Nun hat sie ausgeglüht

Diesen 31. August 2011 hat sie noch, dann muss sie aus unserem Alltag für immer verschwinden, weil es EU-Gewaltige in Brüssel so wollen, weil Umwelt mit ihr immer schon Schaden genommen haben muss, weil von mir natürlich stets gemutmaßte wirtschaftliche Interessen dahinter stecken: Die 60-Watt-Glühbirne ist alsbald nur mehr im Museum zu betrachten – natürlich außer Betrieb, denn der ist von mächtigen EU-Kommissaren strikt untersagt.

In der „Reina Sofia“ konnte mensch sie schon lange als museales Objekt betrachten. Öl auf Leinwand, in exponierter Situation von Pablo Picasso auf der „Guernica“ verewigt. Demnächst vielleicht ein finaler Auftritt im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein in Essen. Oder direkt neben Exponaten aus dem umfänglichen Schaffen eines Joseph Beuys.

Nun preisen alle die, die etwas zu sagen haben (oder auch nichts), neue, hochtechnische Leuchtmittel an wie E 10 fürs Automobil, künden, dass dieser Einschnitt ein Schritt hin zur unmittelbar bevorstehenden Sanierung des Weltklimas sei, aber von möglichen Problemen redet niemand.

Ich selbst könnte ja noch damit leben, dass meine Abendlektüre energiesparend kühl beleuchtet wird, nachdem die Birne anfänglich flackernd angesprungen ist. Wie aber ist es mit Sehgewohnheiten wie etwa auf „Betende Hände“ oder Expressionistisches, beispielsweise aus der Hand von Macke? Wird solches nicht gänzlich anders angeleuchtet und uns somit ganz anders präsentiert? Wie sieht ein Bild, das womöglich bei Kerzenschein oder Glühbirnenfunzellicht entstand, ganz neu beleuchtet aus?

Oder wie wird es zukünftig im Zentrum für internationale Lichtkunst zu Unna gehandhabt, geben die Kunstwerke mit Glühbirnenbeleuchtung nicht zukünftig, ernergiesparend strahlend ein völlig anderes Bild ab?

Fragen über Fragen, und ich bin mir sicher, dass die herstellende Industrie optimale Lösungen finden wird, um auch die letzten Nörgler zufrieden zu stellen. Und dennoch: Ade, du ineffiziente Glühbirne.




Träumen ohne Sigmund Freud

Psychoanalytiker und Patienten, die hofften, auf der Couch verquasten Träumen und verdrängten Wünschen auf die Spur zu kommen, müssen dieser Tage ganz tapfer sein. Nicht genug, dass der französische Philosoph Michel Onfray meint, Sigmund Freuds Lehre sei bloß ein auf Hirngespinsten und Obsessionen basierendes Konstrukt und der Ödipus-Komplex eine Legende. Jetzt haben auch noch Neurologen und Psychologen der Universität Zürich Freuds Traumdeutung entzaubert.

Freuds These, wir würden in unseren Träumen einen Weg zum Unbewussten finden und, symbolisch verschlüsselt, unsere geheimsten Wünsche und Aggressionen bearbeiten, ist für die Zürcher Wissenschaftler reiner Humbug. Nach Verkabelung und Untersuchung hunderter Schlafpatienten fanden sie heraus, dass Träume sehr wenig mit der Verarbeitung von Realität zu tun haben: Der Traum ist eine Form kreativen Denkens, der Träumende löst sich von eingefahrenen Denkmustern und erlebt und verarbeitet Themen in neuen Zusammenhängen: Nicht ohne Grund hat Paul McCartney behauptet, er habe die Melodie von „Yesterday“ geträumt.

Träume, so die Zürcher Erkenntnis, sind „die Wächter des Schlafes“. Mit den Worten eines von den Schlafforschern befragten jungen Mädchens kann man auch sagen: „Wir träumen, damit uns im Schlaf nicht langweilig wird.“

(Teaser-Foto: Bernd Berke)




„Roller Girl“: Auf Rollen erwachsen werden

Bei „ROLLER Girl – Manchmal ist die schiefe Bahn der richtige Weg“ (im US-Original Whip it) handelt es sich um die Verfilmung des Buches Derby Girl von Shauna Cross. Der Film handelt von der 17-jährigen Bliss Cavendar aus dem texanischen Kaff Bodeen, die von ihrer Mutter von einem Schönheitswettbewerb zum anderen „Mutter-Tochter-Lunch“ getrieben wird und sich in Wirklichkeit gar nicht dafür interessiert. Bliss, die in Bodeen zur Schule geht und mit ihrer besten Freundin in einem Imbiss jobbt, kommt mit ihrer Mutter in die nahegelegene Großstadt Austin (Texas) und erfährt dort etwas vom Vollkontaktsport auf Rollschuhen namens Roller Derby, einer Art Mannschaftsrennen ((bzw. „Frauschaftsrennen“, da Roller Girl primär von Frauen gespielt wird)) auf Rollschuhen, wo es teilweise recht ruppig zugeht.

Gemeinsam mit ihrer Freundin machen sie sich heimlich (unter dem Vorwand ein Football-Spiel zu besuchen, was Ihnen beinahe Bliss‘ Vater nicht nur als Fahrer sondern auch als Mitzuschauer beschert) auf den Weg nach Austin, um sich das Rennen anzuschauen. Dort passiert es dann – um Bliss ist es geschehen, denn sie ist total begeistert von dem Spiel auf den Rollschuhen und will da mitmachen. Außerdem sieht sie auch Oliver, einen Zuschauer des Roller Derbys, für den sie zu schwärmen beginnt. Nach dem Derby spricht sie mit einer der Spielerinnen, die sie einlädt doch mal zum Training zu kommen, was Bliss gerne annimmt…

… im weiteren Verlauf erlebt man, wie Bliss langsam (bzw. eher schnell) aber sicher zum neuen Star ihres Teams wird, wie sie die Liebe mit dem Musiker Oliver, den sie beim ersten Mal nur am Rande gesehen hat, erlebt und wie sie versucht, ihre Wünsche mit denen der Familie (insbesondere der dominanten Mutter) in Einklang zu bringen.

Roller Girl ist in den USA schon vor zwei Jahren auf den Markt gekommen, hierzulande wird das Regiedebüt von Drew Barrymore (die auch eine Rolle im Film hat) am kommenden Donnerstag anlaufen. In der Hauptrolle der Bliss agiert die aus Juno und Inception bekannte Ellen Page.

Bewertung

Das ganze klingt schon ein wenig surreal – so nach dem Motto „coming of age on roller blades“. Auch wundert ein wenig die zeitliche Einordnung des Filmes – die Ausstattung (Autos, Gebäude, Fernseher, Polaroid-Kamera) lässt eigentlich den Schluss zu, dass es sich um einen Film aus einem eher weiter entfernten Jahrzehnt (siebziger Jahre?) handelt, wobei sparsam auch moderne Technik (Handy, Internet mit Google und Wikipedia) eingesetzt wird.

Doch wenn man sich erstmal von der Frage trennt, wann der Film spielt (wobei das für die kulturell-historische Einsortierung schon wichtig ist), dann erlebt man einen gelungenen Streifen, der die Probleme des Erwachsenwerdens, die erste Liebe, erste Enttäuschungen, das Abgrenzen von den Eltern usw. sehr schön thematisiert und dabei auch schöne, schnelle Bilder liefert.

Die Schauspieler liefern eine grandiose Arbeit ab. Gerade der Hauptdarstellerin Ellen Page nimmt man die Wandlung von der kleinen fast schon unscheinbaren Bliss zum „Ruthless Babe“ ab, die unter diesem Kampfnahmen für ihr Team bei den Rollerderbies antritt. Doch auch die anderen Schauspieler wissen, was sie tun – insbesondere Bliss‘ Vater (dargestellt von Daniel Stern) weiß zu gefallen.

Doch der Film ist nicht nur ein Lehrstück über das Erwachsenwerden (da hätte er auch großes Potential langweilig zu sein), sondern auch immer wieder witzig, denn es ist gelungen, im Drehbuch und den Dialogen immer wieder humorige Szenen einzubauen, die das Ganze auflockern und im Kinosaal für heiteres Gelächter sorgen – ohne dass es sich dabei um eine Knallbumm-Komödie handelt, wo ein vermeintlicher Gag auf den anderen folgt.

Das Regie-Erstlingswerk der bekannten Schauspielerin Drew Barrymore ist wirklich gelungen, so dass eigentlich nur die Frage offen bleibt: Warum brauchte dieser Film zwei Jahre, um auch in Deutschland seine Premiere zu feiern?

Bewerbung:

Nachfolgend der Trailer zum Film:




Erhabene Schönheit der Renaissance

Diese Schönheit und Anmut, dieser Stolz, dieses Selbstbewusstsein, diese Eleganz. Seit Wochen beherrschen die von zeitloser Erhabenheit erzählenden „Gesichter der Renaissance“ das Berliner Stadtbild. Überall hängen Plakate und Transparente.

Jetzt endlich ist die Zeit des neugierigen Wartens vorbei. Und das Ergebnis lässt den Betrachter vor Ehrfurcht in die Knie gehen: Das auf der Berliner Museumsinsel gelegene Bode-Museum öffnet die Pforten zu einer opulenten Bilderschau und zeigt mehr als 170 Hauptwerke der Renaissance, Gemälde, Zeichnungen, Medaillen und Büsten, die erstmals zusammen zu sehen sind. Zu den Leihgebern der fragilen und nur selten auf Reise geschickten Kunstwerke gehören die Florentiner Uffizien und der Pariser Louvre, die National Gallery in London und die Sammlung Czartoryski aus Krakau.

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Ob Sandro Botticelli oder Filippo Lippi, Domenico Ghirlandaio oder Gentile Bellini, Antonio del Pollaiuolo oder Andrea d´Assisi: Kaum einer der großen italienischen Meister, die im 15. Jahrhundert die Kunst revolutionierten, sie aus den Zwängen der Kirche befreiten und das selbstbewusste Antlitz des Finanzadels künstlerisch veredelten, fehlt in der grandiosen Schau. Natürlich auch nicht Leonardo da Vinci. Seine „Dame mit Hermelin“ (1489/90) ist Höhe- und Schlusspunkt der Kunst-Exkursion, die zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Dass das Bildnis der etwas spöttisch und missgelaunt über ihre Schulter in eine abstrakte Ferne schauenden Cecilia Gallerani überhaupt von Krakau nach Berlin reisen durfte, ist eine Sensation: leider eine von begrenzter Dauer. Denn schon Ende Oktober (vier Wochen vor Ende der Ausstellung) muss das Bild zur großen Leonardo-Schau nach London reisen. Und ins Metropolitan Museum of Art darf die schöne Dame schon gar nicht: Für die zweite Station der Ausstellung über die „Gesichter Renaissance“ in New York (19.12. 2011-18.3.2012) wird es ein neues Glanzstück geben müssen.

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Trotzdem: Für Michael Eisenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, ist das, was in Berlin seinen Anfang nimmt und in New York weitergeführt wird, die „weltweit größte und bedeutendste Ausstellung zur Portrait-Kunst der italienischen Renaissance“. Da hat er Recht.

Den Ausgangspunkt bildet Florenz, weil dort das autonome Portrait erstmals in großer Zahl auftritt. Danach richtet sich der Blick auf die Höfe von Ferrara, Mantua, Bologna, Mailand, Neapel und des päpstlichen Rom. Schließlich geht es nach Venedig, wo sich die Portrait-Kunst erst mit Verspätung etablierte. Der durch ein schummriges Halbdunkel flanierende Betrachter macht überall wunderbare Entdeckungen, sieht inszenierte Machtfülle (Botticellis „Bildnis des Giuliano de´Medici“) und überirdische Schönheit (Pollaiuolos „Bildnis einer Dame“).

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Der Kunstflaneur wird Zeuge, wie sich das Einzelportrait, das früher nur Herrschern und historischen Persönlichkeiten vorbehalten war, zur autonomen, vielgestaltigen Kunstform entwickelt. Doch wer Italiens künstlerischen Beitrag zur Erfindung von Individualität und Identität miterleben will, braucht Geduld. Aus konservatorischen und ästhetischen Gründen werden immer nur 300 Besucher auf einmal zugelassen. Da werden sich lange Schlangen bilden.

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Die Wartezeit kann man sich dann mit einer aufs Mobiltelefon herunter geladenen kostenlosen Online-Applikation versüßen: Die „App“ hat unzählige Kunstwerke und Kommentare, Künstlerbiografien und Videos im Angebot. Ob der Kunstliebhaber allerdings auch Statements von Hair-Stylist Udo Walz oder Modemacher Wolfgang Joop hören und sehen will, sei dahin gestellt. Diesen zeitgeistigen Firlefanz hat die zeitlos schöne Ausstellung gar nicht nötig.

Infos:

+ „Gesichter der Renaissance – Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“, bis 20. November 2011, Fr – Mi 10 -18 Uhr, Do 10 – 22 Uhr.
+ Bode-Museum, Museumsinsel Berlin, Am Kupfergraben 1, 10117 Berlin,
+ Rund 170 Meisterwerke der italienischen Renaissance (Gemälde, Zeichnungen, Medaillen, Büsten), zusammengetragen aus über 50 Museen.
+ Danach im New Yorker Metropolitan Museum of Art, 19.12. 2011-18.3.2012,
+ Service und Tickets unter www.smb.museum/gesichter,
+ Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 7 Euro,
+ Katalog: In der Ausstellung 29 Euro, im Buchhandel 47,50 Euro




. . . und das Buch bleibt

Neulich im Berliner Sony-Center durchstöberte ich – Elektronik-Freak, der ich bin – die ultimativen Angebote und erfreute mich an überwältigenden Klängen, die aus winzig erscheinenden Lautsprecherlein in mein Ohr drangen. Keine Sorge, mein Berlin-Aufenthalt bekam trotz derartiger Shopping-Attacken ausreichend kulturelle Würze.

Da gleich nebenan recht preisgünstig Reader feilgeboten wurden, mit denen man e-books mit aufs Klo nehmen kann, begab es sich, dass ein grauschläfiger Herr mich ansprach und wissen wollte, wie das denn ginge „mit so einem Ding“. Ich erläuterte höflich die Funktion dieser schwarzen Frühstücksbrettchen und erhielt als Konter die Frage: „Wo liegt denn der Vorteil – etwa nur darin, dass ich mir die Regale spare, in die ich Bücher stellen kann?“

Schnell schob ich noch einen vermeintlichen Vorteil nach: „Na, ja, einen gäbe es noch. Sie sparen Gewicht beim Flug in den Urlaub.“ Räumte aber ebenso schnell ein, dass nachhaltige Vorteile nicht zu beschreiben sind, die Reader seien eben modernes Spielzeug, gegen ein richtiges Buch könnten sie derzeit nicht bestehen.

Höflich wie ich es war, bedankte sich der grauschläfige Herr, sah von einem Kauf ab und versicherte, sich lieber wieder der gebundenen und bedruckten Papierform zu widmen, wenn er lesen wolle.
Ich schaute noch einmal sehr verächtlich zu den Readern, widmete meine Aufmerksamkeit wieder den Speakern … und erwarb schließlich eines dieser Pärchen, als Geburtstagsgeschenk und nicht für mich. War übrigens ein lohnender Kauf.




Helga am Küchentisch in bester Wohnlage…

43-jährige Bibliothekarin sucht Mann und veranstaltet deshalb ganz gezielt Literaturlesungen, auf denen der Richtige auftauchen möge. Bringt nichts. Schließlich gibt sie eine Annonce unter „Bekanntschaften“ auf und trifft einen Programmierer. Doch beim ersten Kino-Date taucht dummerweise auch eine Freundin aus der Frauengruppe im Lichtspielhaus auf.

Nun gut. Kann sein, dass so etwas vorkommt. Warum denn nicht?

Im vorliegenden Buch wird daraus eine strenge Versuchsanordnung, die Lage wird mit allem Für und Wider umständlich erörtert; feministisch grundiert, mit langjähriger (Selbst)erfahrenheit unterfüttert, schließlich kolumnenhaft zubereitet wie für eine halbwegs gediegene Zeitschrift. Nur: Ist das eigentlich Literatur?

Es sind meistenteils nur Vorüberlegungen, denen eine literarische Verarbeitung erst folgen müsste.

