Ringen um die Wittener Tage für neue Kammermusik nur vorerst beendet

Auch das "Calefax reed quintet" gastiert in Witten. Foto: WDR

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sind gesichert. Das liest sich eigentlich als gute Nachricht. Doch dahinter verbirgt sich leider die Tatsache, dass eines der traditionsreichsten, renommiertesten Festivals in Deutschland auf der Kippe stand. Und dass es an der Finanzierung hing – aber das ist ja für Kulturschaffende ein täglich elend Brot.

Die Kammermusik-Tage, seit 1969 gemeinsam vom WDR und der Stadt Witten veranstaltet, reichen bis ins Jahr 1936 zurück, damals von dem Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen. Sie entwickelten sich für die tonschöpfende Avantgarde zum wichtigen Uraufführungsforum. Und nicht zuletzt: Die Erfüllung von Kompositionsaufträgen brachte Geld.

Seit langer Zeit also gibt es Konzerte, Klanginstallationen (teils in freier Natur) sowie Gespräche, bisweilen auch Filme. Längst genießen die „Tage“ internationalen Ruf. Und die Porträtkonzerte, seit 1978 im Programm, widmeten sich zunächst vor allem dem Werk, das hinter dem Eisernen Vorhang entstand.

Witten war zudem stets Podium für junge Spezialensembles, aber auch für berühmte Formationen wie etwa das Arditti String Quartet. Schon bald stand das Festival im Ruf, das Donaueschingen des Ruhrgebiets zu sein, anspielend auf das Nachkriegsmekka der Neuen Musik. Selbst das Goethe-Institut brach einst eine Lanze für dieses wichtige Stück deutschen Kulturguts: ohne die „Tage“ sei manche Entwicklung zeitgenössischen Komponierens, etwa die Renaissance des Streichquartetts, kaum möglich gewesen.

Dies alles kostet selbstredend Geld. Der WDR übernahm dabei den größten Batzen, zuletzt etwa 200 000 Euro. Die Stadt Witten und das Land gaben zusammen (Stand 2010) gut 75 000 Euro – deren Anteil sollte in diesem Jahr etwas niedriger sein. Doch die hochverschuldete Kommune hat bisher keinen genehmigten Sparhaushalt, darf also ihren Betrag nicht zur Verfügung stellen. Dies wiederum, eine Auswirkung des sogenannten Stärkungspaktes, lässt die Geldbörse des Landes zugeschweißt. Die Frage, beklommen gestellt, sei erlaubt, inwieweit statt von Stärkung besser von Erpressung die Rede sein sollte. Nun, der Trend, die Kultur den einen oder anderen Kopf kürzer zu machen, hat ja im Moment Konjunktur. So widerlich und kurzsichtig dies auch ist.

Deshalb blieb nach langen Verhandlungen dem WDR nichts anderes übrig, als annähernd die gesamten Kosten für die Kammermusiktage zu übernehmen. Witten selbst muss nur noch die Räumlichkeiten und das Personal zur Verfügung stellen. Ein Scheitern dieser Gespräche wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nicht nur wegen der Ausfallhonorare für Komponisten und Interpreten, sondern vor allem wegen der (internationalen) Blamage.

Die Not ist indes nur für dieses Jahr beseitigt. Und so wird das Festival vom 27. bis 29. April wie geplant stattfinden. Mit 23 Uraufführungen und dem Porträt des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen. Danach sollen alle Beteiligten über die Zukunft der „Tage“ beraten. Dass es soweit kommen musste, ist schlimm genug.




Schulalltag (1): Verlies – kommt das von verlassen?

Eine beliebige Grundschule, eine beliebige Klasse, ein beliebiger Text, den der angestrengte Pädagoge seinen Schützlingen näher zu bringen versucht. Die Sprache ist Deutsch, sie handelt von Burgen und Schlössern, ihren geheimen Winkeln oder auch den prachtvollen Ausstattungen. Die Kinder mögen bitte Adjektive benennen, die zu den jeweiligen Begriffen passen. „Gemälde“ zum Beispiel … verständnisloses Schweigen. Herr Lehrer versucht es abermals … „Ihr wisst das doch … Bilder.“

Ja, das kennen sie, aber ein angemessenes Adjektiv fällt ihnen nicht ein. Noch ein Versuch: „Kellerverlies“. Aus den wachen Kinderaugen werden verbissen nachdenkliche, die allerdings dem Herrn Lehrer unverkennbar die Unkenntnis darüber, was dieses Wort bedeuten könnte, anzeigen. Der hilft: „Na, Keller, den kennt ihr doch, und Verlies, das ist so eine Art Gefängnis.“ „Stimmt“, tönt es aus einem kecken Jungen, „da sind die früher doch drin verhungert, habe ich im Fernsehen gesehen.“

„Nun ja, schlimmsten Falls sind die Menschen da auch verhungert, aber das war nicht meine Frage.“ Die bleibt unbeantwortet, keinem der Kinder kommt die erleuchtende Erkenntnis, dass „dunkel“ womöglich zum Kellerverlies passen könnte. Langsam dämmert es dem Pädagogen, dass keiner seiner Zögling jemals in natura so eine Burg oder ein Schloss vor sich gesehen hat, und das, obgleich es in der Umgebung seiner Stadt von gut erhaltenen bis gruselig zertrümmerten Denkmälern dieser Art nur so wimmelt.

