Wagners „Holländer“ in Wuppertal: Schmerzensmann und Erlöser

Diese Senta wird man sich merken müssen. Musikalisch leidenschaftlich, technisch abgesichert, kraftvoll und jugendlich unverbraucht: Selten hört man Richard Wagners herausfordernde Frauenpartie aus dem „Fliegenden Holländer“ so überzeugend wie bei der Premiere in Wuppertal. Die Britin Allison Oakes ist keineswegs das Kind, das nicht weiß, was es singt. Sondern eine entschlossene junge Frau, bereit, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, um das Gespenst aus der Tiefe des Meeres auf ewig zu erlösen.

So ist es nur schlüssig, dass Chefdirigent Hilary Griffiths und Regisseur Jakob Peters-Messer in der Wuppertaler Neuinszenierung zum Auftakt der Spielzeit das inzwischen verpönte, harfenumflorte Erlösungs-Finale spielen. Der „Holländer“ darf hier das Ende nehmen, das Wagner ihm in letzter Hand gegeben hat. Nicht Tod und Vernichtung nehmen ihren Lauf. Zwei Menschen gehen aufeinander zu und beginnen eine neue Geschichte. Ob gemeinsam oder nicht, ob in einem „Jenseits“ oder auf einer neuen irdischen Lebens-Ebene, das lässt Peters-Messer offen.

Kay Stiefermann ist ein zutiefst resignierter Holländer, der getrieben ist vom Fluch, immer wieder „ewige Treu auf Erden“ erproben und daran scheitern zu müssen. Als sein Schiff landet – das Licht-Segel des Bühnenbild-Debütanten Guido Petzold ist ein szenisch wirkmächtiges Symbol –, quält er sich kriechend auf die Spielfläche. Sein Mantel, wie alle Kostüme von Sven Bindseil atmosphärisch treffend gestaltet, erinnert an Murnaus „Nosferatu“. Stiefermann hat die dramatische Reserve für
die Partie, das Gespür für den Sinn der Worte, nur manchmal eine zu flach geführte Stimme. Eine sichere Atmung würde das Problem lösen und der Stimme verlässliche Substanz geben.

Viel ausgeprägter kämpft Johan Weigel als Erik mit technischen Problemen: Wenn er versucht, in Wagners bewusst konventionell gestalteter musikalischer Sprache Senta von ihrem Weg abzubringen, zeugt ein angestrengt flacher, an den Gaumen gedrückter Ton von unzureichender Stütze und mangelnder Tiefenatmung. Christian Sturms Steuermann und Miriam Ritters jugendlich wirkende Mary dagegen können gesanglich wie sprachlich für sich einnehmen. Wuppertal hat, abgerundet von dem als bieder-ältlichen Raffgeier gezeichneten Daland von Michael Tews, ein beachtliches Ensemble für diesen „Holländer“ aufzuweisen.

Auch Chor und Extrachor lassen in Wuppertal den engagierten Einsatz für Wagners Partitur spüren. Chordirektor Jens Bingert hat seine Mannschaft beisammen; selbst nervöse Einsätze, bei Premieren nicht unüblich, halten sich in Grenzen. Dass die Geistermannschaft des Holländers aus Lautsprechern singt, ist mittlerweile üblich – auch wenn dieses Verfahren das komplex komponierte Aufeinandertreffen der Chöre nicht eben transparenter macht.

Am Pult waltet Hilary Griffiths mit extrem langsamen Tempi. So sympathisch es ist, dass sich ein Dirigent einmal dem modischen Zwang zur Hetze entzieht: In Wuppertal wird schon in der Ouvertüre die Zeit so gedehnt, dass Innenspannung und dramatische Stringenz mit Adagio-Blei beschwert auf den Boden eines zähen Klangmeeres sinken. Gerade die Chöre wirken betulich; der rhythmische Biss Wagners schnappt kraftlos zu. Die Erregung und Spannung der fiebrigen Quinten, der scharfen Blechakzente, der dynamischen Bögen bleibt unausgeleuchtet.

Licht ist das beherrschende Medium, das Regisseur Peters-Messer für seine Deutung einsetzt. Das Duett, in dem sich der verfluchte Seefahrer und die sensible junge Frau kennen lernen, lässt er in tiefem, ruhigem Blau als ein weltentrücktes Versinken erkennen. Licht hebt Personen hervor, erzeugt verräterische Schatten, markiert ein Quadrat auf der sonst leeren Bühne, das als Projektionsfläche immer wieder zeichenhaft hervortritt. Und das Senta für sich einnimmt, als sie den rettenden „Engel Gottes“ in ihrer Ballade beschwört. Die christlichen Konnotationen beachtet Peters-Messer wohl: Als Senta dem gepeinigten Seefahrer ihre „Treue bis zum Tod“ versichert, hält sie ihn wie einen Gekreuzigten fest: Der „Holländer“ als Schmerzensmann und als Erlöser – ein komplex deutbares, gelungenes Bild.