Im neuen Erzählband der vor allem als Filmemacherin bekannten Helke Sander (täuschend knackiger Buchtitel: „Der letzte Geschlechtsverkehr“) wird leider kaum erzählt, sondern fast immer nur erwogen, bedacht, durchgekaut und geschwätzig verplaudert. So gut wie nichts bleibt ausgespart in dieser ungelenken Erklär- und Erläuterungsprosa. Man betrachte nur einmal solche Anfangssätze: „Helga am Küchentisch in einer Wohnung bester Hamburger Lage hebt horchend den Kopf von einem Artikel in der ZEIT…“ Natürlich erfährt man auch, welchen Artikel diese Helga gelesen hat. Es bleiben keine Fragen offen. Der Leser sieht sich rundum informiert oder auch – bösartig gesagt – „zugetextet“. So erschlafft nahezu jeder Spannungsbogen.

Die Geschichten handeln von Frauen jenseits der Lebensmitte – bis hinauf ins hohe Alter. Gegen Ende wird ein 95. Geburtstag begangen (Figur einer renitenten Greisin), es wird eine Goldhochzeit gefeiert (Bilanz einer Ehe als stetiger Unglücks-Quell, der aber immerhin halbwegs verlässlich sprudelt) – und schließlich tratscht ein gewiefter Damenkreis über eine vor Jahren Verstorbene, die es zu Lebzeiten offenbar wüst und egozentrisch getrieben hat. Überhaupt liest sich vieles wie der Ausfluss einer intellektuell angehauchten Damenrunde im besseren Lokal.

Gewiss: Da wird manche Leserin ausrufen „Das kenne ich doch!“ Denn da wird ja etlicher Lebensstoff ausgebreitet, da werden einige Modellbiographien der Mittelschicht beäugt. So etwa aus jener Alt-Achtundsechziger-Senioren-WG, in der peinlich laute Geräusche auf wilden Sex hindeuten. Auch hören wir von einer auf- und abgeklärten Frau, die mit fast 60 seit zehn Jahren mönchisch allein lebt, während – wie gallig konstatiert wird – viele Männer ihres Alters sich eine Jüngere nehmen.

Welch ein wiederkehrender Jammer: Die alten Fesseln aus der Vor-68er-Zeit sind gesprengt, doch adäquate neue Formen noch nicht gefunden. Keine Generation hat den Frauen von heute vorgelebt, wie das Altern unter jetzigen Bedingungen noch gelingen könnte… Beiseite gefragt: Haben es frühere Generationen in dieser Hinsicht wirklich besser getroffen?

Egal. Aus solchem Befund ließe sich bestimmt etwas Erzählerisches formen, es hört sich im Ansatz ja wirklich interessant an. Doch das Gros der Geschichten wird zunichte durch den eklatanten Mangel an erzählerischen Mitteln. Hier muss mal ein etwas längeres Zitat her. Typischer Duktus eines Abschnitts über Frauen „mit Migrationshintergrund“:

„Vom Grundsatz her schien diese Trennung der Bereiche jedenfalls eine bedenkenswerte Möglichkeit, das Leben zu organisieren, wenn sie nur vollkommen freiwillig wäre. Aber wie sollten die in ihrer Mehrheit hier lebenden ungebildeten, analphabetischen und häufig in Rechtlosigkeit gehaltenen Frauen mit ihren Männern ein Bewusstsein über die Vorteile ihrer eigenen gewachsenen Kultur entwickeln.“

So staubtrocken reflektiert kann man vielleicht durch einen Aufsatz staksen, wenn man auf sprachliche Geschmeidigkeit keinen Wert legt. Doch mit Belletristik hat das wenig zu tun, sondern allenfalls mit sang- und klanglosem Zergliedern.

Helke Sander: „Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern“. Verlag Antje Kunstmann, München. 160 Seiten. 16,90 Euro.




Vor 60 Jahren hieß „Steamboat Willie“ schon Mickey Mouse

Vor 60 Jahren erschien zum ersten Mal eines dieser bunten Heftchen, das viele in Europa – besonders aber viele in Bundesdeutschland fesselte, das die Erwachsenenwelt erschauern ließ, weil der kleine Held erstens wie sein Schöpfer aus den Vereinigten Staaten stammte (gegen die hatten wir doch den Krieg verloren) und zweitens die deutsche Sprache der alsbaldigen Ausrottung preisgab: war das, was das Heftchen verbreitete, doch ein comic strip. Mickey Mouse war allerdings nicht aufzuhalten, nicht einmal durch die ausdauernden Bajuwaren, die noch 1961 vor den schulischen Pforten Tornister-Visitationen anordneten, dass dergleichen Schund nicht in die heeren Hallen höherer Lehranstalten mitgeführt werde.

Nun fällt es sicher auch nach Ablauf von sechs Jahrzehnten manchen nicht leicht, dem Mickey-Mouse-Heft einen eigenen Kulturstatus zu verleihen, doch Kultstatus hat sich dieses Medium auf jeden Fall redlich erarbeitet – und der geradezu verwüstende Niedergang der deutschen Sprachkultur ist sicher anderenorts verantwortlich zu suchen, kaum aber dem bunten Heftchen anzuheften.

Ich gestehe im übrigen reinen Herzens, dass mir jede Enthaltsamkeit gegenüber dem als „Steamboat Willie“ im Jahre 1928 geborenen Helden Mickey Mouse, Donald Duck, dem reichen Dagobert, den fieselschweifenden Neffen Tick, Trick und Track und den vielen anderen Charakteren fern lag. Noch in den eigenen 40er Lebensjahren nutzte ich einen Aufenthalt in Florida, um feuchten Auges vor dem Haus zu verharren, das Mickey dort in Olando bewohnte. Ehrlich gesagt, ich war einige Tage später ähnlich stark berührt, als ich Thomas Alva Edisons Villa an den Golfküste den Sunshine States besuchte.

Mein Verhältnis zur Sprache hat nur geringen Schaden genommen, obwohl ich die Nase schon recht früh unter anderem in diese lappigen Druckwerke versenkte. Auch das Alltags-Sprachvermögen hat wenig Einbußen verzeichnen müssen, weil in den Sprechblasen Merkwürdigkeiten zu lesen waren wie „mmpf“ oder „groll“. Der bunte Kult hat einfach nur Spaß verbreitet, was im Laufe der Jahre immer seltener wurde, wenn Dinge aus den Vereinigten Staaten nach good old europe kamen.




Der verlegerische Verstand ward verlegt

Wir schreiben das Jahr 20.. – ach nee – ich will mich da lieber nicht festlegen, kann sein, dass es schneller geht, als ich es befürchte.
Also noch mal: Wir schreiben das Jahr 20 und X. Rast- und ziellos treibt das „Raumschiff Tageszeitung“ durch die Cyberwelt, irgendwo hin, da nie ein dereinst tätiger Journalist in seiner schlimmsten Fantasie gedacht hätte, dass es landen könnte.

Verlegende Damen und Herren in entsprechenden Verbänden stellten irgendwann fest, dass ihnen Einnahmen entgangen waren, die sie in interneten Seiten, die viele unter ihnen ohnehin viel zu spät einrichteten, hätten einfahren können. Und so beklagten sie 15 Jahre nach deren Geburt die Bemühungen von http://www.tagesschau.de, sich mit Apps um die Zuschaltung jugendlicher Interessenten zu bemühen.

Mein fassungsloses Kopfschütteln über so viel Dummheit nähert sich dem Gezappel einer Paralysis agitans. Wie konnten so viele Zartbegabte so lange Medien führend erfolgreich führen, um diese dann doch in jedes sich bietende schwarze Loch zu führen?




„Tristan“ bei der Triennale: Liebestod im Zwielicht

Ein „Wagnis“? Willy Decker wählt große Worte bei der Premierenfeier nach „Tristan und Isolde“
zur Eröffnung der zehnten Ruhrtriennale, der letzten unter seiner Intendanz.

Wagners gewaltiges, alle Grenzen sprengendes Werk ist heute fest im
Musiktheaterbetrieb verankert: An der Oper Köln scheiterte 2009 David Pountney
daran, in Düsseldorf zog 2010 Klaus Guth die Linien hin zu Wagners Biografie, in
Essen steht die Inszenierung von Barrie Kosky ab 29. Januar 2012 wieder im
Spielplan. Selbst mittlere Häuser wie Wuppertal und Münster hatten in den
letzten Jahren ihren „Tristan“ – und konnten szenisch wie musikalisch mit achtbaren
Ergebnissen auf sich aufmerksam machen. Wozu also in der Jahrhunderthalle
Bochum ein Stück realisieren, das man in der dichten westdeutschen Theaterlandschaft
wahrlich nicht missen muss?

Die Antwort liegt bei Decker selbst und in der Programmatik der Triennale: Nach Judentum
und Islam steht in diesem Jahr der Buddhismus im Zentrum der Reflexion über die
großen Weltreligionen. Wagner hatte sich, von Schopenhauer inspiriert, intensiv
mit buddhistischen Gedanken beschäftigt, sich sogar einmal als „unwillkürlich
zum Buddhisten geworden“ bezeichnet. Decker selbst folgt persönlich den Pfaden
des Buddhismus. So liegt es nahe, in „Tristan und Isolde“ die Spuren dieser
asiatischen Lehre – die eigentlich keine Religion sein will – zu erforschen,
die Schnittpunkte zwischen der christlichen Geisteswelt des Westens und der
buddhistischen Spiritualität des Ostens erkenntlich zu machen.

Wagner radikalisiert mit diesem geistigen Instrumentarium die romantischen Axiome
eines E.T.A. Hoffmann. Es ist nicht mehr nur die Trugwelt des bürgerlichen
Wohlbehagens, die zugunsten einer vollkommeneren und authentischeren „Geisterwelt“
überwunden wird. Es ist nicht mehr nur die Vollendung im Paradies, wie sie das
Christentum verspricht. Für Wagner zählt die Überwindung einer Schein-Welt, die
unserer Vorstellung Raum und Zeit vorgaukelt, wo es doch nur das All-Eine, das
Ewige gibt. Heraus aus „jener grauenhaften Ursächlichkeit des Entstehens und
Vergehens“: das ist Wagners Sehnsucht. So erklärt sich das „Unbewusst“ als „höchste
Lust“, erklärt sich die Radikalität, mit der das Protagonistenpaar Liebe und
Tod als Erfüllung anstreben.

Das eine bekommt man nicht ohne das andere:
Wirkliche Liebe ist, wie Wagner ja auch pathetisch für sein eigenes Leben
beklagte, in dieser Welt der – scheinbaren, aber wirksamen – Gegensätze nicht
zu haben; Tod ist die Bedingung, dass die Schranken zwischen den Individuen
fallen und der Weg frei wird in die Erfüllung und Erlösung. Und die Nacht ist
die Chiffre für die Abwesenheit des grausamen Lichts, in dem die Scheinwelt,
die uns umgibt, zu jammervoller Wirksamkeit gelangt.

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

„Tristan und Isolde“ lässt sich ebenso romantisch-christlich lesen, aber Deckers Bezug auf
den Buddhismus hat zumindest in der dramaturgischen Konzeption viel Anregendes
an sich. Auf der Bühne sind die komplexen Gedanken dann allerdings schwer zu
realisieren. Decker und sein Bühnenbildner Wolfgang Gussmann wählen,
unterstützt vom Licht Andreas Grüters, den Weg der extremen Reduktion. Zwei
leere, weiße Flächen liegen parallel, schieben sich ineinander, bilden kühle,
ästhetisch-geometrische Figuren oder nach hinten ins Unendliche offene Räume, müssen
aber auch den harten Einbruch der Schein-Realität erdulden, wenn die
schrundigen Außenmauern der Halle sichtbar werden, zwischen denen die Flächen
wie eine Insel der Zuflucht schweben. Ein Himmelskörper treibt im Hintergrund,
schiebt sich im dritten Aufzug in die Welt Tristans, leuchtet wie der drohende
Mond in Strauss‘ „Salome“ unheilvoll rötlich, als der Liebestrank seine Wirkung
entfaltet. In der „Nacht der Liebe“ wird das Rund zu einer Blase, die
Symbolbilder birgt: Meer, Dunst, zerfließende Körper und Gesichter, die sich
drehen, auflösen und wieder konkretisieren, und die im dritten Aufzug in
blutrotes Licht tauchen.

In diesem abstrakten Raum gelingen eindringliche Bilder, etwa wenn Isolde isoliert im Heer der
grünen Mannen König Markes sitzt, oder wenn sich in den fantasievollen
Projektionen des Teams „fettFilm“ (Momme Hinrichs und Torge Møller) die weißen
Platten in einem weiten kosmischen Raum verlieren. Doch in der Personenregie
bleibt vieles im Ungefähren stecken, kommt Decker nicht über symbolische
Arrangements hinaus, wie sie schon seine Leipziger „Tristan“-Inszenierung gekennzeichnet
haben. Der Schluss wirkt merkwürdig kraftlos: Die beiden weißen Platten
schließen sich wie Buchdeckel. Isolde, herausgetreten aus dieser Sphäre, singt
die letzten Worte ihres „Liebestodes“ im Zwielicht, das am Ende dem Dunkel
weicht.

Musikalisch war der Triennale-Tristan dem künftigen Generalmusikdirektor der Bayerischen
Staatsoper München anvertraut: Kirill Petrenko hat mit den Duisburger
Philharmonikern in der gut eingerichteten, dennoch schwierigen Akustik der
Jahrhunderthalle einen skrupulös verfeinerten Wagner erarbeitet. Jede Stimme kommt
zu ihrem Recht. Der Spaltklang wird ins Extrem getrieben. Das lässt etwa das
Frage-Antwort-Spiel von Streichern und Bläsern, die harmonische Anreicherung
durch selbständige Begleitstimmen oder die Reibungen in der vielschichtigen
Chromatik deutlich hervortreten. Gleichzeitig aber löst sich Wagners Mischklang
auf in zusammenhanglose Einzelteile, die auch die Legato-Wirkungen empfindlich
beeinträchtigen.

Petrenko achtet fast ängstlich darauf, die Sänger nicht zuzudecken, unterdrückt damit aber
jene ekstatische Überwältigung, die gerade der „Tristan“-Partitur eigen ist.
Das Fieber der Streicher im Schlussgesang bleibt kalt, die „Nacht der Liebe“
fröstelig. Auch wenn man sich die pathetischen Rauschzustände vergangener
Dirigenten-Generationen nicht zurückwünscht: So ausgeblutet kann dieser „Tristan“
höchstens als klang-anämisches Gespenst durch das kalte Kabinett zeitgeistiger
Musik-Lesarten geistern. Immerhin ließ sich auf diese Weise hören, wie
vorzüglich die Duisburger Philharmoniker ihre Aufgabe bewältigten. Die Bläser
konnten auch in den Soli brillieren, während es die Streicher schwer haben, in
der resonanzarmen Akustik zu bestehen.

Unter den Sängern können sich die Frauen am ehesten noch dem erschreckenden Mittelmaß
entwinden, das den Wagner-Gesang heute bestimmt. Claudia Mahnke ist vor allem
in ihren Rufen im zweiten Aufzug eine stimmsatte Brangäne mit unforciertem,
substanzvollem Klang. Anja Kampe geht die Isolde mit einem lyrischen, aber
expansionsfähigen Ton an. Ihre Artikulation ist – wie die von Frau Mahnke –
einwandfrei, die Tonbildung frei von der missverstandenen großhubigen Vibrato-Dramatik
amerikanischer Sopran-Schlachtschiffe. Decker verordnet ihr nicht immer
nachvollziehbare raumgreifende Aktionen; dennoch hat sie ihre Partie unter
Kontrolle, kann nuancieren und ins Piano zurücknehmen.

Christian Franz versucht das als Tristan auch. Aber dem Tenor, der in den Neunzigern
seine Karriere in Wuppertal begonnen hat, fehlt die Sicherheit beim
Positionieren der Stimme. Bereits im ersten Aufzug steigt sein nicht sonderlich
voluminöser Tenor nach oben, wird dünn und bemüht. Im Duett des zweiten
verschmelzen die Stimmen nicht, setzt Franz den rund gebildeten Piani von Anja
Kampe fistelig ungestützte Töne entgegen. Durch den mörderischen dritten Aufzug
kämpft er sich angestrengt; man wundert sich, dass die Stimme noch die
Kondition für den vokalen Gewaltparcours hat. Mit Stephen Milling gewinnt die
Figur des König Marke vokale Kontur, wenn auch die Höhe nicht befriedigt.
Alejandro Marco-Burmester ist ein sicherer Kurwenal, Boris Grappe ein greller, passend
unsympathischer Melot. Das ChorWerk Ruhr unter Michael Alber bewies wieder
einmal gediegene Qualität. – Der Beifall der Triennale-Fans war lang, aber
schütter und steigerte sich nur bei Anja Kampe zu freundlicher Intensität.