Die Kids können da nix für, ihre Erzeugerinnen und Erzeuger auf den ersten Gedanken schon, beim zweiten denkt man dann inzwischen schon an deren Erzeugerinnen und Erzeuger. Aber, es gibt ja Fernsehen und mehr. Gibt es mehr?

Papas, die entzückt verkünden, dass ihre Kinder nach einem Buch verlangen, das sie richtig lesen können, also mit wenig Bilderanteil, solche Väter werden seltener. Dafür werden Väter, Mütter und Kinder immer mehr, die Schopenhauer für eine ostgotische Schlagwaffe, Brecht für die vulgärdeutsche Befehlsform von kotzen und John dos Passos für den Entdecker gleichnamiger alpiner Transferstraßen halten.

Den Kindern ist in dieser Generationenfolge wie gesagt nur der geringste Vorwurf zu machen. Aber einem gesamtgesellschaftlichen Klima schon. Wenn menschliche Wesen in einer Gesellschaft nur mehr für Reservearmeen der Wirtschaft und des Geldes gehalten werden, die Bezahlung ihrer Arbeitskraft als eine lästige, möglichst auf Null zu setzende Betriebsausgabe gilt, wenn die Bildung der Menschen so organisiert und ausgerichtet wird, dass ihr Ergebnis möglichst früh, möglichst schnell, möglichst lange und möglichst preisgünstig Profit bringen kann, dann wundert es wenig, dass nur Teile der Bildung für wertvoll erachtet werden und der Rest getrost beiseite gelegt werden kann.

Manchmal träume ich davon, dass Bildung auch mal als Selbstzweck gesehen werden könnte.




David Gutersons „Ed King“ – ein rätselhafter Ödipus der Moderne

Ed King, der fünfte Roman des amerikanischen Bestseller Autors David Guterson, sorgte in seiner Heimat bereits reichlich für Schlagzeilen. Die Fachzeitschrift Literary Review verlieh ihm den Preis für die schlechteste literarische Beschreibung einer Sex-Szene. Wenn das nicht Erwartungen weckt. Genau wie das Thema des Buches. Ödipus in die Moderne transferiert. Es braucht wohl neben guten Nerven auch eine besondere Form literarischer Obsession, um das Wagnis einzugehen, ein Motiv aus der klassischen Antike zu entlehnen. Das Fazit vorab: Es ist Guterson durchweg gelungen, des Königs Drama neu, relevant und glaubwüdig ins 21. Jahrhundert zu übertragen. Schlechter Sex hin oder her.

Gutersons König ist kein Royal per se, sondern sein zeitgenössisches Äquivalent. Ein Milliardär und Hightech-Titan. Ed King ist das Ergebnis einer flüchtigen Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einem jungen Au-pair-Mädchen. Auf einer Türschwelle abgelegt, von einem wohlmeinenden, gut situierten Ehepaar adoptiert, mathematisch hochbegabt. Strotzend vor Selbstvertrauen, bar jeden Zweifels nutzt er die Chancen seiner von Technologie besessenen Zeit und steigt auf zum König der Suchmaschinen. Er führt das beste Leben, das man für Geld kaufen kann, „der Wind der Freiheit weht aus seinen Servern„. Und doch bleibt ihm am Ende nur die Frage, was ihm all die technischen Errungenschaften genutzt haben, wenn er vor der Unveränderbarkeit fundamentaler Gewissheiten menschlicher Natur steht.

Ed King ist ein schillerndes Buch. Guterson nimmt den Leser mit auf einen mal traurigen, mal wilden Parforceritt durch die letzten fünfzig Jahre amerikanischer Geschichte. Der Leser kennt zwar den Zielort, doch der Weg dorthin ist wie eine literarische Route voller Sehenswürdigkeiten. Manche Handlung ist arg weit hergeholt, doch die Persönlichkeiten und das Verhalten seiner Figuren sind immer glaubwürdig und dabei sympathisch. So ist Diane, die tragische Mutter und Ehefrau, zwar ein ausgekochtes Rabenaas, aber eins, das man mögen muss. Guterson erzählt von normalen Menschen, die ihr Bestes geben, um sich durch ihr Leben zu kämpfen. Er bündelt seinen Roman aus einzelnen Erzählsträngen, jeder einzelne in Ruhe auserzählt und am Ende eines jeden Kapitels lakonisch zusammengefasst. Seine bisherigen Romane waren oft getragen von einem elegischen, fast melancholischen Ton. Die Prosa in seinem neuen Roman ist gewohnt gestochen scharf, mit elegisch oder melancholisch ist aber größtenteils Schluss. Er erzählt gewinnend gutmütig, ab und an mit dreckigem Humor gewürzt, absichtlich ins Lächerliche abdriftend. Auch wenn er gelegentlich zwar nicht gerade die Moralkeule schwingt, den mahnenden Zeigefinger hebt er durchaus. Es ist schließlich eine Jahrtausende alte Geschichte, eine von denen, die uns sagen, dass man hingehen und Tabus brechen kann, dass man aber den Folgen von Hybris, übermäßiger Arroganz und lang zurückliegender Sünden nie ausweichen kann.

