochwasser auch als Rückhaltebecken dient, mit dem Phoenix West-Gelände, wo noch immer der Hochofen steht – mitten zwischen Unternehmen der Mikro- und Nanotechnologie und anderer als zukunftsträchtig geltender Wirtschaftszweige.

Von einer neu aufgeschütteten Halde aus hat man besten Ausblick auf den See.

Ullrich Sierau ist heute Oberbürgermeister und nennt den Umbau „europaweit einmalig“ und ein „Jahrhundertwerk“. In Rekordzeit habe man „Historisches geschaffen“. Der Jubel kommt noch ein wenig früh. Zwar ist der See bis auf 20 cm komplett mit Grundwasser gefüllt, das Grün gepflanzt und der Schilf gesetzt. Doch das, was dem Areal sein prägendes Gesicht geben wird, fehlt noch: die Bebauung. Sowohl Gewerbe- als auch Wohnsiedlungen sind geplant. 960 neue Wohneinheiten sollen bis 2015 entstehen, luxuriöse Eigenheime ebenso wie generationenübergreifendes Wohnen zur Miete.

In den nächsten zehn Jahren wird der Stadtteil dadurch um etwa 2000 Menschen größer; rund 5000 sollen in den neu entstehenden Büros sowie in Gastronomie und Einzelhandel arbeiten. Das Interesse an den See-Grundstücken ist so groß, dass die Phoenixsee Entwicklungsgesellschaft damit rechnet, das 220-Millionen-Euro-Projekt mit den Verkaufserlösen sowie öffentlichen Fördermitteln finanzieren zu können – und das, obwohl sich das gesamte Projekt um knapp ein Drittel verteuert hat.

Am Ende wird man rund um den Phoenixsee nicht nur – auf voneinander getrennten Wegen – spazieren, radeln und skaten können, sondern auch arbeiten, wohnen, einkaufen und in einem Restaurant-Boot speisen. Oder schippern. Noch bevor auch nur ein einziger Liter Wasser zu sehen war, hatte sich 2007 bereits der „Yachtclub Phoenixsee“ gegründet. Dabei ist der Phoenix See gerade einmal drei Meter tief, 310 Meter breit und 1230 Meter lang. Mit seinen 24 Hektar ist er zwar etwas größer als die 18 Hektar große Hamburger Binnenalster – doch Seglers Traum sieht anders aus, das gibt auch Vereinspräsident Svend Krumnacker zu. Die meisten der 450 Mitglieder, sagt er, sind Dortmunder, die das Projekt „Dortmund ans Wasser“ unterstützen wollen. „Der Trend geht zum Zweitsee. Auf dem Phoenix See dürfen eh nur offene Boote für drei oder vier Leute fahren.“ Wer es sich leisten kann, parkt sein Zweitboot auf einem der 120 geplanten Stellplätze am Phoenix See – Dabeisein ist alles. Im nächsten Frühjahr, wenn der Schilf am Ufer ausgewachsen und der See ganz voll ist, soll es losgehen.

Die Bevölkerungsstruktur im Stadtteil werde sich nun nach und nach verändern, glaubt der Yachtclub-Chef, der selbst im Schatten des ehemaligen Hochofens zur Schule ging. Das werde aber eine Generation dauern: „So schnell sterben die Hoesch-Arbeiter ja nicht aus.“ Gut möglich, dass die reichen Neu-Hörder den Alt-Bewohnern des Stadtteils später ein Dorn im Auge sind. „Aber wenn mir jeder leid tun würde, der kein Geld für ein Boot hat …“, sagt Krumnacker und lässt den Satz unvollendet. Er hält den See für einen Gewinn für die ganze Stadt, von der letztlich auch die profitieren, die kein Geld haben – selbst wenn sie möglicherweise irgendwann die steigenden Mieten im Stadtteil nicht mehr bezahlen können: „So ist das eben.“

Dass es so kommen könnte, befürchten bereits einige Kritiker. „Gentrifizierung“ heißt das Phänomen: Künstler und Kreative, die günstigen Wohnraum suchen, wirken als Katalysatoren für erneuerungsbedürftige Gründerzeit-Viertel, die nach und nach auch das bürgerliche Milieu anziehen und schließlich als trendig-teure Szene-Viertel mit einer komplett ausgetauschten Bevölkerung enden. Schöne alte Bausubstanz bietet die Hörder Innenstadt ausreichend, und der See zieht Familien, Singles und Senioren aus einem recht homogenen Milieu Bessergestellter an. „Ob Hörde ein angesagtes Kreativ-Viertel mit Mode, Kunst und Nachtleben wird, weiß ich nicht“, sagt Stadt- und Regionalplaner Dr. Achim Prossek, „aber die Sozialstruktur wird sich aber ändern.“

Womöglich wird Phoenix Ost nie wieder so schön sein wie jetzt, in der Zeit der Bagger und des wachsenden Schilfes: Ein See, einfach so zum Drumherumlaufen, ohne Hafentrubel und Bebauung.

Erschienen in: K.WEST, Kunst und Kultur für NRW, Ausgabe Juni 2011




Nostalgisches Kino: „Wasser für die Elefanten“

Jacob Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich in seine Vergangenheit zurück. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite-Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts und findet sich unvermutet wieder als Tierarzt bei „Benzinis spektakulärster Show der Welt“ , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse jener Zeit. Die Autorin Sara Gruen erzählt in ihrem Roman Jacobs Geschichte auf zwei Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Das Buch (Rowohlt-TB) lag all jenen am Herzen, die sich nach einer seelenvollen Geschichte sehnten. Einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende.

Nun also der Film. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt.

Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino  der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

„Wasser für die Elefanten“ läuft – noch – in den großen Multiplex-Kinos in Essen, Bochum und Dortmund.




Apollinaire im Nachgang: „Flaneur in Paris“ auf Deutsch

Wie konnten Guillaume Apollinaires literarische Streifzüge durch Paris über mehr als neunzig Jahre unübersetzt bleiben? In Frankreich ist das vergnügliche kleine Buch bereits 1919 unter dem Titel „Le Flâneur des deux rives“ erschienen.

Apollinaire führt seine Leser durch Viertel wie das damals noch ruhige Auteuil (heute ein Quartier des 16. Arrondissements). Oder in die zum Rive Gauche gehörenden Straßen Saint-André-des-Arts und die Rue de Buci. Das unbekannte, vom Verschwinden bedrohte Paris und seine Geschichten, aber auch das Paris der großen Boulevards und Künstlertreffpunkte wie das Café Napolitain sind in dem Buch vertreten. Vor allem geht es um die Menschen, die diese Schauplätze belebten: Bohemiens, eigenwillige Buchhändler, Kleinverleger und verschiedenste Originale.

Ein Bilderrätsel, das dem Flaneur scheinbar zufällig vor die Füße flattert, führt zum Kontakt mit einem Maskierten und am nächsten Morgen zum Besuch bei dem durch die Auflösung des Rebus‘ identifizierten Schriftstellerkollegen. Das Hotelzimmer, das der exzentrische Ernest la Jeunesse, Autor inzwischen vergessener Romane, bewohnt, erweist sich als vollgestopftes Kuriositätenkabinett.

Freude an Mystifikationen, Überblendungen von Realität und Fiktion, Klatsch und ausgelassene Späße begegnen uns fast auf jeder Seite – Späße wie der fiktive Antiquariatskatalog (mit authentischen Buchtiteln) im Kapitel „Die Quais und die Bibliotheken“, dessen Einträge zum Beispiel lauten:
„BOISGOBEY (F. de). Enthauptet. In 2 Teilen, Kopf beschnitten, stockfleckig“ oder
„GRAVE (Th. De). Der Hochstapler. Mit falschem Titel“.

Ein staubiges Kellergewölbe in der Rue Laffitte Nr. 8, in dem sich Bilder zeitgenössischer Maler stapelten und Künstler wie Picasso, Redon, Bonnard und Derain sich zu exotisch gewürzten Speisen mit schönen Frauen trafen, nimmt Apollinaire als Ausgangspunkt, um sich an Léon Dierx, den Prince des Poètes aus dem Kreis der Parnassiens zu erinnern, dessen Ruhm inzwischen verblasst sein dürfte. So sind es im Buch weniger die noch heute großen Namen unter seinen Freunden – Pablo Picasso, Max Jacob, Robert Delaunay, Marcel Duchamp, Blaise Cendrars, Alfred Jarry u. v. a. –, denen Apollinaire mit seinen „Chroniques“ ein Denkmal setzt. Stattdessen wird der dichtende Garkoch Michel Pons porträtiert. Oder das private Napoleon-Museum eines zehnjährigen Schülers. Oder ein sich offenbar aus verschiedenen Informanten zusammensetzender Gesprächspartner, der die Bibliotheken der Welt bereist.

Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt in der Welt der Pariser Bohème. Die meisten Kolumnen waren zwar vor 1914 erschienen, größtenteils im Mercure de France. Für die Buchform hat Apollinaire sie sich 1918, kurz vor seinem Tod, noch einmal vorgenommen. Gegenüberstellungen mit der verlorenen Vorkriegszeit finden wir fast in jedem Kapitel. So trägt das Buch erheblich dazu bei, nicht nur einzelne Zeitgenossen, sondern eine ganze Epoche, die Welt, in der Flaneure noch exquisite Spazierstocksammlungen besaßen, vor dem Vergessen zu bewahren.

Walter Benjamin reihte „Le Flâneur des deux rives“ bereits 1929 unter die „Bücher, die übersetzt werden sollten“ ein. Nun ist es dem Übersetzer und Herausgeber Gernot Krämer sowie der Friedenauer Presse zu verdanken, dass wir Apollinaires Wonnen der flânerie erstmals auf Deutsch lesen können. Neben der gelungenen Übertragung des sicherlich nicht leicht zu übersetzenden Autors überzeugt die Publikation durch die editorische Sorgfalt und das kenntnisreiche Nachwort. Den Anmerkungsapparat der 1993 in den Editions Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe hat Gernot Krämer durch eigene Recherchen bereichert und geht vielen interessanten Spuren nach, die die Herausgeber der französischen Ausgabe vernachlässigt haben.

Die Lektüre verlockt, die Wege Apollinaires über Satellitenbilder und Stadtpläne zu verfolgen. Oder gleich nach Paris zu fahren und dem „Flaneur in Paris“ an beiden Ufern der Seine nachzuwandern.

Guillaume Apollinaire: „Flaneur in Paris“. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2011, 136 Seiten, 16 Euro




Wundersamer Wunderknabe

Er hat alles unter Kontrolle. Die paar Schritte über die Bühne zum Klavier, das Lächeln, die Verbeugung. Und sein Spiel natürlich, das sich über die Strukturen der zu interpretierenden Musik definiert. Ernst wie ein Erwachsener wirkt der 19jährige Kit Armstrong, dieser wundersame Wunderknabe, dem noch so viel Kindliches anhaftet.

Sein größter, überzeugtester, bedeutendster Fürsprecher und Mentor ist Alfred Brendel, der die außergewöhnliche Begabung des jungen Eleven in höchsten Tönen hervorgehoben hat. Das kommt nicht von ungefähr: Die manuellen Fähigkeiten Kit Armstrongs und sein fast instinktives Erkennen musikalischer Verläufe sind von bestechender Aussagekraft.

Nun, wer mit 16 bereits ein abgeschlossenes Musik- und Mathematikstudium vorweisen kann, wer selbst komponiert, wenn auch in arg harmonischen Bahnen, dem dürften Gewissenhaftigkeit, ja die Logik des Interpretierens kaum fremd sein. Armstrong beweist dies beim Klavier-Festival Ruhr zu Ehren des nunmehr 80jährigen Alfred Brendel. Kristallin fließen dem Jungen dabei Bachsche Figurationen aus den Fingern, keine Wendung im polyphonen Geflecht bleibt unbeachtet – nehmen wir nur vier von ihm ausgewählte Präludien und Fugen.

Wer indes an diesem Abend in Mülheims Stadthalle von Kit Armstrong, der zwischen Bach und Liszt pendelt, bilderstürmerisches Aufbegehren eines wunderkindlichen Bühnentiers erwartet, wird enttäuscht. Der Interpret steht über der Musik, beobachtet, analysiert. Er ist nicht in der Musik, geht keine Risiken ein, um etwa der Lisztschen Ausdrucks-Opulenz, in der rauschenden Nr. 10 des großen Etüden-Zyklus, Gewicht zu geben. Mitunter wirkt es, als wolle der Pianist sich selbst Note für Note noch einmal bestätigen, was er doch längst im Kopfe abgespeichert hat.

Armstrong verströmt Disziplin, die in Perfektion münden soll. Er wirkt dabei wie ein Asket des Gefühls. Manche finden das spröde. Doch er macht uns staunen – so oder so.

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen)




Tretet ein, denn auch hier sind Götter!

Götterverdämlichung in alter Fabrik

Im Freistaat Köln gibt’s was Neues, eine Fabrik, in der gespielt wird. Es ist angerichtet. Sekt, Wein, Chic. Freundliche Schönheiten überall. Premierenatmosphäre. Viele Zuschauer kommen per Taxi über den Rhein nach Deutz in die Deutz-Mülheimer Straße. Und was ich dann sehe, ist eine Beschreibung wert, mehr nicht. Aber zunächst stehe ich vor dem Eingang und rauche wie früher die Schornsteine der Industrie.

„raum 13“ nennt sich das, was sich hier in einer alten Maschinenfabrik, derzeit einrichtet. Raum für Kunst in industriellem Ambiente, das, was man sich nur wünschen kann als kreativer Schaffender von flüchtigen Werken der darstellenden Kunst. Erstaunlich, dass es im Ruhrgebiet, einer Region mit hunderten aufgelassener Industriegebäude, kaum Orte gibt, die genau diesem Zweck dienen (von PACT Zollverein mal abgesehen) und entsprechende Großräume haben.

In Köln wird schon seit Jahren nach geeigneten Tanzräumen gesucht. Immer wieder wird was ausprobiert. Der Wunsch ist verständlich, denn es gibt kaum irgendwo in der Republik so viele Bewegungskünstler wie eben im Zentrum der Medien, Colonia.
Am Samstag (18. Juni) fand die Uraufführung von „Ich bin ihr“ statt – mit dem inhaltsgebenden Untertitel: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“ (Oder umgekehrt?) Man will ja nicht ohne Anspruch in die Zukunft wandeln.
Alles ist neu im Alten. Die Website ist demnach noch unvollständig, weist auf wilde Zeiten hin: Es gibt also bald den „Polilog“ mit Polisbox, Suppenküche, Tischgesellschaft und – vor allem – subversiven konspirativen Treffen. Die „junge Szene“, „Alles was tanzt“ (als Marke und Veranstaltung schon vorhanden und mit Recht hochgelobt) und eben raum 13.

Der Versuch, für Köln ein Tanzhaus zu errichten, stieß 2009 auf konkretes Interesse bei der Politik: „Die Stadt Köln beschloss 2009, ein Tanzhaus zu etablieren und zu unterhalten. Die Tanzszene sollte einen festen Ort erhalten, der als Spielstätte, Proberaum, Unterrichtsmöglichkeit und als Treff- und Agitationspunkt eine Heimat für den Tanz in Köln sein sollte. Mit der Anmietung von zwei Hallen auf dem E-Werksgelände in Köln-Mülheim, hat das Kulturamt im Mai 2009 die Räumlichkeiten festgelegt. Nach einem Ideenwettbewerb übertrug das Kulturamt die Federführung für die Interimsnutzung an raum13 Theater Fraktion Köln. Am 30.07. 2010 wurde die Interims-Nutzung des Tanzhauses wie vereinbart aber wieder beendet. Mit der Entscheidung des Rates der Stadt Köln vom 7. Oktober 2010, für den Doppelhaushalt 2010/2011 keine Haushaltsmittel mehr für ein Tanzhaus in Köln einzuplanen, ist die Einstellung des Spielbetriebes nun auch endgültig.“

Foyer

Das „Deutzer Zentralwerk der schönen Künste“ hat nun seine Pforten geöffnet. Der Foyerbereich ist herausgeputzt und leuchtet. Man meint, man beträte die Dependance des Radial Systems in Berlin. Es wirkt ein wenig überchic. Man erhält weiße Überzieher, damit man nicht mit Straßenschuhen über den Tanzteppich latscht. Im Hausflur trifft man auf Monitore mit sprechenden Köpfen, die man aber nicht versteht. Im 2. Stock dann Sequenz 1 des Stückes, das die Jungfernhaut der Unternehmung öffnen soll.