Spielplan der Ruhrtriennale: http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/spielplan/




Bochum stand für Gebirge und Straßenbahn

Bochumer Zeche Prinzregent in den 50-er Jahren

Der Blick auf das Ruhrgebiet ist ja immer relativ. Bei mir zum Beispiel als im flachsten Münsterland geborenem Dorfkind stand früher das Revier für Gebirge und Straßenbahn, für Kohlezechen und Kaninchen.

Meine Mutter stammte aus Bochum-Weitmar und hatte nach der kriegsbedingten Evakuierung 1942 ins Münsterland geheiratet. Was lag bei armen Leuten wie uns also näher, als einen Teil der Sommerferien statt am Meer bei den Großeltern und anderen Verwandten im Kohlerevier zu verbringen. Wenn ich dann mit meinem Opa spazieren ging und er mir die Gegend zeigte, die Stoppelfelder und Kohlehalden, die Bergmannshäuschen und Kriegsruinen, dann waren die Hügel und Täler nördlich der Ruhr für mich echtes Gebirge. Andere Höhen kannte ich nicht, die Alpen kamen erst später in den Blick.

Auch Straßenbahnen waren für einen Dorfbubi eine Sensation. Vor allem die Klingel, die vom Schaffner mit einem längs laufenden Lederband bedient wurde, fand ich faszinierend. Und erst die Kaninchen im Stall hinter dem Haus der Großeltern. Mit Hingabe verbrachte ich Stunden beim Füttern, und diese Annäherung hinderte mich nicht, später beim Verzehr zu helfen.

Meine Onkel und der Großvater waren allesamt auf Zeche beschäftigt. „General“ und „Prinzregent“ hießen im Bochumer Süden die beiden großen Förderanlagen. Weiße Hemden bekamen schnell einen schwarzen Rand, wenn wir zu Fuß von Weitmar zur Tante nach Wiemelhausen gingen, denn vom Zechenglände wehte immer etwas Kohlenstaub durch die Luft.

Zu Hause spielten wir in den umliegenden Wäldern und an den Bächen, und doch waren die Besuche in Bochum das Größte. Wie gesagt, der Blick auf das Ruhrgebiet ist immer relativ.




Wenn Leere und Fülle eins werden: Bochum zeigt Kunst aus dem Geist des Buddhismus

Die Ruhrtriennale begibt sich (nach Streifzügen durch Judentum und Islam) diesmal auf spirituelle Erkundungen im entgrenzten Kraftfeld des Buddhismus. Selbst in Wagners „Tristan“, Shakespeares „Macbeth“ und Kafkas „Schloss“ will man solche Impulse freilegen.

Zu den szenischen Künsten gesellt sich das Bildnerische: Das Kunstmuseum Bochum zeigt jetzt – als Triennale-Begleitprogramm – die Ausstellung „Buddhas Spur“. Sie ist streckenweise meditativ, aber nicht esoterisch geraten. Sie bietet beileibe keinen umfassenden Überblick zum Thema, sondern schmeckt hie und da nach beherzter Gelegenheits-Auswahl, lässt aber einige Streiflichter kreisen.

Museumsleiter Hans Günter Golinski und Triennale-Intendant Willy Decker haben bei der (relativ kurzen) Vorbereitung kooperiert. Sie versprechen sich eine fruchtbare Wechselwirkung der verschiedenen Kunstformen, womöglich gar spannende Grenzüberschreitungen. Decker, der auch ganz persönlich und lebensweltlich auf buddhistischen Spuren wandelt, ist ohnehin überzeugt, dass strikte Abgrenzungen zwischen den Künsten sich auflösen.

Vor rund elf Jahren hat Golinski in Bochum eine Schau über die Wirkung der Zen-Philosophie auf avancierte Westkunst zusammengestellt. Nun sind Arbeiten von elf Künstlern aus verschiedenen Ländern Asiens zu sehen. Der Blick kommt also aus der anderen Richtung: Allen westlichen Einflüssen zum Trotz, sind immer noch buddhistische Haltungen und Denkfiguren in die asiatische Kunst eingesenkt. Ja, schon die Art, wie man Kunst betrachtet, ist in Asien völlig anders geprägt. Wollte man es ganz gröblich unterscheiden, so könnte man sagen: Während wir dem Werk eher objektivierend gegenübertreten wollen, versenkt man sich dort in Kontemplation und erstrebt Einswerdung. Doch auch das ist nur eine längst brüchig gewordene Teilwahrheit.

Die Bochumer Auswahl ist doppelgesichtig, denn man sieht nicht nur aktuelle Kunst, sondern auch Beispiele für den religionsgeschichtlichen „Unterbau“, sprich: vor allem historische Buddha-Skulpturen und Bildnisse, viele aus ortsnahen Privatsammlungen, sowie staunenswerte Exerzitien der Kalligraphie. Manches davon wirkt oder wabert in der gegenwärtigen asiatischen Kunst nach. Museumsleiter Golinski ist allerdings mulmig zumute, wenn er daran denkt, dass Buddha-Figuren inzwischen viele Friseurläden und Nagelstudios „zieren“. Von derlei Trivialisierung will man sich selbstverständlich sternenweit abheben.

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Am Beginn steht ein etwa aus dem 2. Jhdt. nach unserer Zeitrechnung stammender Fußabdruck, der Buddha zugeschrieben wird. Hier klingt schon ein Grundmotiv an, das sich auch im Titel wiederfindet: Spuren als denkbar flüchtiges Phänomen auf dem Grat zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, Werden und Vergänglichkeit. Daraus kann auch in der Kunst ein vermeintliches Paradoxon gerinnen: Sich der Welt zuwenden und sie doch überwinden.

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Dementsprechend bewegen sich einige Künstler gleichsam an den Nahtstellen zwischen Leere und Fülle, Erscheinen und Verschwinden. Chen Shen (China) trägt unermüdlich Schicht um Schicht auf, bis seine Bilder sanft ins Nirgendwo zu entschweben scheinen. Charwei Tsai (Taiwan) projiziert kalligraphische Zeichen auf Pflanzen, Tiere oder Tofu („Tofu Mantra“) und erzeugt so flirrende Vexierbilder. Auf den Fotografien von Atta Kim (Korea), die auf berühmten, sonst touristisch übervölkerten Straßen entstehen, gehen nur noch Spuren der Betriebsamkeit in einem ungreifbaren Dunst auf. Es herrscht geisterhafte Stille an diesen fremdartig gewordenen Orten.

Die weiße Fläche wird generell nicht als bedrohliches Vakuum empfunden, sondern als offene Weite, in die alles einströmen kann. Willy Decker, der selbst asiatische Kunst sammelt und einige Exponate beigesteuert hat, ist gar überzeugt, dass in solcher uranfänglichen Leere der Quell aller Inspiration und Kreativität entspringt.

Der prominenteste Name der Bochumer Ausstellung ist Nam June Paik (Korea). Hier wird der meditative Grund seiner alles in Fuss versetzenden Fluxus-Kunst erahnbar. Eine wie traditionell hingetuschte Zeichnung ist entstanden, als Paik seine farbgetränkte Krawatte auf dem Bildträger hin und her gezogen hat. Sehr stille, konzentrierte Papierarbeiten sind von Paik zu sehen, aber auch ein Schrein mit nichtigem Fernsehfimmern, vor dem Buddha eine Angel auswirft. Überhaupt sind nicht alle Arbeiten ehern ernst zu nehmen: Kimsooja (Korea) lässt eine kreisrunde Jukebox als Mandala erscheinen. Kamin Lertchaiprasert (Thailand) hat aus Geldscheinen eine pappige Masse hergestellt und daraus wiederum im Lauf eines Jahres 365 figürliche Opfergaben gefertigt – eine der eindrücklichsten Schöpfungen dieser Ausstellung.

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Long-Bin Chen (Taiwan) lässt zahllose Presseerzeugnisse aufflattern, als habe ein Sturm all das bedruckte Papier erfasst („Information Hurricane“) und wolle es hinwegfegen; offenkundig ein Einspruch gegen allgegenwärtigen Nachrichten-Overkill, ebenso seelen- wie körperlose Computerschriften und darin sich ergießendes Geschwätz des Tages. Wie tiegründig wirkt demgegenüber die kalligraphische Schriftkunst!

Gelegentlich stammt das Material asiatischer Kunst geradewegs aus religiösen Zusammenhängen: Montien Boonma (Thailand) hat buddhistische Almosenschalen zum nahezu magischen Dreieck gefügt, das erdenferne Ruhe ausstrahlt. Ein gigantisches Aschebild von Zhang Huan bezieht die stoffliche Grundlage aus buddhistischen Tempeln, in denen Weihrauch verbrannt wurde.

Doch es kann keine Rede davon sein, dass die Künstler den Buddhismus fraglos fortführten. In den besten Momenten zeigt sich die hier präsentierte asiatische Gegenwartskunst zwar zeitlos durchgeistigt, doch fast im selben Atemzuge ist sie mitten ins globale Jetzt gesprungen.

Zeitenthobene Zeitnähe scheint auch hierin zu walten: Derart früh hat sich asiatische Kunst vom Gegenstand gelöst, dass man schon im 13. Jahrhundert von Abstraktion sprechen kann. Kandinsky war ein wenig später dran…

„Buddhas Spur“. Zeitgenössische Kunst aus Asien. Kunstmuseum Bochum (Kortumstraße 147). Vom 28. August (14 Uhr Künstlergespräch, 15 Uhr Eröffnung, 17 Uhr Konzert) bis zum 13. November. Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. http://www.bochum.de/kunstmuseum

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)




„Fliegende Fische müssen ins Meer“: Zauberhafte Kino-Komödie aus der deutschen Provinz

Noch gar nicht lange her, da spielte Meret Becker junge Frauen, die, auf dem Weg zu sich selbst, viele Irrungen und Wirrungen auf sich nehmen und manch emotionalen Umweg gehen mussten. Jetzt, ein paar Jahre später, ist sie zwar zur Leinwandmutter dreier Kinder geworden, aber eigentlich ist sie immer noch so überdreht und verrückt, Probinzunberechenbar und komisch wie ehedem. Irgendwie nicht von dieser Welt. Das ist auch gut so. Denn sonst wäre „Fliegende Fische müssen ins Meer“, der von Güzin Kar (Drehbuch und Regie) in Szene gesetzte Film über Lust und Leid des Lebens einer allein erziehenden Mutter in tiefster deutscher Provinz, wohl kaum zu dem geworden, was er ist: eine wunderbar leichte Komödie darüber, dass das Leben einfach kompliziert ist und doch spannend und schön sein kann.

Szenenbild (Foto: movienet)

Szenenbild (Foto: movienet)

Eine karge Inhaltsangabe (arbeitslose Mutter, drei Kinder von drei verschiedenen Männern, bedrängt von humorlosen Behörden, beäugt von miefigen Nachbarn) würde nach verdrießlichem Sozialdrama klingen. Das Gegenteil ist der Fall. Roberta (Meret Becker) stolziert mit roten Pumps und rotem Kleid durchs graue Dorf, verdreht dickbäuchigen Männern den Kopf und infiziert allmählich sämtliche Frauen mit erotischen Träumen. Das ist nicht weit vom Klischee, aber trotzdem lustig.

Wer etwas mehr Tiefgang möchte und miterleben will, wie sich Jugend und Intelligenz paaren und Wunsch und Wille zu einer praktikablen Lebensstrategie verbinden, sollte sich die junge Elisa Schlott ganz genau ansehen. Sie ist die Sensation des ebenso witzigen wie anrührenden Films. Elisa Schlott ist die 15-jährige Nana, Tochter von Roberta. Sie jobbt als Schleusenwärterin beim Wasserkraftwerk, würde aber gern das Leben und die Liebe erkunden, loslaufen in die Welt und Schiffskapitänin werden. Doch meistens muss sie auf ihre ausgeflippte Mutter aufpassen und ihre kleinen Geschwister versorgen. Und dann verknallt sich Nana auch noch in Eduardo (Barnaby Metschurat), diesen schönen, rätselhaften neuen Arzt, den es aus unerfindlichen Gründen in das abgelegene Dorf am Rhein verschlagen hat. Eduardo ist der halbseidene, geheimnisvolle Zauberer, der direkt aus einem alten Shakespeare-Stück in den neudeutschen Film entsprungen zu sein scheint – und wieder verschwinden wird, wenn seine Arbeit getan ist und jeder bekommt, was er braucht: eine Zukunftsperspektive.

Bilder und Dialoge balancieren gekonnt zwischen satirischer Wirklichkeit und magischem Realismus. Ein kleiner Film mit großer Wirkung. Ein Juwel.

(Kinostart: 25. August)




Denkwürdige Vokabeln (2): „Märkte“

„Märkte“, sie herrschen, sie beherrschen Schlagzeilen, sie haben die Macht, politisches Handeln zu steuern – nur, wer oder was sind diese „Märkte“, namentlich die Finanzmärkte?

Nun, erst einmal sind sie in der Mehrzahl, was einerseits den Vorteil hat, dass sie Überzahl signalisieren, weiterhin den Vorzug mit sich bringt, Anonymität zu heucheln.

Dann scheinen sie ebenso menschenleer zu sein wie seelenfrei. Sie haben nur ein wirklich signifikantes Merkmal: Sie sind ungemein empfindsam und reagieren postwendend auf ein wie auch immer geartetes menschliches Fingerschnippen.

Weiterhin scheinen diese „Märkte“ ein stillschweigendes gemeinsames Einverständnis zu haben, jeden gegen sie gerichteten Angriff, wo er auch auf der Welt von wem geführt wird, mit einem Tsunamigleichen inneren Beben zu beantworten, und zwar weltweit im Gleichschritt. Wohlgemerkt, dies alles geschieht offenbar ohne jedes menschliche Zutun – „Märkte“ sind autonom und ihre Reaktionen kommen Naturereignissen gleich.

Dass möglicherweise hinter diesen Märkten doch noch so ein Pole Poppenspäler, so ein Josef Ackermann in jeweiliger Landestracht stehen könnte, muss natürlich ausgeschlossen werden. „Märkte“ lassen sich nicht von Menschen lenken, sie sind gelenkt, dass sie Menschen lenken.

Stelle ich mir nur solche blöden Fragen und gebe mir Antwort, oder unternehmen das auch die Kolleginnen und Kollegen, die so unverdrossen veröffentlichen, dass die „Märkte“ mal wieder nervös werden? Sicher nicht durch mein Geschreibsel.

Ausschnitt aus den heutigen Finanzmarkt-Tabellen der FAZ (Bild: Berke)




Denkwürdige Vokabeln (1): „Rechtspopulist“

Wieder einmal sorge ich mich – vermutlich ohne jeden Grund – um die Deutlichkeit der deutschen Sprache, sorge mich darum, dass sie da und dort einem Interessenmissbrauch unterliegt – vermutlich ebenfalls grundlos – sorge mich zudem, dass hinter dergleichen Missbrauch System stecken könnte – selbstverständlich auch ohne jeden Grund.

„Rechtspopulismus“ oder „Rechtspopulist“ – häufig gehört oder gelesen, nie ordentlich wahrgenommen oder selbst durchdacht. Was will diese sprachhistorisch noch frisch geborene Vokabel uns nur sagen? Also mir sagt der Begriff „Rechtspopulist“, dass es sich bei dergestalt bezeichneten Menschen um recht Rechte handelt, die indes im öffentlichen Meinungsbild nicht rechts genug sind, dass man sie mit dem „altertümlichen“ Faschist, Neonazi oder Nazi titulieren könnte. Jörg Haider im benachbarten Österreich wurde einst dieses Etikett verpasst, bisweilen wäre es auch für den deutschen Kollegen Jürgen Möllemann passend gewesen – allerdings eint beide der Umstand, dass sie von mittig einsortierten Parteien zwar skeptisch beäugt, jedoch nicht zurückgewiesen wurden. Schließlich wären oder wurden sie ja mal koalitionsfähig.

Beide sind nicht mehr, beide sozusagen Urväter des „Rechtspopulismus“, ihr definierender Begriff aber blieb. Und er änderte seinen Inhalt unmerklich. Merk- und denkwürdige Gestalten in den Niederlanden, in Dänemark, in Finnland oder auch Lendennachkommen des Herrn le Pen in Frankreich, sie alle hängen, in den Medien so beschrieben, dem „Rechtspopulismus“ nach. Also immer ein bisschen unterhalb der faschistischen Reizschwelle operierend.

