Getanztes Leben zwischen Abstraktion und praller Illustration

Tanz der Spitzhüte in Christian Spucks "Sleepers Chamber". Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Bilder, die sich gar nicht gleichen. Zu Beginn schneit es dunkle Erde im graugetünchten Raum, in dem riesenhafte Heuschrecken ihr Dasein fristen. Menschen, teils am Boden dahingekrümmt, lösen sich langsam aus einer Art Schockstarre, versuchen in zackigen, wie geometrisch wirkenden Bewegungen ihren Gliedern Leben einzuhauchen. Wir sehen „Sleepers Chamber“, also tänzerisches Erwachen in einer Schlafkammer – der erste Teil des neuen Doppelabends mit der Dortmunder Ballett-Compagnie.

Danach – welch völlig anderes Bild – die leere Bühne, durch Licht- und Farbspiele ein wenig aufgepeppt. Podium für überbordende Lebensfreude, die sich aus Bewegungsformen entwickelt, die Wut bis hin zur Gewalt, Enttäuschung und Einsamkeit illustrieren wollen. „Cantata“ ist der schlichte Titel dieser Choreographie, in der sich südländisches Temperament im Arte-Povera-Ambiente ausdrückt, garniert mit einer kleinen Commedia-dell’Arte-Episode.

So prallt das symbolträchtige Tanztheater Christian Spucks (Sleepers) auf wirkmächtiges Dolce-vita-Empfinden bei Mauro Bigonzetti (Cantata). Was dieser als überwiegend pralle, bodenständige Lebensszenerie auflegt, zeigt jener als geheimnisvolle, verwunschene, gleichwohl klare Parabel vom irdischen Werden und Vergehen.

Spucks menschliches Erwachen ist orientiert am Verhalten von Insekten, die mitunter erst nach monatelangem Schlaf aus der Erde krabbeln. Riesige Spitzhüte lassen Zauberstimmung assoziieren, manchmal aber wirken sie auf den Köpfen der roboterhaft agierenden Tänzer geradezu bizarr. Es ist ein Aufrappeln, Leben und Dahinsinken in hoch disziplinierter Aktion, immer eng am Puls der zugespielten, klangfarbenreichen elektronischen Musik Martin Donners.

Die Töne wiederum, die in der „Cantata“ ans Ohr gelangen, sind süditalienischem Brauchtum entnommen, tänzeln auf dem schmalen Grat zwischen originärer Volksmusik und publikumskompatibler Folklore. Eingespielt vom vierköpfigen Frauengesangsquartett „Gruppo musicale assurd“, das mit Kastagnetten, Tambourin und Akkordeon musiziert, sind diese Töne so melancholisch wie berstend vital.

Tanz als pralles Leben bei Mauro Bigonzetti. Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Doch Bigonzetti kann mit seiner Choreographie kaum einlösen, was als „Handlung“ vorgegeben ist. Wenn die Frauen aus dem Häuschen sind, Tarantella tanzen, entlädt sich dies in berauschten, lustvollen, heidnischen „Frühlingopfer“-Bewegungsformen. Doch die Zeichnung der italienischen Form des Machismo kommt oft unklar daher, wird belächelt. Das Stück, zyklisch gedacht als Folge von Ruhe in der Enge – Leben in der Weite – Ruhe wird konterkariert mit einem lauten Finale, das sich als klatschmarschträchtig entpuppt.

So ist dieser zweiteilige Ballettabend, der den etwas rätselhaften Titel „Träumer.Tanzen.Lieder“ trägt, stark am Beginn, schwach am Schluss. Alles indes getanzt auf hohem Niveau.

 




„Schmidts Einsicht“ kommt nicht zu spät

Drei Romane mit der Titelfigur Albert Schmidt hat der in Polen geborene amerikanische Autor Louis Begley geschrieben. Den letzten mit dem deutschen Titel „Schmidts Einsicht“ gibt es zunächst sogar nur bei uns – in den USA erscheint die Originalausgabe erst im März als „Schmidts Steps Back“.

Viele erinnern sich bestimmt an Jack Nicholson, der 1997 den alternden Anwalt Schmidt aus New York im Kino verkörperte. Dieser etwas verschrobene Witwer mit dem hohen Einkommen hat ständig Zoff mit seiner Tochter Charlotte und eine ausgelassene Liebesaffäre mit einer jungen Kellnerin seines Lieblingslokals auf Long Island.

Im abschließenden dritten Band, der am Silvestermorgen 2009 beginnt und zwischen verschiedenen Rückblenden pendelt, ist diese Affäre beendet. Stattdessen knüpft die Handlung an den Schluss des zweiten Teils an, in dem Schmidt in Paris vor dem Haus einer früheren Geliebten steht und unentschlossen überlegt, ob er klingeln soll. Er hat tatsächlich diese hübsche Französin – inzwischen ebenfalls Witwe – wieder für sich gewinnen können. An jenem Silvestertag wartet er in seiner Villa auf ihren Besuch und die Antwort auf die Frage, ob sie bei ihm bleiben möchte. In der Zwischenzeit sind jedoch so dramatische Dinge geschehen, dass Schmidt seine Einstellung zum Leben ändert, er kommt im Sinnes des Buchtitels zur „Einsicht“, er kommt gewissermaßen zur Ruhe, und die Trilogie des Autors findet ein altersweises Ende.

Louis Begley, das zeigen alle seine Bücher, ist ein hervorragender Menschenkenner mit großem Einfühlungsvermögen. Auch sein Held Schmidtie, der durch seinen Sexismus und den unbewussten Antisemitismus eigentlich etwas abstoßend wirken soll, wird nie vollständig in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst, so dass man letztlich so etwas wie Mitleid mit einem alten Mann empfindet, dem das Schicksal große Glücksmomente und ebenso hartes Leid bescherte. Aus der Angst vor dem Tod gewinnt Schmidt zum Schluss jedoch noch einmal die Hoffnung, dass Liebe allem einen Sinn geben kann – ganz ohne den Zynismus, an den er sich so gewöhnt zu haben glaubte.

Louis Begley: Schmidts Einsicht. Roman, Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 22,90 Euro.