Es geht also um Rituale, um Religion, um Götter, um Sinnsuche. Tänzerinnen und Tänzer reden durcheinander in ihren Sprachen. Babylonien also. War da nicht was in den 90ern? Aber gut, alles kommt wieder. Dann wird gesungen: Schlaflieder und anderes. Ich höre das Wort „Lalelu“ und weiß: Hier muss ich durch. Hier ist Ambition angesagt. Die Kostüme der Tanzmenschen sind wie das Foyer: chic, eine Mischung aus Poesie und Erotik, Unterwäsche mit Applikationen, rot, weiß, Kostüme eben. Man lockt das Publikum in einen Flur. Wir marschieren durch ein Treppenhaus, hinaus ins Freie. Dort: Eine Bühne. Am Boden liegende Trommlerinnen und Trommler, in der Mitte eine Frau mit Brautanmutung. Unschuld also. Ein schönes Bild, aber es beginnt wieder, sich zu bewegen. Es wird Text abgesondert. Es wird getrommelt. Wir – die Zuschauer – ziehen mit, enden dann auf Sitzplätzen in einer Halle mit sehr tiefer Bühne. Wunderbar. „Was man da machen könnte.“ Ich erwische mich beim Denken. Live-Musik dann zu verschiedenen Bildern, die serviert werden. Schlagwerk, Gitarre, Computer, Geige.

Götterbraut

Ich kann mich anlehnen. Gott sei Dank. Die Band singt und spielt „My sweet Lord“ von George Harrison. Ich stöhne laut auf. Peinlich. Auf der Bühne reißen die Tänzerinnen ihre Münder auf, starren religiös an die Decke. Ich will fliehen, aber es geht nicht. Ich müsste über die Bühne, will die Ästhetik nicht zerstören, aus dem das Ganze besteht. Dann überfällt mich wieder Text. Chorisch wird bekundet, dass man zum Beispiel alle –ismen anerkennt. „Wir anerkennen Kommunismus, Hinduismus, Kapitalismus….“ Sie anerkennen auch Marilyn Monroe und Charles Manson. Was? Ohlala. Sehr brisant. Den Mörder von Sharon Tate, den bärtigen Sektenführer und Vielfachmörder. Nun gut. Dann stehen alle da und rauchen. Auf der Bühne. Alle. Ich bin schockiert und fühle mich provoziert. Tatsächlich folgt dann eine Folge von Tanzszenen ohne Text. Werde ich doch noch mitgenommen in die Welt der Emotionen und körperlicher Eindringlichkeit? Ich sende eine SMS, um mich etwas zu befreien. Das Ende naht und ich denke an das Wort „Erlösung“. Hat es doch Wirkung? Kann sein, dass ich auf dem falschen Fuß erwischt wurde, der immer noch in Beetmull eingewickelt ist, um nichts zu verschmutzen.

Aber vielleicht war dies doch die Abschlusspräsentation einer Themenwoche der örtlichen Waldorfschule oder eines Internats? Vielleicht haben sich alle aber auch inhaltlich überfrachtet, sodass das Resultat der innerlichen Auseinandersetzung äußerlich keine Entsprechung mehr finden konnte? Die Tänzerinnen und Tänzer haben ihre Sache so gut gemacht, wie es geplant war, wie es die dafür Verantwortlichen in Szene setzen wollte. Sie sind in die Falle getappt. Und ich bin erlöst, werde der Sekte nicht beitreten. Ist mir zu chic.

Ich brause über die A1 zurück, ins immer noch schmutz-behaftete Ruhrgebiet, schmeiße eine Heavy-Metal CD in den Player, singe laut mit und suche Gott am dunklen Himmel, der mir zuzwinkert.

Der Erste Tag:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war; Gott schied das Licht von der Finsternis, und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: der erste Tag.

Erst danach, also nach dem Anfang, kam der Rest und das macht Hoffnung auf die Zukunft, auch von raum13




Zu Fuß durch Amerika

Eine seltsame Art zu reisen kündigt bereits der Untertitel an: „Zu Fuß durch Amerika“. Ausgerechnet durch das Land der Autofahrer. Doch dann erinnert man sich an den Namen des Autors. Wolfgang Büscher, das war doch der Journalist, der vor acht Jahren in seinem Buch „Berlin-Moskau“ einen ähnlichen Fußmarsch durch die östliche Pampa beschrieben und damit einen Bestseller gelandet hatte.

„Hartland“ lautet der Titel seines neuen Reisebuches, und da zögere ich bereits, denn Büscher ist weit mehr als ein Reiseschriftsteller. Hartland ist ein einfühlsamer, poetischer Zugriff auf das riesige, vertraute und doch so fremde Land auf der anderen Seite des Meeres.
Büscher kannte Amerika nicht, bevor er sich mit großem Rucksack und ausreichend Geld von Kanada aus zu Fuß auf den Weg von Nord nach Süd durch den Mittleren Westen der USA macht, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko.

Er lässt sich auf die Menschen ein, sieht Vorurteile bestätigt oder widerlegt und wird überrascht durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und echte Offenheit vieler Amerikaner. Er folgt teilweise den Spuren der Zerstörung, die wir europäischen Eroberer auf dem Weg nach Westen hinterließen. Er spricht mit Indianern und modernen Cowboys, lässt sich streckenweise in Pick-Ups mitnehmen und kommt so auch in Familien und fromme Christengruppen. Ratlos hört er den durchweg konservativen Meinungsäußerungen der Leute im amerikanischen Herzland zu – denn darauf bezieht sich auch der doppeldeutige Titel: Hartland heißt der erste Ort, den Büscher in den USA betritt, und dieser Name leitet sich von „Heartland“ ab. Aber Büscher lässt bei seiner Wegbeschreibung keinen Zweifel, dass er auch die deutsche Bedeutung von „Hartland“ meint, wenn er den endlosen Marsch durch die Prärie beschreibt oder den Spuren der unglückseligen Geschichte der amerikanischen Ureinwohner folgt. Zum Schluss verliert er zwar noch sein Gepäck, aber auch dem kann er erfrischende Gedankengänge abgewinnen.

Wer sich von Büschers weicher Prosa mitziehen lässt, und das ging auch schon bei „Berlin-Moskau“ so, der versteht sofort, warum der Autor bereits vor Jahren den Tucholsky- und den Ludwig-Börne-Preis erhielt.

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 19,90 Euro




„Die Nordsee von oben“ – eindrucksvoller Film läuft auch in ausgewählten Ruhrgebiets-Kinos

Der Film Die Nordsee von oben zeigt genau das, was man bei einem solchen Titel erwarten kann: Die Nordsee mit ihrem Wattenmeer, die Küstenregionen, die Inseln, die Halligen, die Städte usw. – alles aufgezeichnet mit einer hochauflösenden Helikopterkamera, deren Bilder auf der großen Kinoleinwand so richtig zur Geltung gekommen und dem Slogan „Filme sind fürs Kino gemacht“ viel eher entsprechen als die Popcorn-Einheitsware.

Aufmerksam geworden bin ich auf den Film durch einen Facebook-Tip von Anke Müller-Vieregge – dort wurde der Besuch der Premiere im Bochumer Kino Casablanca empfohlen, an der ich leider nicht teilnehmen konnte. Einige Tage später, im Astra Theater in Essen, klappte es jedoch.

Die Filmemacher im Gespräch mit dem Publikum
Doch bevor der Film startete, richteten sich erst noch einmal die beiden Filmemacher Silke Schranz und Christian Wüstenberg, die (für mich) überraschenderweise anwesend waren, hoch erfreut ((über das ausverkaufte Kino)) an die zahlreichen Besucherinnen und Besuchern und erklärten ihnen, wie der Film entstanden ist.

Die Bilder…
Ursprünglich waren die Luftaufnahmen „nur“ Teil einer TV-Reihe, die die eigentlichen Beiträge „von unten“ filmisch unterbrachen. Diese gefielen jedoch Schranz und Wüstenberg so gut, dass sie versuchten herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist und ob es außer den paar Schnipseln noch mehr Filmmaterial „von oben“ gab. Die Antwort auf diese Frage wird natürlich schon beim Lesen dieser Zeilen klar sein – denn ja, es gab insgesamt vierzig Stunden Filmmaterial, aus denen dann ein 89 Minuten langer, neuer Film erstellt wurde – eben Die Nordsee von oben.

Der erste deutsche Kinofilm, der nur Bilder aus der Vogelperspektive zeigt, beginnt dabei an der ostfriesischen Küste, zeigt Bilder von der Elbe flussaufwärts bis nach Hamburg, um dann zu den nordfriesischen Inseln und Halligen bis nach Sylt vorzustoßen.

Auch wenn man meint, die Nordseeküste zu kennen – hier sieht man Bilder, die man ihrer ganzen Schönheit wahrscheinlich noch nie gesehen hat. Die Aufnahmen der Spezialkamera ((die ursprünglich für die amerikanische CIA entwickelt wurde)) zeigen – trotz Aufnahme aus großer Höhe – Details, wie man sie selten sehen konnte. Teilweise erinnern die Bilder der Nordsee (von der Farbenfreude her) sogar an die Karibik, was man nun von den Wassertemperaturen vor Ort bekanntlich nicht sagen kann. Die Bilder werden dabei übrigens nicht immer von der frontalen „von oben“-Perspektive gezeigt, sondern teilweise auch mit schrägem Anflugwinkel, was gerade bei den Szenen aus städtischen Regionen (wie beispielsweise Bremerhaven, Hamburg oder Stade) sehr eindrucksvoll wirkt, da das ganze irgendwie an ein Miniaturenland erinnert.

… und der Ton
Doch nicht nur die eindrucksvollen Bilder aus der Höhe sieht man – das ganze wird auch angemessen musikalisch unterlegt und von Christian Wüstenberg fachmännisch, informativ aber auch unterhaltend kommentiert. Ursprünglich wollten die Filmemacher Jan Feddersen oder Ina Müller fragen, ob sie als Stimme „aus dem Off“ fungieren könnten, aber da befürchtet wurde, dass die beiden Prominenten zu teuer seien, erledigte man diese Arbeit gleich selbst. Mit Bravour, wie sich die Zuschauer bei der Essener Premiere überzeugen konnten, bei denen der breite norddeutsche Dialekt sehr gut ankam.

Der Kommentar erzählt dabei nicht nur, was man so sieht (das kann man ja auch selber sehen), sondern erklärt die Hintergründe, die immer wieder zu einem „Aha“-Erlebnis oder auch zu einem spontanen Lacher führen, denn es ist schon lustig zu erfahren, welche Lore, die zwischen den verschiedenen Halligen fährt, wann Vorfahrt hat und wann nicht.

Die Technik
Die Qualität der Bilder ist atemberaubend – wenn beispielsweise bestimmte Passagiere der einen oder anderen Nordseefähre diesen Film sehen, dann werden sie sich definitiv wiedererkennen können, so detailreich sind die Bilder. Hier spielt die HD-Technik deutlich ihre Vorteile aus, so dass man einen Vogelschwarm vor dem Hintergrund der Nordsee auch gut en detail erkennen kann und nicht einfach nur ein paar stecknadelkopf-ähnliche Punkte sieht. Auch die Tonqualität weiß zu gefallen, denn obwohl die Kamera an einem Helikopter hängt, ist das charakterische Schrapp-Schrapp nicht zu hören – was daran liegt, dass beim Filmen der Bilder gleichzeitig auch Mikrofone am Boden genutzt wurden, um die authentischen Geräusche mitzuschneiden.

Die Botschaft
Auch wenn der Film primär auf seine schönen Bilder setzt – er trägt doch eine Botschaft mit sich, und zwar die, dass die Menschen die Nordsee und speziell das Wattenmeer gut behandeln müssen, da jedes Eingreifen in die Natur Folgen hat. So wird auch nicht mit Kritik an der Bohrinsel Mittelplate A von RWE Dea gespart, denn ein Unglück dort, würde das Weltnaturerbe ((der UNESCO)) Wattenmeer wohl irreparabel schädigen.

Bei diesen Passagen wurde es übrigens im Astra etwas ruhiger, was daran liegen könnte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeiter von RWE bei der Vorführung in der Stadt des Sitzes des Mutterkonzerns dabei waren, nicht zu gering sein dürfte.

Der Trailer „Die Nordsee von oben“

Weitere Termine des Films im Ruhrgebiet
Der Film läuft laut der Terminübersicht momentan regelmäßig nur im Casablanca in Bochum. Aufgrund der großen Nachfrage in Essen, wird der Film jedoch am Sonntag, den 26. Juni 2011, erneut in Essen gezeigt werden – wieder mit den beiden Filmemachern vor Ort, diesmal aber im traditionsreichen Kino Lichtburg in Essen.

Die Grundlage: „Deutschlands Küsten“ auf arte
Die Grundlage für den Film bildete die TV-Reihe Deutschlands Küsten, die ursprünglich bei arte ausgestrahlt wurde. Das interessante an dieser Reihe ist, dass hier die Personen, die im Film nur am Rande gestreift werden, ausführlicher beschrieben und vorgestellt werden.

Tipp: Unter dem Namen Länder, Menschen, Abenteuer zeigte der SWR vor kurzem Teile der arte-Reihe. In der SWR-Mediathek findet man vielleicht noch was ((wer einen Apple Mac benutzt, dem sei dahingehend die App Mediathek empfohlen)).




Die Fassade bröckelt

Eigentlich kreisen alle seine Bücher seit vier Jahrzehnten um die Lust auf Sex, Rausch und Drogen, den Hang zu kernigen Typen und rauflustigen Boxern. Wolf Wondratschek (Jahrgang 1943) ist vielleicht der letzte Macho der deutschen Literatur.

Doch jetzt, immerhin sind die besten Jahre vorbei und die Lebensuhr rückt unbeirrbar weiter, bröckelt die selbst gezimmerte Fassade. Der harte Kerl wird nostalgisch, lässt sein Leben Revue passieren und wird, wenigstens ein bisschen, gefühlig. Das liegt vor allem daran, dass Chuck, sein literarisches Alter Ego, in späten Jahren Vater eines Sohnes geworden ist und nun, mit Mitte 60, schwer ins Grübeln kommt. Zwar liebt Chuck seinen pubertierenden Sohn abgöttisch, aber er erreicht ihn nicht. Und verstehen kann er ihn schon gar nicht. Wie sollte er auch, ist der Sohn doch das Ebenbild seines Vaters als junger Mann: ein aufmüpfiger Mensch, der von den autoritären Erziehungsmethoden der Alten nichts hält und seine eigenen Erfahrungen machen will.

