Stil und Geigenspiel – Ritual mit Robe

Stil und Musik - die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Wenn Anne-Sophie Mutter die Bühne betritt, weht stets ein leises Raunen durchs Publikum. Die hochgewachsene, schlanke Geigerin mit dem aristokratischen Habitus ist eben nicht nur exzellente Musikerin, sondern auch Stilikone. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre hat sie hehre Kunst und edle Mode nebeneinander gestellt. Die Robe wurde Bestandteil eines Rituals, das sich Konzert nennt.

Ihr jüngster Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr macht da keine Ausnahme. Gleichwohl behält der Satz „Hier gilt´s der Kunst“ seine Gültigkeit. Es gehört eben alles zusammen: die luxuriös anmutende Erscheinung und die Ernsthaftigkeit des Spiels, das kühl erstrahlende Lächeln und die bisweilen klanglich fahlen Interpretationen.

Das Wunderkind Anne-Sophie Mutter begann einst mit Mozart, als sie 1976 von Karajan entdeckt und gefördert wurde. Das junge Mädchen und der weltberühmte Dirigent – es klingt ein wenig nach Märchen, doch die rasche, unaufhaltsame Karriere der Geigerin spricht eine sehr reale Sprache. Mit dem wachsenden Erfolg ging zudem die Verbreiterung ihres Repertoires einher. Längst ist Mutter zur bedeutenden Interpretin der musikalischen Moderne geworden.

Beim Klavier-Festival indes, in Essens Philharmonie, wagt sie sich nur bis zur spätimpressionistischen Klangwelt Claude Debussys vor. Ausgesprochen spröde wirkt dessen Violinsonate, äußerst fragil und seltsam konturlos. Mutter pendelt zwischen zartem Nebelklang und deftigem Legato. Das Werk löst sich auf ins Nirgendwo – so reizvoll, so unbefriedigend.

Überhaupt fällt auf, das gilt hier vor allem für die Mozart-Sonate, dass die Solistin offenbar manch larmoyanten Ton abgestreift hat zugunsten einer herberen Ausdruckswelt. Die Musik gewinnt an Frische, mitunter auch an Witz. Sie wirkt andererseits, in Mendelssohns F-Dur-Sonate, in all ihrer Romantik entschlackt. Schön und gefühlvoll vorgetragen, ohne unangenehme Süße.

Natürlich gibt es auch Anne-Sophie Mutter, die Virtuosin. Obwohl sie das, im Bewusstsein des Vornehmen, niemals zur Schau stellt. Ihr Furor, mit dem sie sich Pablo des Sarasates „Carmen“-Fantasie nähert, ist ein Stück ernsthaft-konzentrierten Musizierens. Ein brillantes Zückerchen für Publikum, allemal seriös verpackt.

Die Künstlerin, die heuer ihr 35jähriges Bühnenjubiläum feiert, zählt den Pianisten Lambert Orkis zu den treuesten Begleitern ihrer Karriere. Hier in Essen agiert er sehr aufmerksam, pointiert und mit großer Klangsensibilität. Vieles steuert er dazu bei, den jeweiligen Werken eine stilkonforme Atmosphäre zu verleihen.

Das Publikum jubelt beseelt. Anne-Sophie Mutters Auftritt mag professionell durchkalkuliert sein, was durchaus zu spüren ist. Am Ende aber entpuppt sich die Stilikone als Herrin über die Musik, über Klänge, die uns nicht gleichgültig sind. Alle Inszenierung dient der Kunst. Das gibt es nicht alle Tage.




Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

Gestern habe ich endlich einmal auf einen Sitz Hans Keilsons, des unlängst im Alter von 101 Jahren Verstorbenen, „Erinnerungen“ gelesen, die kürzlich unter dem Titel „Da steht mein Haus“ bei S. Fischer erschienen sind. Ein schmaler, gut lesbarer Band mit einem abschließenden, sinnvoll beigefügten Gespräch zwischen dem Autor und dem Herausgeber Heinrich Detering.

Wenn es hier bei unseren Texten jeweils und grundsätzlich um ausgewiesene Ruhrgebietsnähe ginge (aber um die geht es generell ja gar nicht, da wir für unsere Texte als ohnehin im Ruhrrevier Schreibende keine derartigen Aufhänger benötigen), ließe sich ein Anknüpfungspunkt auch dieser Art bei Keilson unschwer finden. Auf Seite 93, zu Beginn des 19. Kapitels, ist zu lesen: „In Rekken erlebte ich die ersten Luftangriffe auf das benachbarte Ruhrgebiet.“ Aber ansonsten ist vom Ruhrgebiet nirgends mehr deutlich die Rede.

Doch mich hier beschäftigt ohnehin anderes. Mir ist in diesen behutsam und hellsichtig geschriebenen Erinnerungen, die Unangenehmes und Schlimmstes nicht verschweigen, aber auch um die Fehl- und Verführbarkeit von uns Menschen wissen, wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich doch in solchen Erinnerungsbüchern immer auch vergleichend mitlese: Die eigene Geschichte und Vorgeschichte wird immer wieder copräsent, mitgegenwärtig, in der Lektüre vom Leben vermeintlich ganz anderer, uns zunächst fremder Menschen. Und es stimmt schon: vor allem drei Generationen, die eigene und die Eltern- und die Großeltern-Generation, spielen bei diesen hinzutretenden Lese-Spiegelungen eine ganz beträchtliche Rolle, also die Privatgeschichte und die große allgemeine Geschichte der letzten 100 Jahre in ihrem zu Recht kaum aufdröselbarem Verbund.

Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher haben für uns Leser… immer auch diese Funktion, unsere eigenen Erinnerungen vergleichend wachzurufen, und je älter wir werden, umso mehr. Und doch, wenn solche Erinnerungsbücher nicht sprachlich gut und menschlich ansprechend geschrieben sind, interessieren sie zumindest mich nicht, lese ich sie nicht weiter, mögen sie noch so viele faktisch interessante Details enthalten. Ich bin zum Glück kein Soziologe oder Historiker, der sich manchmal auch durch Wust hindurcharbeiten müsste; ich kann mir meine Lektüren aussuchen. Und zum Glück gibt es so gut geschriebene wie die von Hans Keilson eben auch.

Hans Keilson: „Da steht mein Haus“. S. Fischer Verlag. 141 Seiten. 16,95 Euro