Doch dann kam es zu Norwegens Breivik, der nicht nur wirres Zeug absonderte, sondern massenmordend auch noch Fanale in sein Land trompeten wollte. Auch diesen Menschen beschrieben die Medien als „Rechtspopulisten“. Da ich nun beim besten Willen nicht mehr erkennen kann, dass diesem Mann ein Handeln unterhalb irgendeiner Reizschwelle unterstellt werden darf, muss ich annehmen, dass große Teile der bundesdeutschen Medien Begriffe vollkommen unbedacht, unüberlegt, unkritisch benutzen. Ich werde sowohl die Medien als auch die Vokabel „Rechtspopulismus“ auch fortan kritisch begleiten. Muss ich mir Gedanken um mich machen…?

Abschnitt aus dem Duden-Universalwörterbuch (Foto: Bernd Berke)




Ungereimtheiten auf der Alm

Man macht das ja manchmal so. Reime erzwingen um des Reims willen. Und vielleicht für ein wenig Haha. Bei Geburtstagsfeiern oder auf Grußkarten zum Beispiel. Ich hab es gerade erst wieder getan, in einem der klassischen Orte für solcherlei Wortpressversuche: In einem Gästebuch einer Ferienwohnung, in der wir uns sehr wohlfühlten, habe ich willkommen auf gern wiederkommen gereimt und sogar Drachenfels mit Zahnschmelz gepaart.  Ein bisschen rote Ohren, ein

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

bisschen Schmunzeln – und die nachfolgenden Gäste können sich dran ergötzen.

So etwas aber geschieht in der stillschweigenden Übereinkunft einer Halböffentlichkeit, die nur wenige Zeugen kennt. Weil letztlich doch alle Beteiligten wissen, dass solches Gereime von Dichtkunst so weit entfernt ist, wie eine Baumscheibenbemalerin von Frida Kahlo.

Diese Übereinkunft empfinde ich nun als gebrochen. Heute bin ich an einer Litfaßsäule vorbeigefahren, auf der mit einem kernigen alten Hutzelmännchen für eine Sendung namens „Die Alm“ geworben wurde. Die Unterzeile brannte in meinen Augen. „Promischweiß und Edelweiß“.

Liebe Menschen von Pro7 oder wer auch immer sich diese Zeile ausgedacht hat – das tut doch weh! Ihr habt das schöne Edelweiß mit solch einem ekligen Bild zusammengebracht – und damit ausgerechnet eine Blüte, die als stark gefährdet gilt, in den Dunstkreis von mediengeilen X-Prominenten gebracht, die leider keinesfalls selten sind. Wäre es doch nur andersrum!

Und dann diese Wortschöpfung: „Promischweiß“. Mal abgesehen davon, dass ich allein schon den Ausdruck „Promi“ furchtbar finde, bei Betrachten der „Alm“-Website aber auch niemanden gefunden hätte, der überhaupt prominent wäre. Was offenbart sich denn da für ein Menschenbild? Schwitzen „Promis“ etwa anders, als die sonstigen Erdbewohner? Sollte das sogar ihr hervorstechendstes Merkmal sein (was einiges erklären würde)? Und wie sähe die prominente Schweißflüssigkeit wohl aus? Gülden, der hervorgehobenen Stellung angepasst, und dazu noch lieblich duftend?

Wer weiß. Vielleicht verkauft der Sender am Ende des ganzen Prominentenschaffens ihr Ausgedünstetes im Supermarkt. Ich hätte auch schon einen tollen Slogan: Promischweiß – günstiger Preis!




Premierenfieber: Die Triennale vor einem „Tristan“-Wagnis

"Tristan"-Komponist Richard Wagner in Luzern 1868.

Willy Decker wirkt ein bisschen müde. Was er unumwunden zugibt. Die Doppelbelastung als Intendant der Ruhrtriennale, zugleich als Regisseur der Eröffnungspremiere, Wagners „Tristan und Isolde“, mache sich eben bemerkbar. Doch Decker hat noch Elan genug, während einer Pressekonferenz eben über diese Produktion zu sprechen, über ihre Verankerung im Gesamtprogramm und das Wagnis, das hier eingegangen werde.

Decker redet emphatisch, wenn er seine Künstler lobt, und wirkt nachdenklich, wenn er das ganze Unterfangen, Wagners „Tristan“ in der Bochumer Jahrhunderthalle zu realisieren, eben als Wagnis bezeichnet. Eine Inszenierung, die gegen den Mainstream gerichtet sei, ein Versuch zudem, sich als Regisseur selbst zu vergessen. Wer mag, kann hinter diesen Worten durchaus Zweifel heraushören.

Decker sagt aber auch: „Die Wahl des ,Tristan’ war ohne Alternative“. In dieses Werk habe der Komponist Richard Wagner buddhistisches Gedankengut transferiert. In diesem Sinne könne etwa Tristans Fieberwahn im 3. Akt als eine Art Nahtod-Erfahrung gedeutet werden. Wagner habe, ausgehend von der Schopenhauer-Lektüre, viel über den Buddhismus gelesen und sinniert.

Zur Erinnerung: Willy Deckers „Triennale“-Intendanz, die diesen Herbst zuende geht, hat sich über drei Jahre drei Weltreligionen zugewandt. Dem Judentum, Islam und nunmehr dem Buddhismus. Gedichte japanischer Zen-Meister werden gelesen, eine Ausstellung im Museum Bochum begibt sich mit zeitgenössischer asiatischer Kunst auf „Buddhas Spur“, es gibt Konzerte experimenteller Art und vieles mehr. In dieses Umfeld passe auch der „Tristan“ – in der Loslösung von Ort und Zeit.

Der Ort ist in diesem Fall die weiträumige Jahrhunderthalle. Decker lobt die Spielstätte als Alternative zum alten Guckkastenprinzip. Die Sopranistin Anja Kampe, die Isolde der Produktion, spricht von den tollen Möglichkeiten, die die Halle biete. Dirigent Kirill Petrenko aber relativiert. Er habe die Realisierung dieses klangsinnlichen Stücks als große Herausforderung angenommen. Man müsse sehr an der Dynamik feilen, schließlich sei dies nicht der Wiener Musikvereinssaal. Der Klang sei letzthin nicht festzuhalten. Ein Schelm, der auch in diesen Worten Zweifel erkennt? Kein Problem hatte Petrenko indes mit der Wahl des Orchesters. Die Duisburger Philharmoniker habe er sich als Partner gewünscht.

Kein Zweifel: Dieser „Tristan“ wird auch zur Herausforderung fürs Publikum. Schließlich gehöre zum Regieansatz, wie Sopranistin Anja Kampe es betont, dass nicht immer zum Auditorium hingesungen werde. Zudem wird es einige, wenn auch sparsam eingesetzte Video-Projektionen geben. Kurze Sequenzen, die den Lebenskreislauf zwischen Geburt und Tod illustrieren sollen.

 

Die Premiere von „Tristan und Isolde“ am 27.8. ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen gibt es am 31. August sowie am 3., 9., 13., 17. und 20. September. www.ruhrtriennale.de

 




Abschied von Loriot

Es darf doch nicht wahr sein. Es soll doch bitte nicht stimmen!

Die Nachricht vom Tode Loriots macht sehr, sehr traurig. Doch sie macht die meisten nicht sprachlos. Denn nun lassen alle die Loriot-Sprüche oder sonstigen Werkpartikel vom Stapel, die ihnen ans Herz oder gleichsam ans Zwerchfell gewachsen sind. Auch das Netz vibriert heute vor lauter Hoppenstedt, Müller-Lüdenscheidt, Die Ente bleibt draußen, Heinzelmann und allem anderen. Wie wohltuend und entlastend, wenn man die Trauer ins kollektive Lachen kleiden kann – oder wenigstens in eine wehmütige Erinnerung an einstigen Frohsinn. Möge man ihn nur nicht irgendwann auf den „Hausschatz des goldenen Humors“ reduzieren. Er steht für ganz andere Dimensionen.

Das weithin presseübliche Verfahren, einen alten Artikel (etwa zum 80. oder 85. Geburtstag) „wiederzubeleben“, indem man ihn beinahe wortgleich wiederholt, um Geschehnisse der letzten Jahre sowie ein paar Trauerformeln ergänzt (und an den richtigen Stellen in die Vergangenheitsform setzt), das alles wollen wir uns hier ersparen.

Wir setzen nur noch schnell einen Link.

Dann sind wir endlich still und blättern abends leise in seinen wundervollen Büchern.




Pleurants – Trauernde

Mein Vater liegt auf demselben Friedhof wie die Krupps begraben, wenngleich sehr viel bescheidener. Die Krupps – zumindest die Männer der Familie – ruhen unter veritablen Denkmälern. Hier ein Adler, dort eine trauernde Schönheit, wie sie im 19. Jahrhundert zur internationalen Friedhofsmode gehörte. Eine lebensgroße Skulptur aus Bronze, die – Allegorie hin oder her – unter nur angedeuteten Schleiern ihre vollen Brüste über dem Kopf des Industriebarons schaukeln lässt, lasziv wie ein Groupie über dem Grab von Jim Morrison, sinnlich wie Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes. Was haben halbentblößte Weiber, die nicht zur Familie gehören, auf den Grabplatten von Industriellen zu suchen?

Ich denke an Mutter. Als mein Vater starb, waren die beiden vierundfünfzig Jahre verheiratet. Mutter erzählte mir später, Vater sei ihr erster und einziger Mann gewesen. Ich glaube ihr. Wenn jemand ein Recht hat, den Tod meines Vaters zu betrauern, dann Mutter. Aber sie als weinende Statue auf Vaters Grab? Schlecht vorstellbar. Oder doch? Als hyperrealistische Skulptur, wie beispielsweise Duane Hanson oder Edward Kienholz Menschen aus Glasfaser und bemaltem Polyesterharz nachbildeten? Oder als Heldin des Alltags, wie sie als „Säulenheilige“ auf Düsseldorfer Litfaßsäulen stehen? Meine Mutter, 85-jährig, klein und verhutzelt über ihren Rollator gebeugt, eine angemessene Versinnbildlichung einer Trauernden.

Pleurants beiderlei oder unbestimmten Geschlechts existieren in der Grabkunst zumindest seit dem 14. Jahrhundert. Unter den 40 Trauernden, die in Dijon die Grabplatte Philipp des Kühnen tragen, befinden sich mehrere düstere Kapuzengestalten, die sich auch als Fährmänner zu Böcklinschen Toteninseln eignen würden. Jedoch hielt die als Frau personifizierte Trauer mit der erotischen Verheißung eines erfüllten Jenseits erst im 19. Jahrhundert europaweit Einzug in die Friedhofskunst.

Warum protestierten die tatsächlichen, die nicht-allegorischen Ehefrauen, die ihre Männer überlebten, nicht gegen die in Kupfer gegossenen fremden Nackedeis auf den Grabstätten? Meine Mutter hätte sich dagegen verwahrt, aber sie lebte ja auch hauptsächlich im 20. Jahrhundert.

Mir persönlich – als Mann – würde der Gedanke gefallen, über meinem Skelett würden verewigte Trauernde dauerhaft um mich weinen. Für mein Grab wünsche ich mir sechzehn Pleurantes. Mindestens vier, aber besser sechzehn. Das bringt meine Nachlassverwalter in größere Schwierigkeiten. Denn natürlich muss jede der weinenden Figuren lebensgroß sein, nicht so klein wie bei Philipp dem Kühnen. Wer meinen Geschmack kennt, weiß, dass „lebensgroß“ mindestens 1,80 m bedeutet. Das gibt ein Gedränge von in kurzen Röcken stehenden, sitzenden, liegenden, sich vor Trauer die Brust zerkratzenden, sich die Kleider vom Leib reißenden Weinenden, ein Knäuel aus Trauernden, unter denen ich begraben sein möchte (wenn es Zeit ist).

auf dem Friedhof in Essen-Bredeney

Grab eines Industriebarons




„Heiligtümer“ in Europa – Performance-Reise geht zu Ende

Aus Litauen, Polen, Malta und der Türkei kommen die Partner von der Dortmunder Gruppe artscenico e.V. Gemeinsam führen sie bis Ende 2011 das Performance Projekt „SANCTUARY“ durch, das mit Mitteln der EU-Kulturförderung finanziert wird. Bereits zum zweiten Mal konnte die Dortmunder Künstlergruppe die Jury der EU mit einem schlüssigen und innovativen Konzept überzeugen. Insgesamt 108 Projekte werden von der EU mitfinanziert, 6 davon aus Deutschland, eins davon aus Dortmund.

Kein Wasser runterschütten

Nach der Ruhr2010-Produktion „Kein Wasser runterschütten“ in Essen, folgte Malta als Station der Recherche um Schutzräume und Heiligtümer. „Die Malteser sind anders“, hört man dauernd. Die Insel selbst ist ein Schutzraum, zu dem auch zahlreiche Afrikaner fliehen. Direkt gegenüber liegt Libyen. artscenico versucht, den Atem der Insel zu begreifen, veranstaltet Workshops, zu denen kaum jemand kommt, dreht einen Kurzfilm über Hasen und Tänzerinnen und wird am Ende mit neuen Erkenntnissen abreisen.

Das fasst Kameramann Frank Mählen eigenwillig in etwa so zusammen: „Die meisten Touristen auf der Insel sind Briten. Sie sagen: Malta ist wie England, nur in warm. Sie sind äußerlich leicht zu erkennen, denn sie bräunen ihren Körper so wie sie ihre Steaks braten: Medium. Kopf und Schultern krebsrot, der Rest weiß wie die Kreidefelsen von Dover… Da Malta mal zu England gehörte, fahren die Autos hier links. Das ist zum Teil lustig. Du steigst zum ersten Mal hier in ein Auto und stellst fest, he, der hat gar kein Lenkrad! Weniger lustig ist es wenn man versucht die Straße zu überqueren. Man blickt, wie man es in der Schule gelernt hat, zuerst nach links. Dann setzt man einen Fuß auf die Straße, blickt nach rechts, und schafft es gerade noch lebend zurück auf den Bürgersteig. Der Bus kam von rechts! Mittlerweile bin ich so verunsichert, dass ich beim Überqueren einer Straße leicht mit einem „Wackeldackel“ verwechselt werden könnte. Da mein Gehirn einfach nicht begreift woher die Autos kommen schaue ich einfach permanent in alle Richtungen!“

Litauischer Wald

Wald in Birstonas/Litauen

Im Mai hat artscenico das Projekt “Sanctuary Litauen” zu einem einmaligen Erlebnis machen dürfen. Die Künstlerinnen und Künstler lebten im Wald, in einem Hotel, das sie zu ihrem Aufwärmnest gemacht haben. Sie haben Wald und Wiesen erkundet, auf Dächern und in abgestürzten Gängen gedreht. Sie haben in ehemaligen Kantinen, in leer stehenden Holzhäusern, auf Hügeln, in Erdlöchern und auf Bäumen geprobt. Am Ende sahen 300 Zuschauer aus dem Dorf Birstonas die Performances.

Lodz ist schön

“Sanctuary” in Lodz (Polen) war ein aufregendes Erlebnis, eine kreative Mischung aus „wirklichem Leben“ und künstlerischen Interventionen. Die Partnerinstitution, die Academy for Human Economics und das the Patio Art Center, haben mit Künstlern aus ganz Polen eine Ausstellung vorbereitet und durchgeführt. Zusammen mit Tanzstudenten wurden Try-outs, Proben und letztlich Performances entwickelt.

performance in Lodz (Margarita Nagel)

Die Premiere im Patio Art Center bestand aus Ausstellung und Performance in einem einmaligen Wechselspiel, synergetisch und inspirierend, für Künstler und Publikum gleichermaßen.

Lodz hat ein ähnliches Schicksal hinter sich wie das Ruhrgebiet. Hier dominierte die Textilindustrie. Der Ort ist seit langem in einem Prozess des Strukturwandels. Viele ehemalige Industriegebäude beherbergen heute Kunst.

Andere Seiten der Medaillen – Reise in die Türkei

Wenn man seine  Klischee-Bilder auf Reisen mitschleppt, muss man für Übergewicht nichts bezahlen. Kommt man mit weniger Gewicht zurück, klärt das den Blick und der Platz ist frei für Erkenntnisgewinn. Der Verein artscenico setzt sein Projekt fort, fährt nach Ören in die Südtürkei und erlebt eine Gruppe von Menschen, für die Gemeinschaft so selbstverständlich ist wie die Gurke im Cacik.

