„Beginners“: Glücklicher sein als zuvor

Irgendwann muss man ja mal anfangen. Mit dem Freuen, dem Lieben und dem Leben. Dem Verarbeiten. Das mit dem Leben vergisst man manchmal, weil es so viel von dem anderen Zeug gibt, dem Trauern, Leiden, Weinen. Da bleibt kaum Zeit zum Leben. Und wir wissen doch alle, wie endlich das Leben ist.

Endlich ist es für Hal (Christopher Plummer), der gleich am Anfang des Films schon tot ist. Sein Sohn Oliver (Ewan McGregor) räumt das Zimmer aus, in dem er starb, ordnet seine Papiere, schmeißt seine Pillen ins Klo und übernimmt Hals Hund Arthur. Arthur ist putzig und hat eine kleine Denkrolle.

Hal war 75, als er an Krebs starb. Seine Frau Georgia (Mary Page Keller) war vier Jahre vorher gestorben, und kaum war sie tot, entschloss sich Hal, seine „andere Seite“ endlich auszuleben, die er während seiner 40 Jahre dauernden Ehe unterdrückt hatte. „Ich bin schwul“, erzählte er seinem verdutzten Sohn „und ich will diese Seite in mir jetzt ausprobieren.“

Die Geschichte wird quasi auf drei Ebenen in flashbacks erzählt: Olivers Kindheit, die vier Jahre nach Hals Verkündigung und die Zeit nach Hals Tod. Ab und zu unterbricht der Erzähler (Oliver) den Ablauf, und zeigt in einer Art Slideshow Dokumente der aktuellen Zeit, was man aß, sang, womit man arbeitete, und wer ab Ike (Eisenhower) bis Baby Bush grad Präsident war. Eine coole Idee, das.

Filmszene mit Christopher Plummer (li.) und Ewan McGregor (Bild: Universal)

Filmszene mit Christopher Plummer (li.) und Ewan McGregor (Bild: Universal)

Es gibt überhaupt viele heitere Momente, eine Comedy ist es trotzdem nicht, eher das, was die Amis „Dramedy“ nennen. Heiter mit Tiefe.

Olivers Mutter hat eine Schrägizität, die mich an „Harold and Maude“ erinnert. Sie ist jedenfalls nicht das, was man sich so unter der lieben Mutti vorstellt. Hal hält sich in diesem Eheleben weitestgehend bedeckt. Er wusste schon als Dreizehnjähriger, dass er schwul ist, aber die Zeiten waren damals nicht so, er heiratete und blieb seiner Frau, die er liebte, auch treu. Nun, wo sie tot ist, hat er endlich sein coming out, geht in Tanzbars und Lokale, wo sich Schwule treffen. Er zieht den jüngeren, strubblig-attraktiven Andy (Goran Visnjic) an Land, der sich zu älteren Männern hingezogen fühlt. Sie sind glücklich. Andy liebt Hal aufrichtig, und dass er nicht monogam ist, nimmt Hal gelassen hin. Es ist Andy, der bei ihm ist, als er stirbt.

Oliver, der seine Kindheit nicht ganz unbeschadet überstand, hat Bindungsängste. Einige kaputte Beziehungen hat er schon hinter sich, da trifft er die französische Schauspielerin Anna (Melanie Laurent, bekannt aus „Inglourious Basterds“) auf einer Kostümparty. Sie wohnt während der Dreharbeiten in einem Hotel, wo sie ihrer frischen Verliebung ein Heim geben. A home away from home. Als Oliver sie überredet, zu ihm zu ziehen und ihr dafür extra zwei Schubladen in seiner Kommode freigemacht hat, weint sie. Freie Schubladen haben so etwas Eingezogenes. Endgültiges. Klaustrophobisches.

Am besten hat mir Christopher Plummer gefallen, dem man bei seiner Vitalität und Präsenz den Sterbenden gar nicht abnehmen will. Selten ist jemand im Film so souverän gestorben. Goran Visnjic spielt den sanft verlotterten Andy mit wundervoller Leichtigkeit, und auf Melanie Laurent, die schöne Anne, freu ich mich in neuen Rollen. Ewan McGregor ist sehr gut, glaubwürdig, in der Rolle des Sohns in einer dysfunktionalen Familie. McGregor ist leider auch einer dieser Schauspieler, deren Namen ich nie spontan mit einem Gesicht verbinden kann. Und wenn ich sein Gesicht in einem Foto sehe, frag ich mich „Wer ist das noch mal?“ Aber für diese Rolle ist er genau der richtige. Er ist kein Held, er ist ein Überlebender.

Es gibt in diesem Film keinen Bösewicht, der zu bekämpfen wäre. Harmonie schwebt über Handlung und Hauptpersonen, alle sind freundlich, liebenswert, sehen toll aus. Da könnte man jetzt mäkeln: „Ach, son Friede, Freude, Eierkuchen Gedöns.“ Ja, vielleicht. Aber die Herzlichkeit, die Wärme und die Aufrichtigkeit dieser Figuren ist so fassbar, geht ans Herz und an die Nieren, wenn man sich darauf einlässt. Alle wollen nur glücklicher sein, als sie am Anfang sind, und irgendwie werden sie es auch.