In „Chuck´s Zimmer“, einer 1974 im Alternativverlag „Zweitausendeins“ erschienenenen Sammlung mit Gedichten und Liedern, hatte Wondratschek sich zu einem drogen- und sexsüchtigen Intellektuellen stilisiert, der gegen alle politischen Ideologien und festen Beziehungen rebelliert. Das Gedicht „Warum Gefühle zeigen?“ endete mit den Zeilen: „Chuck, der sein Kind liebt, / das nie zur Welt kommen wird.“ Das wäre wohl auch zeitlebens so geblieben. Doch irgendwann hat der Zufall zugeschlagen. Weil Chuck mal wieder pleite war und kein Geld hatte, um in die Suchtklinik zu fahren, ging er in eine Bar und lernte eine Frau kennen, die ihm „Das Geschenk“ eines Sohnes machte.

Nun hockt Chuck alias Wondratschek am Schreibtisch und weiß nicht recht, was er mit diesem Geschenk anfangen soll. Weil Chuck seinen bei der Mutter lebenden Sohn selten sieht und sich zwischen ihnen emotionale Abgründe auftun, möchte der Vater sich dem Sohn durch Erzählen nähern. Er greift tief in die Erinnerungskiste, gräbt verschüttete Erlebnisse aus, versucht dem Sohn zu zeigen, dass auch der strenge Vater nicht immer nur ein alter Sack, sondern einmal ein junger Spund war. Dabei entstehen ein paar wunderbar witzige literarische Miniaturen. Der Besuch bei einer attraktiven Urologin: eine kabarettistische Glanznummer. Das Ansinnen, bei einem Treffen der Pharmaindustrie als Dichter aufzutreten: ein Abgesang auf die Rolle des Schriftstellers als Weltveränderer. Der Exkurs über Donald Duck als Genie des Scheiterns: eine an Samuel Beckett anknüpfende, absurde Kapriole.

Doch den hintergründig-humorvollen Sentenzen und aufgekratzten Selbstbespiegelungen haftet auch etwas Trauriges und Melancholisches an: ein eitler Pfau spreizt sich noch einmal und mutiert vom Macho zum nostalgischen Rentner. Der merkt denn auch gar nicht, dass ihm der Sohn als Zuhörer schon längst entflohen ist. Chuck spricht eigentlich nur noch mit sich selbst und benutzt den Sohn als Projektionsfläche seiner Reminiszenzen. Kein großes Buch, aber auch kein schlechtes.

Wolf Wondratschek: „Das Geschenk“. Hanser Verlag, München. 173 S., 17,90 Euro.




Morgen-Notiz aus der Provinz

Nein, ich zweifel nicht daran,

dass heute Freitag ist.

Man sagt, es ist Freitag und wer reibt sich heute

nicht alles die Hände…

Manchmal werden sie auch gefaltet.

Oh, gesegneter Freitag !

Oh, heiliges Wochenende!

Ach, ändert sich denn wirklich etwas?

Wer ändert sich denn schon?

Immer wird verlangt, die anderen sollten sich ändern.

Von sich selbst nimmt man in dieser Sache lieber Abstand.

Da betreibt man gerne Denkmalpflege…

Mit den letzten Ruinen gehen sie hausieren…

und merken es nicht einmal…

Verschanzt hinter ihrem eigenen Gedankengut,

welches alles andere als gut ist.

Es sind Brocken und mit diesen Brocken –

brocken sie einem was ein,

wenn man sie lässt…

Manchmal sollte man besser Abstand halten,

sonst werfen sie einem einfach die Brocken,

nicht einmal vor, sondern auf die Füße.

Sie meinen, das ginge völlig in Ordnung.

Warum das so ist, man kann es sich fragen

oder es auch lassen….

Aber das ist leichter gesagt als getan.

Sie rennen einem ja hinterher oder kreuzen den Weg,

der fortan dornenreich wird.

Ach, hätte man sie doch nie getroffen, denkt man manchmal.

Aber hatten sie sich nicht aufgedrängt?

Oh, diese alltäglichen Verführer des Alltags

mit ihren freundlichen Gesten und Attitüden.

Nein, was sind sie freundlich.

Sie sind so freundlich wie eine Puderdose.

Bloß nicht reinblasen…

 




Zwischen Mozart und Moderne

Mojca Erdmann ist eine Sopranistin der besonderen Art. Wer im Bundeswettbewerb Gesang einen Preis für die Interpretation zeitgenössischer Musik gewinnt, wer in Salzburg mit Mozarts „Zaide“ debütiert (2006) und drei Jahre später in Schwetzingen die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Proserpina“ stemmt, verfügt über ein ungewöhnlich kontrastreiches Repertoire. Nicht viele Stimmen halten diesem stilistischen Spagat zwischen Klassik und Moderne stand.

Zwischen Mozart und Rihm hat sie u.a. Strauss, Mahler und Puccini gesungen. Wir hörten sie als Suor Genovieffa, die Vertraute der Suor Angelica in Puccinis gleichnamiger Verismo-Oper. Mit leichter, dennoch ausdrucksstarker Stimme formte sie einen sanft heiteren Charakter. Und in Mahlers 4. Sinfonie, in deren letztem Satz Erdmann von den himmlischen Freuden ganz irden erzählte, ließ sie es geschickt offen, ob des Komponisten Erlösungsmusik nicht doch Zeichen von Resignation in sich birgt.

Nun aber hat Erdmann ihre erste CD vorgelegt und sich dabei vor allem auf Mozart-Arien kapriziert. Daneben erklingt die Musik einiger Klassik-Kleinmeister, denen sich die Sopranistin ebenso ambitioniert widmet. Ja, sie versenkt sich in ihre Rollen, klagt inbrünstig, zürnt herausfordernd, spöttelt sanft. Das also fällt zuerst auf: ihre Identifikationskraft, ihr Sinn für dynamische und gestalterische Nuancen.

Dabei ist die Stimme nur bedingt schön, weil nicht stets balsamisch gülden strömend, in blitzblanker Höhe jubilierend oder in der Mezzolage satt grundiert. Doch hier geht es nicht um zur Schau gestellte Perfektion, auch nicht um jungmädchenhafte Reinheit, sondern ums Modellieren unverwechselbarer Charaktere.

Der vor Zorn bebenden Zaide also möchten wir nicht im Dunklen begegnen. Der zutiefst einsamen Pamina wiederum (aus Mozarts Zauberflöte) gilt unser ganzes Mitleid. Oder Zerlinas milde Versöhnungsgeste gegenüber ihrem Liebsten Masetto (Don Giovanni) – schlicht und erhaben.

Mojca Erdmanns Stimme ist nicht von strahlendem, sondern metallenem Glanz, das mag der Hinwendung zum modernen Repertoire geschuldet sein. Sie ist bisweilen herb und ungenau fokussiert. Doch immer siegt ihre suggestive Kraft. Bestens unterstützt vom Ensemble „La Cetra“ unter Andrea Marcon, das in historisch informierter Aufführungspraxis pointiert musiziert – mit teils geschärften Akzenten, manchmal harsch, dann wieder in samtenem Wohllaut spielend.

 

Die CD wurde von der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

(Der Text erschien in kürzerer Form in der WAZ).




Open-Air-Saison im Ruhrgebiet: Der Graf und Grönemeyer

Die Saison ist eröffnet. Mit gleich zwei hochkarätigen Konzerten wartete Gelsenkirchen in der vergangenen Woche auf. Den Anfang machte der unheilige Graf im Amphitheater, zwei Tage später unser aller Grönemeyer auf Schalke. „Ja, und? Wie war et denn? Isser noch derselbe wie imma?“ Zwei ganz unterschiedliche Konzerte, eine Frage. Anscheinend muss ich et ja wissen, so oft wie mir diese Frage gestellt wurde. Die Karriere von Unheilig verfolge ich seit Jahren und mein erstes Grönemeyer Konzert erlebte ich 1986. Also, wie war et?

Zunächst der Graf. Er ist noch immer derselbe.  Es ist sein Publikum, welches sich geändert hat.  Die Erwartungen der rund 6000 Zuschauer gingen bunt durcheinander. Um diejenigen abzuzählen, die sich in gräflichem Outfit in die Menge wagten, braucht es nicht mehr als eine Hand.

Im Konzert folgen Unheilig dem Weg ihres Konzeptalbums „Grosse Freiheit“. Mit einem hölzernen Schiffsbug als Erhöhung der Bühne im hinteren Drittel, nehmen sie ihr Publikum „Abwärts“ mit „über’s Meer“ und in ferne Galaxien aus früheren Alben. Die „Lichter der Stadt“ (das für 2012 angekündigte Album) schimmern erfolgversprechend durch. Unter der Flagge des Grafen wurde getanzt, gesungen, aber auch andächtig bei den ruhigeren Balladen verharrt. Zumindest von den meisten. Der Graf startet die „Maschine“ wie immer, aber mein Eindruck war: Mit diesen Massen kann er nicht so wirklich umgehen, ein Stück weit fehlt ihm Chuzpe und Frechheit. Noch ist es ihm nicht gegeben, „O wie ist das schön“ oder gerne auch „Einer geht noch“ Rufen anders als mit Verlegenheit zu begegnen. Die Geister, die er rief – er wird sie nicht mehr los und langjährigen Fans stellt sich immer drängender die Frage, ob diese Geister noch gut sind für die Band und ihre Musik. Der Graf singt seine unheiligen Texte mit heiligem Ernst, fast missionarisch beseelt. Alleine – nicht jeder ist da, um sich beseelen lassen. Rockigere Stücke rufen bei einem gut Teil des Publikums Befremden und Irritation hervor. Ernstere traurige Lieder dienen vielen als Gelegenheit zum Schlangestehen beim Biermann. Viele Künstler haben bewegende Momente, in denen sie sich mit dem Publikum gemeinsam besinnen möchten. Bei den Toten Hosen ist es „Nur zu Besuch“, bei Grönemeyer war es „der Weg“, bei Unheilig ist es „An Deiner Seite“. In Gelsenkirchen war das Publikum bei diesem zwar älteren, aber sehr persönlichem Stück nicht an seiner Seite und bereit, sich mit ihm gemeinsam zu besinnen. Für diejenigen, die es gerne getan hätten, ein unwürdiger, ein unheiliger Moment.

Ganz anders dagegen letzte Woche Dienstag bei Grönemeyer. Auch in der Arena galt: Mitgrölen kann eine kathartische Wirkung haben. Auch seine Bühne ist einem Schiff nachempfunden, der Blickfang jedoch ist pure Selbstironie. Unübersehbar in der Mitte ein großes HRBRT! Weiß der geneigte Grönemeyer Fan doch spätestens seit CRRYWRST: Vokale sind völlig überschätzt.

HRBRT also. Ist er noch derselbe? Ja. Unprätentiös, bodenständig und mit nach wie vor ausbaufähigem Tanzstil. Und nein. Er hat sich verändert. Der Mann, der in der Arena 50.000 Menschen in seinen Bann zog, ist ein anderer. Älter, klar. Und entspannter. In sich selber ruhend. Grönemeyer muss niemandem mehr etwas beweisen. Er weiß, was er kann und er weiß, was er will. Feuilletonisten mögen fragen, ob Textzeilen wie „Ich will mehr – Schiffsverkehr“ kryptisch genial oder sinnentleert sind, ob sich Ruhr auf Ur reimen muss. Ihn kümmert es nicht.  Was HRBRT knödeln will, knödelt er.

Das Konzert ist natürlich die Heimreise, auf die Ruhrstadt wirklich gewartet hat. Drei Stunden, die Sperrstunde der Veltins-Arena ignorierend und Konventionalstrafen in Kauf nehmend, feiert Grönemeyer mit den 50.000. Stücke vom neuen Album kommen nicht zu kurz, ebenso wie auch seine Klassiker. Er bleibt der „Mensch“, wie er lebt und liebt bei „Vollmond“ und mit „Flugzeugen im Bauch.“ Auch wenn die Atmosphäre der Veltins Arena richtige Konzertstimmung schwer aufkommen lässt, seine Fans feiern nicht nur mit ihm, sie würdigen auch seine sehr persönlichen Balladen wie eben „Der Weg“ oder das zeitlos schöne „Halt mich“ angemessen. Und wenn ein ganzes Stadion das Steigerlied mitsingt, um danach hymnisch „Tief im Westen“ anzustimmen – kann sich trotz der Dixie Klos im Innenraum kaum einer der Magie entziehen.

Es zeigte sich deutlich, Grönemeyer ist mehr als nur ein Sänger. Er ist eine Institution, eine gehörte Stimme in unserem Land und unserer Zeit. Wohin die Heimreise des Grafen letztendlich führt, wird sich erst weisen. Sein früheres Publikum hält sich spürbar zurück, sein neues passt noch nicht richtig zu ihm und seinem Anliegen.

Ein Wort zur Security: Nicht wenige äußerten im Amphitheater Bedenken ob versperrter Fluchtwege und unbeholfen ordnender Ordner. Wie es richtig geht, konnte man in der Veltins Arena besichtigen. 50.000 Zuschauer, kein Stau, kein Chaos, freie Fluchtwege, entspannt geordnet. Das war vorbildlich.




Konzeptlos in die documenta

Die documenta ist in vielerlei Hinsicht ein sehr, sehr merkwürdiges Unterfangen. Sie will Weltausstellung der Bildenden Kunst sein und liegt doch in der Hand nur eines Direktors. Sicher wird der seine Adlaten und Faktoten treiben, an ihm allein, so zeigt’s die Geschichte, bleibt aber der Ruhm oder Unruhm kleben. Und überdies: Eine „Weltkunst“ gibt es nicht. Niemand kann die Übersicht haben, und uns zu geben vermag sie auch keiner. Was sicher auch damit zutun hat, dass der Mensch, gemessen an den Zeitläuften, nur ein relativ enges Fenster bewusst mitbekommen kann. Steht man beispielsweise im Saft seines Lebens, das Grünzeugs hinter den Ohren ist fortgeschnippelt, und haben einen Mami und Papi nicht gerade im Buggy durch jede Ausstellung und die Kasseler Auen geschoben, startet man gegebenen- oder äußerstenfalls in der kunstleistungskursvertrödelten Oberstufe mit der ersten ernsthaften Beschäftigung in Sachen zeitgenössischer Kunst. Man schaut fünf Jahre später eine Ausgabe während des Studiums und, gesetzt den Fall man ist recht flott bei der Sache: Schon findet man sich im Berufsleben (nicht mehr) wieder, möglicherweise als Kritiker, und soll über eine solche Veranstaltung auch noch fundierte Aussagen verfassen.

Der Zeitpunkt, zu dem wir’s allerdings wirklich können, weil wir genügend Ausgaben gesehen haben, liegt immer schon in der fernen Zukunft. Sind wir jedoch dort erst einmal angelangt, verstehen wir den Betrieb nicht mehr, geschweige denn die Künstler und ihre Werke. Ein Blick in die Altherrentexte gewisser Autoren, vorzugsweise publiziert vom frakturierten Oberkopf am Main, reicht. Wie muss es erst sein und sich anfühlen, wenn man eine solche Veranstaltung als Curator in Chief auf die Beine zu stellen hat? Allein die historische Belastung, das Erbe der Großen seit den Fünfzigern, ist eine Qual für sich! Kein normaler Mensche möchte mit Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) tauschen, die ihre Ausgabe für 2012 vorbereitet. Was alles ist zur vergangenen Veranstaltung gegen die Buergelmaschine in Stellung gebracht worden. Nun, geschadet hat ihm das mediale Debakel nicht. Heute ist er ganz professoral. Vielleicht kann man dem nur entkommen, indem man nicht einfach nur Unsinn macht bzw. viel dummes Zeugs präsentiert, daherredet, proklamiert und nebenbei auch noch Künstler düpiert, vielleicht muss es genau so sein, wie CCB es jetzt zelebriert: Ein Feuerwerk des reflektierten Schwachsinns. Denn so dämlich wie die jetzigen Beiträge der Kuratorin in der Öffentlichkeit sind, so geplant irrsinnig muss das sein. Ein Interview mit Noemi Smolik in Frieze d/e, Heft 1, Sommer 2011, offenbarte die pathologisierende Wirkung des Jobs auf diese kunstsinnige Multiplikatorin.

