Als Joseph Beuys nach Japan kam

29. Mai 1984: Joseph Beuys lächelt gequält und sieht ein bisschen verloren aus. Ein Suchender und Staunender, einer, der noch nicht recht weiß, was ihn dort, wo er gerade mit dem Flugzeug gelandet ist, erwartet. Von Kameras begleitet und beäugt, bahnt sich der erstmals von Düsseldorf nach Tokio gereiste Künstler seinen Weg durch die mit Koffern und Menschen verstopfte Ankunftshalle.

Beuys trägt, was ihm zur zweiten Haut geworden ist: den grauen Filzhut, die multifunktionale Weste, weißes Hemd, dunkle Hose, grobe Schuhe mit dicken Gummisohlen. Der Kunstprofessor, der schon mit Studenten Räume der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt hielt und mit seinem Konzept ökologisch-ganzheitlicher Kunst für Aufsehen sorgte, ist freundlich, freut sich über die roten Rosen, die ihm seine Gastgeber überreichen. Ein harmloser, fast heimeliger Auftakt eines achttägigen Aufenthalts, der es in sich hat und in der kulturpolitischen Landschaft Spuren hinterlassen wird.

Beuys wird im Seibu Museum of Art in Tokio eine Ausstellung mit seinen Werken einrichten und eröffnen, er wird Pressekonferenzen geben und vor erregten und verstörten Studenten sein Konzept einer antikapitalistischen Kunst-Utopie vorstellen. Beuys wird eine Manufaktur besuchen und zusammen mit Videokünstler Nam June Paik eine legendäre Performance veranstalten.

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Das dreißigstündige Filmmaterial, das Zeugnis von einer seltsamen Begegnung zwischen Ost und West ablegt und in Wort und Bild die meisten Schritte und Aktionen festhält, die Beuys vom 29. Mai bis zum 5. Juni 1984 in Japan unternahm, galt lange Zeit als verschollen. Vor einem Jahr tauchten die Film-Dokumente wieder auf und wurden in Japan gezeigt. Jetzt sind sie, in einer überwältigenden Ausstellung, erstmals in Deutschland zu sehen: „Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA“ ist der Titel der Berliner Schau, die im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“, präsentiert wird.

Im Westflügel des Museums, dort, wo ohnehin eine große Beuys-Sammlung beheimatet ist, die einige aus Kunstklassiker mit Schiefertafeln, Filzmatten und Fettecken beherbergt, ist eine ganze Etage für die überraschende Wiederentdeckung und großzügige Präsentation der japanischen Film-Sequenzen frei geräumt worden. Im Zentrum: eine dunkle Video-Höhle. Auf einer riesigen Leinwand wird ein 3-stündiger Mitschnitt der „Coyote III“- Performance nebst anschließender Diskussion gezeigt. Während Nam June Paik auf einem Klavier klimpert, hechelt Beuys Hundelaute ins Mikrofon.

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Um die Video-Höhle herum ist ein Kunst-Parcours mit zehn TV-Bildschirmen installiert. Dokumentiert werden, in unkommentierten und umfangreichen Filmsequenzen, sowohl Ankunft wie Abreise, Debatten und Diskussionen, Interviews und Museumsbesuche. Und immer wieder muss ein leicht genervter Beuys seinen fernöstlichen Gastgebern sein Kunstkonzept erklären. Man will verstehen, warum Beuys bereits 1963 die Partei EURASIA gegründet hat und vom Zusammenschluss östlicher und westlicher Kulturen träumt. Man will wissen, was es mit seinem ätzenden Anti-Kapitalismus auf sich hat und warum er Sätze sagt wie: „Ein Eisenwalzwerk muss zugleich eine Universität sein.“

Das Konzept des universellen Künstlers ist den Zuhörern noch fremd: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Superstar. Jeder Mensch ist ein elitäres Wesen.“ Wenn Beuys seine kunstpolitischen Visionen in Japan ausbreitet, schaut er in viele fragende Gesichter, gebetsmühlenartig muss er dann seine Theorien darlegen. Japan mag für Beuys ein lang ersehntes Reiseziel und ein utopischer Kunsttraum gewesen sein. Dass ihn zwar japanische Kultur und Mentalität erregten und interessierten, ihm aber letztlich durchaus fremd blieben, auch davon erzählt diese Ausstellung, für deren Besuch man vor allem eines braucht: sehr viel Zeit.

Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA,
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, bis 1. Jan. 2012,
geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen,
Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Weitere Infos unter http://www.hamburgerbahnhof.de




Bücher, die man nicht vermissen würde

Es schüttet aus Eimern, meine Laune tapst gleichen Schrittes mit dem tristen Oktobertag, ins Ohr schallt mir meine alte Kollegin Sabine Brandi, deren Thema im morgendlichen Hörertalk auf WDR5 Bücher sind, die unbedingt zu empfehlen seien. Die sollten doch Anrufer benennen, beschreiben, bejubeln. Weil das Wetter so mies, meine Laune so gleichschreitend und meine aktuelle Weltsicht so wenig sonnig, fällt mir sofort die Frage ein: Welche Bücher hätten nicht geschrieben werden müssen oder sollten demnächst auf keinen Fall geschrieben werden?

Fix antwortet meine innere Stimme: Allen voran eine Biographie des naseweisen liberalen Leisetreters Philipp Rösler, die hat aber schon mindestens eine Leserin, eine bundesweit bekannte Kanzlerin, die sich für nichts zu schade ist.

Ebenso wenig schreit die Welt danach, demnächst eigenhändig verfasste Innenansichten eines freiherrlichen Clowns, der einst reformistischer Verteidigungsminister und Shooting Star am Polithimmel war, lesen zu müssen.

Oder wurde die jugendlich geprägte Rückschau eines Fußballers mit Namen Philipp Lahm für unverzichtbar gehalten, um mit bebender Erwartung Enthüllendes aus Jogis Löwenkäfig zu erfahren?
War es unvermeidlich, dass Dieter Bohlen zweimal bestsellernd die Buchhandelsregale füllte oder Thilo Sarrazin (ist nicht zufällig gemeint, dass die beiden in einem Absatz auftauchen) seine pseudowissenschaftliche Gülle in Millionenauflage unters Volk brachte?

Hätte ein möchtegernegroßes Männlein mit lächerlichem Bart in viel zu kurzer Kerkerhaft ein kurzes Buch verfassen müssen, das zwar miserabel verfasst, dennoch bestverkauft aber meist ungelesen blieb. Einschub: Hätte es nicht, aber lesen hätten es mehr Menschen sollen, dann wäre so manches dem Lande und der Welt vielleicht erspart geblieben.

Nun, ich habe da auch noch etwas Versöhnliches: Als ich Konfirmation feierte, kam ein Geschenkpäckchen im Vierfamilienhaus an der Dortmunder Kuithanstraße an. Als ich es auspackte, sah ich auf einen ziemlich erschreckenden Titel: „Der SS-Staat“, Autor Eugen Kogon. Ich habe es noch irgendwo, habe es mehrfach gelesen und nicht so recht verstanden, dass es im Laufe der Jahrzehnte ziemlich in Vergessenheit geriet. Dieses Buch eines Zeitzeugen, diese deutsche Frühausgabe eines „Archipel Gulag“ ließ in meinen damaligen Kindskopf das Grauen krauchen und lenkte meine Haltung zu Menschen, Staat, Demokratie, Autorität in meine Richtung. Ein Buch, das geschrieben und möglichst gelesen werden musste.




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.