Reges Konzertleben in Bochum: Anton Bruckner als Urvater des Minimalismus

Steven Sloane, GMD der Bochumer Symphoniker

Stets sucht das Team um Bochums Generalmusikdirektor Steven Sloane nach kreativen Ideen, um die Jahreshefte der „BoSys“ auch optisch zu etwas Besonderem zu machen. Auf Überraschungen müssen Musikfreunde dabei immer gefasst sein: Die Programmübersicht kam in vergangenen Jahren schon im Gewand einer Kochrezept-Sammlung daher, in Einzelheften wie die Unterlagen zu einer Fernreise oder auch als Buch mit ehrwürdigem Leineneinband.

Die Nachricht vom Bau des Musikzentrums in der Innenstadt, am 9. März 2011 vom Rat der Stadt Bochum beschlossen, gab jetzt den Anstoß für ein Jahresprogramm in Form einer Zeitung. Zwischen graue Pappdeckel gefasst, informiert die 80-seitige „Bosy Times“ im ersten Teil über die Konzerte der Saison 2011/2012. Der zweite Teil zeichnet in einer „Sonderausgabe“ den langen Weg zum Musikzentrum nach. Was an der Victoriastraße entstehen soll, ist mehr als „nur“ eine längst verdiente Heimat für das renommierte Bochumer Orchester. In der Marienkirche wird ein Multifunktionssaal errichtet, der eine bauliche Einheit mit dem neuen Konzertsaal (mit rund 1000 Plätzen) bilden soll. Die Politik bezeichnet das als „KreativQuartier“, unter dessen Dach die freie Szene ebenso Platz finden soll wie Musikschul-Aktivitäten und musikalische Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene.

Viele Musikfreunde, das zeigt diese Sonderausgabe, setzten sich kaum minder unermüdlich ein als Steven Sloane selbst: darunter der Förderkreis der Bochumer Symphoniker, die „Stiftung Bochumer Symphonie“ und namhafte Bürger der Stadt. Handschriftlich bekunden NRW-Kulturministerin Ute Schäfer, Bochums Kulturdezernent Michael Townsend und die Konzerthaus-Intendanten der Nachbarstädte Sympathie und Unterstützung. Im Umkehrschluss zeugt die Zeitung aber auch davon, dass noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. So ungemein treu das Publikum der „BoSys“ auch zum Orchester steht, so groß scheint die Bevölkerungsgruppe jener, die Kunst und Kultur nicht als Notwendigkeit begreifen, sondern ihr mit dem Verweis auf bröckelnden Straßenbelag und verrottende Schulgebäude die verbale Keule übers Haupt ziehen.

In der „Bosy Times“ aber steht die Kunst an erster Stelle. Die kommende Konzertsaison der Bochumer Symphoniker stellt Anton Bruckner von einer überraschenden Seite vor, nämlich als „Urvater des Minimalismus“. In der Gegenüberstellung von Bruckner-Werken mit Kompositionen typischer Minimalisten wie Steve Reich, Philip Glass und John Tavener wollen Steven Sloane und sein Orchester verwandte Kompositionsschemata aufzeigen. Weil diesen Komponisten zudem ein starkes Interesse an Fragen geistlicher Natur gemein ist, trägt der Themenschwerpunkt der neuen „BoSy“-Saison den Namen „Spiritual Loops“: ein Begriff, der sich in dieser Kürze und Prägnanz nicht ins Deutsche übertragen lässt. Stehen „Loops“ in der Musikwelt doch für kleine, immer wiederkehrende Strukturen, die obsessiv um sich selbst zu kreisen scheinen. Der Sogkraft, die von den Wiederholungen ausgeht, spürt das Orchester unter anderem in nächtlichen Konzerten in einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche nach.

Prominentes Zugpferd für einen weiteren Themenschwerpunkt ist der Schauspieler und Moderator Harald Schmidt, den Steven Sloane für vier verschiedene Projekte gewinnen konnte. So kommt es im November zunächst zu einer „BosySchmidt Show“, in der das Orchester zur Big Band wird und der RuhrCongress zum Studio. Einer szenischen Einrichtung von Mozarts „Le nozze di Figaro“ im AudiMax der Ruhr Universität folgt im März 2012 eine Text-Musik-Collage zum Thema „Faust“. Und in einem Familienkonzert übernimmt Harald Schmidt Moderation und Klavierpart zu Benjamin Brittens berühmtem „Young Person’s Guide to the Orchestra“.

Bekannte Sänger und Solisten verleihen der Saison weiteren Glanz. Der Tenor Christoph Prégardien ist mit Orchesterliedern von Gustav Mahler zu erleben. Die Sopranistin Simone Kermes singt virtuose Arien von Vivaldi bis Bernstein, und in einem Gastspiel in der Philharmonie Essen begleiten die „BoSys“ im Oktober den derzeit stark gefragten Tenor Jonas Kaufmann durch einen Arienabend. Unter den Instrumentalisten ragen zum Beispiel die Pianisten Jonathan Gilad, Nikolai Tokarev und Alexander Lonquich hervor. John Adams’ Konzert „Dharma at Big Sur“ für elektrische Violine und Orchester wird Tracy Silverman interpretieren. Solist im Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold ist der in Moskau und der New Yorker Juilliard School ausgebildete Wahl-Amerikaner Philippe Quint. Kammerkonzerte und die an die Jugend gerichteten Angebote des „Ohrenkneifers“ vervollständigen das Angebot.

Wie sich das Musikzentrum auf die Arbeit der Bochumer Symphoniker und die oft beklagte Verödung der Bochumer Innenstadt auswirkt, wird noch zu beobachten sein. Steven Sloane, der seinen Wohnsitz in Bochum trotz seines Umzugs nach Berlin behalten hat, formuliert selbstbewusst: „Die Musik steht im Zentrum unseres Tuns – und bald auch im Zentrum unserer Stadt.“

(Informationen im Internet: www.bochumer-symphoniker.de, Kartenbestellung: 0234/ 33 33 55 55.)

 




Ins Herz der juristischen Finsternis

Zunächst scheint alles ganz klar: Der seit Jahren in Deutschland lebende und arbeitende Italiener Fabrizio Collini erschießt in einem Berliner Luxushotel den Großindustriellen Hans Meyer. Der Mörder ruft selbst die Polizei und gesteht die Tat.

Danach aber verfällt er in tiefes Schweigen. Vor allem zum Motiv seiner Mordtat will er sich nicht äußern. Wenn Anwalt Caspar Leinen, dem die Pflichtverteidigung des vermeintlichen Mörders zugewiesen wird, gehofft haben könnte, „Der Fall Collini“ sei ein leicht abzuwickelnder juristischer Selbstläufer, sieht er sich schnell getäuscht. Doch nicht nur, dass die Motive der Tat im Dunkeln liegen, macht ihm zu schaffen. Auch dass der Anwalt das Mordopfer kannte und Hans Meyer in seiner Jugend verehrt hat wie einen Vater, wird für Caspar Leinen zu einer schweren Belastung. Denn er ahnt bald, dass ihm im Fall Collini einige unangenehme Wahrheiten bevorstehen, die ihn in die Abgründe der eigenen Biografie und der deutschen Geschichte führen werden.

Natürlich sind die Romanfigur Caspar Leinen und der Autor Ferdinand von Schirach nicht identisch. Aber sie haben doch einiges gemein. Der 1964 in München geborene von Schirach arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin, verteidigt Mörder und Drogendealer, kleine und große Wirtschafts- und Polit-Kriminelle. Dass von Schirach genauso akribisch an der Wahrheitsfindung interessiert ist wie seine literarischen Figuren, davon zeugen die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), mit denen der schreibende Anwalt die Bestseller-Listen stürmte, den angesehenen Kleist-Preis erhielt und sich schlagartig in die erste Reihe deutscher Literaten katapultierte. Der lakonische Ton, die kühle Distanz und die Genauigkeit seiner wie mit einem Seziermesser aufs Papier geritzten Erzählungen erinnern an die Short-Stories von Raymond Chandler. Gespannt durfte man sein, wie er sein literarisches Besteck auf der Langstrecke eines Romans beherrscht. Und in welche juristischen und menschlichen Labyrinthe er sich wohl diesmal begibt.

Dass sich der Autor auf ein Gebiet wagt, das ihm wie ein biografischer Klotz am Bein hängt und über das er öffentlich nur ungern spricht, ehrt ihn. Es muss ihm zugleich wie eine Befreiung vorgekommen sein. Denn mit dem „Fall Collini“ taucht nicht nur die literarische Figur Caspar Leinen, sondern auch der schreibende Enkel des verurteilten NS-Verbrechers Baldur von Schirach in die Zeit des Nationalsozialismus, des Hitler-Krieges und des Massenmordes ein. Der von Fabrizio Collini erschossene Hans Meyer war nämlich, wie Caspar Leinen nach beschwerlichen Recherchen und staubigen Exkursionen in deutschen Archiven herausfindet, nicht nur der von ihm geliebte gutmütige alte Mann und der in Wirtschaftskreisen hoch angesehene Industrielle. Er hatte auch eine mörderische Nazi-Vergangenheit. Als „SS-Sturmbannführer“ hatte Meyer in Italien Erschießungen veranlasst und Schuld auf sich geladen. Aber er hatte, obwohl Collini ihn schon vor Jahrzehnten als Mörder seiner Familie angezeigt hatte, nie dafür büßen müssen. Die Tat galt als verjährt, die Schuld als unerheblich. Dafür hatten die von ehemaligen Nazis ins bundesdeutsche Gesetzbuch geschmuggelten Bestimmungen gesorgt.

Ferdinand von Schirach nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der juristischen Finsternis. Denn seinem Alter Ego Caspar Leinen geht es darum, die Mordmotive aufzuklären und die Schwere der Schuld seines Mandanten zu eruieren. Wenn es um die Beschreibung der juristischen Fallstricke und die Aufklärung der Nazi-Verbrechen geht, ist der Autor in seinem Element. Doch so präzise er hier ist, so klischeehaft geraten ihm die menschelnden Einschübe in seine Mord- und Rache-Geschichte. Caspar Leinen erinnert sich an seine unbeschwerten Kindertage mit Philipp, seinem früh verstorbenen Freund und Enkel von Hans Meyer. Und daran, wie er sich in Philipps Schwester Johanna verliebte, dieselbe Johanna, die jetzt nicht verstehen kann, warum Caspar den Mörder ihres Großvaters verteidigt, die ihm schwere Vorwürfe macht – und dann doch mit ihm ins Bett geht. Der Leser könnte gut auf diese banalen Erinnerungssequenzen und erotischen Gemeinplätze verzichten. Aber dann wäre aus dem Roman vielleicht doch nur wieder eine Erzählung geworden.

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman. Piper, München, 2011, 197 S., 16,99 Euro.

Als Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Burghard Klaußner. Osterwold, 3 CD, 19,99 Euro.

Infos:
+ Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach.
+ Seit 1994 Strafverteidiger in Berlin.
+ Betrat mit den Erzählbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) die literarische Bühne.
+ „Der Fall Collini“ ist der erste Roman des Autors.
+ Kleist-Preis für „Verbrechen“ 2010.
+ Doris Dörrie arbeitet an der Verfilmung einer Geschichte aus „Verbrechen“.
+ Das ZDF plant eine Serie mit Filmversionen der Erzählungen.
+ Unter dem Titel „Einspruch“ schreibt von Schirach regelmäßig Kolumnen im „Spiegel“.