Basar in Ören

Vorbei an einer Anlage, die am Fuße der Berge liegt und anmutet wie die Kokerei Zollverein, über Serpentinen und schwach beleuchteten Landstraßen, weist ein Schild auf das Hotel hin, das eigens für das Projekt „Sanctuary“ von der türkischen Partnerorganisation „Happy Kids“ aus Ankara angemietet wurde. Dass es direkt am Meer liegt, erlebt man erst am Morgen. Der „heilige Ort des Rückzugs“ hat Fühlnähe zum Wasser. Letzte Reste des Buffets, Kellner, die jeden Augenblick einzuschlafen drohen und Zimmertemperaturen von über vierzig Grad – keine guten Startbedingungen für ein soziales Kunstprojekt.

Sie erleben dann über zwanzig türkische Teilnehmer der Expedition in interdisziplinäre Bereiche der darstellenden Kunst aus Ankara, Istanbul, Antalya, Izmir und anderen Orten. Menschen zwischen zehn und sechzig, Angestellte, Manager, Ärzte, Studenten, Schülerinnen, Behinderte, Filmemacher, Sozialarbeiter – sie bilden eine Gemeinschaft und das Wort „Arkadas“ (Freund) hört man oft. Das beste Englisch sprechen die Kinder, andere bemühen sich, uns ein paar türkische Worte beizubringen.

Publikum zur Performance am Meer in Ören

Auf einem Berg versammeln sich die Sanctuary-Teilnehmer zu einem Mahl mit Talblick. Die aus dem Hotel mit einem alten Chevrolet-Pickup angelieferten Kellner grillen und bereiten vor. Ein Esel wandert durchs hyper-idyllische Bild, Kühe und Bullen werden vorbei getrieben, schwarze Ziegen schauen beim Grillen zu. Ein kleiner, alter Mann aus dem Dorf wird auf einen Stuhl gesetzt. Er ist fast blind. Kinder eilen herbei, um ihm zuzuhören. Er erzählt von sich und seinem Erblinden. Die Eselbesitzerin gesellt sich dazu. Ein anderer Dorfalter holt ein paar Dokumente und zeigt sie Ali, dem Leiter der türkischen Gruppe. Er ist Rechtsanwalt. Beide sitzen sie auf dem Dach der Wasserstelle – Rechtsbeistand unter Olivenbäumen. Oh my God!

Meer-Performance

Freitagnacht findet auf der Bühne am Strand des Ortes Ören eine Vorstellung statt. Gedichte von Hikmet werden deklamiert und gesungen. Das Publikum kennt die Texte. artscenico zeigt kurze Tanzfilme. Die Performance unter Beteiligung von Einheimischen, Urlaubern und der Gruppe um Ali beginnt im Meer, endet auf der Bühne – künstlerisches Neuland aus dem Ruhrgebiet. Bis um vier Uhr morgens wird darüber diskutiert, während ein paar Meter weiter das Meer seine Geräusche hinzufügt und der volle Mond das Licht.




„Four Lions“: Die Grenzen der Komik

Als ich vor Monaten diesen Film in der OF sah, war ich dann doch zu angepisst, um selbst diesen Verriss zu posten. Inzwischen kann man die DVD kaufen. Wer dafür über €12 ausgeben möchte: selbst schuld. Selbst 80ct fürs Friday Special in der Videothek ist da noch zu viel. Aber wie es immer heißt, wir leben in einem freien Land, und jeder kann das halten, wie er will.

Nun aber doch. Passt auch grad in das Sommerloch:

So lustig kann ein Film über Terroristen gar nicht sein, als dass er mich nicht ängstigen würde. Mehr ängstigen als erheitern. Viele sagen, es sei der lustigste Film des Jahres. Totaler Slapstick. Eine schwarze Komödie. Sogar tiefschwarzer englischer Humor. Okay, der schwarze britische Humor hat sich mir nur selten erschlossen. Und eine Freundin von Slapstick bin ich auch nicht gerade.

Dass die vier Protagonisten ausgemachte Deppen sind, ändert nichts an der Tatsache, dass sie Mitbürgern im Namen ihrer Religion nach dem Leben trachten und bereit sind, dafür ihr eigenes „mit einem Lächeln im Gesicht“ zu opfern. Wobei, für die Vier ist es kein Opfer, denn im Jenseits warten ja nicht nur Gott sondern auch jede Menge hübsche Jungfrauen auf sie.

Sie leben in Nordengland und genießen durchaus die modernen Errungenschaften der Ungläubigen des versauten Westens, über die sie sich so erzürnen. Sie unterhalten sich in einem schwer verständlichen Mix aus Cockney/Paki/Afghani/Brit-Slang.

Sie planen also, sich als Mudjschaheddine für den heiligen Jihad in Menschenmengen zu begeben und sich zum geeigneten Zeitpunkt als Selbstmord-Attentäter in die Luft zu sprengen und alle ungläubigen Schweinebacken mitzunehmen.

Im Wohnzimmer bereiten sie per Video einen dilettantischen Bekenner-Rap vor, der voller törichter Statements ist. Dabei fuchtelt einer wild mit einer Waffenattrappe rum. Alles was sie „planen“ scheitert an ihrer Dummheit und Trotteligkeit. Dabei muss dann auch mal ein unschuldiges Tier dran glauben. So weit, so komisch (wobei bestimmt alle Tierschützer und –liebhaber sich empören werden, weil das Tier auch „in echt“ totging – soviel zur Komik).

Die aktuellen Medien sind nun täglich voll von solchen Attentaten, und nicht zu Unrecht haben Menschen überall in der Welt Angst. Es ist ja auch durchaus möglich, dass die echten Attentäter genau so dumm, so verbohrt und fanatisch sind, wie die im Film. Vielleicht unterhalten sie sich auf die gleiche hirnrissige Weise miteinander, wie die im Film. Wer weiß das schon? Tatsache bleibt, dass sie Mörder sind. Und wenn sie nicht die erwünschten Hunderte von Menschen mit in den Tod reißen, sondern nur drei oder vier, die dummerweise zur falschen Zeit am falschen Platz waren, ändert das auch nichts daran: sie sind Mörder.

Einer der vier Jihadisten ist ein britischer Konvertit, und der ist ein völlig verpeilter Fanatiker, der plant, eine Moschee in die Luft zu sprengen, es den westlichen Ungläubigen in die Schuhe zu schieben, um so die gemäßigten Moslems zu radikalisieren. Sie streiten sich andauernd über die Pläne, das Bombenbauen, das Beschaffen der Zutaten dafür, und all das hat auch eine gewisse Komik.

„Ist doch nur ein Film, ist doch lustig, nimm’s nicht so ernst, lach drüber“ werden manche sagen.

Gelacht werden soll (und kann auch bisweilen) über die Dummheit des Quartetts. Aber die Tragik ist ja, dass es ein ernstes und sehr heikles Thema ist. Und dass vermutlich genug (zu viele) Menschen in der Welt rumlaufen, die genauso strunzdumm, verbohrt und fanatisch sind, und tatsächlich so gestrickt sind. Die die Idee gut finden, und die zufällig noch genug Grips haben um erfolgreich zu sein.
Es gibt schon genug Filme, die sich mit Mord, Totschlag und sinnloser Gewalt in der Welt befassen.
Einen lustigen Film über Jihadisten hatte ich nie vermisst.

Was ist als nächstes dran, Mr. Chris Morris (Regisseur), eine Musical-Comedy über 9/11?




Das Salz, der Tabak und die Ärzte

Der Befund ist wahrlich nicht brandaktuell, es finden sich seit den alten Griechen über Molière bis zur Neuzeit immer wieder zahllose Hinweise darauf, somit haben wir eine kulturgeschichtliche Konstante: Ärzte stochern oft im Nebel.

Gestern standen gleich zwei einschlägige Beiträge in der FAZ-Sonntagszeitung. Im einen ging es darum, dass Salzverzehr womöglich gar nicht so gesundheitsschädlich (Blutdruck!) ist, wie bislang weithin angenommen und ziemlich penetrant propagiert. Ja, es gibt sogar eine wachsende Mediziner-Fraktion, die davor warnt, zu wenig Salz zu konsumieren. Längst nicht alle, die diese Meinung vertreten, dürften im Sold der Salz-Industrie stehen. Ähnliche Trendwenden oder auch vergleichbaren Wankelmut kennt die Medizingeschichte zuhauf. Es soll sogar Raucher geben, die darauf hoffen, dass der Tabak eines Tages rehabilitiert wird.

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Im zweiten Artikel wird gleichfalls ein fast schon banal anmutender Dauerbrenner aufgegriffen, nämlich die viel zu hohe Anzahl der Operationen, die eben mehr Gewinn abwerfen und eine bessere Auslastung teurer Geräte garantieren als andere, vielleicht schonendere Methoden. Die Diagnose ließe sich dann schon zurechtzurren, da es ja eh keine letzte Gewissheit gibt.

Solche Texte fallen einem auch deshalb auf, weil man selbst schon ähnliches erlebt hat. Einen gerissenen Fußnagel hat ein Chirurg sogleich mit ambulanter OP unter Narkose entfernen wollen. Da sagt man doch wie Herman Melvilles unsterblicher Erzählungs-Antiheld „Bartleby“: „Ich möchte lieber nicht!“ Und tatsächlich. Ein Dermatologe hat dann eine Tinktur aufgestrichen, die das hornige Gebilde buchstäblich in Wohlgefallen auflöste. Salopp gesagt: Der Chirurg hat das Schnippeln gelernt, also will er auch schnippeln.

Anderer, schon schwerer wiegender Fall aus diesen Tagen: Im Labor erfasste Blutwerte veranlassen zwei Ärzte zu völlig gegenläufigen Diagnosen. Der eine weist mit besorgter Miene in die Klinik ein, der andere entlässt den Patienten sogleich wieder, denn besagte Werte könnten auf zweierlei hindeuten – und hier handele es sich just um die harmlose Variante. Von Bakterien spricht der eine, von Viren der andere. Offenkundig ein Grenzfall. Da fühlt man sich auf unsicherem Gelände. Nicht nur auf hoher See und vor Gericht ist man ist Gottes Hand…

Naiv also, wer bloße Zahlenwerte für objektiv hält. Sie sind durchaus interpretationsbedürftig, denn die Medizin ist in diesem Sinne nicht nur Natur-, sondern auch Geisteswissenschaft – zudem mit handwerklichem und meinetwegen auch „künstlerischem“ Einschlag. Man möchte lieber nicht wissen, wie oft dabei vage, vollends ungesicherte Einschätzungen im Spiele sind. Statt dessen möchte man nur zu gern auf Gespür und Erfahrung der Ärzte vertrauen.




Ein Ausflug an den Südrand des Reviers

Ausstellung "Textil verbindet" im Industriemuseum Ennepetal

Ein kleiner Ausflugstipp: Seit einigen Jahren gibt es am Südrand des Reviers in Ennepetal in einer alten, denkmalgeschützten Gießerei ein beachtenswertes Industriemuseum, das von April bis November an jedem ersten Sonntag im Monat geöffnet hat und – zur Zeit noch – kostenlos besucht werden kann. Es wird geführt von einem privaten Förderkreis, man kann Former- und Gießer-Vorführungen erleben, und auf dem Freigelände an der Neustraße treffen sich zu den Öffnungszeiten Besitzer von PKW- und Traktor-Oldtimern mit ihren Fahrzeugen.

Das Museum liegt auch nur wenige Minuten vom Eingang der Kluterthöhle entfernt, einer der längsten Naturhöhlen Deutschlands.




Der „Simplicissimus“ im Ruhrgebiet

Im berühmten Schelmenroman vom „Simplicissimus“ über den Dreißigjährigen Krieg erwähnt der Autor Grimmelshausen auch den kaiserlichen General Melchior von Hatzfeld. Dieser General hinterließ seine Spur aber nicht nur in der Literatur, sondern auch im heutigen Ruhrgebiet, genauer an dessen Rand, in Hagen und in der heutigen EN-Kreishauptstadt Schwelm.

Der Dreißigjährige Krieg, in dem es vordergründig um die Religionsausübung ging, hatte 1618 begonnen. In den Jahren ab 1622 war auch der Raum südlich der Ruhr zunächst durch die Besetzung mit katholischen (spanischen) Truppen betroffen. In der Stadt Schwelm hielt jedoch die protestantische Bevölkerung auch nach dem Abzug der Spanier an ihrer reformierten Konfession fest.

Titel des "Simplicissimus"

Darüber ärgerten sich die verbliebenen Katholiken so sehr, dass sie 1630 die kaiserlichen Soldaten aus dem bergischen Radevormwald und aus Lennep herbeiriefen, die dann „die Stadt ganz und gahr ausplünderten“, wie der Historiker Gerd Helbeck in seinem lokalgeschichtlichen Werk zitiert. Der Erbkirchrat der Schwelmer Kirche, Junker Georg von Vaerst, wurde gefangen genommen, sein Wohnhaus total verwüstet.

Erst 1631 gab der Droste von Wetter der lutherischen Gemeinde Schwelm ihre Kirche zurück, denn inzwischen hatten die protestantischen Schweden in den Krieg eingegriffen und die Position des hier in der Grafschaft Mark herrschenden Kurfürsten von Brandenburg gestärkt. Unter anderem erlebten die Schwelmer 1632 den Einzug eines Finnischen Regiments.

Nicht nur Schwelm, auch viele andere Städte mussten in diesem Krieg immer wieder Plünderungen und Brandstiftungen hinnehmen oder sich durch Zahlungen an die Soldaten und ihre Anführer frei kaufen. Dann gab es einen Schutzbrief, von denen mehrere in Schwelm erhalten geblieben sind.

Zu den Schutzmaßnahmen der Stadtbürger gehörten auch die Ausgaben für Boten und Kundschafter, damit man frühzeitig von der heranziehenden Soldateska oder von marodierenden Freibeutern erfuhr. Die Bürger suchten dann Fluchtorte aus, zum Beispiel in der Kluterthöhle in Altenvoerde (heute Ennepetal), und sie versteckten ihre Wertgegenstände. So ist zu erklären, dass sich immer wieder Münzen und Gegenstände aus dieser Kriegszeit in Verstecken oder im Boden finden.

Im September 1640 zog der zu Beginn erwähnte General von Hatzfeld in Schwelm ein. Mit seiner Einheit wollte er weiter nach Hagen, und um den Weg zu finden, musste ihn ein Schwelmer Bürger begleiten. Dieser Dienst wurde entlohnt, und über das Entgelt ist ein Eintrag in der Schwelmer Stadtrechnung erhalten. Insgesamt hat die Stadt Schwelm in den Jahren 1640/41 für Erpressungen, Kontributionen und sonstige kriegsbedingte Zahlungen fast 1700 Reichtaler ausgegeben.

Mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück endet 1648 der Dreißigjährige Krieg. Für den Bekenntnisstand wurde darin als Stichjahr 1624 festgelegt, und für Städte mit gemischten Konfessionen wurde die Gleichheit der Bekenntnisse hergestellt. Daher gab es auch in Schwelm nach Kriegsende weiter eine reformierte und eine katholische Gemeinde.




„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ – die Prospekt-Prosa der Buchverlage

Klappentexte tendieren bekanntlich dazu, noch das vertrackteste Werk in rasch konsumierbare Formeln zu pressen. Da sind nicht selten Meister der gerade gängigen Floskeln am Werk. Ein lesenswerter „Zeit“-Artikel hat das Genre jüngst wieder aufgegriffen.

Ganz ähnlich, ja zuweilen wortgleich ergießt sich der Schwall aus der Prospekt-Prosa der Buchverlage. Ob nun Testimonials oder lobhudelnde Pressezitate ausposaunt werden, oder ob der Marktjubel direkt aus den PR-Abteilungen tönt – vieles scheint abrufbereit auf den Sicher-Hole-Tasten zu liegen. Manchmal hört sich das an wie auf dem Hamburger Fischmarkt, dann wieder raunt und säuselt es so filigran feingeistig, dass einem Rilke die Tränen kämen.

Die folgende kleine Kollektion aus Originalzitaten wird ganz bewusst ohne Ansehen der Einzelbücher präsentiert, es geht ja allgemein um den Sound solcher Werbung. Die Beispiele entnehme ich den aktuellen Herbstkatalogen einiger bekannter Verlage, wobei ich in kursorischer Durchsicht ausschließlich bei der Belletristik nachgeblättert habe. Mehr wäre über meine Kräfte gegangen.

Wie bitte? Doch, doch. In kleinen oder größeren Feuilletons finden sich immer mal wieder ähnliche Formulierungen. Es ist halt nicht leicht, dem jeweils waltenden Jargon zu entgehen. Und so wage niemand zu sagen, er wäre gänzlich frei davon. Als Essenz dieser laufenden Saison empfehlen sich übrigens Satzmuster, in denen wahlweise von bewegender, funkelnder oder schonungsloser Sogwirkung die Rede sein müsste. Oder so ähnlich.