Was für ein Dialog! Der beginnt mit dem Zauber der Dialektik. Nordpol. „Die Welt sieht ein bisschen anders aus, wenn man den Blickwinkel derart verlagert“, kratzt die Chefin ihre Miles and more im Hirn zusammen und präsentiert den Humbug der Öffentlichkeit, die scheint’s für jeden Pup als Mülleimer herzuhalten hat. Denn für eine derartige Erkenntnis benötigt niemand Polarluft und muss sicher nicht tonnenweise CO2 qua Flugzeugabgas in den Himmel pumpen. Es ist nicht ganz klar, was kuratorische Arbeit mit CCBs Nordfahrten zutun hat. Aber das muss es auch nicht, denn sie ist ja irgendwie selbst die Künstlerin, diejenige, welche ein großes Werk namens documenta 13 zu realisieren, aufzuführen hat. Begleitet sie Künstler bei ihren Recherchen? Frau Smolik fragt leider nicht danach. Oder ist derartiges Geplänkel mittlerweile das verbale Initialritual für ubiquitäres Bullshit-Bingo im „kritischen“ Sektor des Kunstbetriebs? Jedenfalls formiert sich am Pol ein großes Experiment mit unbekanntem Ausgang. Die documenta. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2011, und die Verantwortung sei Segen und Bürde zugleich, sagt CCB. Dabei ist es doch vollkommen gleichgültig, was sie präsentiert: Dass die Besucherzahlen jedoch kontinuierlich gestiegen sind, lässt eigentlich vermuten, dass die Beschwernis nicht allzu groß ist. Es wird schon, liebe CCB, keine Bange. Der Kunstrubel rollt weiter. Na ja, und irgendwie wird vor diesem Hintergrund auch verständlich – gewissermaßen –, warum Du so viel Murks erzählst. Etwa über das Konzept.

Denn nach diesem eiskalten Vorgeplänkel kommt sie wirklich zur Sache. Besser: Sie kommt natürlich nicht zur Sache, sondern nur zum Konzept, und die d13 soll keines übergestülpt bekommen. Denn Konzepte überschatteten heute die „Arbeit der Kultur“. Was aber ist die? Seit wann geht die Kultur auf Arbeit? Und wenn ja, wo? Eine Ausstellung konzeptlos zu gestalten hieße für sie, möglicherweise „in einer sehr guten Kunstmesse zu enden“. Ist das so? Ist eine Messe tatsächlich konzeptlos? Das wird Herrn Hug oder wen auch immer doch extrem ärgern, und es ist beinahe schon verwunderlich, dass die Macher der Frieze solch unreflektierte Hirnsoße gestatten. Zum Glück tun sie das, nicht nur der Pressefreiheit wegen. Denn hier geht es um mehr als nur den schnöden Alltag in einem gesellschaftlichen Subsystem mit postfeudalistischen und protooligarchischen Zügen. Konzept heißt gemäß Duden unter anderem, einen klar umrissenen Plan zu haben. Ist das so verkehrt mit Blick auf ein derartiges Mammutprojekt? Wie sich die documenta finanziert? Keine Ahnung, aber sollte auch nur ein Cent meiner Steuern in das Vorhaben fließen, so kann man erwarten, dass sich die Dame auf ihren Hosenboden setzt und gefälligst ihre Hausaufgaben macht, sprich: ein tragfähiges Konzept einer Ausstellung entwickelt und begründen kann, warum sie diesen oder jenen Künstler eingeladen hat und andere nicht. Was ihr Blick auf die Gegenwartskunst ausmacht, woran er sich orientiert. Und so weiter… Doch vielleicht brütet CCB etwas ganz anderes aus, und wir verstehen ihre Worte (noch) nicht. Alles denkbar, alles möglich, denn sie sagt ja auch, dass die documenta eigentlich keine Ausstellung ist.

Das Dumme an der Sache ist nicht, dass CCB gewagte Thesen in den Raum wirft. Das sollte zur d13 auf jeden Fall passieren. Allerdings sollten nicht die Pfade des Bewusstseins verlassen werden. Zum Verzweifeln ist’s bei dem absolut hirnrissigen Vergleich zwischen dem Konzept einer Ausstellung wie der d13 und Facebook. Sie behauptet: „Hier überschattet das Konzept des Kommunizierens den Inhalt dessen, was kommuniziert wird, und schafft so narzisstische Störungen in der Gesellschaft.“ Der Vergleich zwischen dem Konzept einer Kunstausstellung und der scheinbaren Funktions- und Wirkweise einer Internetplattform verbietet sich. Außerdem ist diese FB-Interpretation sachlich falsch. Der formalisierte Rahmen, der die Kommunikation über das Internet erlaubt, ist letztlich flexibel genug, um ein enormes Quantum herkömmlicher Kommunikation zu gestatten. Eben jene unterstellten narzisstischen Störungen ereignen sich bei bereits Veranlagten, aber nicht in Form einer direkten, monokausalen Konsequenz, wie es CCB suggerieren möchte. Diese Hinrichtungsargumente, die gerade nicht argumentieren, wollen der Technik eine Schuld zuschreiben, die verkennt, dass es keinen Schuldigen gibt, selbst Herr Zuckerberg ist keiner. Was CCB hier übertreibt, ist falsch verstandene Medientheorie der frühen Neunziger. Wer also möchte von offensichtlich ignoranten, ganz deutlich uninformierten Pseudokünstlern eine Ausstellung im Format der documenta serviert bekommen? Was kann denn da erscheinen? Vielleicht ist es de facto so, dass man als Kurator der Kasseler Über-Veranstaltung heute tatsächlich wie ein Künstler agieren muss. Vielleicht führt am Nordpol kein Weg vorbei. Vielleicht ist Kassel auch wirklich nicht der eigentliche Veranstaltungsort dieser Schau und vielleicht versteht man ferner den Humor dieser Kaste von künstlichen Kunstmultiplikatoren nicht mehr. Aber was aus dieser Wortblubberei zu lesen ist, das reicht, um einem die Lust zu verderben: einerseits am Betrieb, andererseits an der Ausstellung. Und das zu bemerken, ist keine Frage der Häufigkeit des Besuchs.




Ruhrfestspiele 2011 – ein Rückblick

Noch bevor die Abschlusskonzerte auf dem Recklinghäuser Hügel gespielt waren, verkündete Intendant Frank Hoffmann die frohe Pfingstbotschaft: Die Ruhrfestspiele haben sich selbst und ihren eigenen Besucherrekord von 2009 übertroffen. 212 Aufführungen, mehr als 81.000 Besucher und eine Auslastung von über 91 % zählte das diesjährige Festival. Einmal mehr bewies der Luxemburger Hoffmann damit, dass er der Tradition und dem Anspruch der Ruhrfestpsiele gerecht wird und ihm gelingt, was auf dem Hügel nicht immer selbstverständlich war: Mit einem anspruchsvollen Programm auch in der Breite erfolgreich zu sein. Folgerichtig wurde auch bereits am vergangenen Donnerstag bekannt gegeben: der Vertrag des Luxemburgers Hoffmann ist bis 2015 verlängert.

Was bleibt aus diesem Jahr, Jahr eins nach der Kulturhauptstadt? Stürmische Begeisterung ebenso wie kontroverse Diskussion. Große Namen neben unbekannteren Ensembles, Experimente von provokant gelungen bis arrogant daneben. Der erbrachte Beweis, dass das Werk Schillers – diesjährig im Mittelpunkt stehend – „Brücken in unsere Zeit schlägt“ und Schillers „Nachdenken über die Zunkunft…auch unsere Gegenwart erschließt“. Die Schiller-Adaptionen – u.a. Don Carlos, Kabale und Liebe und als würdiges Finale der radikal gekürzte Klassiker Maria Stuart – wurden durchweg mit Begeisterung aufgenommen. Einzig die Räuber stellten so manchen Zuschauer vor die Frage, ob die Inszenierung eher drastisch oder doch genial furios zu nennen war. Leserbriefschlachten in der Lokalzeitung gaben davon beredte Kunde. Worauf blicken wir noch zurück?

Auf einen grandiosen John Malkovich in einer eher behäbigen Inszenierung der Giacomo Variations. Auf einen experimentellen Ben Becker, der die vor Jahren mit Endstation Sehnsucht geschlagene Scharte auswetzte und düster melancholisch sein Publikum mit dem Todesduell von John Donne und den Elegien von Joseph Brodsky bannte und begeisterte. Becker, der nur eine Woche später gemeinsam mit David Bennent und der großartigen Angela Schmid in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ einen weiteren Erfolg verbuchte. Nicht wenige feierten diese Inszenierung als die beste der Festspiele.

Kontroversen und Ablehnung dagegen bei „Paris, Texas“. Eine sehr frei assozierte Adaption nach dem Film von Wim Wenders. Comics und Pin-Ups auf der Bühne, schrill, laut und disharmonisch. Bis heute fragt sich so mancher, ob er nun eine Parodie verkannt oder doch einer Aneinanderreihung der Untugenden modernen Regietheaters beigewohnt habe.

Nicht unerwähnt bleiben sollten kleinere Juwelen wie der Chansonabend von Angela Winkler, die sich als Bühne für die Premiere ihres ersten Studio-Albums ausdrücklich die Recklinghäuser gewünscht hatte. Sowie die Lesungen, welche eine eigene, gute neue Tradition bilden. Weniger Resonanz hatte diesjährig das Fringe Festival. Je mehr es sich zum eigenständigen Festival entwickelt, desto mehr gerät es aber auch zum Nischenprogramm als zur gewünschten Einrahmung.

Fest steht, die Recklinghäuser lieben ihr Festival. Zu Recht sind sie nicht nur stolz auf das Programm, sondern auch auf die einzigartige Stimmung auf und um den Hügel. Die mit den Jahren sehr stimmungsvoll entwickelte Gastronomie trägt das Ihrige dazu bei, die rechte „A world stage“ Festival-Atmosphäre zu entwickeln.

Es war Frank Hoffmanns Anspruch, die Ruhrfestspiele 2011 mögen „in die Zeit gefallen“ wie „Schiller der Wirklichkeit ins Gesicht sehen“. Er selber sprach in abschließenden Worten leicht euphemistisch von „der neuen Recklinghäuser Diskussionskultur“, die Resonanz und die Kritiken gleichwohl gaben ihm Recht: Hoffmann ist seinem Anspruch gerecht geworden. Recklinghausen freut sich auf die Festspiele 2012.

( Zitate aus Frank Hoffmanns Vorwort im Booklet zu den Festspielen )




Lass die Sau raus und nie wieder rein!

Frühstück mit Wolf Foto: Birgit Hupfeld

Foto: Birgit Hupfeld

Frühstück mit Wolf – das klingt erst einmal nach einer gefährlichen Mahlzeit. Aber wenn das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater, Regisseur Hartmut El Kurdi und Autorin Gertrud Pigor im Boot sind, wird so eine  brisante Angelegenheit schnell zur Köstlichkeit: Da hat der Wolf den Blues, die Schweinchen haben echtes Country-Gefühl im Ringelschwänzchen – und die Besucher einen Heidenspaß.

Wald, Blumen, schöne Klänge, ein idyllisches Fleckchen Natur. Und genau der richtige Ort für Borste (Bianka Lammert), Fässchen (Johanna Weißert) und Schmalz (Sebastian Ennen), um ihren Traum vom Eigenheim zu realisieren – denn „in jedem Schweinchen steckt ein großer Architekt“. Also wird gesungen und „vermessen wie besessen“, bis bei dem einen der Keller wunschgemäß oben ist und der Balkon beim anderen frei schwebt. Den Wolf Dieter (Rainer Kleinespel) allerdings hat keiner nach seiner Baugenehmigung gefragt, außerdem hat er gerade Appetit auf Schnitzel – also pustet er die Häuser von Fässchen und Schmalz hinfort. Die machen sich flugs bei Borste breit. Borste ist so empört, dass sie prompt bei Wolf Dieter in die Hilfs-Wolf Ausbildung einsteigt. Aber so gemein ist schließlich selbst kein Schwein…

„Frühstück mit Wolf“ ist das reinste Vergnügen: Hartmut El Kurdi hat ein besonderes Gefühl für Wort- und Situationskomik und mit Philine Rinnert eine ebenso humorvolle Ausstatterin mit Blick für Details, wie die schwankende SAT-Schüssel aus einem Pappteller. Die von Kurdi selbst geschriebenen Lieder mit Ohrwurmpotential unterstreichen bestens die Charakterzüge der Figuren – schade nur, dass die Darsteller bei der Premiere ein wenig gegen die zu laute Musik ansingen mussten.

Insgesamt aber merkt man den Schauspielern ihren Spaß an diesem überdrehten Abenteuer an – das vor allem ein Fest für Bianka Lammert und Rainer Kleinespel ist.

Bianka Lammert stürzt sich mit Wonne in die Rolle des Borste, spielt sich als besserwisserische Spießerin auf, zieht Fratzen, liebt den Slapstick. Rainer Kleinespel als herrlicher Gegenpart Wolf Dieter gibt sich einfach gestrickt, knurrig, cool,  und heult dabei wie ein alter, abgehalfterter Blues-Held. Dass aus den beiden beinahe das schrägste Traumpaar der Schweinchenwelt wird, ist nur ein Grund, sich diese spaßigen 60 Minuten anzuschauen – frei nach dem Motto: „Lass die Sau raus und nie wieder rein.“

Foto: Birgit Hupfeld




Soziale Miniaturen (7): Herrenrunde

Kleinstädtisches Ausflugslokal, sonntags. Norddeutsche Herrenrunde am späten Nachmittag. Alle in den Sechzigern. Großväter, finanziell arriviert und arrondiert. Sie würden sich als gestandene Männer bezeichnen. Man ist mit dem Bürgermeister per Du.

Die ersten drei, vier Biere haben sie verdrückt. Man muss nicht lauschen, um manches zu hören. Jetzt schlägt einer vor, endlich mal den ersten Schnaps zu nehmen. Ein anderer möchte vorerst beim Bier bleiben. Gejohle am Tisch: „Entweder alle oder keiner!“ Man einigt sich schnell auf „alle“. Als einer im Lokal einen Weißwein trinkt, sind sie geradezu aufgebracht. Weißwein bei uns an der Küste! Unmöglich. Wahrscheinlich ein Pfälzer. Oder ein Schwuler. Hohoho.

Zwei Tische weiter begeht eine Frau den „Fehler“, diskret ihr Baby zu stillen. Die einschlägig geeichten Herren bemerken es trotzdem und rufen halblaut herüber: „Musste den Pullover richtig hochziehen, dann kommt das Kind besser ran.“ Launige Lachsalve der Marke „Nix für ungut“. Besser aber, dass die Frau es nicht vernommen hat oder es geflissentlich ignoriert.

Da kochen sie wieder im eigenen Saft.

Wenig später betritt ein junges Paar die Gaststätte. Die Herren stecken die Köpfe zusammen. Die Frau erinnert sie ohne Umschweife an „eine Professionelle“, wie sie es nennen. Tuschelnd werden Mutmaßungen ausgetauscht. Ach was, keine Vermutungen. Tatsachen! Man kennt sich aus im Leben. Ihnen kann niemand etwas vormachen.

Dann wird es wieder lauter: Im Nu ist man bei Kachelmann, Strauss-Kahn und dem berüchtigten Betriebsausflug der Versicherungsleute nach Ungarn. Man weiß Bescheid. Und man hat seine klaren Ansichten.