Leider sind solche Momente in der Inszenierung nicht häufig, trotz des Potentials, das die auf Licht konzentrierte Bühnengestaltung eröffnet. Einziges Requisit des Illusionstheaters sind die Taue, die sich zu Beginn wie eine riesenhafte Takelage über die Bühne spannen. Aus dem anregenden Ansatz macht Peters-Messer dann aber doch nur ein Arrangement, in dem psychologischer Feinschliff der verlegenen Stilisierung und einer flüchtig wirkenden Personen-Rege geopfert wird. Bemerkbar
ist dies etwa im ratlosen Umgang mit dem Chor. Ein paar Bierkästen und eine Polonaise nach Blankenese – das ist zu wenig, um die Spannung zwischen den exaltierten Hauptfiguren und der biederen Gesellschaft zu charakterisieren, Das ist schade, stört das Publikum aber wenig: Der Beifall ist heftig, wohl auch, weil man in Wuppertal erleichtert ist, von Regietheater-Zumutungen verschont zu bleiben.




Die vertraute Markenwelt

Es mag ja betrüblich zu sagen sein, doch ist es wahr: Unter allen Dingen und Verhältnissen, die uns Weltvertrauen einflößen, sind nicht zuletzt die seit Kindheit vertrauten Marken. Ziemlich klar, woran es liegt: Unser Weltausschnitt ist vorwiegend eine Markenwelt.

Einige Beispiele, ohne jeden Schleichwerbe-Effekt, abseits jeder Qualitätsvermutung, streng alphabetisch: Bosch, Hansaplast, Haribo, Langnese, Märklin, Miele, Nivea, Opel, Osram, Persil, Philips, Pril, Rama, Ritter Sport, Tempo, Tesafilm, Volkswagen. Und viele andere, je nach Generation wechselnd. Für manche beginnt die Erinnerung mit Nogger oder Nutella. Kaufartikel halten längst für die Benennung ganzer Altersgruppen her, siehe „Generation Golf“ etc. etc. Ich kaufe das, also bin ich. Ich stilisiere mein Leben mit Waren, also gelte ich.

Schon wenn man erfährt, dass sich hinter den gewohnten Namen neue (meist globale) Besitz- und Produktionsverhältnisse verbergen, fühlt man sich ein wenig verunsichert. Erst recht wird einem mulmig zumute, wenn solche Namen gänzlich getilgt werden. AEG, Borgward, Eduscho, Grundig, Nordmende, Simca, Telefunken, neuerdings Saab. Selbst um die dürftigen Ost-Labels von Trabant bis Rotkäppchen wird seit Jahren nostalgischer Kult getrieben. Oder mal aus Dortmunder Nahsicht betrachtet: Hoesch als „Name für Stahl“ (früherer Slogan) und etliche Biermarken gehören einer immer mehr entgleitenden Vergangenheit an.

Hin und wieder tauchen alte Namen wieder auf, doch meist handelt es sich um billigen Etikettenschwindel. Mit Markenrechten soll altbewährtes Vertrauenskapital umgemünzt werden. Pah! Auch ihr dreht die Zeit nicht um.

Und wie schnell der Schwund, dieser Wandelfraß sich ausbreitet! Man schaue sich nur Filme aus den 1970er oder 1980er Jahren an. Wie anders wirken da Kleidung und Straßen. Ja, die gesamte Farbpalette sieht fremdartig aus; ganz zu schweigen vom Takt der Wahrnehmung, der sich im Filmschnitt zeigt.

Zurück zu den Marken. Bereits im nahen Ausland verschieben sich Koordinaten des Konsums. Trotz regen internationalen Handels ist diese und jene Marke schon in geringer Entfernung nicht mehr vertreten, dafür tauchen andere auf, die einem zunächst oder auf Dauer nicht geheuer sind. Es sei denn, man wäre ein Anbeter des Immer-wieder-Neuen, des Täglich-Anderen. Allmählich scheint es ja zu gelingen, diesen kapitalistisch dringlichst erwünschten Menschentypus zu züchten. Dass dieser Typus wiederum weltweit das Vorhandensein gewisser Leitmarken verlangt, gehört zum Kraftfeld, das keineswegs widerspruchsfrei ist.

Die Beharrenden aber ahnen: Fortwährender Markenschwund ist ein Zeichen der Vergänglichkeit und ragt bis ins Existenzielle, kündigt also Stück für Stück das Sterben an.