Hier nun ein paar Beispiele, hilfsweise einsortiert:

Aufhebung der Gegensätze
„Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber das macht nichts. Das Komische und das Tragische sind hier in höchster Form vereint.“ (Wagenbach)
„Ein Feuerwerk aus Mord und Schönheit“ (Galliani)
„Ein zeitdiagnostisches und ein Warnbuch also und doch auch ein Buch der Courage und der Glückserfahrung…“ (Suhrkamp)

Zielgruppenarbeit
„Ein herrlich lakonisches Buch für Rotweinliebhaber, in die Jahre gekommene Motorradfreaks, Geschiedene, Gelegenheitsphilosophen und Lebenskünstler…“ (Wagenbach)
„700 000 glückliche Leserinnen freuen sich“ (Knaur)

Dreifacher Ausruf
„Sogwirkung! Psychohölle! Grausige Faszination!“ (Droemer)
„Rasant, waghalsig, schonungslos“ (Hoffmann und Campe)
„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ (Kiepenheuer & Witsch)

Die Kunst des Vergleichs
„Der britische Philip Roth!“ (Daily Mail-Zitat bei DVA)

Schneller, höher, weiter
„Der härteste…, den es je gab“ (Grafit)
„Der ungewöhnlichste erotische Roman, den Sie je gelesen haben“ (Rowohlt)
„Der schönste Roman, den…je geschrieben hat“ (Hoffmann und Campe)
„Einer der lustigsten Romane aller Zeiten“ (Daniel Kehlmann-Zitat bei Suhrkamp)
„…läuft zur Höchstform auf“ (Kindler)

So sind sie, die Schriftsteller
„Wie kaum ein zweiter versteht er es, Spannung mit Tiefgang zu erzeugen, indem er Seelen in all ihren Schattierungen auslotet. Dabei erweist er sich zudem als schonungsloser Chronist unserer Zeit.“ (Grafit)
„…ist ein großer Kenner der Menschen und ihrer Einsamkeit“ (SZ-Zitat bei Suhrkamp)
„…ist ein Meister der Ambiguität und setzt mit seiner präzisen, schlichten Sprache Katastrophen wirkungsvoll in Szene“ (Wagenbach)
„…vibriert das Temperament einer wirklichen Erzählerin“ (Kunstmann)

Unverwüstliche Klassiker / Retro-Stil
„Eine bewegende Lebens- und Liebesgeschichte in Zeiten von Krieg und Revolution“ (Insel)
„Ein überraschendes Buch eines außergewöhnlichen Künstlers“ (Aufbau)
„Ein verstörender Roman, der wie ein konventioneller Thriller beginnt und sich langsam in einen surrealen Albtraum verwandelt.“ (Kunstmann)
„…tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…klanglich genau komponierte und einen heimlichen Sog ausübende Gedichte“ (Luchterhand)
„Ihre Erzählungen sind von geradezu elementarer Wucht“ (Diogenes)

Ein weites Feld
„Natur- und Landschaftsbilder von äußerster Konzentration und eigentümlicher Stille“ (Suhrkamp)
„Ein groß entfalteter und bewegender Roman über die Möglichkeit des Bösen und die Unmöglichkeit einer Liebe“ (Insel)
„Ein Roman, der sich den Lesern in einem unausweichlichen Sog tief ins Gedächtnis gräbt“ (Rowohlt)

Tröstungen
„Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.“ (Suhrkamp)
„…schlägt…einen großen Bogen von tiefer existentieller Qual zu Hoffnung und Versöhnung.“ (Luchterhand)

Alles drin, alles dran!
„Überdosis Leben. Der schonungslose Roman…über eine Generation zwischen Freiheit und Gleichgültigkeit“ (Rowohlt Berlin)
„Sex, Gewalt, Unschuld und die unbestimmte Sehnsucht nach Leben“ (Eichborn)
„…und liefert zugleich ein flirrend lebendiges, atmosphärisch beeindruckendes Zeitporträt“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…als Zeitdokument, als anrührende Autobiographie und als sinnlicher Roman“ (Diogenes)

Der besondere Ratschlag
„Dieses Buch sollte man mehrmals inhalieren“ (Gary Shteyngart-Zitat bei Eichborn)

Das Gottesurteil
„Günter Grass ging beim gespannten Zuhören die Pfeife aus“ (FAZ-Zitat bei Rowohlt)

Was sonst noch unsortiert im Baukasten herumliegt
Kultstatus, unwiderstehlicher Sog, eines der schönsten Bücher des Jahres, die literarische Sensation des Herbstes, einer der besten spanischen Romane, der wahrscheinlich interessanteste Autor seiner Generation in der französischen Gegenwartsliteratur, Kultbuch aus Griechenland, der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation, ist in einem Atemzug mit dem großen Halldór Laxness zu nennen, das wohl persönlichste Buch des großen Erzählers, packender historischer Justiz-Thriller, beängstigend realistischer Politthriller, der Weltbestseller, es gibt keine Steigerung, herzerwärmender Roman, ein außergewöhnlicher Roman, sein letzter Roman, funkelnde literarische Kleinode, geschichtensatter großer Roman, aufrüttelndes Buch, ein literarisches Meisterwerk, einfach brillant, große deutsche Literatur, ein Frauenroman im allerbesten Sinne, kommt ein neuer Ton in die deutsche Literatur, taumelnde Allegorie, erzählt bei aller journalistischen Nüchternheit von berührenden Schicksalen, herzzerreißend komischer Roman, Lesevergnügen der amüsanten Art…

Bonus-Track: Debütanten
Berührender Debütroman, ein aufregendes Erzähldebüt, erfrischendes Romandebüt, ein begeisterndes Debüt, ein erstaunliches Debüt, umwerfendes Debüt, „Ein Debüt, das funkelt, flirrt und fiebert“




Alles ist ermattet, doch Elvis lebt!

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)


Die Mehrheit der „Revierpassagen“-Autorinnen und Autoren ist derzeit auf Reisen, weite Bereiche des Kulturbetriebs haben jetzt eh geschlossen. Ohnehin hat der Müßiggang seine unwiderstehlichen Reize…

Aber das ist ja das Schöne am Bloggen. Während Zeitungen im Druck und mit ihren Ablegern im Netz sich abquälen müssen, trotz alledem täglich ihre Seite(n) zu füllen (ein bis auf weiteres unvergängliches Motto dabei: „Große Bilder sind schnell geschrieben“), können wir es zuweilen geruhsamer angehen lassen.

Aus gutem Grund haben wir niemandem tägliche Lieferungen versprochen, erst recht kassieren wir nicht für Abo oder Einzelverkauf, auch erheben wir keinerlei Gebühren, stecken ferner null Subventionen oder sonstige Zuschüsse ein.

Doch wenn auch die hiesige Kulturkritik ein wenig ermattet darnieder liegt und sich allenfalls zum sommerlichen Kriechgang aufrafft, so steht doch eines felsenfest: Elvis lebt! Auch unser bei typischem Sommerwetter entstandenes Fotos beweist es wieder.




„Midnight in Paris“: Woody Allen und die Nostalgie

Der Herr Woody Allen filmt in den letzten Jahren so oft in Europa, dass ich den Verdacht habe, dass er in all den Städten einfach ausgestiegen und für ein Weilchen dageblieben ist, weil sie ihm gefielen. Wie Clint Eastwood in „The Bridges of Madison County“. Kaum hat er London, Barcelona und Paris erlebt, dreht er schon in Rom.

Aber jetzt „Midnight in Paris“: schon beim allerersten Bild, bevor der Vorspann kam, begann meine Verliebung. Ich nostalgierte sofort beim Anblick dieser zärtlichen Schwenks über Arondissements, Straßen, Alleen, Parks und der Brücken über die Seine! Diese liebevolle Musik! Genau da wär ich ausgestiegen aus dem Zug und wäre geblieben. Aber ich kenne Paris schon, und trotzdem bin ich ausgestiegen. Und eingestiegen, mitgefahren auf dieser romantischen Zeitreise.

Denn das ist es, eine Zeitreise. Ich kann über diesen Film gar nichts schreiben, ohne nicht wenigstens ein paar klitzekleine Spoiler preiszugeben. Die Reise geht in die Roaring Twenties. Oder waren es die Golden Twenties? Das Jazz-Age?

Szenenbild (Concorde Filmverleih)

Der junge Hollywood-Schreiberling Gil (Owen Wilson) ist allerdings erst mal mit Braut Inez (Rachel McAdams) und Schwiegereltern in spe als Tourist im Paris der Gegenwart unterwegs. Er hat seinen 400-Seiten Roman über den Betreiber eines Nostalgieladens in der Tasche. Seine zukünftige Familie – laute, neureiche Amerikaner, wie sie jeder Europäer zu kennen glaubt – muss er hin und wieder mal ausblenden. Und bei diesem Ausblenden findet er sich unversehens in Gesellschaft all der illustren Gestalten der bewussten Zwanziger. Plötzlich ist Hemingway sein Gesprächspartner, „Gert“ Stein (großartig: Kathy Bates) will sich mal seinen Roman ansehen, sobald sie damit fertig ist, Picassos abstraktes Gemälde einer schönen jungen Frau in Grund und Boden zu stampfen. Ansonsten hängt er ab mit Zelda und Scott, mit Salvador und Bunuel. Unversehens lebt er in seiner eigenen Nostalgie.

Er transportiert seine Begeisterung für das Lebensgefühl der goldenen Zeit in die Gegenwart, und die freundlichste Reaktion seiner Braut ist: „Your brain tumor is acting up“. Owen Wilson gehört nun wirklich nicht zu meinen Favoriten, aber für diese Rolle hätte ich mir keinen Anderen vorstellen können. Er ist der Woody in diesem Gil, der nicht nur seine Zeitreise in die Vergangenheit hat. Gil hat eine Zukunft.
Ich musste den einfach lieben, und so wird es vielen gehen, auch wenn man noch nicht franko-, pariso- oder bibliophil ist. Man wird es. Wenigstens für die Dauer dieses Films. Und vielleicht bleibt auch ein bisschen davon hängen. Mit einem Schuss Woodyphilie. Das wäre schön.

Samstagabend nochmal um 21:30h im Cinenova Open-Air in Köln.
Ab 18. August 2011 in den Kinos.

(Szenenbild – Rechte: Concorde Filmverleih)




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Der Dirigent im kalten Bachwasser

Zum Thema Sergiu Celibidache läuft in der Westfälischen Rundschau derzeit eine interessante Sonderseite „Kultur extra“. Dazu hier eine erweiternde Anekdote:

Sergiu Celibidache

Als nach dem Ende des Krieges 1945 in den Großstädten des Rhein-Ruhrgebietes die Opern und Konzertstätten durch Bomben und Brände zerstört waren, mussten Theaterensemble und Orchester auf umliegende Kleinstädte ausweichen.

So kam es, dass in der Industriegemeinde Milspe (gehört seit 1949 zu Ennepetal) das ehemalige „Gefolgschaftshaus“ der Firma ABC („Spax“-Schrauben) unter dem neuen Namen „Haus der Kunst“ ein vielbesuchter Veranstaltungsort wurde. Mehr als 40 000 Besucher kamen in den ersten beiden Nachkriegsjahren, um Schauspieler aus Wuppertal, Düsseldorf oder Essen zu sehen.

Zu den „Gastspielern“ gehörten mehrfach auch die Berliner Philharmoniker. Ihr Dirigent war Sergiu Celibidache, der vor seinem ersten Auftritt an einem warmen Sommerabend den Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Freien äußerte. Man führte ihn zu einem nahen Hammerteich, den auch die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zum Schwimmen nutzten. Natürlich war das Bachwasser ziemlich kalt, aber Celibidache war zufrieden und schritt am Abend erfrischt zum Dirigat.




Horst Evers: Notizen aus dem skurrilen Alltag

Für Eile fehlt mir die Zeit Wenn sie ihm auch für Eile fehlt, für eine neue Buchveröffentlichung hat Kabarettist Horst Evers die Zeit gefunden. Wie in den fünf vorangegangenen Büchern ist auch dieses eine Sammlung von Alltagsgeschichten – von skurril bis surreal.

Evers, der den Namen seiner Geburtsstadt Evershorst (Niedersachsen) als Pseudonym benutzt, ist leidgeprüfter Wahlberliner und findet nicht nur, aber bevorzugt dort die Sujets seiner mit Lokalkolorit gewürzten Geschichten. „Wir nehmen allen Berlinern die Hunde weg und geben ihnen dafür 4 Eier. Dann lägen auf den Bürgersteigen Eier und wir hätten das ganze Jahr Ostern“. Spätestens seit dem „Ganzkörperadventskalender“ und Auftritten beim „Satiregipfel“ in der ARD ist er auch über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus bekannt.

Die Erzählungen sind unterteilt in die Abschnitte Frühling, Sommer, Herbst, Winter und zweiter Frühling. In ihnen beschreibt Evers Alltagssituationen mit hohem Wiedererkennungswert – vom heimischen Innenhof bis zur Fahrt mit der deutschen Bahn. So wie die Geschichte vom Vater, der verzweifelt versucht, zur Vervollständigung der Hausaufgaben seiner Tochter ein Säugetier mit U zu (er)finden. Wobei der Leser die Situationen zwar oft wiedererkennt, aber mit einem insgeheimen Seufzer der Erleichterung denken mag „Gut, dass wir soweit noch nicht sind.“ Um mit dem nächsten Seufzer zu zweifeln „Könnte aber jederzeit so weit kommen“. Manch überzeichenete Alltagssituation ist eben nur einen Schritt von der Real-Satire entfernt.

Horst Evers zeichnet seine Figuren und Geschichten wohl mit spitzer Feder und zumeist feiner Ironie, doch ein Meister der gehobenen Bösartigkeit ist er nicht und möchte das wohl auch nicht sein. Zielsicher legt er den Finger in die Wunden, aber er dreht ihn nicht auch noch um. Sich selber und seine zuweilen eigenwilligen Erziehungs- und Lebensbewältigungsmethoden verschont er dabei nicht. Nicht immer gelingt ihm dieser sprachliche Balanceakt. Kalauer wie „hätte,hätte, Herrentoilette“ sind der Lesbarkeit nicht unbedingt dienlich. Evers beginnt seine Geschichten witzig, um im Laufe des Erzählflusses vom „Höcksen auf Stöcksken“ zu kommen. Das ist zwar recht unterhaltsam, führt aber dazu, dass sich die Kreise seiner Geschichten nicht immer rund schließen und manchmal auch ins Klamaukige abdriften. Gut hingegen gelingt ihm der Kunstgriff, Figuren wie „Jack Bauer“ oder „Captain Kirk“ in seine Geschichten einzubauen und zu zeigen, wie diese die Situationen gelöst hätten.

Informiert man sich im Internet über Evers, sei es auf seiner Homepage oder in diversen Videoaufzeichnungen seiner Auftritte, verdichtet sich der Eindruck: Das Buch alleine funktioniert nur bedingt. Als Gesamtkunstwerk – mit den Hintergrunderläuterungen auf seiner Website oder gehört und vorgetragen – wirken die Geschichten erst richtig.

Im Internet wird  Horst Evers im Übrigen schon lange heimlicher und unerkannt gefeiert. Obwohl ich vor der Lektüre weder Leseproben noch Videos zu den Geschichten gesehen hatte, kam mir doch etliches sehr bekannt vor. Wohl aus dem Kurznachrichtendienst meines Vertrauens, wo der ein oder andere Spaßvogel sich griffiger Evers-Sätze bedient und diese ins „Twittuniversum“ zwitschert. Verständlich. So manche seiner Sätze und aufgeworfener Fragen wie „Was könnte man nicht alles machen, wenn man sich mal die Mühe machen würde“ oder mein Favorit: „Solche Orte gibt es ja, wo ein Gespräch über Tanztheater einfach nicht richtig in Gang kommt“ funktionieren in der Tat einzeln signifikant besser als im Kontext. Die alte Formel „Nachahmung ist eine hohe Form der Anerkennung“ gilt wohl auch für Horst Evers.