Noch bleibt es unausgesprochen, doch es zittert in der Luft: Die Welt ist voller Sex, wie soll man da widerstehen? Und diese jungen Dinger, also bitteschön! Zicken! Biester! Wenn nicht Huren…

Wenn man nur noch besser zurecht wäre, so wie früher. Und wenn die Alte zu Hause nicht wäre. Ja, dann würde man noch einmal durchstarten.

Soweit die Vorglühphase.




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Was soll das?

Man fragt sich das im Straßenverkehr, im Garten,

am Herd, an der Theke, vorm Fernseher,

im Bett, an der Tastatur, bei H&M,

in der Badewanne, im Café, an der Ampel…

Immer fragt man sich: was soll das?

Man liest die Zeitung: was soll das?

Man bohrt in der Nase: was soll das?

Zweifellos suchen wir nach Erklärung, manchmal nach Sinn.

Das kann man auch Bestandschutz nennen.

In einer dynamisierten Welt sehnen wir uns nach Schutz.

Wir zweifeln, ob wir das Tempo mithalten können…

Alles geht so rasant.

Das Diktat der Rasanz.

Wir hecheln hinterher, bitten um Zeit, bitten um Gnade.

Aber es gibt keine Gnade, sagt man uns.

Wir seien auf dem freien Markt und hätten den Richtlinien zu folgen.

Hart müssten wir sein, hart zu jedermann & jeder Frau.

Alles Konkurrenten.

Auch Kinder.

Für den Erfolg werden auch Kinder getötet.

Das senkt die Preise und wir nennen es Fortschritt.

Immer reden wir von Aufschwung.

Alle schwingen sich auf, so sagt man.

Von denen, die untergehen, redet man nicht.

Die lässt man einfach absaufen, in rostige Nägel treten

oder man lässt einfach die Bahnschranke oben,

wenn der nächste Zug kommt.

„Ups, Herr Kollege ! Pech gehabt!“

Alle auf der Suche nach dem Platz an der Sonne.

Ja, ob es denn am freien Markt keine Wärme gibt? – so fragt man den Marktleiter.

Wärme würde nur träge machen, antwortet er.

Er hat ein glattes Gesicht und eine sehr markante Aussprache.

Er ist zweifelsfrei.

Der Marktleiter kennt keine Zweifel.

Was für ein Mensch!

Man fragt sich – er ist doch ein Mensch, oder?

Und wenn er keiner wäre, der Herr Marktleiter,

dann fragt man sich, was soll das?

Was soll diese Unmenschlichkeit – diese Gnadenlosigkeit?

Wie wird so ein Mensch – also falls er einer ist – ein Leiter,

ein Herdenführer, ein Vorbild, ein Anweiser, ein Entlasser…

ein mieser, ganz mieser Clown?

Wer hat ihn berufen?

Wie gelangte er zur Ehre?

Worin besteht sein Verdienst?

Fragen. Immer wieder diese Fragen.

Und dann muss man tippen.

Man meint, man müsse tippen.

Es kann doch nicht angehen, dass die deutsche Literatur ständig schweigt,

sich auf Herrn Grass verlässt.

Wie lange lebt der noch?

Und was ist mit der schreibenden Jugend,

diese jungen Autoren – Deutschlands geistige Zukunft?

Das Hegemann-Syndrom.

Im Abschreiben: Note 1

Na, das war aber billig und sowas von glänzend in den Gazetten,

dass man nur staunen konnte.

Über sowas staunt man heute.

Da fragt man sich, wie ist sowas möglich…?

Aber irgendwann hören die Fragen auf.

Man hat tausende von Runden gedreht,

wie ein Läufer im Stadion.

Man hat geschwitzt, man hat gehechelt, man ist gerannt.

Man dachte, man könnte nicht mehr.

Alles tat einem weh.

Die Luft wurde knapp.

Aber man schrieb weiter.

Irgendwann hatte man dann die Ziellinie im Blick…

Jetzt musste man nur noch durchhalten.

Aber das war leichter gesagt als getan…

P.S. Spenden Sie für diesen Text und retten Sie einem „freien“ Autor das Leben !

Morgen können Sie dann wieder Frösche & Singvögel retten.

Der Autor dankt

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Paul Valéry: Das Denken am frühen Morgen

Es war ein ungeheures Unterfangen: Rund 50 Jahre lang (1895-1945) ist der französische Schriftsteller Paul Valéry in aller Heidenfrühe aufgestanden, um „geistige Gymnastik“ zu betreiben, wie er es nannte. Hätte er jeweils abendliche Bilanzen gezogen, so wäre sein Denken wahrscheinlich in andere Richtungen gegangen. In den Stunden zwischen Tau und Tag also sind jene zahlreichen „Cahiers“ („Hefte“) entstanden, insgesamt ein zerklüftetes, schluchtenreiches Textgebirge, eines der großen Zeugnisse menschlicher Denkanstrengungen. Vieles klingt noch heute so frisch wie ein neuer Morgen.

Valéry meidet es nach Kräften, auf ausgetretenen philosophischen Pfaden zu wandeln, jedes System ist ihm zuwider. „Die meisten Fragen der Philosophie scheinen mir nicht meine zu sein, abseitig und sogar bedeutungslos, – bar jeder Notwendigkeit…“ Auch verachtet er bloße Lektüren ohne Erfahrung und beflissene Gelehrsamkeit, die das Wissen bestenfalls häuft und sortiert, aber nicht umgräbt.

Hier ist ein originärer Selbstdenker am Werk, der die Frage, was der Mensch überhaupt tun und wissen könne, noch einmal von Grund auf angehen will. Leitlinien sind eine geradezu mathematisch anmutende Strenge, die alles Unbewiesene und Verwaschene verwirft, sowie ein waches Misstrauen gegen Verfälschungen durch Sprache und deren vorgeprägte Muster. Zugleich ist hier ein universell entflammbares, schweifendes Denken umtriebig unterwegs, das seine Gegenstände augenblicklich ergreift.

In der verdienstvollen „Anderen Bibliothek“ des Eichborn-Verlags ist jetzt unter dem Titel „Ich grase meine Gehirnwiese ab“ eine Auswahl aus den „Cahiers“ erschienen, die unter Schlagworten wie „Ich“, „Sprache“, „Denken“, „Wahrnehmung“, „Leibliches Denken“, „Selbstsorge“ oder „Skepsis“ einige Schneisen durchs Dickicht schlägt. Die Edition soll hinführen zu umfassenderen Ausgaben, die freilich auch von Vollständigkeit weit entfernt sind.

Valérys Aussagen wirken stets luftig und kristallin klar. Vielfach verdichten sich seine Erkenntnisse zu trefflichen Maximen, die zwar historisch, jedoch keineswegs gestrig sind. Man möchte Satz um Satz zitieren. Das spricht auch für die Übersetzung. Dringlich gewünscht hätte man sich allerdings die Datierung und somit historische Erdung der Aufzeichnungen. So schweben sie vielfach im luftleeren Raum.

Rupfen wir nur einige wenige Halme aus der „Gehirnwiese“:

Der Mensch wird bestürzend sichtbar als biologische Maschine unter dünnem Zivilisations-Anstrich. Seine Identität ist nur ein Phantom, obwohl er mehr oder weniger bestrebt ist, sein Ureigenes zu sammeln. Zitat: „Man glaubt, man sei derselbe. Es gibt keinen Selben.“ Alles bleibt fragmentarisch und zufällig, nichts mag sich runden und vollenden. Selbst die wildeste Leidenschaft ist brüchig: „Mitten durchs rasende Toben geht ein Strahl von Ist-mir doch-egal.“

Aber lässt sich nicht doch ein Kernbestand festhalten? „Was bewahrt sich durch alle Zustände? Was erhält sich im Schlaf, im Traum, in der Trunkenheit, im Entsetzen, dem Liebestaumel? Dem Irrsinn?“

Wo also soll der Gedanke sein Gravitationszentrum finden? Valéry macht den menschlichen Körper als Angelpunkt und Grenze allen Denkens aus. Pure Gegenwart und Schmerz begleiten uns von Kind auf, körperliche Impulse und Versuchungen, Reize und Reaktionen steuern alles Sinnen und Trachten. Wen überrascht es, dass Valéry auch sexuelle Energieströme als Triebkräfte ansieht, die den Geist bewegen?

Stets muss man laut Valéry mit der prinzipiellen Begrenztheit der Gattung rechnen: Der Mensch nimmt nur einen Bruchteil dessen wahr, was insgesamt vorgeht. Auch sieht er nicht die Dinge selbst, sondern taucht alles ins flackernde Licht seiner Erwartungen. So erblickt er beispielsweise keinen Baum, sondern lediglich Farbflecken, die dann erst im Kopf zum Begriff „Baum“ montiert werden. Die Malerei jener Zeit hat solche Gedanken reichlich „bebildert“.

Valéry versteht tief greifende Selbsterkenntnis als notwendige Basis des Denkens. Wort für Wort durchwandere er sich selbst auf der Suche nach (seiner) Wahrhaftigkeit. Nicht „Ich denke, also bin ich“, sondern „Ich bin, also denke ich“. Sein eherner Vorsatz klingt nahezu naiv, hat es aber in sich: „Die Aufgabe: – nicht mehr mit dem denken, was wir als falsch erkannt haben. Mit dem denken, was uns klar geworden ist.“ Wer sich ein halbes Jahrhundert lang um die Schärfung des Instrumentariums bemüht, der darf, ja der muss so sprechen.

Paul Valéry: „Ich grase meine Gehirnwiese ab“. Die Andere Bibliothek (Eichborn), 348 Seiten, 32 Euro.




Lisztiana III – Konzertantes Gipfeltreffen

Manchmal kann er dem Reiz kaum widerstehen. Dann will sich der Pianist Daniel Barenboim der Staatskapelle Berlin zuwenden, die doch sein Orchester ist, und dem Dirigenten Daniel Barenboim zu seinem Recht verhelfen. Doch am Pult steht kein geringerer als Pierre Boulez. Und deshalb muss sich der Mann am Klavier bescheiden. Er hat auch so alle Hände voll zu tun.

Denn wenn es darum geht, beide Klavierkonzerte Franz Liszts an einem Abend zu spielen, sollte die Aufmerksamkeit allein aufs Soloinstrument gerichtet sein. Barenboim weiß dies nur zu gut. Von ihm wird nicht weniger verlangt als kernige Virtuosität, Sinn für lyrische Verläufe sowie der Blick aufs große Ganze dieser beiden einsätzigen Konzerte.

Gleichwohl leitet sich die Spannung des Abends in der Essener Philharmonie maßgeblich von diesem Gipfeltreffen ab. Boulez, von Haus aus Komponist, ein Meister des analytischen Denkens, nun klar konturiert dirigierend, trifft auf Barenboim, dessen pianistischer Glanz ein wenig verblasst scheinen mag. Und dessen Stern als gefühlvoller Dirigent umso heller erstrahlt.

So sehen wir also, vom prima disponierten Orchester her betrachtet, oft Liszt, den Modernen. Dann lässt Boulez Klänge schroff hervortreten oder klare dynamische Akzente setzten. Barenboim aber präsentiert uns Liszt als zutiefst empfindsamen Romantiker, dem Akkordgedonner oder Passagenwerk eher lästige Pflicht ist. Dann setzt der Pianist ganz auf Klang, brillant schillernde Figurationen, feine Verästelungen.

Viele Liszt-Bilder hat das Klavier-Festival Ruhr bereits evoziert, bei diesem Konzert stellen zwei berühmte, eigenwillige Interpreten ihre konträren Vorstellungen in aller Bescheidenheit nebeneinander. Barenboim, im virtuosen Geläuf verbissen auf Präzision achtend, sucht lieber die Nähe zum von Liszt hoch verehrten Chopin, das Filigrane nahezu zelebrierend.

Boulez wiederum mag´s eher dramatisch, zupackend, auch zügig, führt die Holzbläser andererseits zu schönsten Kantilenen. Dafür ist indes ein Preis zu zahlen: Solist und Orchester verhaken sich mitunter in ungleichmäßigen Tempi. Manches klingt schematisch. Doch immerhin: Falschem Pomp und triefendem Sentiment sind alle klug entgangen.

Das Kompliment gilt umso mehr Pierre Boulez und der Staatskapelle im Umgang mit Richard Wagners „Faust Ouvertüre“ und dessen „Siegfried-Idyll“. Die kurzen Stücke, den jeweiligen Liszt-Konzerten vorangestellt, geben dem Orchester einerseits Gelegenheit, ihren weichen, runden, nie aufdringlichen, aber suggestiv vielfarbigen Klang aufs Schönste in den Raum zu stellen.

Zum anderen, dafür sorgt das auf Struktur und Binnenspannung fokussierte Dirigat Boulez´, rückt das „Idyll“ niemals in die Nähe einer verkitschten Naturpostkarte. Und die Faust-Ouvertüre, Schumanns Romantik so wenig verleugnend wie etwa den „Lohengrin“, besticht bei allem Klangvolumen durch stete Transparenz.

Am Ende zwei Zugaben: Daniel Barenboim spielt Liszts „Consolations“ und einen der Valses oubliées. Da ist er ganz bei sich, ein emotionaler Feinzeichner. Barenboim, den Dirigenten, völlig vergessend.

 

Weitere Blicke auf Franz Liszt wagt das Klavier-Festival Ruhr mit einer vierteiligen Hommage zum 80. Geburtstag des großen Liszt-Deuters Alfred Brendel. Till Fellner, Francesco Piemontesi und Kit Armstrong zählen zu den Solisten. Brendel selbst wird über „Liszt – vom Überschwang zur Askese“ sprechen. Alles zu erleben in der Stadthalle Mülheim (14. bis 19. Juni). Weitere Informationen: http://www.klavierfestival.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Der Grieche ist mein Bruder

Es ist nicht meine Aufgabe, Experte zu sein, nicht meine Aufgabe, alles wissen zu müssen, speziell, wenn es um das globale Finanzsystem geht. Niemand kennt es. Seit Monaten verfolge ich aber die Berichterstattung zu Griechenland und seiner unabwendbaren Pleite. Und – wie immer – gibt es in jeder Talkshow Experten, wie es Experten in jeder Zeitung gibt und weitere bei weiteren Medien. Alle wissen: Der Grieche muss umrüsten. Die Europäer bezahlen die Abwrackprämie, aber nicht an die Griechen, sondern an das Gebilde Staat. Da kommt niemand mit einem Koffer, holt ihn aus dem Kofferraum und übergibt Bargeld an einen anderen auf einem einsamen Parkplatz. Es sind naturgemäß Banken, die das abwickeln. Und abgewickelt ist durch diese kriminelle Soße vor allem der „kleine Grieche samt seiner Griechin“.
Wenn etwas von niemandem richtig durchdrungen werden kann, dann ist alles möglich und die Politik muss politische Maßnahmen ergreifen. So war und ist das auch mit ETEC.

Schlechte Geschäfte

Natürlich gibt es in Griechenland reiche Kerle. Das wissen wir doch alle, mindestens seit Onassis und seiner Sonnenbrille. Und es gibt eine ganze Reihe berühmter Griechen, die wir alle aus Theaterstücken kennen oder als geflügelte Worte mit uns rumschleppen. Odysseus, ja klar. Bei Zeus! Und alle die Anverwandten und Geblendeten. Wer hat da jemals genau durchgeblickt? Da fing die Verwirrung an.
Das Volk, das gemeine, leidet unter den international vorgeschriebenen Leistungseinschnitten. Die Kultur, die Renten, die Mieten, das Leben. Die Reichen verlegen ihr Geld ins Ausland. Der kleine Angestellte oder der Tänzer, sie müssen den Dreck ausbaden. „Es ist eine Karussell, das niemals mehr anhält“, sagt mein Grieche.