Ob der rasanten Handlung läuft man oft Gefahr, das Buch schneller zu lesen, als ihm gut tut. Man riskiert dabei, etliche klug versteckte Anspielungen – beispielsweise bei der Namensgebung handelnder Personen oder Erfindungen – zu überlesen. So gönnt der Autor sich einen äußerst geschickten Cameo-Effekt in Gestalt von Ed Kings Privat-Piloten Guido Sternvad. Dieser Pilot geht dem Leser mit seinem nicht enden wollenden Spaß an Anagrammen unsäglich auf die Nerven – bis man dahinter kommt, was ein mögliches Anagramm von Guido Sternvad wäre…

Man kann nicht anders, als Guterson für diesen geschickten Schachzug zu bewundern. Ausgerechnet der Wegbereiter, von Ed King auch seine persönliche schwarze Nemesis genannt. Solcher Rätsel durchziehen den Roman wie ein roter Faden und machen, auch gerade weil sie reichlich Allgemeinwissen und Kenntnis klassischer Geschichten voraussetzen, einfach Spaß.

Und der bad sex in fiction award? Zugegeben – Sexszenen sind Gutersons Stärke nicht. Mit etwas bösem Willen ließen sich seine hölzernen Umschreibungen auch direkt auf jedes beliebige zu verrichtende Handwerk übertragen. Aber geschenkt. Die Literatur hat schon weit schlechtere Szenen dieser Art hervorgebracht. Auch wenn der Autor den Leser kurz vorher direkt anspricht. „Also gut, wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist“ und vermutet, dass es wegen voyeuristischer Neugier auf eine Sexszene zwischen Mutter und Sohn sei – weit gefehlt. Die Erwartungshaltung, mit der man an ein Buch zu diesem Thema herangeht, beinhaltet andere Erregungszustände als ausgerechnet solche sexueller Art. Das Interessante, das Gelungene an Ed King ist, wie er dieses Jedem bekannte Motiv in die Moderne überträgt und die Spannung durchweg hält. Die Frechheit und die Chuzpe, mit der der Autor an das vermeintliche übergroße Thema herangeht, sind das halbe Lesevergnügen. Der Autor kommentierte die zweifelhafte Auszeichnung im übrigen mit der Aussage, Ödipus habe schlechten Sex praktisch erfunden. Er sei also nicht im Mindesten überrascht. Umso überraschter dürften etliche auch seiner treuen Leser dafür über sein gewagtes, aber im Großen und Ganzen gelungenes neues Buch sein.

David Guterson: „Ed King“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe. 381 Seiten, € 22,99




Sonne, Café au lait…

Die Sonne scheint. Man redet über die Schwizz, den See

und Entscheidungen.

Die Menschen scheinen angesichts der Fülle von

Sonnenschein überrascht. Einige schauen noch immer mies gelaunt.

Andere vergnügen sich im Eiscafé.

Oh bella Italia,und das in Siegen.

Ein Disput mit “Maaaama!”

Die Dame keift in ihr Handy, als ob sie bis Rom rufen müsste.

Die ganze Straße darf zuhören.

“Wann machst du mir endlich meine Nägel?”

Das Krakeelen dieser italienischen Prinzessin ersetzt fast eine Kreuzigung.

“Und du muss mir die Spitzen noch schneiden!”

Es ist noch früh am Tag, zu früh für solche Auftritte.

Also wechselt man das Café, denn es war angedacht zu lesen.

Aber ein Zitat blieb doch hängen:

“Ihre Welt ist faszinierend und berauscht sie,

und durch ihre despotische Reduzierung funktioniert sie auch…”

(Viviane Forrester in “Terror der Ökonomie”)

Die kleinen und die großen Despoten.

Beide produzieren Trümmerlandschaften, hinterlassen Verunsicherung und Leere.

Von der Ruhestörung bis hin zum Desaster…

© 2012 Text / Foto: Stefan Dernbach

Weitere Texte auch unter: http://cafegaenger.wordpress.com/