„Life, liberty, and the pursuit of happiness…“, die der Amerikaner gern als seine Grundrechte ins Gespräch bringt, das ist das Ziel. Allerdings ist das dritte Wort eigentlich property, und Besitz und Glück werden ja gern mal verwechselt. Aber das Glück, ganz im Vertrauen, wollen wir das nicht alle, und sonst gar nichts?

Viereinhalb von fünf Punkten auf meiner privaten Richterscala.




Es glitzert das Meer, es funkelt die Seele – Eduard von Keyserlings famoser Roman „Wellen“

Bereits das Baudelaire-Motto, das Eduard von Keyserling (1855-1918) seinem Roman „Wellen“ vorangestellt hat, lässt keinen Zweifel: Das Meer und die Menschenseele, so heißt es da sinngemäß, sind so tief, dass sie ihre Geheimnisse letztlich niemals preisgeben.

Immer wieder spiegeln sich in diesem Roman seelische Regungen in den wechselhaften Erscheinungen des Meeres. Sozusagen jede Farbstufe und jeder neue Lichteinfall werden da sprachlich zum Funkeln gebracht – soweit und so genau, wie es irgend geht. Dieses Werk um des Meeres und der Liebe Wellen darf als Zeugnis des literarischen Impressionismus gelten. In etlichen Passagen fühlt man sich an flirrende Gemälde jener Stilrichtung erinnert. Doch es ist beileibe kein unvermischtes Schwelgen. Schon auf Seite 8 heißt es vielsagend: „Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.“ Tatsächlich wächst der Roman vor allem im höchst individuell geschilderten Leiden seiner Figuren weit über Stil-Attitüden hinaus.

Das bloße Gerüst der Geschichte sieht, flüchtig von heute aus betrachtet, zunächst nach Klischee aus. Aber da täuscht man sich gründlich, so nuanciert und fein schattiert wird hier erzählt, durchaus auf den literarischen Höhen etwa eines Theodor Fontane.

Da ist die ätherisch schöne Doralice, Gattin eines weitaus älteren Mannes von Adel. Als der seine „Erwerbung“ zur Ausschmückung der kostbaren Gemächer malen lässt, bricht sie mit dem Künstler namens Hans Grill aus dem Goldenen Käfig aus und zieht zu ihm. Für damalige Zeiten eine Ungeheuerlichkeit. Der Roman stammt aus dem Jahre 1911.

Die gesellschaftliche Empörung über den Fehltritt wird am Beispiel einer vermeintlich hochwohlanständigen Familie von Rang dargestellt, die sich in Gestalt der präsidierenden Generalin von Palikow als Festung der Moral begreift, deren männliche Vertreter freilich auch insgeheim von jener Doralice doppelmoralisch entzückt sind. Die halbwüchsigen Töchter überlassen sich derweil, wenn sie Doralice nur von fern am Strande wandeln sehen, ebenso unbegriffenen wie verbotenen Träumen von sündhafter Übertretung. Da lodert Gefahr.

Zudem gibt es einige grandios skizzierte Nebenfiguren, die das Geschehen aus der Mittelachse rücken. Im ironischen Sinne besorgt dies mit spitzen kleinen Bemerkungen Fräulein Malwine, die Gesellschafterin der Generalin. Den eher diabolischen Part spielt ein gewisser Herr Knospelius, der nahezu allgegenwärtig das anschwellende Unglück begleitet.

Als die Handlung einsetzt, ist Doralice schon vom einfachen Leben enerviert, das der Maler in flammenden Worten als das einzig wahrhaftige preist. In der Fischerhütte ist es für eine Dame ihrer Herkunft nun einmal nicht bequem, in dieser Kartoffelsuppen-Zweisamkeit hilft kein ideologischer Überbau. Der Sprung in die Freiheit hat ihre Kräfte aufgezehrt. Quälend ist es zu lesen, wie die beiden bereits wieder auseinander driften, Satz für Satz, Wort für Wort. Noch dazu wird sie alsbald von einem feschen Leutnant bestürmt…

Über der Handlung, die zur Sommerfrischenzeit an der Ostsee spielt, liegen eine lastende, somnambule Schwüle, vorgewittrige Stimmung, seelische Überspanntheit und Migräne. Die Zeit erscheint hochsommerlich träge, fast wie angehalten. In diesem Zwischenreich des Ennui könnte schier alles geschehen, die Grundfesten der Gesellschaft könnten erschüttert werden. Könnten. Doch das ist wohl nur glitzernde Sinnestrübung. Auch in solcher Hinsicht bleibt Keyserling, grad zwischen Hoffen und Bangen, Resignation und Heiterkeit, völlig illusionslos.

Eduard von Keyserling: „Wellen“. Roman. Nachwort von Florian Illies. Manesse Verlag, Zürich. 254 Seiten, 19,95 Euro.