Horst Evers: „Für Eile fehlt mir die Zeit“. Rowohlt Verlag, Berlin. 222 Seiten, 14,95 Euro

Homepage des Autors:  www.horst-evers.de




Von Vermittlung und Verblödung

Für sein Buch „Die Leichtigkeitslüge“ hat Holger Noltze, Professor für Musikjournalismus an der TU Dortmund, viel Beifall erhalten – aber auch ein paar Buh-Rufe aus der Branche. In dem Band mit dem Untertitel „Über Musik, Medien und Komplexität“ vertritt er eloquent seine These: Kunst- bzw. Musikgenuss ist nicht so leicht zu haben, wie viele Programme zur Musikvermittlung es behaupten. Wer ästhetische Erfahrungen machen wolle, müsse auch Anstrengung zulassen. Ein Großteil der gut gemeinten Programme laufe nicht nur ins Leere, sondern banalisiere auch noch das Werk, um dessen Vermittlung es eigentlich gehen solle. Ein vermittelndes Gespräch mit dem streitbaren Professor.

Geredet wird zurzeit ja viel davon, aber was ist das eigentlich: Musikvermittlung?

Noltze: Musikvermittlung ist alles, was zwischen einem musikalischen Kunstwerk und uns Hörenden passiert. Das kann Musikunterricht sein, eine klassische Konzerteinführung, eine Konzertbesprechung in der Zeitung, aber wenn ich Ihnen erzähle, was ich gestern Abend gehört habe, ist das auch Musikvermittlung. Auch eine Fernsehsendung, auch ein Youtube-Video sind Musikvermittlung. Musikvermittlung ist vieles, und sie ist sehr wichtig.

Mögen Sie den Begriff? Er ist ja sehr technisch, wo es doch eigentlich darum geht, Faszination für Musik zu wecken …

Ich habe sehr viel darüber nachgedacht … ach, eigentlich habe ich nichts gegen den Begriff. Auch bei Goethe kommt ein Mittler vor, es ist ein ehrwürdiges Wort. Meine Kritik setzte da ein, wo etwas passiert, was ich als Projektion bezeichne: Ich habe hier einen schwierigen Inhalt: Neue Musik, oder den späten Beethoven, oder die Kunst der Fuge. Und dort habe ich das Publikum. Und ich habe ein Problem: Das Publikum wird älter. Es wird weniger. Die Musikvermittler wollen glauben machen, mit ihnen werde alles gut, mit ihnen werde sich der Gegenstand schon erschließen und weiterleben. Dagegen ist erstmal  nichts zu sagen. Musik ist schließlich stark an die Aufführung gebunden. Ich kann sie eben nicht wie eine Werkausgabe ins Regal stellen oder an die Wand hängen, sondern sie ist präsent. An die Aufführung gebundene Musik verlangt danach, dass der Zugang zu mir gelegt wird. Das ist ja auch das, was wir hier lehren und erforschen wollen: Musikjournalismus als logischer zweiter Flügel neben der Musiklehrerausbildung; Kommunikation über Musik, die über Medien geht.

Was ist dann das Problem?

Durch die Einführung des Wortes Musikvermittlung fühlten sich plötzliche viele Leute dafür zuständig. Es macht ja auch Spaß, über Musik zu reden. Jetzt passiert etwas Merkwürdiges: Es gibt zwar ein Problembewusstsein unter den Musikvermittlern, aber auch eine große Bereitschaft, sich toll zu finden und permanent auf die Schulter zu klopfen, denn man macht etwas mit Kindern, Mozart ist eh gut, man hat einen fraglos guten Inhalt … Dabei läuft durchaus nicht alles so toll, wie die Fotos mit den glänzenden Kinderaugen glauben machen. Ich finde, es gibt zu viel Zufriedenheit und zu wenig Selbstkritik. Es bildet sich eine Blase, eine heile Welt der Musikvermittlung, und draußen passiert etwas ganz anderes. Aber das will man nicht sehen, denn das ist unkomfortabel.

Was passiert denn da draußen?

Es gibt zum Beispiel musikalische Programme, die an die Schule angedockt sind. Nur in der Schule kann man alle erreichen – jedenfalls da, wo es Musikunterricht gibt. Aber jenseits der Schule erreichen Sie nur noch spezielle Milieus, die Kinder der Abonnenten. Und die haben die Neigung, sich unter sich wohl zu fühlen und das Draußen auszuklammern.

Sie haben im Schwerpunkt Germanistik und Spanisch studiert. Wer hat denn Ihnen Musik vermittelt?

Es gab Musik in der Familie; mein Opa war Musiker. Aber als ich Klavier lernen wollte, musste ich anklopfen und darum bitten. Mein Vater war Bergmann, ein Klavier im Haus war nicht selbstverständlich. Deshalb habe ich das auch eine Art Geschenk empfunden, ich wollte es gerne. Ich bin nicht belämmert worden. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, Musik ist für mein Leben wichtig. Da tut sich ein anderes Feld auf, das mich bereichert, das mich durch Krisen trägt und mir wichtig ist. Mein bester Freund Christoph war Fußballfan. Er hat mir von Westfalia Herne erzählt und ich habe ihm das Meistersinger-Vorspiel vordirigiert. Das war ein selbstverständlicher Austausch, und so geerdet gefällt mir das gut.

Wenn Sie sagen, Sie seien nie mit Musik „belämmert worden“, meinen Sie damit Ihre Eltern. Gab es damals Musikvermittlungsprogramme, etwa in Schulen?

Meinen Musikunterricht würde man heute wohl als abschreckend empfinden. Der Inhalt wurde einem hingestellt: friss oder stirb. Wenn ich sehe, was heute im Musikunterricht bei meinem Sohn passiert, dann läuft das oft anders herum: Macht doch mal ein Referat über eure Lieblingsband. Das ist ja auch in Ordnung. Aber wenn Sie den Kindern dann mit Mozart kommen, klappen die Ohren wieder um. Die Kolleginnen und Kollegen, die hier in Dortmund schon seit Jahren Musiklehrerausbildung machen, sind ausgesprochen findig darin, wie man neben der Freude am Wiederfinden des Bekannten auch eine Freude am Entdecken von etwas Neuem entwickeln kann. Zusammen mit dem neuen Studiengang Musikjournalismus ist das ein riesiges, sehr praxisorientiertes Labor für Vermittlungsfragen.

Was sollten Musiklehrer denn Ihrer Meinung nach tun?

Ich versuche die angehenden Musiklehrer, die in meinen Seminaren sitzen, zu ermutigen, mit erhobenem Haupt in die Schule zu gehen. Nicht zu denken, Mathematik sei das Wichtige und Musik nur die Zugabe. Nein! Ihr seid wichtig. Musik ist kein Orchideenfach. Die Leute, die wir hier ausbilden, sollen das, was sie tun, mit Passion tun. Und diese Leidenschaft, das Entzündlich sein für eine Sache, kann auch andere anstecken. Was wir nicht mehr machen können: Beethoven als Bildungsinhalt ausweisen, den man verinnerlichen muss, weil das eben so ist. Das wird nicht funktionieren, da man heute traurigerweise sehr gut durch diese Welt kommt, ohne etwas von klassischer Musik gehört zu haben.

Musikunterricht ist ja nichts Neues – woher kommt die beschriebene Blase, der Boom an Musikvermittlung?

Im Jahr 2002 kam der Dokumentarfilm „Rhythm is it“ heraus: Die Berliner Philharmoniker und der Choreograf Royston Maldoom machten mit Berliner Brennpunkt-Kindern ein Tanzprojekt zu Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Diesen Film haben unglaublich viele Menschen gesehen, es war der erfolgreichste Dokumentarfilm in diesem Jahr. Viele haben geweint – ich auch, denn es war rührend zu sehen, wie sich Fenster auftun bei denen, die Strawinsky eigentlich so fern sind, wie man sich das nur vorstellen kann. Es war der Beweis: Musikvermittlung kann gelingen, wenn man nur entschieden genug ist. Wenn man auch klar macht: Es ist eine ernste Sache. Es ist nicht nur Spaß. Da gibt es diese Szene, wo das Projekt fast kippt, weil es nicht voran geht. Es gibt eine Grundsatzdiskussion, eine Gruppe Mädchen giggelt, und da sagt der Choreograf: Was lacht ihr denn da so? Die Mädchen antworten: „Wie, det soll doch Spaß machen hier. Lachen is jesund, wa?“ Und dann sagt Maldoom: „Das könnt ihr so sehen. Aber für mich ist es ernst.“ Und er erklärte ihnen, warum das Tanzen für ihn so eine Lebenswichtigkeit hat. Das Projekt ging dann weiter.

Eine wunderschöne Erfolgsgeschichte…

Ja, aber daraufhin haben viele, die eben nicht die Berliner Philharmoniker sind, gedacht, wir müssen auch so etwas machen. Und wo ein Bedarf ist, sind sofort auch Leute, die ihn füllen. Jeder Boom schwemmt auch Mittelmaß nach oben, und die Gefahr ist, dass man darüber den Maßstab verliert und sich nicht mehr traut, weiterzugehen. Was ist kritisiere, ist, wenn Vermittlung bloß noch über Vereinfachung läuft. Dass sie den Gegenstand so sehr verkleinert, bis er eine Pille ist, die man noch reinkriegt. Ich kann aber nicht den Wert von Bach oder Mozart ständig behaupten und dann die Sache selber so abschaben, bis gar nichts mehr übrig bleibt.

Ein Beispiel?

2006 war Mozart-Jahr, und die Medien waren voll von ihm. Was aber da von Mozart übrig geblieben ist, ist schon sehr traurig. Mit Musik hatte das gar nichts mehr zu tun, gar nichts. Aber ich glaube schon, dass es eine Chance gegeben hätte! Man darf nur nicht so mutlos sein, man muss eine Faszination wecken auch für das, was nicht so einfach ist. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, und ich behaupte, es gibt noch das Bedürfnis nach Musik, es gibt auf jeden Fall das Bedürfnis nach anderen Erfahrungen. Und die mache ich, wenn ich meine Alltagswahrnehmung hinter mir lasse. Das kann ich aber nicht, wenn alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht wird. Der ist uninteressant. Damit speist man das Publikum ab, nimmt es nicht ernst.

Aber ist es nicht erst einmal gut, die Leute über die Schwelle zum Beispiel eines Konzerthauses zu führen? Man kann sie dort dann ja ruhig stehen lassen – und hoffen, dass sie nun Eigenmotivation entwickeln, denn ohne die geht es eh nicht weiter.

Ja, aber was meiner Meinung nach nicht geht, sind Vermittlungsmodelle à la Elke Heidenreich, über die ich in meinem Buch ein großes, bisschen böses Kapitel geschrieben habe. Sie hat die Oper entdeckt. Und dass sie in jeder Oper weinen kann. Sie vermittelt: Wenn du auch weinen willst, dann geh mir nach. Es gibt Leute, die ihr glauben und die ihr nachgehen. Sie macht das ja auch eloquent und immer beglaubigt durch ihre eigene Rührung. Ich behaupte aber und kann das auch belegen: Sie bringt die Leute bis an das Portal, an dessen Ecke sie steht und redet und weint, und die Leute gehen durch, und dann sind sie tatsächlich allein. Sie merken, sie müssen gar nicht weinen. Stimmt irgend etwas nicht mit ihnen? Das ist dann ein fauler Zauber, ein falsches Versprechen, das gemacht wird.

Aber sie waren da in der Oper, und es hätte passieren können. Immerhin waren sie da!

Es hätte passieren können, aber wenn, dann nicht wegen Elke Heidenreich. Ich glaube, dass die Enttäuschung: hat nicht geklappt mit dem Weinen,  bei den Menschen letztlich dazu führt, dass sie nicht mehr wiederkommen werden. Und über Inhalte zu reden, vermeidet Elke Heidenreich konsequent. Sie redet nur über Emotionen.

Ein Kollege von Ihnen hat in der Neuen Musikzeitung (nmz) ebenfalls den „Vermittler-Hokuspokus“ kritisiert und behauptet, klassische Musik könne man erst mit reifen Ohren ernsthaft hören. Stimmen Sie zu?

Ich glaube, das hat er jedenfalls nicht exkludierend gemeint. Mein Kollege Hans Christian Schmidt-Banse, der das geschrieben hat, hat natürliche Jahrzehnte von Erfahrung und misstraut der schönen neuen Vermittlungswelt… Immerhin sind wir ja schon etwas schlauer. Ein Kollege in Paderborn hat festgestellt: Es gibt eine Phase der Offenohrigkeit für alle Arten von Musik, und die geht, raten Sie mal: Von null Jahren …

… bis 13 Jahren?

Genau. Wenn die Pubertät ihr grässliches Haupt erhebt, ist es erstmal vorbei. Mein Sohn war ein großer Fan von Strawinsky, und zwar, weil er den Disney-Film „Phantasia“ gesehen hatte, in dem „Le Sacre du Printemps“ vorkommt. Und wenn ich ihm, dem damals Fünfjährigen, einen anderen Strawinsky aus der gleichen Phase vorgespielt habe, dann sagte er: Das ist die Dino-Musik. Er fand es toll. Diese Phase ist nun vorbei, jetzt gibt es nur noch Hard-Rock, in Abgrenzung zu Papa. Faszinierend ist jedenfalls, dass in dieser Phase Musik existenziell wichtig wird. Auf einmal definiert man sich über Musik. Die Frage ist nur, was nach der Pubertät passiert. Und ob man vorher auch mal eine positive Erfahrung mit anderer Musik gemacht hat.

Wie könnte Musikvermittlung das erreichen?

Ich habe auch keine Patentrezepte, aber man sollte erst einmal gewisse Fehler vermeiden. Zum Beispiel den, Musik als Zwangs-Bildungsinhalt zu behandeln. Es kann eine so tolle Erfahrung sein, schöne Klänge zu hören. Vermittlung sollte sich verstehen als Zugangserforschung an musikalischen Kunstwerken. Dabei müssen sich die Zugänge an der Kreativität der Kunstwerke messen und nicht an dem, was im Konzertführer steht. Natürlich geht das nicht ohne Anstrengung; wir müssen uns ein bisschen reinhängen, wenn wir etwas von der Sache haben wollen. Es wird aber gern vorgegaukelt, das sei nicht so, denn alle wollen ihre Projekte verkaufen.

Was würde wohl Beethoven über die heutigen Formen der Musikvermittlung denken?

Beethoven ist vielleicht nicht das typische Beispiel, der wollte ja die Menschheit erreichen, aber Künstlern ist meist relativ egal, was um sie herum passiert. Das kann ich auch verstehen. Wer sich auf seine Kunst konzentrieren will, der muss nicht dauernd als Postbote seiner Botschaft unterwegs sein. Genau dafür wollen wir unsere Studenten hier ja auch ausbilden. Wir wollen Leute, und das ist unser Alleinstellungsmerkmal, die sich am Ende formal, technisch, handwerklich in Musik auskennen und die auch das Mediengeschäft kennen. Musikjournalismus war bisher kein Lehrberuf, sondern immer eine Art biografischer Unfall. Und ich bin sicher, dass für Kommunikatoren über Musik ein Bedarf da ist, der sogar noch steigen wird. Aber es geht auch ein bisschen darum, die Welt zu retten.

„Der Musikjournalist nach Dortmunder Art ist auch Therapeut, Dolmetscher und Muntermacher. Er glaubt an die Genesung der Klassik“, schreibt die ZEIT. Stimmen Sie der Charakterisierung zu?

Ja. Ich will Motivation generieren. Und ich bin grundsätzlich optimistisch, allerdings kritisch mit dem Zustand des Betriebs. Kürzlich gab es ein Streitgespräch für die Zeitschrift „Das Orchester“, und da fragte mich mein Gegenüber, warum immer meckere. Ich antwortete, dass sich bei einem Arztbesuch doch auch nicht erzähle, was alles nicht weh tut. Da sagte er: Aber der Patient ist grundsätzlich doch gesund! Genau das glaube ich eben nicht. Der Patient kränkelt stark, der Umgang der Gesellschaft mit dem Gegenstand Musik ist nicht so, wie es sein könnte. Aber ich bin Optimist, denn wir haben ein großes Kapital. In jeder mittleren Stadt gibt es ein Orchester. Das ist ein unglaublicher Reichtum, der uns vergleichsweise gar nicht viel kostet, aber man muss diesen Schatz heben. Das macht mich kribbelig. Ich habe das Gefühl, da kann man mehr machen.

Zur Person

Dr. Holger Noltze hat als Professor für Musikjournalismus seit 2005 den Studiengang „Musik und Medien / Musikjournalismus“ am Institut für Musik und Musikwissenschaft aufgebaut. Die ersten zehn Studierenden des Fachmaster-Studiengangs sind derzeit im zweiten Semester. Noltze studierte Germanistik und Hispanistik in Bochum und Madrid. Er promovierte über den „Parzival“-Roman Wolframs von Eschenbach. Nach einem Volontariat beim WDR wurde er Redakteur und Moderator verschiedener Kulturmagazine im WDR-Radio und –Fernsehen und arbeitete als Ressortleiter Aktuelle Kultur beim Deutschlandfunk. Am Dortmunder Konzerthaus gründete er die Vortragsreihe „Dortmunder Lektionen zur Musikvermittlung“..