Ich bin nach Griechenland gereist, in den Schuldenolymp, habe Athens Orakel befragt, habe mich mit Zeus und Hades, seinem Bruder, dem Gott der Unterwelt, zusammengesetzt und bei einigen Ouzos die Weltordnung umgekrempelt.
Der Ort der alt-europäischen Dekadenz, das Land der Verschwender und Schuldenmacher.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend, schweifte ich umher. Ich, der Retter der hellenischen Nation, der Steuerzahler, der seinen letzten Cent in die Antike steckt, damit sie nicht zusammenbricht. Ich hab das alles mit meinem Griechen vorbesprochen.

Eine open-air Bar. Der Kellner braucht Dekaden, bevor er sich sehen lässt. Fehlt mir die Geduld eines Sisifos? Ich sehe Zeus und Dionysos – mir gegenüber und sie lachen mich aus.
„Du bist zu spät“, singen sie.
„Angenehmes Wetter“, sage ich.
„Die Akropolis ist montags geschlossen“, sage ich.
„Das ist skurril“, singen sie.
„Die sind ja bekloppt“, sage ich.
Und wir enden alle drei in einer Bar, wo man mir Aphrodite vorstellt. Ich bin entzückt, falle aber vom Hocker und wache als Esel wieder auf.

Was hat Griechenland mit dem Ruhrgebiet zu tun? Sehr viel. Mein Grieche kommt zum Beispiel aus Griechenland, andere Griechen auch, ob „Poseidon“, „Akropolis“ oder „Mykonos“.
Otto Rehakles kommt aus Essen. Eine Griechin hat die Kulturhauptstadt erfunden. Wir sind auch pleite. Was will man mehr? Sehr viel Verbindendes also.

Die Choreographin Mariela Nestora war bereits mal auf PACT Zollverein. Sie sagt zu unserer Region „Ruhr“. „Ich war in Ruhr“, sagt sie. Und der Hund von Iris Karayan (Ja) heißt Tarmund und alle nennen ihn Dortmund, niemand weiß warum.

Die Griechen sollen sich ihr Leben nicht vermiesen lassen. Hier entstünde ein Land, das sich unter dem Jubel der Unschuldigen zu einem Paradies der globalen Verweigerung entwickelt. Hier würden die Menschen das tun, was ihnen lieb ist und nicht das, wozu sie verpflichtet werden. Ich wache auf, bin kein Esel mehr, sehe wieder aus wie vorgesehen. An der Wand vor mir sehe ich den verschwindenden Traumnebel an einem Strand. Mein Grieche steht dort und winkt mir zu. „Kalinichta“.

Ich erinnere hier an das Stück „Herkules und der Stall des Augias“ von Friedrich Dürrenmatt.

„Aufgrund des ständig anwachsenden Mistes wird das Leben in Elis immer unerträglicher. Deshalb beschließt Augias, Präsident von Elis, zusammen mit seinem Parlament, dem griechischen Nationalhelden Herkules ein ansehnliches Honorar und Reisespesen anzubieten und ihm den Auftrag zur Säuberung von Elis zu übertragen. Sein Sekretär Polybios erinnert ihn an seine gewaltigen Schulden und die Kosten, die die repräsentativen Pflichten eines Helden mit sich bringen.
… Kommissionen beraten in endlosen Sitzungen. Man weist darauf hin, dass unter dem Mist immense Kunstschätze verborgen sein könnten, die durch das Ausmisten verloren gingen. Die Beratungen verschleppen sich so lange, bis Herkules schließlich den ihm gewährten Vorschuss aufgebraucht hat. Herkules, der zudem von Gläubigern bedrängt wird, sieht sich gezwungen, im Zirkus des Tantalos aufzutreten. In dieser aussichtslosen Lage beschließen Herkules und Deianeira gemeinsam, das Land unausgemistet zu verlassen.“ (Quelle Wikipedia)

 




Wrestling beim Wacken Open Air – Lesung beim Rock Hard Festival

Während das Wacken Open Air Wrestling ins Programm übernommen hat, versucht es das Rock Hard Festival mit Literatur. Am Pfingstwochenende stellen die beiden Autoren Christian Krumm und Holger Schmenk ihr Buch „Kumpels in Kutten – Heavy Metal im Ruhrgebiet“ den Festival-Besuchern im Gelsenkirchener Amphitheater vor. Ein guter Anlass, um mit Christian Krumm zu sprechen, der bereits an einem Buch über die Plattenfirma Century Media arbeitet.

Am Pfingstwochenende habt ihr vier Lese-Termine beim Rock Hard Festival. Das ist schon etwas Besonderes?

Christian Krumm: Definitiv. Es ist so etwas wie ein Ritterschlag, denn hier ist die Ruhrpott-Szene versammelt und somit gehören wir auch dorthin. Es ist ein einzigartiges Event und wir freuen uns sehr über diese Möglichkeit.

Hören die Metal-Fans in einem Umfeld von lauter Musik und viel Bier überhaupt zu?

Christian Krumm: Wie es auf dem Rock Hard Festival wird, ist natürlich noch schwer zu sagen, denn das ist eine ganz andere Veranstaltung als unsere bisherigen Lesungen. Mit Bobby und Gerre als Gäste wird es vielleicht auch mehr Show als einfache Lesung, aber das Wichtigste ist, dass die Leute Spaß haben.

Wie war die bisherige Resonanz auf das Buch?

Christian Krumm: Wir hatten sicher mit einigen Resonanzen gerechnet, aber was seit der Veröffentlichung passiert ist, hat uns schon überrascht. Neben vielen, fast ausschließlich positiven R ezensionen überraschte besonders die Unterstützung aus der Szene für unser Buch. Die Verkäufe haben entsprechend ziemlich schnell unsere Erwartungen übertroffen.

Vergangenes Jahr habt ihr euer Buch bereits beim Wacken Open Air der Presse präsentiert. Seitdem seid ihr auf Lesereise – mit einigen prominenten Gast-Lesern. Gibt es einen Gast, den ihr besonders in Erinnerung behalten habt?

Christian Krumm: Da kann man sicher niemanden wirklich hervorheben. Wenn Tom Angelripper am Tag nach der Release-Party von „In War And Peaces“ (letztes Sodom-Album) sich mittags um zwölf Uhr mit uns trifft und sich die Zeit nimmt mit uns zwei Lesungen zu machen, dann sagt das viel über die Bodenständigkeit und Leidenschaft für die Szene von Tom aus. Andererseits arrangiert es Bobby von sich aus, ohne dass wir davon wussten, dass auch Gerre bei den Lesungen auf dem Rock Hard dabei ist und macht bei einem Video für Rock Hard Online Werbung dafür. Für wen soll man sich da entscheiden?

Kannst du denn sagen, welcher Ort für euch der schönste war?

Christian Krumm: Das war sicher das Café Nord. Die Kneipe ist seit zwanzig Jahren ein fester Bestandteil der Szene und als wir dort gelesen haben, mit einem Unplugged-Gig von Layment als besonderen Bonus, waren fast 200 Leute da. Das hat schon eine Menge Spaß gemacht.

Aktuell arbeitet ihr an einem spannenden Projekt – der Biografie der Plattenfirma Century Media. Wie ist es dazu gekommen?

Christian Krumm: Das gehört auch zu den positiven Resonanzen auf „Kumpels in Kutten“. Nicole Schmenk – die Ehefrau von Holger – hat zuletzt einen eigenen Verlag gegründet, der sich unter anderem auf Metal spezialisiert. Auf der Suche nach guten Buchthemen kam der Kontakt mit Robert Kampf, dem Chef von Century Media, zustande. Der zeigte sich begeistert von unserem Buch und schnell waren sich alle einig, dass wir die Geschichte der Plattenfirma aufarbeiten werden.

Ein Buch aus der Sicht der Musikindustrie ist selten. Was erwartet ihr an Reaktionen?

Christian Krumm: Das wird sehr spannend. Dieses Buch wird definitiv Geschichten enthalten, die man nicht so einfach in Magazinen oder anderen Szene-Büchern nachlesen kann. Musiker haben oft ein kompliziertes Verhältnis vom Geschäft, wollen vielfach damit so wenig wie möglich zu tun haben. Aber natürlich ist die Arbeit einer Plattenfirma enorm wichtig und ist ebenso ein Teil der Szene. Die Mitarbeiter sind fast ausschließlich selbst Fans, die sich mit Enthusiasmus und viel Herzblut engagieren und einiges dazu beitragen, dass zum Beispiel ein Album ein Klassiker wird, dass Bands das Beste aus sich herausholen oder auch nicht an Konflikten zerbrechen. Diesem speziellen Teil der Szene ist das Buch gewidmet und ich hoffe, dass die Fans sich auch für diesen Aspekt der Musik interessieren und begeistern können.

Vielen Dank an Jörg Litges für die Fotos




Wille zur Schönheit

1. Szene: Gegen Ende eines Crashkurses zum Thema „Geschichte des Russischen Konstruktivismus“ verabschiedet sich die Volkshochschulgruppe. Nachdem ich sie neunzig Minuten lang mit Manifesten und dem damit einhergehenden Bildmaterial strapaziert habe, sehe ich mich von ratlosen Gesichtern in komischer Verzweiflung umgeben. Eins erfrecht sich, auszusprechen, was alle denken: „Das war heut aber kompliziert.“

Oh ja“, beginne ich meine positive Verstärkung, „und das ist erst der Anfang. Ab jetzt wird es immer schlimmer. Und wenn wir erst bei der Konzeptkunst mit dem Charme eines Aktenschranks voller Leitz-Ordner angelangt sind, werden Sie mich anflehen, doch wenigstens ein klitzekleines Bildchen zu powerpointen. Aber wahrlich, ich sage Ihnen: Nix gibt’s. Kunst und Ästhetik hat ma grad SOWAS VON ÜBERHAUPT NIX miteinander zu tun!“

[Unterdrücktes Schluchzen vernehmbar.]

Ruhe da hinten. Sind wir hier im Kunstgeschichtskurs oder in der Kunsttherapie?“

Teilnehmerin: „Aber Kunst kann doch auch schön sein. Machen wir mal wieder Nolde?“

Ich sage: „Den haben wir bereits gemacht bis wir bunte Flecken im Gesicht hatten, und Ihnen zuliebe kram ich ja nun wirklich bei jeder Gelegenheit Kandinsky und ähnliche Schöngeister hervor, um ein beseeltes Lächeln auf Ihre Gesichter zu zaubern. Aber bevor Sie weiter fragen: Nein, Frau Sowienoch, und Chagall machen wir auch nicht. Von so viel unkontrollierter Schönheit krieg ich Pickel. Aber jetzt wollen wir uns doch nicht die Ferienlaune verderben. Nach der Sommerpause sehen wir weiter.“

Ich denke: „Und dann kommt dann Art & Language. Und wenn Sie wüssten, wie unschön das ist, würden Sie schon jetzt weinend davonlaufen, hihihi.“

Michael Lin, ohne Titel, 10, © studiopesci.it

Michael Lin, ohne Titel, 10, © studiopesci.it

2. Szene:

Am darauf folgenden Tag lausche ich einem sog. Künstlergespräch. Will sagen: Der Maestro sitzt, umgeben von Œuvre, auf dem Podium gegenüber einer Gesprächspartnerin, die ihm (wie der Zufall es so will handelt es sich um die Kuratorin seiner jüngst eröffneten Einzelausstellung) äußerst wohlgesonnen ist und das Interview aus der Froschperspektive führt.

Ich meinerseits wohne diesem Unterwerfungsritual widerspruchslos bei, weil ich vor ca. 25 Jahren einen Katalog des Meisters voller optisch eher unauffälliger Studien hartnäckig bestaunte. Die dezente Langeweile der seriellen Anti-Spektakel veranlasste mich zu der Überzeugung, dass der unterkomplexen Anmutung ein überkomplexes Konzept zugrundeliegen müsse, das ich nur noch aufspüren brauchte. Da mir das nicht gelang, bin ich also heute hierher gekommen – voll von unfinished business und gesteigertem Erkenntnisinteresse.

Und dann waren da noch die Kalauer aus dem videoten Interview mit dem GröFaZ, das ich am Vortag in freudiger Erwartung der Audienz gesehen hatte, und das verbale Ohrwürmer enthielt wie I have a good relation with whatever female energy there is in the world. And I’m interested in men as well – in all their complicated simplicity.”

Soviel zu meiner Motivation. Den Erschaffer solcher Oneliner MUSS man schließlich von Angesicht zu Angesicht schauen, oder?

Also lausche ich. Und da der Schöpfer Anfang der 70er nach chemisch induzierten Schlüsselerlebnissen die obligatorischen Aufenthalte in Indien und Japan absolviert hatte, geht es erwartungsgemäß um heilende bis göttliche Potentiale der Kunst und so. („The artist’s role is to show that the world is perfect, and then to make visible that this perfection needs a bit of correction.“)

Im Großen und Halben bin ich ganz einverstanden und willens, einen wohlwollenden Bericht zu verfassen. Also begebe ich mich anschließend in die Ausstellung auf der Suche nach Anschauungsmaterial, das die unverbrüchliche Aktualität des Malers belegt.

Und ich bin ECHT willens. Ich WILL fotografieren. Denn ließe ich euch inmitten einer Buchstabenwüste ganz mit ohne „auch nur klitzekleines Bildchen“ (siehe oben) zurück, würdet ihr maximal bis zum Ende der Überschrift lesen – ich kenn euch doch. Also muss was Buntes her. Und in dieser überlad– äh, ich meine: überwältigenden – Ausstellung wird ja wohl irgendwas zu finden sein, das ich längerfristig auf meiner umkämpften Festplatte parken will.

Aber nein. Nachdem ich gutwillig bis nachsichtig zwei Mal sämtliche Riesenformate abgeschritten bin, geb ich auf. Soviel gewollte Schönheit ist anstrengend. Überwältigungsästhetik, wie man sie aus der Werbung oder Spielzeugindustrie kennt. Um flächendeckendes Erschauern auszulösen, bedient sich der Meister großzügig beim Repertoire eines normalerweise eher unter Pubertierenden verbreiteten symbolischen Surrealismus: Mensch und Kreatur in Regenbogenfarben nebst Regenbögen und Tränen und Herzen und Uhren und Käfigen und einstürzenden Kartenhäusern und Liebenden und Leidenden und Geburt und Tod und Glück und Leid und – okayokay, ich hör schon auf. Ich fürchte, ihr könnt euch die barocke Pracht vorstellen.

Genug gewatscht. Soll das heißen, Kunst darf nicht schön sein?

Abramović "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful", 1975, © VG Bildkunst

Abramović "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful", 1975, © VG Bildkunst

Kann, aber muss nicht. Marina Abramovićs Erkenntnis Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful, der sie 1975 in der gleichnamigen Performance Nachdruck verlieh, gilt nach Dafürhalten Vieler noch heute – wie die eingangs zitierte Reaktion der konstruktivistisch Traumatisierten zeigt. Menschen wollen schöne Dinge und schöne Menschen sehen und dagegen ist nichts einzuwenden.

Anders als 1975 oder in vorhergehenden Jahrhunderten aber bedarf es heute keiner Kunstwerke mehr, um unser Dasein zu durch-schönen. Dank technischer Möglichkeiten ist Schönheit allgegenwärtig – sei es die Grafik des Media-Players oder die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie. Alles ist schöner geworden, der gemeine Fernseher quillt über von geradezu überirdisch attraktiven Menschen. Verglichen mit dem Erstaufführungsjahr von Abramovićs Bürstenorgie wurde der mediale Raum nebst seiner Insassen visuell in nie zuvor gekannten Maße optimiert (der mediale – nicht der reale). Das teilweise Belustigende alter Filme und Fotos liegt daher in dem rührenden Bemühen um Schönheit mit unzulänglichen Mitteln. Diese Unschuld haben heute bereits Kinder verloren, die ihre AltersgenossInnen aus Casting-Shows mit geradezu erschreckender Professionalität nachahmen. Sie wollen nicht nur optisch perfekt sein – sie sind es.

Insofern ist die Übernahme einer Ästhetik, die in anderen Zeiten und Räumen entstand – im vorliegenden Fall in Indien – ein Anachronismus. Kulturen erteilen Kunst unterschiedliche Aufträge, die daher nur innerhalb der jeweils herrschenden Bedingungen legitim sind. Die BewohnerInnen hochgelegener Täler des Himalayas z.B verbrachten ihr Leben innerhalb der Grau- und Braun-Töne ihrer vegetationsarmen Region. Ausgehungert nach Sinnesreizen überzogen sie alles, dessen sie habhaft werden konnten, mit dem, was sie schmerzlich vermissten: üppige Blütenmuster in reinen Farben. Während diese Dekors in andere Klimazonen exportiert grell und überladen wirken, sind sie an ihrerm mineralienreichen Ursprungsort ein Augenschmaus.

Hienieden aber hat sich der Schönheitsauftrag der Kunst aus den oben erwähnten Gründen erledigt, weswegen sich Letztere auf andere Kernkompetenzen wie beispielsweise Bewusstseinserweiterung besinnen kann. Und diese Sensibilisierung schließt die Wahrnehmung von Schönheit keineswegs aus. Kunst kann Schönheit sichtbar machen, ohne sie dabei aber zu forcieren, wie der besagte Maler mit dem Indien-Import-Export es tut.

Neuenschwander "Ash Wednesday/Epilogue", 06, © http://bit.ly/bBE6BG

Neuenschwander "Ash Wednesday/Epilogue", 06, © http://bit.ly/bBE6BG

Zu den zentralen Eigenschaften bildender Kunst gehört ihre Möglichkeit, Ignoriertes – darunter auch subtile Formen von Schönheit – sichtbar zu machen. Als besonders geeignet hat sich dabei die Verwendung natürlicher Materialien erwiesen. Dabei sind die Grenzen zwischen bloßen Verweisen auf unwillkürliche Schönheit einerseits und deren Herstellung fließend.

Am eher dokumentarischen Ende der Skala befinden sich KünstlerInnen, die natürliche Prozesse lediglich optisch verstärken: Liang Shaoji fotografiert Spiegel auf Berggipfeln, welche die über sie hinwegziehenden Wolken reflektieren, Rivane Neuenschwander tränkt Konfetti in Zuckerwasser, bevor sie ein Ameisenvolk darauf loslässt, mit dem Ergebnis, dass die wegen ihres süßen Geschmacks nun äußerst beliebten bunten Blättchen in Windeseile durch den Raum transportiert werden und abwechslungsreiche Muster ergeben.

Bradshaw "Six Continents", 03-06, © http://dovebradshaw.com

Bradshaw "Six Continents", 03-06, © http://dovebradshaw.com

Dove Bradshaw oder Markus Wirthmann konstruieren Vorrichtungen, innerhalb derer chemische Reaktionen ablaufen und als Nebenprodukt ästhetisch eindrucksvolle Strukturen erzeugen.

Bradshaw "Contingency Pour 5, nebulae croppe", 1994, © http://dovebradshaw.com

Bradshaw "Contingency Pour 5, nebulae croppe", 1994, © http://dovebradshaw.com

FWirthmann, Ausstellungsansicht Galerie Fehring, Frankfurt, 10, Foto CL

Wirthmann, Ausstellungsansicht Galerie Fehring, Frankfurt, 10, Foto CL

Am theatralischen Ende hingegen baut Andy Goldsworthy als bekanntester Vertreter der romantischen Fraktion seine traumhaften Gebilde,

Goldsworthy "Slate Arch", 1982, © goldsworthy.cc.gla.ac.uk

Goldsworthy "Slate Arch", 1982, © goldsworthy.cc.gla.ac.uk

während Matthias Kessler gewichtige Beleuchtungstechnologie nach Venezuela und Grönland transportiert, um Eis- oder sonstige Berge in Szene zu setzen.

Kessler "La Huasteca", 07, © mathiaskessler.com

Kessler "La Huasteca", 07, © mathiaskessler.com

Auch David Nash lenkt die Aufmerksamkeit auf die Materialästhetik von Holz und Stein – allerdings in technisch anspruchsvoller Form.

David Nash am Werk, © http://bit.ly/kFt656

David Nash am Werk, © http://bit.ly/kFt656

Diese Abstufungen von Bearbeitung machen deutlich, dass Schönheit innerhalb von Kunst niemals natürlich, d.h. ohne menschliche Absicht, sondern stets gewollt und entsprechend inszeniert auftritt. Wer spontane Ästhetik sucht, sollte sie im Gewachsenen ohne Umweg über das Gemachte suchen – wobei die Möglichkeit, überhaupt irgendetwas „Natürliches“ zu erkennen, seit Heisenbergs Erkenntnis vom unausweichlichen Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete bezweifelt werden darf.

Doch unabhängig davon, ob sich die ästhetische Wirkung dieser und ähnlicher Objekte organischer Weisheit oder menschlicher Nachhilfe verdankt: Ja, Frau Sowienoch, Kunst kann auch schön sein. Aber besser ganz mit ohne Chagall.




Kunst mit Trauerflor

Theatermacher tragen gerne schwarz. Wie Hohepriester im Dienste der Ästhetik. Manchmal wie Trauernde, weil das Haus oder eine Sparte kurz vor der Beerdigung steht. Wenn nun aber eine Bühne frohen Mutes den Blick auf die neue Spielzeit richtet, ein frisch inthronisierter Opernintendant Aufschwung, also in Zukunft einen vollen Saal verspricht, wo bisher oft erschreckend die Leere gähnte, sollten wir dann nicht ein buntes, Vorfreude weckendes Programmbuch erwarten dürfen?

In Dortmund ist mal wieder alles anders. Viel Schwarz, viel Weiß im 186 Seiten starken Konvolut der Premieren und Wiederaufnahmen. Purismus in sperriger Schrift, als ginge es um die Bilanz eines Buchhalters, nicht um farbige kulturelle Vielfalt. Porträtfotos des Leitungsteams, jedes für sich mau grau, mit Unschärfe spielend. Diese Macher wirken wie fahle Gestalten, die so neutral wie irgend möglich in die Kamera schauen.

Nichts gegen schwarz-weiße Optik. Manche Szenenfotos oder die Stillleben aus dem Organismus namens Orchester, im Innern des Buches, lassen geradezu aufatmen ob ihrer Lebendigkeit. Die Verwirrung aber bleibt. Was soll uns Trauerflor, wenn es um Kunst geht? Ist das, was mancher abschätzig als Hochkultur bezeichnet, am Ende?

Ach ja. Orange-Rot unterlegt sind die Namen der Sponsoren. Die Ritter (und Retter?) der vornehmen Gestalt im leuchtenden Spendiermantel – ein winziger Lichtblick im Reiche grafischer Tristesse. Geschaffen von xhoch4 design, München. So morbid veranlagt hätten wir uns die Bajuwaren gar nicht vorgestellt.

 




Museum Bochum: Anatol und seine Arbeitszeit

Anatol neben seinem Bild "Brief einer sterbenden Lehrerin" (Acryl auf Pressspan, 1996)

Anatols künstlerische Arbeiten zu sehen, das ist das Eine. Ihn reden zu hören, das ist das Andere. Wobei natürlich eins mit dem anderen zu tun hat. Eine Präsentation im Museum Bochum legt jetzt Gewicht auf die leibhaftige Gegenwart des inzwischen 80-jährigen, staunenswert vitalen und nach wie vor handfest arbeitsamen Künstlers, der für so genannte „Ringgespräche“ im Kreise interessierter Besucher in die Revierstadt kommt. Er verlegt also seine „Arbeitszeit“ (Ausstellungstitel) an den Ort, wo sonst „nur“ Hinterlassenschaften der Künstler anzutreffen sind.

Das hört sich einigermaßen harmlos an, kann aber im Falle Anatols geradezu durchtrieben sein, jedenfalls geistig ungemein produktiv. Jeweils zwei Stunden dauern die inspirierenden Runden. Wer den einstigen Beuys-Weggefährten einmal erlebt hat, zweifelt keinen Augenblick daran, dass er diese Zeitspanne ebenso mühelos wie unterhaltsam überbrückt. Fast schon meditative Qualitäten gewinnt beim schier uferlosen Erzählen sein rheinisch grundierter Singsang. Solch einer hörbar lebenskundigen Stimme darf man sich anvertrauen, sie trägt einen an andere, vielleicht ungeahnte Plätze.

Doch sollte man sich nicht nur aufs Treibenlassen in einem langen ruhigen Sprachfluss einrichten, sondern auch auf plötzlich aufblitzende Erkenntnisse. Gut möglich, dass man auf einmal etwas genauer weiß, was die mit Leben und Tod verwobene Kunst auf Erden kann und was nicht.

Man lausche.

Gar manche bezeichnende Anekdote hat dieser Künstler parat. Manchmal verliert er sich freilich auch im Geflecht seiner Sätze. Aus solcher Trance erwachend, zeigt er ein weises, menschenfreundliches Lächeln. Gern untermalt er seine Berichte gestisch, nahezu schauspielerisch. Wie einer geht und aufsteht, wie einer stockt oder stolpert, das wirft Schlaglichter aufs Leben.

Doch weiter, weiter im Fluss: Eben noch hat Anatol prägnante Passagen von Goethe oder Hildegard von Bingen zitiert. Nun berichtet er unversehens vom Errichten einer Blockhütte. Oder vom Bootsbau. Er weiß aus Erfahrung, wie man einen unsinkbaren Einbaum anfertigt. Anno 1973 begab sich jene spektakuläre Kunstaktion auf dem Rhein: Joseph Beuys sollte mit dem urtümlichen Wasserfahrzeug zurück zur Düsseldorfer Kunstakademie geholt werden, aus der man ihn hinausgeworfen hatte. Keine ganz ungefährliche Sache, zumal bei Hochwasser. „Beuys war der einzige, der keine Schwimmweste trug“, erinnert sich Anatol. Eine Heldenlegende? Ach, nicht doch! Nicht, wenn einer so verschmitzt parliert.

Längst hat Anatol den Mittelpunkt seines Schaffens zur Museumsinsel Hombroich (Neuss) verlegt. Düsseldorf, so lässt er wissen, habe er aus gutem Grund den Rücken gekehrt: „Schickimicki liegt mir nun einmal überhaupt nicht.“

Wer die verbleibenden Gesprächstermine mit Anatol (der sonst vorwiegend bildhauerisch tätig ist) versäumt, kann sich in Bochum an eine kleine Auswahl seiner Tafelbilder halten. Bildträger dieser neueren Arbeiten sind „ärmliche“ Materialien wie Pressspan und Pappe.

Die auf den ersten Blick oft unscheinbaren Figurationen setzen unter der Hand „Erscheinungen“ frei, eins entzündet sich am anderen und glimmt auf. Eine antike Amazone neben einer martialischen Polizistin. Michael Jackson beim bizarren Totentanz. Ein Kraftwerk, das ein Dorf überwölbt. Das mag sich plakativ anhören, ist es aber nicht. Besonders in den hauchzarten Aquarellen scheint alles dem allmählichen Verfall preisgegeben. Vor der Vergänglichkeit muss schließlich auch die Kunst ihre Segel streichen.

„Anatol – Arbeitszeit“ (Ausstellung bis 17. Juli), weitere öffentliche „Ringgespräche“ mit dem Künstler am 9., 16. und 22. Juni, jeweils 10 bis 12 Uhr. Museum Bochum, Kortumstraße 147.

Weitere Infos:

http://www.bochum.de/kunstmuseum




Klangmagie im Dämmerlicht

Der Mann am Klavier hüllt sich in sanftes Dämmerlicht. Voller Geheimnis scheint seine Aura, wie er dasitzt, immer ein wenig gebeugt, mit dem Instrument beinahe verschmolzen. So entlockt er ihm in hehrer Anschlagskunst samtene Klänge oder kristalline Figurationen. So zelebriert Grigory Sokolov die Musik Bachs, lässt die tönende Romantik Schumanns aufblühen.

Zum 15. Mal ist der etwas introvertiert wirkende Russe Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und erneut versteht er es, das Publikum zu verzaubern, zu elektrisieren. Mit Bachs „Italienischem Konzert“ etwa: In unglaublicher Perfektion schnurren die Läufe dahin, dynamische Abstufungen und Schattierungen sind subtil gesetzt. Der Mittelsatz klingt wie eine narrative Meditation, im Finale scheint der alte Cembalo-Klang durchzuschimmern.

Sokolov lässt in Essens Philharmonie keine Phrase stiefväterlich unbeachtet. In der „Ouvertüre nach französischer Art“ scheint ihm die barocke Rhetorik wie anverwandt, so nuanciert spricht er. Das führt indes im langsamen Eingangssatz zu unbotmäßigen Zerklüftungen – die Musik findet fast keinen Halt.

Schumanns Humoreske aber, pendelnd zwischen kindlich gelöstem Frohsinn und nachdrücklichem Ernst, umwölkt von melancholischer Reflexion, führt Sokolov zu wundersamer Einheit. Er streichelt die Tasten und es ertönt ein feines, leises Legato. Er entfesselt mit federndem Anschlag ein duftiges Staccato. Und nichts will uns an diesem Abend heiterer erscheinen, als das letzte von Schumanns vier Stücken op. 32: die „Fughette“, ein Tanz dahingetupfter Töne. Grigory Sokolov erweist sich erneut als Meister magischer Klänge. Ovationen, sechs Zugaben.

Der Russe spielt am 24. Juni in der Kölner Philharmonie: http://www.koelner-philharmonie.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).

 




Und ewig grüßt das Facebook-Tier

Es ist Morgen.

Computerlogdaten: Web 0, 17690

Langgezogene Breitengrade. Rotweinreste im System.

Schwerkraft beträchtlich.

Die Vögel pfeifen trotzdem.

Zur Untermalung, prasselnder Regen.

Auf Facebook gibts  quasselnden Regen.

Da trommelts auf die Festplatte.

Manchmal fühlt man sich wie Spock.

Vulkanisiert.

Da geht nichts mehr durch.

Man ist dicht.

Eine gummierte Haut schottet einen ab.

Was hat man mit der Welt zu tun?

Welche Welt überhaupt?

Man spricht so leicht von Welt.

Als ob man wüsste, was das sei.

Man gibt sogar vor zu wissen,

was das ist.

„Die Welt zu Gast bei Freunden“ – hieß das nicht so?

Das wäre eng geworden.

Weltfußballer. Weltmeister. Weltbaumeister. Weltschriftsteller.

Welthausfrau. Weltpolitiker. Weltbademeister…

Wir sind getitelt.

Wir sind sowas von getitelt, dass uns manchmal etwas fehlt.

Etwas mehr Tiefenschärfe, bitte !

Ich bitte Sie, ich bitte mich.

Dann kann ich auch gleich die Welt bitten…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




Soziale Miniaturen (6): Im Herrenhaus

Die ältere Dame trägt wochentags stets einen schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie sagt, sie sei einst Schauspielerin bei einem weltberühmten Regisseur gewesen. Beinahe achtlos lässt sie auch Namen wie Marianne Hoppe oder Will Quadflieg herabtropfen. Sie macht kein Aufhebens davon, sondern handelt es ab, als sei es selbstverständlich, derlei Theaterprominenz gekannt zu haben.

Sie lebt in einem weitläufigen Herrenhaus mit riesigem Park. Nebenher vermietet sie einige Ferienwohnungen auf ihren Latifundien. Weitere Domizile liegen in einer deutschen Metropole und in Übersee.

Früh hatte sie die Schauspielerei aufgegeben und sich in gewisse Formen des Journalismus eingefunden. Anfangs hat sie triviales Geschichten für damals noch florierende Illustrierte geschrieben. Später hat sie – unter Pseudonymen – Unterhaltungsromane mit billigem Lebenstrost verfertigt und schließlich ähnlich gelagerte Stoffe fürs Fernsehen gestrickt. Irgendwann glaubte sie die schaumigen Träume vom jederzeit möglichen Aufstieg der kleinen Leute selbst. So etwas schreibt sich leichten Herzens im Herrenhaus.

Ihre größte Sorge ist ihre Tochter, die einer brotlosen Kunst nachgeht. Das ließe sich ja noch regeln. Doch weitaus schlimmer sei dies: „Sie bringt mir keinen vernünftigen Schwiegersohn“, sagt die Dame über die Tochter, die als Einzelkind gar zu zickig sei. Am liebsten würde die Mutter ihr einen passenden Mann suchen. Der müsste halt mit einem etwas kleineren Busen vorlieb nehmen und den „Wildfang“ bändigen… Dafür gäb’s allerdings ein ansehnliches Erbteil und eine doch recht hübsche Gattin obendrein. „Hier. Schauen Sie. Ich habe ein paar Fotos.“

Tiefer Seufzer. In einigen Jahren werde die Tochter 40 sein, dann werde es immer schwieriger, wenn eine so eigenwillig sei wie sie. Den Besten von allen habe sie verschmäht, vergebens weine sie ihm jetzt nach.

Ach, es ist ein Elend. Geradewegs illustriertenreif.




Eberhard! (Schlotter…)

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Ich bin ja sehr tolerant. Und grundsätzlich historisch interessiert. Wenn mich also jemand fragt, ob ich mitkäme in den Kunstverein einer mittelgroßen Gemeinde (wart ihr schon mal in „Darmstadt“ (sic)? Liegt südlich von Wixhausen (sic). Kein Scherz; die Hessen sind bekannt für poetische Namensgebungen.) Also jedenfalls, wenn mich jemand sowas fragt und mir die Besichtigung der Ausstellung eines neunzigjährigen Malers in Aussicht stellt, sag ich natürlich gequält aber aufgeschlossen „kann’s kaum erwarten“ – oder sowas in der Richtung. Meister der Moderne muss man sich schließlich unermüdlich draufschaffen, weil wie wir wissen, ist besagte Moderne ja unsere Antike und so.

Dass mir der Name Eberhard Schlotter (tja, auch Niedersachsen können poetisch) noch nie begegnet ist, obwohl eingedenk unserer ansehnlichen Lebensspannen eigentlich Zeit genug gewesen wäre, bremst meinen Enthusiasmus zusätzlich. Dann aber erinnere ich mich an meine inbrünstig demokratische Lasst-mal-die-Kleinen-nach-vorn-Mentalität, und an meine Schimpftiraden hinsichtlich der immergleichen Hypes der üblichen Verdächtigen. Also halte ich mir einen pädagogisch wertvollen Vortrag, um mich von der These zu überzeugen, dass die Tatsache, dass ein Maler offensichtlich neunzig Jahre lang in der Pre-Emerging-Schleife verbracht hat, nur seine konsequente Mainstream-Inkompatibilität beweist, und hier aufrechter Widerstand gegen zeitgenössischen Anpassungsdruck zu erwarten ist.

Auf dem Weg zum Tatort weiß ich genau, welche Art von Malerei die nächste halbe Stunde meine geballte Selbstdisziplin (= Verdrängung hartnäckiger Fluchtimpulse) fordern wird. Wenn er 1921 geboren wurde, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach in den 1950er Jahren zu Hochform aufgelaufen und hat demnach sein kreatives Potential in die unausweichlich informelle Malerei jener Epoche investiert. Gegen die hab ich auch gar nichts. Und gerade deswegen inzwischen dann doch häufig genug gesehen. Abbildungen in einer Zeitung bestätigen mein sorgfältig differenziertes Vorschussurteil: „Ach, so einer.“ Na denn: Auf zur Vollstreckung des Bildungsauftrags.

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Beim Betreten der Halle erleide ich einen Anfall akuter Maulsperre: Der Unterkiefer sackt und lässt mich eine Weile intelligenzfrei an die Wände starren. Der Wow-Faktor hat zugeschlagen.

Trotz aller Vielfalt lässt das Panorama aus abstrakten und veristischen – d.h. ins Groteske übersteigerten figurativen – Gemälden eine eigenartige Übereinstimmung erkennen:

Noch die scheinbar ungegenständlichsten Arbeiten erweisen sich als in Farbe und Form reduzierte Darstellungen wiedererkennbarer Motive: Architektur in Landschaft, Gebäudeteile, Licht und Schatten auf Mauerwerk und Holz.

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Der Verzicht auf Einzelheiten aber bedeutet keine wirkliche Reduktion, sondern bietet Raum für einen erstaunlichen Detailreichtum der Struktur einer Oberfläche, die keine ist. Aus einer Mischung von Sand, Gips und Farbe (oder so) entstehen Reliefs, die den Blick vollständig vom Inhalt („Leeres Kaufhaus“, „Das große Wäscheproblem“ etc.) auf die Form lenken. Das Auge kriecht in Furchen und stolpert über die Leinwand verkrustende Plateaus, deren Fülle erdfarbiger Nuancen einem denkbar unbunten Spektrum entstammt. Schlotters Palette beschränkt sich so konsequent auf Farbfamilien, wie sie allenfalls oberhalb der Vegetationsgrenze oder 40° Celsius in der Wüste vorkommen, dass es nicht überrascht, dass der Maler seit 1960 einen zweiten Wohnsitz im spanischen Alicante unterhält.

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Die Personendarstellungen aus den 1950er bis 70er Jahren hingegen sind bunter, aber nicht farbenfroh, denn Dunkles dominiert – in jeder Hinsicht. Auch hier lenkt das weggelassene Beiwerk die Aufmerksamkeit auf die psychogrammartigen Porträts. Nahezu alle Gesichter erinnern auf ihre Weise an Masken: das bizarre Makeup Jugendlicher Mitte der 80er Jahre, der bevorstehende Tod im aufgelösten Gesicht eines Heroinabhängigen, das subtile Sabbern des angetrunkenen Lustmolchs im Frack.

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Leinwand, Foto CL

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Lwd., Foto CL

Eine allgegenwärtige physiognomische Asymmetrie lässt auf die zwei Seelen, ach, der ProtagonistInnen schließen. Gesichts- und Körperhälften sind selten synchron: ein Auge ist müde, das andere lüstern, ein Mundwinkel hebt, der andere senkt sich.

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Szenarios ohne Personen hingegen wirken symbolisch, dabei aber polyvalent – eher Pittura Metafisica als bedeutungsschwangere Redseligkeit. Zurückgelassene Gegenstände und leere Interieurs erzählen von etwas, das wir nie erfahren werden. Angesichts der Verteilung von lesbaren Details und freien – nicht leeren – Flächen drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass es dem Maler weniger um den rekonstruierbaren Plot ging als darum, das Geplauder der Einzelheiten räumlich einzudämmen und den größten Teil der Leinwand dem freien Spiel von Farbe und Schatten zu widmen.

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Fazit: Normalerweise bin ich nicht so freigiebig mit Beifallsstürmen, aber diese Ausstellung ist faszinierend. Dabei hab ich die ganze Druckgrafik gar nicht erwähnt. Und das ist gut so, denn ein Blog ist kein Katalog und Schlotter muss man offline sehen. Fahrt mal nach Darmstadt (sic)!

Eberhard Schlotter „unterm Strich“ bis 22.8.11 in der Kunsthalle Darmstadt




Eine Ruhrgebietsnovelle Thomas Manns?

Eine Ruhrgebietsnovelle Thomas Manns – oder doch zumindest fast eine?
Vorläufiges zu Thomas Manns später Erzählung „Die Betrogene“

Heute am Geburtstag Thomas Manns – geboren ist er am 6. Juni 1875 – hab ich mich gefragt, welche seiner etwas unbekannteren Erzählungen denn zur Feier des Tages womöglich gelesen werden könnte. Da fiel mir ein, dass ich zum Beispiel Thomas Manns 1953 erstmals veröffentlichte Erzählung „Die Betrogene“, noch immer nicht gelesen habe.

Schon der erste Satz zeigt das Eingebettetsein in eine große Erzähltradition, nicht nur von Storm und Fontane, sondern auch von Kleist her: „In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts lebte in Düsseldorf am Rhein, verwitwet seit mehr als einem Jahrzehnt, Frau Rosalie von Tümmler mit ihrer Tochter Anna und ihrem Sohne Eduard in bequemen, wenn auch nicht üppigen Verhältnissen.“ –
Und wir im Revier horchen ganz unliterarisch auf: „Düsseldorf? Is doch schon ganz nah bei uns!“ Und siehe da: bald schon – nämlich bereits im zweiten Abschnitt – ist auch vom „gewerbefleißigen Duisburg“ die Rede und nur vier Seiten weiter sogar von „Bochum“, wenn auch nur von einer „reichen Fabrikantentochter“ daselbst und der Verheiratung Dr. Brünners mit ihr („zum Jammer der Düsseldorfer Frauenwelt“) bzw. von seinem Wegzug von Düsseldorf nach Bochum um des „Chemikaliengeschäfts“ seines Schwiegervaters willen.

Lokalpatriotische Erwägungen könnten also fast eine Rolle spielen, um die Erzählung weiterzulesen. Aber mir gefällt auf Anhieb ihr Duktus und die interessant begonnene Variation einiger mir bereits geläufiger Thomas-Mann-Motive.
Auch die eine oder andere Formulierung (sei sie nun manieriert oder auch nicht) kommt gut bei mir an. Etwa diese nicht unironische:
„Ihr Gatte, Oberstleutnat von Tümmler, war ganz zu Anfang des Krieges, nicht im Gefecht, sondern auf recht sinnlose Weise durch einen Autounfall, doch kann man trotzdem sagen: auf dem Feld der Ehre, ums Leben gekommen, (…)“ –
Oder diese:
„Frau von Tümmler war gesellig von Anlage. Sie liebte es, auszugehen und in den ihr gesteckten Grenzen ein Haus zu machen.“ –
(Und gerade beim Schreiben stelle ich fest, dass ich den zuletzt zitierten Satz beim ersten Lesen wohl falsch, aber in meinem Sinne sehr viel schöner verstanden habe: Hat man erkennbare Grenzen, so baue man – heraus aus diesen Grenzen – ein Haus drum herum und sorge so für Grenzerweiterung.)

Kurzum: Ich lese weiter. Allen modischen und unmodisch eingefleischten Thomas-Mann-Verächtern zum Trotz.




Kleistiana (3): „Die Hermannsschlacht“

Wie zu lesen sei / Kleists „Hermannsschlacht“ in neuer Lesart
Zu: Barbara Vinken: „Bestien / Kleist und die Deutschen“, Merve Verlag Berlin 2011 (8,00 €)

Dass der von mir in anderen seiner Werke von früh an so sehr verehrte Heinrich von Kleist auch das Drama „Die Hermannsschlacht“ geschrieben hat, hat mich – zugegeben – immer schon etwas gestört und ich habe es – nur von der damaligen Zeitsituation her betrachtet, gleichsam wie aus mildernden Umständen heraus – immer etwas widerwillig als „Leider-auch-ein-Werk-Kleists“ hingenommen. Der andere Blick der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kommt mir nun im Sinne einer Ehrenrettung Kleists innerlich entgegen. Kein Wunder daher, dass ich gleich zugriff, als mir ihr neuestes, nicht sehr umfangreiches Buch unlängst in einer Essener Buchhandlung in die Augen fiel, das ja, wie schon beim Blättern rasch erkennbar, eine andere triftigere Lesart als die geläufige anzubieten sich anschickt.

Von ihrer Ausgangsthese, die sie recht akribisch und recht einleuchtend (unter Einbeziehung der römischen Geschichte, ihrer Rezeption im Deutschland und Frankreich des 18. und frühen 19 Jahrhunderts sowie der neueren und älteren Kleist-Forschung) darlegt und mit Gründen und Belegen entfaltet, gelingt es ihr, auch mich als keineswegs unkritischen Leser weitestgehend zu überzeugen. Weder als nationalistisches Hassstück noch als Propagandastück im Sinne eines Partisanenkriegs, im Sinne der „Befreiungskriege“ also, sei Kleists Drama angemessen zu verstehen, ja, überhaupt nicht als ein Stück, das maßgeblich politisch eingreifen will, sondern als ein Werk der dramatischen Analyse. „Hermann ist nicht das Sprachrohr Kleists. Die Hermannsschlacht ist weder ein Aufruf zum totalen Krieg noch eine Anweisung zum Partisanenkrieg. Kleist zeigt nicht, dass der Zweck der Befreiung der deutschen Lande vom französischen Usurpator jedes Mittel heiligt. Das Deutsche ist am Ende nichts als entstellte Fratze des Römischen, Überbietung der römischen Perfidie.“ (Vinken, a.a.O., S.92f.)

In der Schwellenregion „an der Lippe“ spielt sich der ganze dramatische Hergang der Kleistschen „Hermannsschlacht“ ab: unter Einbeziehung auch vorausgegangener Forschungsbeiträge macht Barbara Vinken auf die geopolitischen, geschichtlichen und zeitgeschichtlichen, sowie erotischen und gewalttätig geschlechtsbetonten Konnotationen aufmerksam: insbesondere an Hand zweier Schlüsselszenen des Dramas: a) der „Halali Hally“ -Szene und b) der Thusnelda-Ventidius-Bärinnen-Szene.

Auf der letzten Seite ihres Buches fasst Barbara Vinken noch einmal zusammen:
Kleists Drama „Die Hermannnsschlacht“ „zielt nicht auf politische Wirksamkeit.
Es ist vielmehr eine Analyse der historischen Situation, die das Ende der Hoffnungen der Französischen Revolution besonders in der schillersch-republikanischen Version besiegelt. Es wird keine „translatio republica“ nach Deutschland geben.“
(…)
„Die Befreiungskriege sieht Kleist nicht als „translatio republica“, sondern als eine „translatio tyrannis“. Sie führen die römischen Bürgerkriege fort. Deutsche und Franzosen sind gleich: brüderlich in einer Gewalt entzweit.“ (ebd., S.93)

Dass ich Kleists von mir vielleicht etwas vorschnell abgetanes Drama nun neu lesen möchte, hat die Verfasserin unleugbar erreicht. Ebenso drängt es mich danach, jenen mir als erschreckend in mein Gedächtnis eingegrabenen „Katechismus der Deutschen, abgefaßt nach dem Spanischen zum Gebrauch für Kinder und Alte“ daraufhin neu zu lesen und mit all den verwandten bzw. benachbarten Texten Kleists und z. T. auch anderer zusammenzusehen. Diesen „Katechismus“ habe ich auszugsweise schon mit 13 gelesen; in einer recht seltsamen Anthologie („Die Selbstbefreiung des deutschen Geistes“) fand er sich, und mit einem gewissen Stolz erinnere ich mich noch daran, dass mich schon damals (ohne jeden Einfluss von Erwachsenen) der wiederholt nationalistisch hasserfüllte Ton und Charakter des vom „Vater“ gelenkten (Schein-)Dialogs mit seinem „Kinde“ recht befremdet und sehr heftig abgestoßen hat.