Das Interview erschien zuerst in „mundo – Das Magazin der TU Dortmund“, Ausgabe 14/11

 




Die unselige Rückkehr eines Bestsellers

Meine mit mir stumm geschlossene Wette habe ich gewonnen. Am Tag, als die allgemeine Nachrichtenlage von ihm beherrscht wurde und der Name von Anders Behring Breivik in alle Sinne geriet, weil seine Taten unzählige Menschen fassungslos machten, an diesem Tag wettete ich mit mir, dass alsbald ein Buch, das nach vielen Wochen des Bestsellerseins völlig aus dem Interessenfokus geraten war, wieder auferstehen werde. Dass Thilo Sarrazins mobswissenschaftliches Epos darüber, dass Deutschland sich abschaffe, wieder zurückkehrt in die Bestseller-Liste des SPIEGEL. Eine Woche nach der grauenhaften Tat war es so weit: Der Sarrazin-Schwachsinn platzierte sich wieder an Nummer 13, derzeit rangiert er auf Platz 14.

Es gab schon einmal einen Wiederaufstieg, als die SPD ihn aus der Partei entfernen wollte. Das freute den Thilo, weil die Verkaufszahlen unvermittelt wieder anschwollen.

Dass Thilo dieses Mal ein freudiges Lächeln übers ansonsten humorfreie Gesicht huschen wird, unterstelle ich ihm nicht. Aber er sollte in ein tiefes, nachhaltiges Sinnieren darüber verfallen, was seine Wirrungen, die er da zu Papier brachte, anrichten. Dass die Wahnsinnstat eines islamophoben Mustergermanen die Verkaufsziffern eines Sarrazin-Buches anschieben, gibt einen Hinweis darauf, was auch bei uns in den Köpfen schnell beirrbarer Menschen angerichtet werden kann, wenn sie sich derartige Literatur ungeprüft und unkritisch reinziehen.

Ich will diesem gewinnsüchtigen Selbstdarsteller nicht unterstellen, dass er dumpfgeistige Gewaltbereite noch befeuern will. Aber ich kann ihm unterstellen, dass er es billigend in Kauf nimmt, dass sein Buch missinterpretiert wird. Und das ist schlimm genug. Wie ahnte Bert Brecht im „Arturo Ui“: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“




Wer jetzt schon kräht, ist früher dran

Nach den Regeln der Tagfresser-Branche wird’s nun aber langsam Zeit für die Rückblicke aufs Jahr 2011. Spätestens kurz nach den Sommerferien heben die ersten Abgesänge an. Kurz danach sieht man dann die ersten Weihnachtsdekos in den Geschäften. Aber schleunigst!

Hurtig, hurtig, atemlos: Fukushima, Ehec, Norwegen, Finanzkrise. Eine Apokalypse nach der anderen, journalistisch allseits abgegriffen, in Kürze dann in der Wiederaufbereitungs-Anlage. Königs- und Fürstenhochzeiten hinzugeben, mit Kachelmann und einem Strauss Kahn würzen, umrühren, fertig. Dann noch Spocht und Wetter.

Zackzack, holterdiepolter. Auch Gedenktage werden inzwischen lange vor dem eigentlichen Datum aufgerufen und bekakelt – beileibe nicht nur im Sommerloch. Der 11. September 2001 jährt sich in mehr als einem Monat zum zehnten Male und wird bereits jetzt um und um gewendet. Der Mauerbau vor 50 Jahren (13. August 1961) wird seit Wochen verwurstet und gefleddert. Eine besondere Form der „Aktualität“: Wer jetzt schon kräht, ist früher dran und hat’s vor der Konkurrenz getan. Die wird sich ärgern – und aufrüsten, sprich: beim nächsten Mal noch früher loslegen. Welch ein überstürztes Brimborium. Welch ein selbstbezügliches, besinnungsloses Kreiseln.

Schon sehr bald werden die Leitmedien die Linien für 2012 vorzeichnen, Parolen ausgeben, Trends ausrufen. Die Meute wird sogleich hinterher hecheln, auch im Feuilleton. Man muss schließlich das aufgreifen, wovon „alle Welt“ spricht. Oder etwa nicht?

Einen schönen Tag wünscht noch

Die durchs globale Dorf gehetzte Sau.

(Bild: Bernd Berke)

(Bild: Bernd Berke)




Ein Blick in den Bochumer Herbst

Im Schauspielhaus Bochum herrscht jetzt Ruhe, doch man kann schon eine Vorschau auf den Herbst bekommen.

Deshalb hier eine ganz sachliche und nicht vollständige Aufstellung dessen, was auf uns zukommt:

Ab 8. September Vorverkauf für Oktober
16. September Nachtflohmarkt
24. September Spielzeit-Eröffnungsfest
6. Oktober Premiere „Drei Schwestern“ (Tschechov), auch am 12., 20. und 29. Oktober
8. Oktober „Die Dreigroschenoper“ (Brecht/Weill), auch am 16. und 22. Oktober
9. Oktober „A Tribute to Johnny Cash“
13. und 14. Oktober Bochumer Symphoniker
15. Oktober Premiere Tanztheater „Der verlorene Drache“ (Airaudo), auch am 20. und 30. Oktober
15. Oktober „Amerika“ (Kafka)
16. Oktober „Die Jungfrau von Orleans“ (Schiller)
21. Oktober „Haus am See“ (Finger)
23. Oktober „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (Brecht)
28. Oktober „Woyzeck“ (Büchner) und Leseabend Tschechov mit Rolf Boysen
30. Oktober „Faust“ (Goethe)
1. November „Die Ratten“ Hauptmann.

Ich hoffe, dass ich einige Mitmenschen neugierig machen konnte.




Sommerfestival in Köln: Alvin Ailey American Dance Theater

„Rock my soul in the bosom of Abraham…“ – genau dies bot das Alvin Ailey American Dance Theater bei der Premiere des neuen Programms im Rahmen des Kölner Sommerfestivals. Sie rockten die Kölner Philharmonie, enthusiastisch gefeiert vom Publikum. Sechs lange Jahre ist es her, dass die Company zuletzt in Deutschland gastierte.

Viel hat sich seitdem getan. Judith Jamison, die langjährige, direkte Nachfolgerin Alvin Aileys, welche die Company zu weltweitem Ruhm führte, ist emeritiert, in einer persönlichen Wahl ernannte sie Robert Battle im Juni zum neuen Artistic Director, die Foundation bezog  in New York ein neues, festes Zuhause und die Company wurde zum „Cultural Ambassador to the world“ ernannt. Spannend die Frage für langjährige Fans dieser einzigartigen Truppe: „Was hat sich getan, sich geändert?“ Die Antwort : Vieles und doch auch wieder nichts. Nichts – weil sie immer noch die Besten sind. Im Modern Dance war und ist das Alvin Ailey American Dance Theater das Maß aller Dinge. Technisch brillant, künstlerisch tief berührend. Vieles –  weil sie Neues wagen und der Einfluss Robert Battles das Repertoire um aktuelle Einflüsse erweitert…

Das Alvin Ailey American Dance Theater tanzt vielschichtige Geschichten von Tragik und Freude, von menschlicher Leidenschaft. Getrieben von der Frage „Wo stehe ich und wohin gehe ich ?“ erreichen sie die Herzen der Menschen, durchdrungen vom Willen, für Verständigung und Brüderlichkeit über alle Grenzen hinweg einzutreten. Man vergißt es leicht und zeiht Amerika, kulturlos und oberflächlich zu sein, aber ein wesentlicher Bestandteil amerikanischer Kultur ist der Tanz. Amerika ist nicht nur die Wiege des Modern Dance, sondern auch das Land, in welchem der Tanz wie in kaum einem anderen westlichen Land gefördert und weiterentwickelt wird. Wegweisend seit über 50 Jahren ist das Alvin Ailey American Dance Theater. Nur folgerichtig, dass der US-Kongress dies 2008 würdigte und die Company offiziell zum „für die Welt lebendigen amerikanischen Kultur Botschafter der Vereinigten Staaten“ ernannte. Verbunden mit dem Auftrag, das Erbe der afroamerikanischen Kultur sowie des amerikanischen Modern Dance zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Das Kölner Premierenprogramm eröffnete mit Love Letters. Eine von Judith Jamisons bedeutendsten Arbeiten, die sie zusammen mit dem HipHop-Pionier Rennie Harris und dem neuen Artistic Director Robert Battle neu choreographiert und überarbeitet hat. Die einzigartigen Stile der Choreographen verschmelzen nahtlos und vermitteln eine neue Botschaft, die den Bogen spannt vom dramatisch hingegebenen Modern Dance à la Martha Graham bis hin zu gewandelten heutigen Einflüssen afroamerikanischer Tänze.

Teil zwei des Programms gehört ganz dem Neuen. Robert Battle, dessen Neu-Einstudierungen mit Spannung erwartet und kritisch betrachtet wurden, enttäuscht nicht. In Takademie abstrahiert er die komplexen Formen des indischen Kathak Tanzes temporeich und verblüffend. In Hunt interpretieren sechs männliche Tänzer zur treibenden Trommelmusik der Les Tamours du Bronx ein archaisches Jagdzeremoniell. Bewusst durchbricht Battle die bisherige Linie des Alvin Ailey Repertoires und beschwört eine ganz neue Aggressivität im Tanz herauf. Der Zuschauer erlebt eine sehr maskuline, harte, aber auch kraftvolle Seite der Tänzer, die den Atem stocken lässt.

Im dritten Teil die Offenbarung. „Revelations“. Das Meisterwerk Alvin Aileys. Der Inbegriff des amerikanischen Modern Dance. Ein Klassiker, der bis heute von mehr Menschen in aller Welt gesehen wurde, als jedes andere Tanzstück des 20 Jahrhunderts. 50 Jahre alt sind sie geworden. Robert Battle hat bewusst entschieden, diesen Geburtstag zu zelebrieren und  zu zeigen, dass man den grundlegenden Prinzipien Alvin Aileys weiterhin verpflichtet  sein wird. So gehören die Offenbarungen zum  Repertoire einer jeden Aufführung in diesem Sommer. Vorher wird dem Publikum ein  eigens produzierter fünfminütiger Film der Emmy-preisgekrönten Regisseurin Judy Kinberg gezeigt, welcher die Entstehungsgeschichte und die Intention des Stückes beleuchtet.

Man kann die Revelations noch so oft gesehen haben, sie bleiben auch beim wiederholten Male eine Offenbarung. Universell gültig, heute so berührend und aktuell wie vor 50 Jahren, gewinnt es mit jedem neuen Tänzer, mit jeder neuen Aufführung an Kraft. Aileys „Geschenk an die Menschheit“ ist eine dreiteilige Reise auf den Spuren der Gospels und Spirituals seiner Heimat. Tänzerisch verschmelzen hier die Freiheiten des Modern Dance mit der Horton-Technik zu einer bis heute unerreichten Einheit, lebendig, mitreißend, anrührend und überschäumend zugleich. Dieses Stück hat etwas so Besonderes, so Einzigartiges, dass es den Zuschauer immer wieder neu tief im Herzen berührt.

Das von der ersten Minute an von der Mischung aus Altbewährtem und Neuem mitgerissene Publikum feierte die Tänzer am Ende so frenetisch, dass wir noch in den Genuss der Zugabe-Choreographie von „Rock my Soul“ kamen. Ich für meinen Teil habe sowohl die Company als auch die Revelations nicht zum ersten, aber ganz sicher auch nicht zum letzten Mal gesehen, übrigens zu gerne auch wieder  mal im Rahmen der Ruhrfestspiele.

Für Alvin Ailey war Tanz „ein Medium, dass die Vergangenheit ehrt, die Gegenwart würdigt und der Zukunft mit Zuversicht begegnet.“ Ich bin sicher, er wäre stolz auf die Tänzer, die heute unter seinem Namen diese Botschaft in die Welt tragen. Sie ehren und wahren sein Erbe, sie würdigen gegenwärtige Strömungen und sie verströmen Zuversicht für eine spannungsgeladene Zukunft des modernen Tanzes.

(Zitate aus dem Begleitheft zu den Kölner Sommerfestspielen)
 




Soziale Miniaturen (11): Einkaufserlebnis

Der kleine Dortmunder Supermarkt hat seit einiger Zeit jeden Abend bis 22 Uhr geöffnet und so seinen Einzugsbereich erweitert. Ab 19 Uhr ändert sich rasch die Struktur der Kundschaft, besonders ausgeprägt freitags und samstags. Wer früher vielleicht „anne Bude“ ging oder zur Tanke fuhr, um späten Saufstoff zu holen, taucht nun schon mal hier auf. Es ist ja auch billiger. Obwohl das wiederum vielen egal ist.

Hinzu kommen traurige Gestalten von einiger Art, die hier tatsächlich so etwas wie ein „Einkaufserlebnis“ suchen – auf äußerster Schwundstufe. Am Tage trauen sie sich kaum noch heraus. Dies hier gehört zu ihren letzten Verbindungslinien zur „Normalität“, die dem Namen jedoch Hohn spricht. Aber wenn diese Fäden auch noch gekappt werden…

Manche von denen, die erbärmlich wenig Geld haben, gehen unsanft damit um, als hätten sie Unmengen davon: Da werden 50-Euro-Scheine so verächtlich aufs Warenlaufband geworfen, als sei es nichts. Wer derart wenig besitzt, der hasst die „Kohle“ und zeigt es.

Wie grell manche ihre unwiderrufliche Hoffnungslosigkeit und Hinfälligkeit sehen lassen. Wie sie auf nichts mehr halten, weder auf sich noch auf andere.

Zwischendurch dröhnende Streits wie aus den übelsten Reality-Soaps im Privatfernsehen. Einige reißen das Maul beim geringsten Anlass gleich weit auf. Man hat es ihnen vorgemacht.

Diese Verwahrlosung, nicht selten aggressiv gewendet, oft aber auch nur noch das schutzlos blanke Elend. Diese umfassende Achtlosigkeit. Diese rundum ausstrahlende Rücksichtslosigkeit.

Nach 21 Uhr ist hier kaum noch jemand nüchtern.

Nun ziehen hin und wieder junge Horden hindurch und bedienen sich freihändig in den Regalen. Dosen aufreißen, gleich austrinken, leer zurückstellen oder auf dem Boden zertreten – und raus aus dem Laden… Das Personal, vielfach Hilfskräfte auf Abruf, wagt es nicht, sich entgegenzustellen. Für die paar Kröten etwas riskieren? Den breitbeinig gebellten Satz „Hast du ein Problem damit?“ möchten sie lieber nicht hören. Geschweige denn erleben, was dann vielleicht folgt.

Kampfbereite Gratis-Mentalität also. Es gehen öfter mal Flaschen zu Bruch. Man kann sich beinahe vorstellen, wie das ist, wenn nach Katastrophen marodiert und geplündert wird.

Nachdem kürzlich bei laufendem Abendbetrieb Schaufensterscheiben zersplittert sind, hat der Supermarkt-Konzern reagiert und postiert jetzt einzelne Security-Kräfte am Eingang. „Damit Sie in Ruhe einkaufen können“, versichert einer von ihnen leutselig. Er kann auch anders.

Und wie geht es weiter?




Im Nebel

Da lagen sie vor einem, die Richtungen,

himmlisch, teuflisch, weit & nah.

Es ging links ab, es ging rechts ab.

Aber es ging auch durch die Mitte.

Manches schien fern, anderes zum Greifen nah.

Wieviel Illusionen lagen im Nebel?

Manchmal sah man die Hand vor Augen nicht.

Was sah man denn überhaupt?

Es war still.

Die Dächer schwiegen,

und selbst die Geister schienen noch nicht erwacht,

aber schliefen sie überhaupt?

Was konnte man eigentlich über den Nebel sagen?

Und was konnte man über sich im Nebel sagen?

Dass man auf einen Leuchtturm hoffte?

Dass man diesen schwülen, dunstigen Regenwald satt hatte?

Auf das kleinste Geräusch hörte man.

Schon ein Lichtschimmer hätte genügt.

Ein Pfiff, ein Ruf.

Alles im Nebel.

Man konnte sich hinhocken.

Man konnte warten.

Aber wie lange wollte man warten?

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )