Essener Philharmonie: Olivier Messiaen und die meisterhafte Kunst der Balance

Es ist ein Griff nach den Sternen, sich an Olivier Messiaens „Turangalîla“-Symphonie zu wagen, ein achtzigminütiges Riesenwerk, ein visionär-spiritueller, überschäumender Hymnus an die Liebe. Die Junge Deutsche Philharmonie hat zur Eröffnung ihrer Frühjahrstournee in der Philharmonie Essen beherzt zugegriffen und mit einem Fest orchestraler Virtuosität den Himmel auf die Erde geholt.

Messiaens Werk hat mit zehn Sätzen die klassische symphonische Form gesprengt. Es gemahnt an ein Riesengemälde oder – wie Kritiker meinen – an Filmmusik. Gleichzeitig ist es anspruchsvoll strukturiert: Messiaen lagert rhythmische und klangliche Schichten übereinander, kombiniert exotische Formen mit den hier erstmals auftauchenden „Vogelstimmen“, der Natur abgelauschten melodisch-rhythmischen Motiven.

Von dem riesig besetzten Orchester fordert dieser Klang-Kosmos Äußerstes. Es geht nicht nur um rauschende Steigerungen. In der 1948 vollendeten Komposition fordern gerade verhaltene Momente heraus: Wenn sich zum Beispiel Röhrenglocken, Fagott und „Ondes Martenot“ – ein elektronisches Lieblingsinstrument Messiaens – verbinden, wird von den Solisten sorgsames Aufeinander-Hören verlangt. Das packen die jungen Musiker mit Charisma und professioneller Versiertheit.

Der Dirigent muss heikle Tempoübergänge beherrschen, klanglich weiträumig disponieren und den Bogen der Spannung über extrem lange Zeit nicht abreißen lassen. Kristjan Järvi kann zu Beginn nicht verhindern, dass die exzessiven Riesenklänge aus den Fugen geraten. Doch die jungen Musiker – Studierende deutscher Musikhochschulen – fangen sich und nehmen Järvis Impulse bereitwillig auf: Klang und Bewegung werden ruhig und weit.

Järvi, demnächst Chefidirgent des MDR-Sinfonieorchesters, macht hörbar, wie Messiaen motivisch arbeitet. Die komplexen Verläufe des „frenetischen“ fünften Satzes bleiben hinter der leuchtenden Oberfläche hörbar – eine Meisterleistung in der Kunst, die richtige Balance zu treffen. Die beiden Solisten fühlen sich zum Team gehörig: Thomas Bloch reizt die „Ondes Martenot“ zwischen warmer „voix humaine“ und greller Technizität aus. Und Tamara Stefanovich spielt ihren Flügel in den harten Akkordketten zupackend und in den ruhigen, fast meditativen Verläufen gelöst schwingend.




Den eigenen Tod sterben – Gerbrand Bakkers Roman „Der Umweg“

Eine Literaturwissenschaftlerin aus Amsterdam, die wegen einer Affaire mit einem jungen Studenten ihren Arbeitsplatz an der Universität verloren hat und ihre Dissertation über Emily Dickinson auch deswegen nicht mehr vollendet, ist kurz entschlossen aus ihrer gewohnten Umgebung geflohen; sie ist gewillt, fortan in einer ihr fremden, englischsprachigen Umgebung zu leben und wohl auch zu sterben, lässt also – zunächst für die beiden letzten Monate des Jahres (2009) – ihr bisheriges Leben unvermittelt hinter sich. Nicht in Irland, wie von ihr ursprünglich beabsichtigt, kommt sie unter, sondern eher zufällig in Wales. Sie mietet dort auf dem Lande Haus und sporadisch Arbeit erforderlich machenden Landbesitz, die überschaubare Hinterlassenschaft einer Witwe namens Evans. Weder der Ehemann der nunmehr ehemaligen Anglistikdozentin aus Amsterdam noch deren Eltern wissen, wo sie geblieben ist. Sie wissen auch nicht, dass bei ihr überraschend eine tödlich schwere Krankheit diagnostiziert worden ist, herausgefunden im Anschluss an getrennte medizinische Fruchtbarkeitsuntersuchungen bei ihr und ihrem Mann. Im Falle des Ehemannes – sein schließliches Beinahwissen betreffend – zumindest zunächst noch nicht.

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Keines, bislang leider noch keines der bisherigen Bücher des niederländischen Autors Gerbrand Bakker habe ich vor seinem neuesten, in der Übersetzung Andreas Eckes jetzt bei Suhrkamp erschienenen Roman „Der Umweg“ gelesen. Dass ich mir gerade diesen jetzt ausgesucht habe, dürfte ein besonderer Glücksfall sein. Es handelt sich um eine Lektüre, die sich durchweg gelohnt hat, die – aus verschiedenen Gründen – lange nachschwingt. Dass ich endlich auch so richtig aufmerksam geworden bin auf die Gedichte, die Briefe und die Person Emily Dickinsons, von der ich merkwürdigerweise zuvor allenfalls den Namen kannte, ist dabei ein ganz wundervoller, mir sehr willkommener Nebenertrag.

Bakkers Roman stelle ich seinem erzählerischen Rang nach – ohne zu zögern – dem thematisch verwandten Kurzroman Juan Carlos Onettis „Abschiede“ zur Seite. Gemeinsam ist beiden Romanen die von beiden Autoren beeindruckend beherrschte Kunst des Aussparens und Dennoch-Sagens. Im einen Fall (bei Onetti) entsteht in uns das Portrait eines dem baldigen Tode anheimgegebenen Mannes mittleren Alters, im anderen (bei Bakker) das einer zwar noch relativ jungen Frau in ähnlicher Situation und – ein wenig unpräzis dahinter – das Portrait ihrer wortkargen, eben nur bruchstückhaft aufscheinenden Geschichte und Vorgeschichte. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Leser nach erfolgter Lektüre sein spezifisches Bild von dieser Frau und ihrem Leben als Ganzes haben wird, ohne dass im Buch selbst über bloße Andeutungen hinaus in genauerer Weise triftige Details ihrer Lebensgeschichte mitgeteilt worden wären.

Dass Agnes, sich selber als „Emilie aus Rotterdam“ vorstellend (S.91), die so umfangreiche wie geschwätzige Dickinson-Biographie des Dickinson-Forschers Habegger die sie gegen ihre eigene Erwartung doch nach Wales mitgenommen und eben nicht in ihrem „Büro in Amsterdam“ (S.96) zurückgelassen hatte, schließlich in den Abfalleimer wirft (S.164), scheint mir sprechend genug: Auch eine noch so sehr lückenlos sein wollende Biographie kommt an das Leben eines Menschen nicht wirklich heran. Je angestrengter und detailfreudiger sie sich darum bemüht, umso weniger. Ebenfalls bezeichnend mag es durchaus sein, dass Emilie den Band mit den gesammelten Gedichten der Dickinson selber, obwohl sie diese schon im Ansatz ihrer unvollendet gebliebenen Dissertation keineswegs pauschal zu überschätzen bereit gewesen war, entschieden behält und so weiterhin in Ehren hält.

Ein acht Verse umfassendes Zweistrophengedicht in der englischen Originalsprache eröffnet portalartig, gewissermaßen als Motto Emily Dickinsons, den ganzen Roman Gerbrand Bakkers, ehe wir in die Folge der 61 Kapitel eintreten, die im Verhältnis von 25 : 36 auf die zwei Großkapitel „NOVEMBER“ und „DEZEMBER“ verteilt sind. Als 61. Kapitel steht ganz am Ende, damit dem Roman eine ringförmige Gestalt gebend, eine niederländische (bzw. hier in der Suhrkamp-Ausgabe deutsche) Übersetzung dieser beiden Strophen. Das Originalgedicht hatte nach dem Romantitel das erste, die Übersetzung ganz am Schluss das letzte Wort. Sie wirkt emphatisch unvermittelt als wesentliches Vermächtnis der weiblichen Hauptfigur des Romans; zumal diese Übersetzung ins Niederländische die einzige literarische Frucht ihrer letzten beiden Lebensmonate ist, die sie gezielt zuallerletzt in einem dem Vorbild und Vorleben der Dichterin analogen, ihr selber als Städterin und Ausländerin entschieden fremden ländlichen Rückzugsgebiet zugebracht hat. Noch einmal vor ihrem baldigen Ende will sie sich persönlich als sie selbst erproben.

Auf die Entsprechungen und die Unterschiede, auf die bewussten Adaptionen und die bewussten Abgrenzungen zwischen Emily Dickinson und Emilie, der weiblichen Hauptfigur des Romans, müsste eine nochmalige Lektüre besonders achten.
Einiges jedoch fällt schon bei der ersten Lektüre ins Auge. Agnes (aus Amsterdam!) nennt sich in Wales Emilie (aus Rotterdam!). Wohl bewusst und gleichsam symbolisch nennt sie sich nicht Emily, sondern Emilie; womit sie Nähe und Distanz gleichermaßen andeutet, auch wenn sie in Kauf nehmen muss, dass dieser Name von Bradwen Jones, dem walisischen Jungen, ohnehin englisch ausgesprochen wird. Agnes alias Emilie zieht der Sache nach (mehr indirekt als ausdrücklich) eine Parallele zu Emily Dickinsons ungelebtem Leben und ihrem bisherigen eigenen. Die meisten ihrer Aktions- und Reaktionsweisen, ihrer fluchtartigen Verhaltensweisen, die uns der Roman ins Bewusstsein ruft, lassen sich von diesem Kontext her besser verstehen.

Dazu passt, dass das englische Einstiegsgedicht nicht nur sprachlich übersetzt wird (S.182f.), und zwar so, wie wir es dem abschließenden Übersetzungsergebnis entnehmen können. Noch wichtiger für Agnes alias Emilie ist die mehr als sprachliche, die handlungsmäßig praktische Übersetzung dieses Gedichtes, will sagen: die ihr aus eigener Kraft noch mögliche, praktisch-szenische Umsetzung dieses Gedichtes. Dieses Gedicht wird von ihr zuletzt geradezu inszeniert: Es dient Emilie-Agnes zur selbstbestimmten Verlebendigung ihres Endes, zur selbstbestimmten vorzeitigen Herbeiführung des durch ihre schwere Krankheit in nächster Zeit ohnehin unvermeidbaren Lebensendes. Sie will ihren eigenen Tod sterben. Und auch der junge Mann, Bradwen, der im Dezember (!) gekommen ist und ihr im Angesicht ihrer schrittweise zunehmenden Hinfälligkeit so tatkräftig wie selbstverständlich geholfen hat, mit dem sie sich zuallerletzt, obschon auch einen Sohn in ihm erblickend, als Geliebte noch verbunden hat, vielleicht auch, damit er nur ja keinen Verdacht schöpft, gerade auch dieser soll sie erst n a c h ihrem Tode von neuem sehen. Deswegen schließt sie ihn nicht ohne Eigensinn und Hinterlist etwas entfernter von ihrem vorgesehenen Sterbeort ein und so vor ihrer zum Tode führenden Inszenierung optisch aus, die sie zusätzlich mit für sie sonst unüblicher, klassischer Musik teils übertönt, teils feierlich gestaltet. Ihr Mann, der inzwischen über einen Detektiv auf ihre Spur gekommen ist, findet sie mit dem ihn wegen seines Gipsbeines als Fahrer begleitenden Polizisten – erschließbar, aber in zumindest denkbarer Direktheit unerwähnt – nur als Leiche vor. Eine normale Reaktion empathisch-emotionaler Art des Ehemannes wird nicht mitgeteilt; als wenn sie ohnehin nicht zustandegekommen wäre. Dies spricht eine eigene Sprache: In ihrer Ehe bleibt Agnes alias Emilie allem Anschein nach auch n a c h ihrem Tode noch so allein, wie sie es zuvor in ihrem ganzen kinderlosen Ehe- und früherem Familienleben gewesen ist.

Unabhängig davon: Auch der Junge, der junge Bradwen, begibt sich nach seinem „Umweg“ (S. 151, S. 228f.) von diesem wieder weg auf den ursprünglich von ihm beabsichtigten Weg zurück. Wie eine ihr selber unbewusst Verklärte hat er Emilie-Agnes am Vortage nach ihrem ersten und zugleich letzten Zusammensein in geradezu neuer, so noch nie dagewesener Schönheit gesehn (S.226). Ehe er nun, nach ihrem Tod, (merkwürdig klaglos) wieder seiner eigenen Wege geht, schmückt er den von ihm unlängst für sie festlich geschmückten Weihnachtsbaum wieder ab und pflanzt ihn mit seiner noch lebenskräftigen Wurzel erneut ein. (S.228)

Gerbrand Bakker: „Der Umweg“. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, 228 Seiten; 19,95 €




Meilensteine der Popmusik (7): Santana

José Santana hatte sieben Kinder. Diese musste der mexikanische Mariachi-Musiker durchfüttern. Für Taschengeld reichte es nicht. Die Kleinen halfen sich selbst und lernten von der Musik des Vaters. So bearbeitete sein Sohn Carlos schon mit fünf eine Violine. Zehn Jahre später sang und spielte er für US-Touristen in Bars und Bordellen im mexikanischen Grenzstädtchen Tijuana. Im Gegensatz zu vielen anderen Mexikanern schaffte die Familie Santana den Weg ins Paradies. Das Paradies lag natürlich in Kalifornien, und in San Francisco steppte gerade der Hippie. Das war Mitte der 60er, Sohn Carlos stieß gerade rechtzeitig hinzu, denn in der bunten Multikulti-Szene war noch Platz für die Abteilung „Latin“. Carlos Santana machte einen kurzen Umweg über eine Blues-Band, bis er sein 7-Mann-Feuerwerk Santana gründete.

ABRAXAS

In einer Zeit, in der der universale 4-Mann-Sound (2 Gitarren, Bass, Schlagzeug) das Hitparadeneinerlei beherrschte, wurde Santana zur Sensation. Zwei lateinamerikanische Conga- und Timbales-Spieler hämmerten die Zuhörer schwindelig. Afrikanische und lateinamerikanische Percussion, zusammen mit harter Rock-Musik, das war neu im Geschäft. Das registrierten auch die Veranstalter von Woodstock. Sie engagierten Santana, allerdings ohne Gage. Die Newcomer wurden neben Joe Cocker zur absoluten Entdeckung des Festivals. Der Einsatz hatte sich gelohnt. Schon ihre Debüt-LP wurde zum Millionenseller. Der absolute Knaller kam aber mit dem Nachfolger „Abraxas“ (Name für altägyptischen Gotteskult). Songs wie Peter Greens „Black Magic Woman“ (im Original von Fleetwood Mac/1968), die Latin-Hymne „Oye Como Va“ (im Original von Tito Puente), und nicht zuletzt das von Carlos selbst komponierte und geradezu zelebrierte „Samba Pa Ti“ wurden zu Klassikern.

Äußerlich lag das Album voll im Trend. Der war natürlich was für die Augen und nannte sich „Cover Art“. Diese neue künstlerische Gestaltung einer Plattenhülle hatte für  „Abraxas“ der Hamburger Mati Klarwein vorgenommen. Er zeigte hier einen Ausschnitt aus seinem Gemälde „Annonciation“.  Der Künstler pflegte, nach eigenem Bekunden völlig drogenfrei, die psychedelische Kunst. Das Kunstwerk zeigt eine Collage aus indianischen, afrikanischen und asiatischen Motiven, mit einem nackten, weiblichen Engel im Zentrum. Die kahle Schöne hat Schwingen wie ein Adler, und reitet auf einer Conga durchs Bild. In diesem bunten Hippietraum deutete sich schon die neue Leidenschaft des Carlos Santana an. Meditative Reisen zum indischen Guru Sri Chinmoy veränderten den schnauzbärtigen Lockenkopf. Carlos ließ sich die Haare schneiden, ernährte sich fortan makrobiotisch, und schritt nur noch in weißen Gewändern umher. Und auch von seinen alten Kumpels und der knackigen Karnevalsmusik entfernte er sich immer mehr. „Fusion“ wurde seine neue Liebe. Eine Mischung aus Jazz, Rock und einem Schuss Blues. Der kommerzielle Erfolg war eher bescheiden, doch für Gitarren-Freaks spielte Carlos sowieso in der ersten Liga. Er selbst versuchte später oft an alte Zeiten anzuknüpfen. Erst 1999 gelang ihm ein phänomenales Comeback. Ein Jahr später erhielt er für „Supernatural“ insgesamt 8 Grammys.

Den Anfang machte er aber 1970, auf dem ersten, ganz großen Höhepunkt seiner Karriere, als er der LP Abraxas ein abgewandeltes Zitat aus Hermann Hesses „Demian“ voranstellte: „Wir standen davor und froren innerlich vor lauter Anstrengung. Wir befragten das Gemälde, beschimpften es, liebten es, beteten es an. Wir nannten es Mutter, Hure und Schlampe, nannten es unsere Geliebte, nannten es ABRAXAS…“

Samba pa ti – SANTANA

Vorherige Folgen der Serie: Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6)

 




Ein sechsfaches Prosit auf die Weltgeschichte

Vor etlichen Jahren lernte ich in Amerika bei einer Dinner Show ein junges Paar kennen. In breitestem Südstaaten-Dialekt stellten die beiden sich mit folgenden Worten vor:“Hi, we are Betty and Jim from Atlanta. Atlanta, Georgia. Home of Coca-Cola.“

Das ließ mich damals so fasziniert wie irritiert zurück. Zig Dinge wären mir eingefallen zu Atlanta, Georgia. Scarlett. Tara. Martin Luther King. Die Peachtree Road. Die Sezessionskriege. Meinetwegen auch Coca-Cola. Jedoch nicht als Erstes, Einziges und Wichtigstes. Aber so sind sie, die Amerikaner. Unbändig stolz auf den Siegeszug der braunen Brause als global akzeptiertes, bewundertes Symbol des American Way of Life.

Genau dies bestätigt auch der englische Historiker und Journalist Tom Standage in seinem überraschenden Werk „Sechs Getränke, die die Welt bewegten“. Spätestens seit Coca Cola zum kriegswichtigen Gut geadelt wurde, war der Aufstieg des Getränks von der Brause aus dem Sodabrunnen zur nationalen Institution unausweichlich.

Coca-Cola ist das letzte der 6 Getränke, anhand derer Tom Standage seine Leser unterhaltsam durch die Weltgeschichte führt. Der deutsche Titel führt leicht in die Irre. In diesem Buch geht es nicht in erster Linie um Getränkekunde, sondern die Entstehungsgeschichten von sechs Getränken – neben Cola sind es Bier, Wein, Rum, Tee und Kaffee – werden verknüpft mit einer rasanten Zeitreise von der Steinzeit in die Gegenwart. Der Originaltitel „A history of the world in 6 glasses“ trifft es wesentlich besser. Standage bietet nicht weniger als einen Crashkurs in Weltgeschichte, gepaart mit Exkursen in Technik, Chemie und Religion. Nur wenige der sorgsam recherchierten Verknüpfungen sind weithin bekannt, am bekanntesten dürfte die Boston Tea Party sein. Umso überraschender zu erfahren, dass beispielsweise die Pyramiden wohl ohne die zufällige Entdeckung des Bieres nie gebaut worden oder die Entdeckungen der Kolonialzeit ohne Rum nicht machbar gewesen wären. Besonders spannend die Geschichte des Kaffees. „Das nüchterne Geschenk der arabischen Welt“, es trat seinen Siegeszug im Zeitalters der Vernunft an. Kaffeehäuser etablierten sich als Heimstätten eines Bündnisses aus Kaffee, Innovation und Netzwerk, „eine Art Internet des 17. Jahrhunderts“.

Standage zieht destillierte Schlüsse aus dem „flüssigen Vermächtnis der Kräfte, die unsere Welt geprägt haben“. Dabei räumt er mit bis heute verbreiteten Mysterien auf und stellt neue Thesen auf. So stehe „der Konsum von Coca Cola in engem Zusammenhang mit dem Wohlstand und der Lebensqualität von Ländern“. Gewagt, aber nicht von der Hand zu weisen und daher durchaus bedenkenswert.

Dennoch irritiert seine rigorose Trennung, jeder Periode ein bestimmtes Getränk zuzuordnen. Bier kommt im Buch nur in vorchristlicher Zeit vor, von der „Amphore Kultur“ (Wein) hört man nur bis zum Mittelalter und Tee war das Schmiermittel der industriellen Revolution. Die Dominanz britischer Tea-Time-Kultur bis heute interessiert nur am Rande. Selbst die Prohibition spielt allenfalls im Hinblick auf den Siegeszug von Coca Cola eine Rolle. Standage weist jedem Getränk einen Platz als Katalysator für die Förderung der Kulturen und Zivilisationen zu. Dass jedes dieser Getränke für sich genommen bis heute mehr ist als nur ein Durstlöscher, ist bei dieser Vorgehensweise uninteressant. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass Standage ein allgemeingültiges Standardwerk vorlegen wollte. Vielmehr dürfte es seine Intention gewesen sein, mit einem Augenzwinkern auf die Weltgeschichte zu schauen und Geschichtsmuffeln einen unterhaltsamen Rundgang zu bieten. Dies ist ihm zweifellos gelungen. Und da er seinem Gesamtbild viele unbekannte Details zufügt, dürfte dieses Werk auch den in Historie Versierteren Spaß machen.

„Die Gepflogenheit, sein Glas zu heben, ist uralt und beschwört übernatürliche Kräfte“. Und so ist natürlich auch diese Buchbesprechung nicht entstanden ohne den beherzten Einsatz diverser inspirierender Getränke. In diesem Sinne Salute, Cheers und Prösterken.

Tom Standage: „Sechs Getränke, die die Welt bewegten“. Verlag Artemis und Winkler, Euro 19,99.

Homepage des Autors: tomstandage.com




F. C. Delius zieht Bilanz – diesseits und jenseits der Ideologie

Wenn ein Büchnerpreisträger seinen neuen Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ nennt, so klingt das nach Resignation – und man möchte inständig hoffen, dass er es nicht so meint.

Tatsächlich scheint es, als hätte sich Delius hier noch einmal seines langen literarischen Weges vergewissern wollen. Zeitlich hebt es an mit dem eher unscheinbaren, doch recht glückhaften Auftritt des schüchternen jungen Schriftstellers beim Treffen der damals noch maßgeblichen „Gruppe 47“ im schwedischen Sigtuna.

Das ebenfalls ausgiebig geschilderte Nachfolgetreffen in Princeton/USA nutzte dann der junge Peter Handke ganz gezielt für seine furiose Generalattacke auf die „Beschreibungsimpotenz“ der deutschen Gegenwartsliteratur, also seiner lästigen Konkurrenz. Auch so hochfahrend konnte man sich damals also den Eintritt in die Kreise der Hochliteratur verschaffen. Im grob gewobenen Vergleich steht der bescheidene Delius jedenfalls nicht schlecht da. Auch so eine Marktstrategie.

Nicht nur im Vorfeld der APO-Jahre galt, dass Literatur, wenn sie den Namen verdient, vor platten Ideologien bewahrt – ein Credo, das Delius auch durch die teils dogmatisch erstarrende Nach-68er-Zeit beibehalten hat, als manche gar den „Tod der Literatur“ ausrufen oder die Literatur wenigstens in linke Dienste nehmen wollten. Auch in diesem Punkt möchte Delius sanft darauf hingewiesen haben, dass er damals nicht auf der falschen Seite gestanden hat. Was er sich freilich bis heute vorwirft, ist, dass er nicht vehementer gegen dröhnende Ideologen Einspruch erhoben hat. Wohl auch eine Frage des Temperaments.

Breit ausgemalt wird noch einmal der Konflikt mit dem eigentlich sehr literatursinnigen Verleger Klaus Wagenbach, der in den frühen 70er Jahren unter Einfluss von Baader-Meinhof-Apologeten geraten sei und daher sein Politprogramm für krude Stadtguerilla-Thesen geöffnet habe. Hier sitzt wohl noch ein Stachel: Derart ausführlich schlägt Delius noch einmal die Schlacht von vorvorgestern, dass es sich wie eine noch ausstehende, finale Abrechnung mit dem Wagenbach jener Jahre liest. Ganz so, als wollte Delius nun endlich seinen geistigen Nachlass ordnen und dabei seine damalige Rolle ein für allemal festhalten.

Doch beileibe nicht nur Wagenbach ist damals in den Strudel der Ideologie geraten. Zitat Delius: „Ein unerforschtes Gebiet: Wie sich die Sprache der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1970 ins Offensive, vom Fragen zum Behaupten gewendet, vom Konkreten und Sinnlichen abgewendet, radikalisiert und es sich im Abstrakt-Allgemeinen bequem gemacht hat.“ Jeder, der damals in bissige Polit-Debatten verstrickt war, wird diesen Ansatz seufzend bestätigen. Es waren giftige Jahre, in denen am Streit um die „richtige“ Linie nicht selten Freundschaften oder Beziehungen zerbrachen.

Für einen Schriftsteller, der sich als Teil der Linken begriff, die literarischen Kriterien aber keineswegs preisgeben mochte, müssen jene Zeiten eine stete Gratwanderung, ein schwieriges Lavieren gewesen sein. Zumal Delius sehr frühzeitig – bereits ab 1963 – mit Autorenkollegen in der DDR (Günter Kunert, Wolf Biermann, später Heiner Müller, Thomas Brasch usw.) Freundschaft geschlossen hat, deren Texte er unter schwierigen Bedingungen im Westen zugänglich machte, wenn es nur irgend möglich war. So einer konnte den Moskauer Doktrinen nicht mehr auf den Leim gehen.

Übrigens hat Delius als Lektor beim Rotbuch-Verlag auch die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller erstmals hierzulande herausgebracht. Das ist denn doch ein bemerkenswerter Befund: Gerade linke Literaten und Lektoren haben damals offenkundig ungleich mehr für Autoren aus dem Osten (und somit indirekt für den Fall der Mauer) bewirkt, als die notorischen „Kommunistenfresser“.

Es ist überhaupt eine „Lehre“ dieses Buches: Wer sich den Sinn für literarische Qualität bewahrt und als Kompass nutzt, der widersteht so mancher falschen Lockung. Delius benennt auch einige andere, die auf solche Weise unbeirrbar Kurs hielten; unter den Generationsgenossen vor allem Nicolas Born und Peter Schneider, dazu verehrte Vorbilder von großer geistiger Unabhängigkeit wie etwa Susan Sontag oder Walter Höllerer.

Die Lektüre dieser Delius-Rückblicke setzt ein ausgeprägtes Interesse für Zeit-, Literatur- und Verlagsgeschichte mit ihren Kollektiv-Experimenten speziell der 1970er Jahre voraus. Der Autor breitet auch noch einmal seine langwierigen juristischen Auseinandersetzungen mit dem Siemens-Konzern (nach der fiktiven Festschrift „Unsere Siemens-Welt“, um die es einen erbitterten Satirestreit gab) und mit dem damaligen Kaufhauskönig Helmut Horten aus.

Zuweilen weiß man nicht so recht, was Delius bei seinen „biografischen Skizzen“ (Untertitel) angetrieben hat. Mal lesen sich die Kapitel wie bloße Reminiszenzen für die archivarische Schublade, anderes klingt nach Rechtfertigung und Apologie, wieder anderes nach Materialiensammlung für ein Lesebuch zum Zeitgeist und zum Werkhintergrund des Autors. An manchen Punkten wäre eine präzise Nennung der Zitatstellen dokumentarisch hilfreich gewesen.

Offen klafft schließlich die Frage, ob die Bücher heute weniger oder gar nicht mehr helfen. Der letzte Text des Bandes ist Delius’ Dankrede zum Büchnerpreis, in der denn doch den Worten wieder alles Gewicht gegeben wird: „…am Ende entscheiden in der Literatur (…) allein die Sätze, der Satz. Die Energie und die Unruhe, die sich zwischen zwei Punkten entfalten.“ Es möge so bleiben immerdar.

Friedrich Christian Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben“. Biografische Skizzen. Rowohlt Berlin. 304 Seiten. 18,95 Euro.




Der Werther in uns oder: Goethes Worte brennen heute noch

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Wie wollen wir unser Leben führen? Angepasst, ohne anzuecken, aber auch ohne Tiefe – oder voller Leidenschaft, Emotion, vielleicht auch Einsamkeit? Regisseur Björn Gabriel hat für seine Inszenierung im Dortmunder Studio eine generationsübergreifende, nie endende Frage aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ herausgeschält.

Jüngst wetterte Richard David Precht gegen Werther: Unglaublicher Kitsch sei der Text, „verlogene Sozialromantik“, die aus dem Deutschunterricht verbannt werden müsse. Regisseur Björn Gabriel zitiert den Bestsellerautoren – übrigens herrlich gespielt von Schauspieldirektor Kay Voges – und tritt den doppelten Gegenbeweis an: In Videointerviews lässt er den Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann und Filmregisseur Adolf Winkelmann humorig von der Notwendigkeit des Auf- und Ausbruchs, von Revolte und Freiheit reden. Um dann auf der Bühne zu zeigen, dass Goethes Worte auch heute noch brennen.

Gabriel stellt denn auch weniger allein die unglückliche Liebe von Werther (Sebastian Graf) zu der mit dem angepassten Albert (Ekkehard Freye) verlobten Lotte (Bettina Lieder) in den Vordergrund – und setzt folgerichtig Werthers Selbstmord an den Anfang.

Werther ist verzweifelt an der Welt: Er will, er kann sich nicht anpassen, würgt an der Verlogenheit und Gleichgültigkeit der Menschen um ihn herum und ist voll ungezügelter Wut und Leidenschaft – von Sebastian Graf ungestüm und voller Ungeduld gespielt. Werther will leben, mit all seinen Sinnen – Mittelmaß und Mäßigung sind für ihn erniedrigend. Er ist ein Außenseiter – bis plötzlich Lotte ihn versteht.

Es wäre ein Leichtes, den angepassten Albert nun zur reinen Karikatur verkommen zu lassen. Ekkehard Freye aber spielt ihn als einen Gebrochenen, Verletzten, der in Schönfärberei und Harmonie sein Heil sucht. So lässt Regisseur Gabriel die Möglichkeit offen, Albert und Werther als „zwei Seelen in einer Brust“ zu sehen, Idealismus versus Konformismus – und Lotte hin- und hergerissen zwischen beiden (überzeugend zwiespältig von Bettina Lieder gespielt).

Sicher ist nicht immer subtil, was auf der Bühne geschieht: Es wird geschrien und gekocht, Reis und Champagner fliegen durch den Raum, riesige Projektionen (Daniel Hengst) sind mal überstilisiertes Idealbild, dann Videotagebuch für die Innenschau. Schade auch, dass es bei der Premiere teils Ton-Probleme gab. Der Grundkonflikt aber berührt. Sind wir nicht alle ein bisschen Werther?




Zaghafte Annäherung – Hanna Lemkes „Geschwisterkinder“

Milla und Ritschie sind Geschwister, gemeinsam verlebten sie eine wohl als normal und behütet zu bezeichnende Kindheit. Mittlerweile sind sie in ihren Zwanzigern, leben beide in Berlin, räumlich nicht weit voneinander entfernt und einander doch entfremdet. Es gab keinen greifbaren Anlaß für die Distanz, die zwischen ihnen entstand. Eher war es die Trivialität ihrer Alltage, die beide verstummen ließen und dazu führte, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Was sie noch eint, sind die Erinnerungen an die Zeit, als der große Bruder die kleine Schwester Milla beschützte und ihr den Weg ebnete. Wenn auch jeder von ihnen sich seiner Erinnerungen nicht sicher ist, „wie viele Erinnerungen es geben mochte, die niemals wieder hervorgerufen wurden.“

In ihrer in fünf Abschnitte gegliederten Erzählung Geschwisterkinder berichtet die junge Autorin Hanna Lemke von einer langsamen Wiederannäherung zweier Geschwister im oft flüchtigen Umfeld einer hektischen Großstadt. Der Besuch eines alten Freundes ihrer Familie und die Einladung zu einer Hochzeit von Bekannten sind die Auslöser dafür, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie beginnen zu reden, über ihre Gedanken und Gefühle. Über die Zeit, die sie hatten und die Zeit, die vor ihnen liegt. Sie erkennen, dass nicht jede Erinnerung eine glaubwürdige sein muss und sie es verdienen, einander ganz neu kennen zu lernen und ihre erstarrte Beziehung zu beleben. Sich gegenseitig die Angst vor all dem zu nehmen, was sich in ihrem Leben falsch und fremdbestimmt anfühlt. Schließlich wagt der ältere Bruder ein klares, ehrliches Hilfsangebot. Für die nächste Zeit wird er wieder derjenige sein, der die kleine Schwester beschützt und unterstützt auf ihrem Weg zu sich selbst. Auch wenn ihrer beider Leben scheinbar einfach nur seinen Lauf fortsetzt, die Gangart in diesem Lauf wird eine andere sein.

Hanna Lemke legt mit ihrer Erzählung zwei fein gezeichnete Charakterstudien vor. Ihr klarer Bericht zwingt den Leser zur Langsamkeit, dazu jeden ihrer poetischen Sätze so genau und bewusst zu lesen, wie sie auch geschrieben wurden. Hanna Lemke erzählt geschliffen, sie beobachtet genau, fast schon detailverliebt, aber sie wertet nicht. Der Leser mag seine eigenen Schlüsse ziehen. Zwar kommt er den Geschwistern näher, doch so richtig versteht er sie nicht. Zur Identifikation wird er nicht aufgefordert. Er bleibt seltsam distanziert und ein Beobachter aus der Ferne. Man legt das Buch tief beeindruckt aus der Hand, doch richtig begeistert ist man nicht. Das Bemühen der Autorin, die Beziehung der Geschwister auf das Wesentliche zu reduzieren – vielleicht ist es zu radikal. Auch wenn man die Abgründe hinter der Banalität des Lebens spürt, der letzte entscheidende, empathische Funke – mir hat er gefehlt.

Nachwirken werden Hanna Lemkes Sätze. Sätze wie gemalt, fein komponiert. Es sind Sätze, die man sich in die eigene Erinnerung mitnehmen und von denen man sich begleiten lassen kann.

Die gebürtige Wuppertalerin Hanna Lemke studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2010 debütierte sie mit dem Kurzgeschichtenband Gesichertes, welcher von der Kritik hoch gelobt wurde. Auch Geschwisterkinder ist in Summe eine lesenswerte Erzählung, die Lust auf mehr von dieser jungen Autorin macht.

Hanna Lemke: „Geschwisterkinder“. Erzählung. Verlag Antje Kunstmann. 127 Seiten. € 14,95




Meilensteine der Popmusik (6): Foreigner

Ein nordatlantisches Bündnis der zwei führenden Rock-Großmächte wäre in den 60er Jahren unvorstellbar gewesen. Die Rockszene war damals ein Kampfschauplatz, begleitet von der dazugehörigen Kriegsberichterstattung. Kaum hatten die Beatles Amerika erobert, rückten etliche Gruppen von der Insel nach. Die US-Presse begleitete die „britische Invasion“ mit großer Sorge, Patrioten forderten einen Gegenschlag. Der kam dann auch prompt, und geballt, z.B. mit Flowerpower, Psychedelic und den Retortenclowns „The Monkees“.

Mit der Zeit verhärteten sich die Fronten, und die Stellungen waren mehr oder weniger eindeutig auszumachen. Die Briten hatten mit Deep Purple, Pink Floyd und Led Zeppelin den Rock als stärkste Waffe, die Amerikaner konterten mit Blackmusic: Soul, Phillysound, Disco und Funk (alles unter der Marke „R&B“). Die Grenzen waren eigentlich klar markiert, und doch gab es immer wieder Überläufer. Zum Beispiel den Londoner Mick Jones. Dieser hatte schon mit George Harrison, Peter Frampton und anderen Größen getingelt, und sich jetzt in New York als Manager einer Plattenfirma niedergelassen. Bei Studioarbeiten (u.a. für lan Hunter) freundete sich Jones mit zwei weiteren Briten, und zusätzlich zwei Amerikanern an. Man beschloss, es doch mal als Gruppe zu versuchen. Mick Jones hatte zwischenzeitlich ein paar Songs der relativ unbekannten US-Gruppe „Black Sheep“ gehört. Er mochte die Stimme des Sängers und fragte nach, ob er seinen Arbeitsplatz wechseln wolle. Das Angebot stimmte, und Sänger Lou Gramm machte die Quote der neuen Rock-Gruppe ausgeglichen: 3 Briten trafen auf 3 Amerikaner. So oder so gesehen waren die sechs untereinander Ausländer, und folglich nannte man sich schlicht: Foreigner.

Schon im Gründungsjahr 1976 unterschrieben sie einen Plattenvertrag und gingen mit 20 fertigen Songs ins Studio – Professionalismus von Anfang an. Gleich die erste LP schlug voll ein. Mit über 4 Millionen verkaufter Exemplare und drei Hit-Singles (darunter der Klassiker „Cold as ice“) war Foreigner aus dem Stand etabliert. Als großer Organisator und heimlicher Kopf stellte sich bald Mick Jones heraus; der Sänger Lou Gramm wurde sein Gegenpart und optischer Frontmann der Band. Beide versuchten, den britisch-amerikanischen Rocksound im Gleichgewicht zu halten. Es war eine ständige Schaukelpartie, vor allen Dingen bei den nächsten LPs. Kritiker warnten schon vor dem Untergang im Synthesizer-Sumpf, einer Stilrichtung, die damals vor allen Dingen in den USA sehr erfolgreich war. Mick Jones und Lou Gramm schienen die Gefahr erkannt zu haben und schrumpften ihr Projekt diesmal zu einer echten Rockformation.

Ihr viertes Album wurde nur noch zu viert eingespielt und hieß schlicht „4“. Es wurde ihr mit Abstand erfolgreichstes, mit weit über sechs Millionen Verkäufen allein in den USA. Zehn Wochen stand „4“ an der Spitze der US-LP-Charts. Der erfolgreichste Song aus dieser LP war „Waiting for a girl like you“. Eine Traumballade, die einen seltsamen US-Rekord aufstellte: Es wurde die erfolgreichste Nummer 2 der Hitparaden-Geschichte. Ganze zehn Wochen stand die Single dort, ohne es ganz nach oben zu schaffen (dort stand damals Olivia Newton-Johns „Physical“ wie eine eins). Die so umstrittene Synthesizer-Arbeit hatte man auf „4“ übrigens einem Fachmann der Extraklasse überlassen, dem Experimental-Rocker Thomas Dolby. Ansonsten kehrte der geradlinige, schnörkellose Rock zurück. Zu hören bei weiteren Welthits wie „Jukebox Hero“ oder „Urgent“. Für letztere Aufnahme holte man sich sogar die Motown-Legende Jr. Walker ins Studio. Er blies ein flippiges Saxophonsolo, das man dem älteren Herrn so gar nicht mehr zugetraut hatte.

Foreigner blieb noch für ein paar Jahre eine der erfolgreichsten Rockbands, bis sich die Köpfe Jones und Gramm immer mehr „auseinandermusizierten“, und die beiden sich schließlich regelrecht anfeindeten. Da brach er wieder auf, der britisch-amerikanische Rock-Konflikt, der in einer müden Solo-Karriere des Lou Gramm und der vorläufigen Trennung von Foreigner gipfelte. Waiting For A Girl Like You – Foreigner

 

Vorherige Folgen der Serie: Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5)




Emotionen im Blick – Fotos als Seelenspiegel

Aino Kannisto: White Stones

Da steht sie nun, mit leeren Händen: eine junge Frau, rothaarig, schwarzweißes Kleid und kalkige Finger, inmitten einer grau-weißen Steinwüste. Sie blickt – ins Leere? Oder doch mit ängstlichen, erstaunten Augen in die Kamera? Das Bild, nein, diese Frau, die finnische Fotografin Aino Kannisto, ist uns ein Rätsel. Sie hat sich selbst abgelichtet, wieder und wieder. Doch es sind keine Porträts, die uns die Bochumer Galerie m hier zeigt, sondern sorgfältig vorbereitete, klar strukturierte Inszenierungen. Und der Titel der Schau, „She and She“, führt zu einer weiteren Erkenntnis: Kannisto schlüpft in Rollen, als wollte sie sagen „Ich bin eine andere“.

Was den jeweiligen Ort betrifft, scheint er vieles auszudrücken, nur nicht eins, die reale Welt. Die Frau im Bade: Ein Foto in unwirklichem Weiß, gebrochen nur durch Terrakotta-Kacheln und den von Patina durchsetzten Armaturen der Wanne. Ihr Blick scheint die Frage „Was soll ich hier“ auszudrücken. Die Frau im Garten sitzend: Sie mag Héléne heißen, so sagt es jedenfalls die Tasse, die vor ihr steht. Sie piekt mit der  Gabel wie lustlos in ihrem Kuchen herum. Doch was bedeuten die drei anderen Tortenstücke? Ist da jemand nicht gekommen?

Schließlich, die Frau neben einer rostrot bepinselten Holzwand. Eine wunderbare Licht-Schatten-Komposition. Sie trägt das Haar offen, ein schwarzes Kleid, die sommersprossigen Arme sind frei. Das einzige Bild von 20 Exponaten, in dem uns ein leicht herausfordernder Blick anschaut. Doch eigentlich, auch hier die große, irritierende Melancholie.

Aino Kannisto: Woman sitting in the garden

Kannistos Fotos wirken bisweilen wie Filmstills.  Standbilder inmitten einer Geschichte, die der Fantasie des Betrachters entspringen darf. Doch gleichzeitig bedeutet dieses Auf-den-Punkt-Bringen ein Verharren in der Lautlosigkeit, ja Einsamkeit. Kein Lächeln – eine Künstlerin stellt sich ins Zentrum von Inszenierungen, die vor allem eins suggerieren: Ich habe viel Bekümmernis.

Dieser Kummer nimmt seinen Lauf in teils unwirtlicher Umgebung. Die Frau unter einem weißen Tuch auf einer abgenutzten Steinbank liegend – ein Bild wie aus der Pathologie. Oder sitzend in einem schäbigen Zimmer, widerwillig in einer geknackten Walnuss pulend. Anderswo in einem heruntergekommenen Treppenhaus stehend, die braune Tür neben sich, selbst wie dramatisch gealtert wirkend. Ein düsteres Foto, wären da nicht die hellen Hautpartien, die sehr plastisch für die Ausgewogenheit der Lichtverhältnisse sorgen.

Viele sagen, Porträtfotographie ist dann gelungen, wenn es gelingt, in die Seele der Person zu blicken, die sich vor der Kamera befindet. Streng genommen hat Kannisto nicht sich selbst porträtiert, aber in die Seele schauen kann der Betrachter dieser Frau/diesen Frauen schon.

Ganz offensichtlich und von beiden auch so verstanden, handelt es sich indes bei den Fotos von Nevin Toy-Unkel und Dirk Vogel, zu sehen im Jüdischen Museum Dorsten, um Porträts. Um Bilder von Menschen, die eine Vergangenheit mehr oder weniger mit sich herumschleppen, die recht oder schlecht in der Gegenwart verankert sind und skeptisch bis hoffnungsfroh in die Zukunft schauen.

Ayse Simon, Anästhesistin aus Herne. Foto: Nevin Toy-Unkel

Sie alle leben in Deutschland, sie alle kamen aus der Fremde. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denen sich der Dortmunder Dirk Vogel mit Behutsamkeit und sensiblem Gespür für den rechten Moment, den Auslöser zu drücken, nähert. Andererseits Migranten aus der Türkei, oder Deutsch-Türken der jüngeren Generation, die Nevin Toy-Unkel, in Marl lebend, überwiegend als freundlich dreinblickende Menschen fotografiert hat.

Wie etwa das smarte Unternehmer-Paar, das gleichsam für sich wirbt oder die Anästhesistin, die lächelnd und stolz in die Kamera schaut. Alle abgelichtet in ihrer jeweiligen Lebenssituation, in vertrauter Umgebung also, die im übrigen  wichtiger Bestandteil des Bildaufbaus ist.

Valeria Geruhmanova im geblümten Kleid. Foto: Dirk Vogel

Dirk Vogel wiederum ist seinen „Modellen“ an deren Lieblingsplätze gefolgt. Er fokussiert mehr auf die Gesichter, pflegt gleichzeitig die Liebe zu Details, die auf den jüdischen Glauben der Porträtierten verweisen. Da ist etwa die Dame im blütenbunten Kleid, die melancholisch in die Ferne schaut, im Hintergrund ein siebenarmiger Kandelaber. Oder die junge Frau mit Hut und schmalem Gesicht, die an den Film „Yentl“ mit Barbra Streisand erinnert.

Große Texttafeln sagen uns etwas über den Lebenslauf dieser Menschen, ihr Befinden und ihre Wünsche. Doch auch ohne das Geschriebene lassen die Bilder von Vogel und Toy-Unkel Deutungen zu. Das ist beeindruckend.

www.jmw-dorsten.de

www.m-bochum.de

 




Boltanskis Abo-Falle

Selten konnte die Netzkunstwelt etwas derart Undurchdachtes registrieren: Der hochgelobte, vielgerühmte Christian Boltanski hat einen Webshop basteln lassen, über den er – darin vergleichbar mit einer Pornoseite – per Abonnement gegen eine Monatsgebühr von zehn Euro zehn einminütige Filme vertreibt – jeden Monat einen.

Der Künstler, Jahrgang 1944, überdies dreimaliger documenta-Teilnehmer und Kaiserring-Träger 2001, verpflichtet den Abonnenten von www.christian-boltanski.com ferner zu einem kompletten Jahresabschluss. Mehr gibt’s dort nicht. Im Unterschied zu den Profis der Abo-Zocker lockt der Meister des Inventarismus nicht mit Previews, Goodies oder sonstigen Angeboten. Nicht einmal ein Pressebutton oder Info-File ist verlinkt. Der Rezipient erwirbt den Zugang als sprichwörtliche Katze im Sack.

Nun lässt sich hinsichtlich des Popularitätsgrads und der allseits dem Werk attestierten Bedeutungsschwere wie -höhe des französischen Meisters argumentieren, dass es sich um hintersinnig-konzeptuelles Wirkeln handele, das zu diesem poveren Ergebnis geführt hat. Sicher, die Mechanismen, mit denen die ausschließlich französischsprachige Site funktioniert, sind ein wenig anders als bei den kommerziellen Kollegen.

Auf der spartanisch-schmucklos grauen Seite mit ihrer schwarzen Allerweltstypografie leiten nur wenige Links am unteren Rand den Besucher. Der erste führt zum Filmarchiv, daneben lassen sich bereits erworbene Dateien auf ihre Authentizität hin prüfen. Es gibt einen Zugang zum Account, den man anlegen muss. Natürlich noch die typische Enfilade des Vertragsabschließens bis zum Payment. Ein Impressum und ein Verweis auf die Werbeagentur, die wahrscheinlich das Projekt hat programmieren lassen, vollenden den Strauß der Möglichkeiten.

Man könnte meinen, der Künstler hebele auf diese marktaffine Weise, aber eben mit anderen gestalterischen wie inhaltlichen Mitteln, die Ökonomisierung nicht nur von Original und Kopie, sondern auch von Urheber- und Verwertungsrechten aus. Außerdem suche er – wie vor Jahren schon Musiker wie die Einstürzenden Neubauten oder Radiohead – nach freieren, galerie- bzw. labelunabhängigen und direkteren Distributionswegen und spiele mit der Utopie derselben.

Man liest bereits im Geiste die Elogen der Fans: „Christian Boltanskis neue Website affirmiert und verweigert sich gleichermaßen dem Gedanken des Social Web-Hypes und rangiert daher in einer Art Zwischenreich: Es spiegelt und konterkariert die Mechanismen der zunehmend aggressiver agierenden Kreativwirtschaft, aber auch der Piratenkultur, und legt mit einfachen Mitteln gleichermaßen die Sehnsucht nach Authentizität in einer zunehmend abstrakter werdenden sozialen Sphäre bloß. Blahblubb…“ Ende des imaginierten Zitats.

Aber nein, dieses Angebot muss auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Es ist schlichtweg schwach und spiegelt letztlich in keiner Weise so etwas wie den Hacker-Spirit, den man angesichts der Flughöhe des Projektleiters und -schöpfers hätte erwarten können. Dieses Angebot schreit es förmlich heraus: Im Internet sind selbst die Verheißungen großer, etablierter Künstler nicht viel mehr als eine werbewirksame Maßnahme zur Akquise von Bargeld, selbst wenn diese im intellektuellen Gewand daher kommt. Keine Partizipation, nur Rezeption: Ein weiteres Merkmal der Seite. Keine formale wie inhaltliche Spiegelung der eingesetzten Mittel.

Wenn ein Künstler so ein Thema anfasst, sollte er sich mit Spezialisten zusammensetzen, die nicht nur etwas von der Gestaltung des Scheins verstehen. Das Netz hält mehr bereit, verlangt daher auch nach anderen, intelligenteren künstlerischen Strategien, und eine einfache Bezahlschranke lässt sich genauso wenig als künstlerisches Mittel schön schreiben wie ein minimalistisches Layout. Die einzige Leistung dieser Site ist ihr Modus: die  absolute Assertion.




Das Revier möchte auch mal wieder Kohle sehen

Bislang waren die Touristik-Werber der Region Ruhr stets gehalten, das Revier als normalisierte oder gar potente Gegend mit einmaligen Monumenten und weitgehend gelösten Strukturproblemen zu verkaufen.

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Es sollten einem schier die Augen übergehen: Kulturelle und sonstige „Leuchttürme“, wohin man auch blickte, seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010 war gar eine Nachhaltigkeit sondergleichen wirksam, hieß es vollmundig. Mit Pauken und Trompeten wurde eine wachsende „Kreativwirtschaft“ ausgerufen. Selbst die bislang zum Himmel stinkende Kloake namens Emscher wird renaturiert und fließt auf manchen Strecken schon als lieblicher Bachlauf, in Dortmund lockt ein neuer See die Immobilienbranche. Blühende Landschaften also, so wie es Kanzler Kohl einst dem deutschen Osten versprochen hatte?

Doch halt! Schwenk um 180 Grad. Sieht’s in jenem Osten nicht längst ungleich edler, schmucker, aufgeräumter und ziviler aus? Damit verglichen, so klagen Stadtväter im tiefen Westen immer mal wieder, sei das Ruhrgebiet eine Landschaft auf Abbruch. Hier würden Schwimmbäder geschlossen, im Osten hingegen neue errichtet – vom seit 20 Jahren munter ostwärts fließenden Solidaritätsbeitrag, für den unter Finanznot ächzende Revier-Kommunen horrende Kredite aufnehmen müssen. Mit ähnlichem Drall geht es beileibe nicht nur um Schwimmbäder, sondern auch um Jugendzentren, Kinderbetreuung, kulturelle und städtebauliche Pretiosen sowie halbwegs ordentlichen Straßenbau. Dortmunds OB Ullrich Sierau (SPD), der sich gern weit aus dem Fenster reckt, nennt den „Solidarpakt Ost“ denn auch ein „perverses System“.

Mit großem Aufschlag hatte sich gestern die „Süddeutsche Zeitung“ das Thema zu eigen gemacht und im alarmierenden Ton das „Verbrechen am Tatort Ruhrgebiet“ kommentiert. Wenn nicht jetzt sofort (statt 2019) der einseitig zugunsten des Ostens aufgehäufte Soli abgeschafft werde, so könne das Ruhrgebiet bald kollabieren. Natürlich sind die Medien des Reviers darauf eingestiegen. Tenor, wie zu erwarten: Jetzt sollen die anderen mal für uns zahlen! Kohle her! Da ist einiges dran, und es wäre gut, wenn darüber mal richtig hartnäckig geredet würde. Doch man mag nicht so recht daran glauben und ließe sich so gern eines Besseren belehren.

Selbstverständlich hat das plötzliche Aufkommen der Debatte vornehmlich mit dem NRW-Landtagswahlkampf zu tun. Der Verfall der Ruhrgebiets-Kommunen kann – nach dem Verständnis der SPD-Stadtväter – weit überwiegend dem schwarzgelb-regierten Bund angelastet werden. Hannelore Krafts CDU-Gegenkandidat Norbert Röttgen wäre somit ein Teil der Misere, wie jetzt punktgenau lanciert wird. Der Mann, der sich nicht offen für Düsseldorf entscheiden mag, ist angeblich ohnehin chancenlos. Mit dem „Soli“ will man ihn vollends erwischen. Oberschlau eingefädelt?

Und womit locken wir jetzt die Touristen? Mit dem blanken Elend? Nein, nein, es wird ja mal wieder alles himmelblau und rosig.




Sarrazin hat es wieder getan

Was wird das wieder für eine mediale Aufregung geben! Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) hat ein neues Buch fertig, das in einigen Wochen erscheinen wird.

Dem welthistorischen Anspruch entsprechend, wird Sarrazin sein Buch demnächst im Luxushotel einer deutschen Metropole der Presse vorstellen. Mehr über diesen Termin zu verraten, wäre allerdings grob fahrlässig.

Dem bloßen Buchtitel nach zu urteilen, schafft der Mann diesmal Europa ab – oder wenigstens den Euro. Jedenfalls auf dem Papier. Da darf man wohl manche Schwänke über verschwenderische Südländer, insonderheit Griechen, erwarten. Und weiter, weiter: Wenn der Euro erst einmal weg wäre, könnte ihn der Türke nie niemals nicht bekommen. Alsdann hätten wir wieder unsere starke Mark ganz allein für uns. Hach!

Von solcher Autonomie Deutschlands haben schon andere geträumt.

Aber lassen wir das. Vorerst ist’s ja nur eine spontane Spekulation zu Sarrazins Schreibe. Doch sie wird schon nicht völlig fehlgehen. Darauf so ziemlich jede Wette.




Dreiautorentreffen: Peter Henisch, Franz Kafka, Karl May

HENISCHKAFKAMAY

Zu Beginn von Peter Henischs, im Februar 2012 nach der Erstauflage 1994 erneut im Residenz Verlag aufgelegter Romanerzählung „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ erbricht sich ausdrücklich drastisch nicht etwa Ottos Mops und auch kein Pferd vor irgendeiner Apotheke, sondern ein noch junger Mann von 25 Jahren, der sich, etliche Seiten später, als Franz Kafka herausstellt. Das heißt: seinen vollen Namen erfahren wir offiziell erst auf Seite 68, wie auch kurz zuvor den jenes anderen Schriftstellers, dem (samt zweiter Ehefrau Klara) Franz Kafka auf seiner fiktiven Überfahrt nach New York völlig unerwartet begegnet und der sich als erster (nach bereits am Vortag zufällig erfolgter erster Bekanntschaft miteinander) vorstellt, nämlich jetzt mit seinem richtigen Namen, und damit sein anfängliches Inkognito (= Mr. und Mrs. Burton) lüftend: Karl May; oder auch: „Dr. Karl May“, wie er etwas hochstaplerisch sagt.

Doch auch der Untertitel des Romans („Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete“) – nicht unähnlich den partiell vorwegnehmenden Kapitelüberschriften, wie man sie mitunter bei Grimmelshausen, E. T. A. Hoffmann oder Irmtraud Morgner finden kann – hatte auch so schon bereits verraten, dass wir auf die Begegnung der so interessant ungleichen Schriftsteller May und Kafka gefasst sein dürfen, die sich, wie alsbald vermittelt wird, zur gleichen Zeit (Anfang September 1908) auf einer mehrtägigen Schiffsüberfahrt von Bremerhaven nach New York befinden. Die lizenzierte, inzwischen vergriffene Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags vom Februar 1996 hat mit der Wahl des Titelphotos (fahrendes Ozeanschiff + Silhouette von New York) im Übrigen auch Letzteres von vornherein nahegelegt.

Nun aber! Welch schöner Lesezustand hätte das sein können, so male ich es mir aus, wenn nicht der Untertitel und auch nicht der Waschzettel des Verlags und auch kein Prospekt oder Zeitungsbericht irgendetwas vorher verraten hätte, und wir Lesende uns hätten einlassen können auf diese noch nicht sofort identifizierten Figuren! Ab wann hätten wir es denn dann gemerkt, dass die Rede von Franz Kafka ist, einerseits, und andererseits von Karl May und von dessen 2. Ehefrau Klara? Vielleicht hätten wir uns daran erinnert, dass es einen kurzen Prosatext Franz Kafkas mit eben dem Titel gibt, den Henisch für seinen Roman als Haupttitel gewählt hat, und dies schon als Fingerzeig genommen. Doch ohne Titelhinweis? – Spätestens als der junge Mann dem Herrn Burton, hinter dem sich niemand anderer als Karl May verbirgt, seinen eigenen Kurzprosatext „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ auswendig vorträgt, wäre für eingeweihte Kafka-Leser die Identität enthüllt. “Spätestens“ sage ich, denn auch vorher werden Indizien, signalartige Hinweise für literarische Rätselrater von Zeit zu Zeit eingestreut; allerdings wie selbstverständlich, und vollkommen unaufgeregt.

Übrigens verwendet der Einstiegssatz, der erste Satz des Romans, nicht etwa die feinere Bezeichnung „sich erbrechen“, sondern unumwunden und gezielt das kräftigere, drastischere Wort „kotzen“. Gleich im ersten Satz des Romans wird (wiewohl noch anonym) ein kotzender Franz Kafka gezeigt. Er ist seekrank geworden. – Die Auskunft lautet sonach rigoros verknappt: Kafka steht an der Reling und kotzt. Das klingt so drastisch wie körpermäßig real.

Und doch: So ganz stimmt das nicht. Erzählt wird zunächst ganz entschieden im Konjunktiv II. Der Wechsel in das erzählerische Imperfekt erfolgt erst nach und nach; und reizvoll überschaubar.

Heraufbeschworen wird insgesamt eine real nicht zustandegekommene Begegnung von Franz Kafka und Karl May zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Zu einem Zeitpunkt, der genau datiert wird: 6. September 1908 und die Tage danach.

Von Anfang an ist klar: Wir werden dazu eingeladen, uns eine Situation vorzustellen, die es s o nie gegeben hat. Und die große Kunst des Autors Peter Henisch besteht darin, uns dazu zu bringen, dass wir uns ausgesprochen gerne auf dieses Spiel einlassen, bis wir uns unversehens vorstellen können: Es hätte alles so sein können. Beziehungsweise: War es nicht so? – Fakten und Hintergründe aus Franz Kafkas und Karl Mays Leben werden so klug wie einleuchtend, ja geradezu schwerelos in das erfundene Geschehen auf dem Atlantikdampfer eingebunden, dass wir den Eindruck haben, sehr viel Authentisches über diese beiden so sehr unterschiedlichen Menschen und Schriftsteller zu erfahren; aber nicht nur über diese beiden, sondern ähnlich viel über Karl Mays Frau Klara, dank und vermittels derer aus der im Untertitel suggerierten Zweierkonstellation durchaus pointiert eine unverkennbar geschehensbedingende wie heuristisch aufschlussreiche Dreieckssituation wird.

Auf diese Weise kann der Roman, ohne irgendwo allzuschwer zu lasten, auf sehr verschiedenen Ebenen gelesen werden: a) als ein vielfältig verschlungenes bzw. mehrbödiges Spiel von Fiktion und Realität, b) als ein doppelter bzw. versteckt dreifacher Künstlerroman im Spannungsfeld von sogenannter E- und U-Literatur, c) als ein Dreiecksroman in der grundierenden Konstellation älterer Mann und jüngere Frau und junger Mann, d) als ein erzählerisch-szenischer Versuch über den Erfolg und das Scheitern, e) als eine romanhafte Erkundung der Happy-End-Frage, wie auch – und das nicht nur hierarchisierend-bildhaft (vgl. Schiffsmetapher) – f) der sozialen. Die einzelnen Kapitel des Romans (sieben an der Zahl) folgen sinnvoll und folgerichtig aufeinander, binden behutsam und beglaubigend Rückblicke mit ein und vermögen jeweils in sich abgerundet für sich zu stehen. Strukturierende Entsprechungen und Variationen im Verlauf gibt es auch: Zu Beginn des 1. Kapitels „rettet“ das Ehepaar Burton alias May den eigentlich nur seekranken jungen Mann, der sich allerdings so weit vornüber beugt, dass er über Bord zu stürzen droht, und nach der Séance mit dem Ehepaar May (im 6. Kapitel) befindet sich der Herr Franz so sehr in Trance, dass er unmittelbar anschließend abermals über Bord zu gehen zu drohen scheint und abermals von Herrn May auf das Geheiß seiner Frau „gerettet“ wird. Die Situation des Anfangs kehrt also auf ähnliche Weise wieder und ist doch nicht bloß Wiederholung, wie der weitere Fortgang zeigt.

Bei dieser Doppelung einer bestimmten Rettungssituation könnte im Übrigen folgender literarische Vergleich erhellend sein: Die erste Situation gemahnt vielleicht an eine Episode aus Thomas Manns Künstlernovelle „Tonio Kröger“, dort aus dem 7. Kapitel: „Aber dort hinten stand, tief über Bord gebeugt, der junge Mann aus Hamburg und ließ es sich schlecht ergehen.“ Und die zweite Situation erinnert womöglich an Heinrich Heines Gedicht aus dem Gedichtzyklus „Die Nordsee“: „Seegespenst“, das auch in Fontanes „Effi Briest“ eine gewisse Rolle spielt, und dessen Schlussstrophe wie folgt lautet: „Aber zur rechten Zeit noch / Ergriff mich beim Fuß der Kapitän, / Und zog mich vom Schiffsrand, / Und rief, ärgerlich lachend: / „Doktor, sind Sie des Teufels?““ –

Das 5. Kapitel in Henischs Roman ist durchgängig als eine Folge von Briefen bzw. in Form eines einzigen langen, immer wieder neu ansetzenden Briefes von Franz (Kafka) an Max (Brod) gestaltet. Die derart wechselnde Kapitelgestaltung lockert das Ganze auf, wirkt überdies auch glaubhaft, weil Kafka tatsächlich in dieser Zeit so manchen Brief an Max Brod geschrieben hat. Auch stilistisch nehme ich diesen langen untergliederten Brief als einen Franz Kafka (zumindest der Figur Franz Kafkas, wie wir sie bei Henisch kennenlernen) durchaus zuschreibbaren hin, ohne allerdings ernsthaft stilistische Briefschreibvergleiche durchgeführt zu haben oder auch nur durchführen zu wollen. Zu sehr leuchtet mir die Henischsche Briefschreibversion von ihr selber her ein.

Zusätzlich erwähnt werden mag, dass die „Neuauflage“ 2012 als „eine vom Autor überarbeitete“ (S.4) daherkommt. Der genaue Vergleich mit der lizenzierten Taschenbuchausgabe von 1996 führte bei mir zu folgendem Befund: Peter Henisch hat seinen erstmals 1994 erschienenen Roman nirgends verändert. Sogar die alte Rechtschreibung hat er beibehalten. Da er ansonsten frühere Werke in bearbeitenden Neuauflagen durchaus verändert hat (vgl. z. B. den ebenfalls sehr lesenswerten Roman „Die kleine Figur meines Vaters“), bedeutet „überarbeitet“ in diesem aktuellen Falle wohl: Noch einmal durchgesehn und für gut befunden! Auch ich habe in der ersten Auflage nichts gefunden, was der Autor in der Neuauflage hätte ändern sollen. Ein durchweg gelungenes Buch, das viele Leser… verdient. Und beileibe nicht nur im Karl-May-Jahr 2012.

Peter Henisch: Vom Wunsch, Indianer zu werden / Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete, 153 Seiten, Residenz Verlag, vom Autor überarbeitete Neuauflage 2012, € 19,90




„Politische Verbrecher, Sozialdemokraten und Anarchisten“

Im kommenden Jahr will die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihr 150-jähriges Bestehen groß feiern. Sie ging aus dem am 23. Mai 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) hervor und war zunächst großen Anfeindungen ausgesetzt – auch im „Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet“, wie man damals das Ruhrgebiet noch nannte.

Die Erfolge der SPD bei der Wahl 1903 ängstigten die Bürgerlichen

Damals, zu Kaisers und zu Bismarcks Zeiten, rückte der Staat die Sozialdemokraten noch in die Nähe der „politischen Verbrecher“. Allerdings standen bis 1918 alle politischen Parteien unter Beobachtung der Sicherheitspolizei. Im Stadtarchiv Ennepetal zum Beispiel lagern noch heute die Akten, in denen die entsprechenden Anweisungen gesammelt sind: „Sozialdemokratie und unerwünschte Personen“ hieß das Kapitel im damaligen Amt Milspe, aber auch die Akten mit den Sammelbezeichnungen „Überwachung von Personen“ und „Tumultschäden“ gehören zu diesem Komplex. Im benachbarten Amt Voerde bezeichnete man den gleichen Vorgang mit dem Aktentitel „Politische Verbrecher, Sozialdemokraten und Anarchisten“.

Die Sicherheitspolizei in den Gemeinden musste jeweils über die Bezirksregierung genaue Berichte an das preußische Innenministerium liefern. Diese Berichte sind allerdings, da man noch keine Kopierer kannte, fast nie in den Akten enthalten. Lediglich über eine Wahlversammlung in einer Voerder Gaststätte aus dem Jahre 1903 ist ein Bericht überliefert. 400 Personen drängten sich in dem kleinen Saal, doch alles sei „in ruhigem Maße“ verlaufen. Das war neun Tage vor der Reichstagswahl 1903, bei der die SPD – zum Schrecken der Bürgerlichen – 82 Mandate erringen konnte. Das hatte die Ennepesträßer Polizei aber wohl so nicht erwartet, denn sie hatte noch kurz vorher an die Regierung berichtet: „Von einem Fortschritt oder Rückschritt der sozialdemokratischen oder anarchistischen Bewegung ist nichts zu berichten. Von den Sozialdemokraten hört man hier kaum noch etwas, da die allgemeine Geschäftslage auch den bisher unzufriedenen Arbeitern den Mund schließt, da sie sonst ihre Stellung verlieren.“

Reichskanzler Bismarck

Eine eigene sozialdemokratische Presse sei an der Ennepe nicht vorhanden: „Der Vertrieb sozialdemokratischer Schriften beschränkt sich auf das Halten der sozial-demokratischen Zeitschriften ‚Volkstribüne’ und ,Wahrer Jacob’.“

Die Beobachtung, aber auch das Bemühen der Parteien um Wählerstimmen richtete sich jedoch ausschließlich auf Männer. Frauen durften in Deutschland erst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wählen – erstmals bei der Reichstagswahl am 19. März 1919.




Schauspielhaus Bochum: Folkwang-Schüler präsentieren sich im „Spiel des Lebens“

 

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern, Teil III:

„Spiel des Lebens“, Schauspielhaus Bochum, von Schauspielschülern der Folkwang-Universität der Künste

Text: Lutz Hübner, Uraufführung: 16.3.2012

 

Jeder hat 9 Minuten. Für Zauberei, Rampentricks oder den großen dramatischen Monolog. Für Tragik, Komik, tragische Komik. Und die Frage: Was – verdammt noch mal – wollen die Zuschauer eigentlich im Theater sehen?

Die Abschlussklasse der Folkwang-Universität spielt 2012 keinen Klassiker im Bochumer Schauspielhaus. Sie hat sich vom Star-Dramaturgen Lutz Hübner etwas auf die Leiber schreiben lassen.

 

Über der Bühne tickt die Uhr. Von „1:30:00“ bis zum Nullpunkt. Die Schauspielschüler spielen Schauspielschüler. Sind nervös, neidisch, notorisch übersehen oder auf der Suche nach sich selbst.

Wer sind sie heute? Wer in 20, 30 Jahren? Wer macht den Anfang, wenn das Kollektiv stockt und haspelt?

 

Und dann doch Antworten: Alles, was Theater ausmacht, auf vier Szenen reduziert. Coming of age. Boy meets girl. Who dunnit? Achievement.

Jeder präsentiert sich. Genial.

BÜHNENBILD Showtreppe. Nachbildung der Schauspielhaus-Kantine. Weniger = mehr.

SCHAUSPIELER Zehn. Zwischen herausragend und hinterdenohrennochetwasgrün.

KOSTÜME Charakterisieren die Typen. Karikieren die Klassiker.

TEXT Entlarvend. Humorvoll.

 

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Ringen um die Wittener Tage für neue Kammermusik nur vorerst beendet

Auch das "Calefax reed quintet" gastiert in Witten. Foto: WDR

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sind gesichert. Das liest sich eigentlich als gute Nachricht. Doch dahinter verbirgt sich leider die Tatsache, dass eines der traditionsreichsten, renommiertesten Festivals in Deutschland auf der Kippe stand. Und dass es an der Finanzierung hing – aber das ist ja für Kulturschaffende ein täglich elend Brot.

Die Kammermusik-Tage, seit 1969 gemeinsam vom WDR und der Stadt Witten veranstaltet, reichen bis ins Jahr 1936 zurück, damals von dem Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen. Sie entwickelten sich für die tonschöpfende Avantgarde zum wichtigen Uraufführungsforum. Und nicht zuletzt: Die Erfüllung von Kompositionsaufträgen brachte Geld.

Seit langer Zeit also gibt es Konzerte, Klanginstallationen (teils in freier Natur) sowie Gespräche, bisweilen auch Filme. Längst genießen die „Tage“ internationalen Ruf. Und die Porträtkonzerte, seit 1978 im Programm, widmeten sich zunächst vor allem dem Werk, das hinter dem Eisernen Vorhang entstand.

Witten war zudem stets Podium für junge Spezialensembles, aber auch für berühmte Formationen wie etwa das Arditti String Quartet. Schon bald stand das Festival im Ruf, das Donaueschingen des Ruhrgebiets zu sein, anspielend auf das Nachkriegsmekka der Neuen Musik. Selbst das Goethe-Institut brach einst eine Lanze für dieses wichtige Stück deutschen Kulturguts: ohne die „Tage“ sei manche Entwicklung zeitgenössischen Komponierens, etwa die Renaissance des Streichquartetts, kaum möglich gewesen.

Dies alles kostet selbstredend Geld. Der WDR übernahm dabei den größten Batzen, zuletzt etwa 200 000 Euro. Die Stadt Witten und das Land gaben zusammen (Stand 2010) gut 75 000 Euro – deren Anteil sollte in diesem Jahr etwas niedriger sein. Doch die hochverschuldete Kommune hat bisher keinen genehmigten Sparhaushalt, darf also ihren Betrag nicht zur Verfügung stellen. Dies wiederum, eine Auswirkung des sogenannten Stärkungspaktes, lässt die Geldbörse des Landes zugeschweißt. Die Frage, beklommen gestellt, sei erlaubt, inwieweit statt von Stärkung besser von Erpressung die Rede sein sollte. Nun, der Trend, die Kultur den einen oder anderen Kopf kürzer zu machen, hat ja im Moment Konjunktur. So widerlich und kurzsichtig dies auch ist.

Deshalb blieb nach langen Verhandlungen dem WDR nichts anderes übrig, als annähernd die gesamten Kosten für die Kammermusiktage zu übernehmen. Witten selbst muss nur noch die Räumlichkeiten und das Personal zur Verfügung stellen. Ein Scheitern dieser Gespräche wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nicht nur wegen der Ausfallhonorare für Komponisten und Interpreten, sondern vor allem wegen der (internationalen) Blamage.

Die Not ist indes nur für dieses Jahr beseitigt. Und so wird das Festival vom 27. bis 29. April wie geplant stattfinden. Mit 23 Uraufführungen und dem Porträt des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen. Danach sollen alle Beteiligten über die Zukunft der „Tage“ beraten. Dass es soweit kommen musste, ist schlimm genug.




Schulalltag (1): Verlies – kommt das von verlassen?

Eine beliebige Grundschule, eine beliebige Klasse, ein beliebiger Text, den der angestrengte Pädagoge seinen Schützlingen näher zu bringen versucht. Die Sprache ist Deutsch, sie handelt von Burgen und Schlössern, ihren geheimen Winkeln oder auch den prachtvollen Ausstattungen. Die Kinder mögen bitte Adjektive benennen, die zu den jeweiligen Begriffen passen. „Gemälde“ zum Beispiel … verständnisloses Schweigen. Herr Lehrer versucht es abermals … „Ihr wisst das doch … Bilder.“

Ja, das kennen sie, aber ein angemessenes Adjektiv fällt ihnen nicht ein. Noch ein Versuch: „Kellerverlies“. Aus den wachen Kinderaugen werden verbissen nachdenkliche, die allerdings dem Herrn Lehrer unverkennbar die Unkenntnis darüber, was dieses Wort bedeuten könnte, anzeigen. Der hilft: „Na, Keller, den kennt ihr doch, und Verlies, das ist so eine Art Gefängnis.“ „Stimmt“, tönt es aus einem kecken Jungen, „da sind die früher doch drin verhungert, habe ich im Fernsehen gesehen.“

„Nun ja, schlimmsten Falls sind die Menschen da auch verhungert, aber das war nicht meine Frage.“ Die bleibt unbeantwortet, keinem der Kinder kommt die erleuchtende Erkenntnis, dass „dunkel“ womöglich zum Kellerverlies passen könnte. Langsam dämmert es dem Pädagogen, dass keiner seiner Zögling jemals in natura so eine Burg oder ein Schloss vor sich gesehen hat, und das, obgleich es in der Umgebung seiner Stadt von gut erhaltenen bis gruselig zertrümmerten Denkmälern dieser Art nur so wimmelt.

Die Kids können da nix für, ihre Erzeugerinnen und Erzeuger auf den ersten Gedanken schon, beim zweiten denkt man dann inzwischen schon an deren Erzeugerinnen und Erzeuger. Aber, es gibt ja Fernsehen und mehr. Gibt es mehr?

Papas, die entzückt verkünden, dass ihre Kinder nach einem Buch verlangen, das sie richtig lesen können, also mit wenig Bilderanteil, solche Väter werden seltener. Dafür werden Väter, Mütter und Kinder immer mehr, die Schopenhauer für eine ostgotische Schlagwaffe, Brecht für die vulgärdeutsche Befehlsform von kotzen und John dos Passos für den Entdecker gleichnamiger alpiner Transferstraßen halten.

Den Kindern ist in dieser Generationenfolge wie gesagt nur der geringste Vorwurf zu machen. Aber einem gesamtgesellschaftlichen Klima schon. Wenn menschliche Wesen in einer Gesellschaft nur mehr für Reservearmeen der Wirtschaft und des Geldes gehalten werden, die Bezahlung ihrer Arbeitskraft als eine lästige, möglichst auf Null zu setzende Betriebsausgabe gilt, wenn die Bildung der Menschen so organisiert und ausgerichtet wird, dass ihr Ergebnis möglichst früh, möglichst schnell, möglichst lange und möglichst preisgünstig Profit bringen kann, dann wundert es wenig, dass nur Teile der Bildung für wertvoll erachtet werden und der Rest getrost beiseite gelegt werden kann.

Manchmal träume ich davon, dass Bildung auch mal als Selbstzweck gesehen werden könnte.




David Gutersons „Ed King“ – ein rätselhafter Ödipus der Moderne

Ed King, der fünfte Roman des amerikanischen Bestseller Autors David Guterson, sorgte in seiner Heimat bereits reichlich für Schlagzeilen. Die Fachzeitschrift Literary Review verlieh ihm den Preis für die schlechteste literarische Beschreibung einer Sex-Szene. Wenn das nicht Erwartungen weckt. Genau wie das Thema des Buches. Ödipus in die Moderne transferiert. Es braucht wohl neben guten Nerven auch eine besondere Form literarischer Obsession, um das Wagnis einzugehen, ein Motiv aus der klassischen Antike zu entlehnen. Das Fazit vorab: Es ist Guterson durchweg gelungen, des Königs Drama neu, relevant und glaubwüdig ins 21. Jahrhundert zu übertragen. Schlechter Sex hin oder her.

Gutersons König ist kein Royal per se, sondern sein zeitgenössisches Äquivalent. Ein Milliardär und Hightech-Titan. Ed King ist das Ergebnis einer flüchtigen Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einem jungen Au-pair-Mädchen. Auf einer Türschwelle abgelegt, von einem wohlmeinenden, gut situierten Ehepaar adoptiert, mathematisch hochbegabt. Strotzend vor Selbstvertrauen, bar jeden Zweifels nutzt er die Chancen seiner von Technologie besessenen Zeit und steigt auf zum König der Suchmaschinen. Er führt das beste Leben, das man für Geld kaufen kann, „der Wind der Freiheit weht aus seinen Servern„. Und doch bleibt ihm am Ende nur die Frage, was ihm all die technischen Errungenschaften genutzt haben, wenn er vor der Unveränderbarkeit fundamentaler Gewissheiten menschlicher Natur steht.

Ed King ist ein schillerndes Buch. Guterson nimmt den Leser mit auf einen mal traurigen, mal wilden Parforceritt durch die letzten fünfzig Jahre amerikanischer Geschichte. Der Leser kennt zwar den Zielort, doch der Weg dorthin ist wie eine literarische Route voller Sehenswürdigkeiten. Manche Handlung ist arg weit hergeholt, doch die Persönlichkeiten und das Verhalten seiner Figuren sind immer glaubwürdig und dabei sympathisch. So ist Diane, die tragische Mutter und Ehefrau, zwar ein ausgekochtes Rabenaas, aber eins, das man mögen muss. Guterson erzählt von normalen Menschen, die ihr Bestes geben, um sich durch ihr Leben zu kämpfen. Er bündelt seinen Roman aus einzelnen Erzählsträngen, jeder einzelne in Ruhe auserzählt und am Ende eines jeden Kapitels lakonisch zusammengefasst. Seine bisherigen Romane waren oft getragen von einem elegischen, fast melancholischen Ton. Die Prosa in seinem neuen Roman ist gewohnt gestochen scharf, mit elegisch oder melancholisch ist aber größtenteils Schluss. Er erzählt gewinnend gutmütig, ab und an mit dreckigem Humor gewürzt, absichtlich ins Lächerliche abdriftend. Auch wenn er gelegentlich zwar nicht gerade die Moralkeule schwingt, den mahnenden Zeigefinger hebt er durchaus. Es ist schließlich eine Jahrtausende alte Geschichte, eine von denen, die uns sagen, dass man hingehen und Tabus brechen kann, dass man aber den Folgen von Hybris, übermäßiger Arroganz und lang zurückliegender Sünden nie ausweichen kann.

Ob der rasanten Handlung läuft man oft Gefahr, das Buch schneller zu lesen, als ihm gut tut. Man riskiert dabei, etliche klug versteckte Anspielungen – beispielsweise bei der Namensgebung handelnder Personen oder Erfindungen – zu überlesen. So gönnt der Autor sich einen äußerst geschickten Cameo-Effekt in Gestalt von Ed Kings Privat-Piloten Guido Sternvad. Dieser Pilot geht dem Leser mit seinem nicht enden wollenden Spaß an Anagrammen unsäglich auf die Nerven – bis man dahinter kommt, was ein mögliches Anagramm von Guido Sternvad wäre…

Man kann nicht anders, als Guterson für diesen geschickten Schachzug zu bewundern. Ausgerechnet der Wegbereiter, von Ed King auch seine persönliche schwarze Nemesis genannt. Solcher Rätsel durchziehen den Roman wie ein roter Faden und machen, auch gerade weil sie reichlich Allgemeinwissen und Kenntnis klassischer Geschichten voraussetzen, einfach Spaß.

Und der bad sex in fiction award? Zugegeben – Sexszenen sind Gutersons Stärke nicht. Mit etwas bösem Willen ließen sich seine hölzernen Umschreibungen auch direkt auf jedes beliebige zu verrichtende Handwerk übertragen. Aber geschenkt. Die Literatur hat schon weit schlechtere Szenen dieser Art hervorgebracht. Auch wenn der Autor den Leser kurz vorher direkt anspricht. „Also gut, wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist“ und vermutet, dass es wegen voyeuristischer Neugier auf eine Sexszene zwischen Mutter und Sohn sei – weit gefehlt. Die Erwartungshaltung, mit der man an ein Buch zu diesem Thema herangeht, beinhaltet andere Erregungszustände als ausgerechnet solche sexueller Art. Das Interessante, das Gelungene an Ed King ist, wie er dieses Jedem bekannte Motiv in die Moderne überträgt und die Spannung durchweg hält. Die Frechheit und die Chuzpe, mit der der Autor an das vermeintliche übergroße Thema herangeht, sind das halbe Lesevergnügen. Der Autor kommentierte die zweifelhafte Auszeichnung im übrigen mit der Aussage, Ödipus habe schlechten Sex praktisch erfunden. Er sei also nicht im Mindesten überrascht. Umso überraschter dürften etliche auch seiner treuen Leser dafür über sein gewagtes, aber im Großen und Ganzen gelungenes neues Buch sein.

David Guterson: „Ed King“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe. 381 Seiten, € 22,99




Sonne, Café au lait…

Die Sonne scheint. Man redet über die Schwizz, den See

und Entscheidungen.

Die Menschen scheinen angesichts der Fülle von

Sonnenschein überrascht. Einige schauen noch immer mies gelaunt.

Andere vergnügen sich im Eiscafé.

Oh bella Italia,und das in Siegen.

Ein Disput mit “Maaaama!”

Die Dame keift in ihr Handy, als ob sie bis Rom rufen müsste.

Die ganze Straße darf zuhören.

“Wann machst du mir endlich meine Nägel?”

Das Krakeelen dieser italienischen Prinzessin ersetzt fast eine Kreuzigung.

“Und du muss mir die Spitzen noch schneiden!”

Es ist noch früh am Tag, zu früh für solche Auftritte.

Also wechselt man das Café, denn es war angedacht zu lesen.

Aber ein Zitat blieb doch hängen:

“Ihre Welt ist faszinierend und berauscht sie,

und durch ihre despotische Reduzierung funktioniert sie auch…”

(Viviane Forrester in “Terror der Ökonomie”)

Die kleinen und die großen Despoten.

Beide produzieren Trümmerlandschaften, hinterlassen Verunsicherung und Leere.

Von der Ruhestörung bis hin zum Desaster…

© 2012 Text / Foto: Stefan Dernbach

Weitere Texte auch unter: http://cafegaenger.wordpress.com/




Fußball? Nicht mehr ohne Maske!

Branchentypische Witzbolde sprechen vom „Maskenball“. Ballack hat eine getragen, Huntelaar und Subotic desgleichen. Dante, Höwedes, Mertesacker, Metzelder, Olic und Schürrle ebenfalls. Und so mancher andere. Es scheint geradezu ein Zeichen der Zeit zu sein: Kaum noch eine Begegnung in der Fußball-Bundesliga, bei der nicht wenigstens ein Spieler mit Maske aus Karbon aufläuft. Was hat das zu besagen?

Gewiss: Die Kicker wollen sich vor weiteren Gesichtsverletzungen schützen. Doch eine andere Botschaft ist ungleich stärker. Denn zugleich dokumentieren die Masken, dass der Träger die vorherige Blessur – etwa einen Nasenbeinbruch – noch gar nicht richtig auskuriert hat, aber trotzdem schon wieder am Ball ist. Ergo sendet er das Signal aus, zu den besonders harten Hunden des Gewerbes zu gehören. Das kommt an in den Fanblöcken, das steigert vielleicht sogar den Marktwert, wer weiß. Ja, bei den simpel Denkenden erstickt es unter Umständen auch die Frage, ob der und jener Recke vielleicht schwul sei.

Überdies sehen die Spieler mit solchen Schutzmasken nicht mehr wie verletzliche Individuen aus, sondern sie erscheinen als anonyme Monster. Denkt da jemand an die Guy-Fawkes-Masken der „Occupy“-Bewegung? Nun, wir sind hier wohl auf ganz anderem Gelände. Seit Zorro gab’s zahllose Figuren der Populärkultur, die hier insgeheim und ungewollt mitzitiert werden – bis hin zu Darth Vader oder den Furcht erregend muskulösen Kampfmaschinen mit ihren technoiden Panzerungen, die Teile der Comic- und Spielzeugwelt bevölkern. Mit derlei „body modification“ kann vielleicht gar den Gegenspielern unterschwellig Angst eingejagt werden.

Bevor ich das Phänomen überinterpretiere, fällt mir eine andere Erscheinung auf Fußballplätzen ein – jene Nasenpflaster der 90er, deren Verwendung bei der EM 1996 kulminierte. Sie sollten angeblich die Atem- und Laufleistung erhöhen, sind dann aber nach Studien, die diese Annahme widerlegten, sehr schnell in den Mülleimern verschwunden. Drum sollte man auch diesen Beitrag zügig gelesen haben, sonst ist der Gegenstand womöglich schon wieder hinfällig.




Baumängel am Duisburger Lehmbruck-Museum: Zack und vorerst dicht

„Raimund, Dir haben sie gerade das Museum dicht gemacht.“ Der Direktor des Duisburger Lehmbruck-Museums, Raimund Stecker, bekam am Tag seines Geburtstags, dem 8. März, von seiner Stellvertreterin Claudia Thümler einen Anruf mit diesem Wortlaut. Das klingt wie der Beginn eines Spielfilms, aber die Realität ist oft noch seltsamer. Stecker interpretierte die abrupte Stilllegung: „Wir sind vor vollendete Tatsachen gestellt worden.“ Denn quasi in einer Nacht- und Nebelaktion schloss die kommunale Bauordnung erst einmal die Pforten. Zum Wochenende. Das kam reichlich überraschend, zumal jetzt zwei Ausstellungseröffnungen auf dem Programm stehen. Der Vorgang der Schließung ohne Vorwarnung erscheint zunächst einmal wie eine Absurdität. Jetzt arbeiten nicht nur die Bauarbeiter am Glasdach, um so schnell alsbald mit einem Provisorium den Publikumsbetrieb wieder herzustellen. Auch die Museums-Crew sucht nach Mittel und Wegen, die geplanten Projekte bis zum 15. März zu realisieren.

 

Die Blitzsanierung der Decke im Lehmbruckmuseum, Duisburg

Die Blitzsanierung der Decke, Foto: Lehmbruckmuseum

Rin inne Kartoffeln, raus ausse Kartoffeln, oder doch nicht? Dass das Duisburger Lehmbruck Museum für eine denkmalschutzgerechte Sanierung vollständig schließen wird, ist eine Tatsache. Bis wann das dauert, kann allerdings zum heutigen Zeitpunkt niemand genau sagen. Dieses herausragende Museum für Skulpturen im Kantpark bedarf der Renovierung. Das scheint spätestens jetzt offiziell die normative Kraft des Faktischen zu sein. In der vergangenen Woche, so berichtet ein Sprecher der Stadt, habe es Kontrollen gegeben, an deren Ende die Bauordnung sich zu einer „verschärften Gefährdungsabschätzung“ hinsichtlich der Deckenplatten in der Glashalle genötigt sah. Kontrollen kündige die Verwaltung übrigens niemals groß an, und wenn aufgrund von festgestellten Mängeln die Sicherheit nicht mehr garantiert werden könne, werde auch schnell gehandelt. Zudem sei eine sichernde Maßnahme an einem Geländer nicht hinreichend ausgeführt worden. Hinzu tritt aber noch ein anderes Faktum, was die Duisburger Behörde zu besonderer Aufmerksamkeit geradezu nötigt. Die grausame Tragödie auf der Love Parade 2010 hat schließlich auch zu erhöhter Sensibilität beigetragen. Zumal Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung auf der Anklagebank sitzen.

Auch die Gutachter des städtischen Immobilien-Managements Duisburgs (IMD), die sich um eine Erfassung aller notwendigen Maßnahmen bemühen, stellten diesen Montag bedauerlicherweise erhebliche Mängel an dem denkmalgeschützten Bau fest. Um die Decke in der großen Glashalle wieder instand zu setzen, sind gemäß Medienberichten 400 000 bis 450 000 Euro vonnöten. Doch das sind nur erste Schätzungen von IMD-Geschäftsführer Uwe Rohde. Nun ist es kein Wunder, dass ein Gebäude aus den sechziger Jahren irgendwann einmal Pflege benötigt. Entsprechende Maßnahmen zu avisieren und zu finanzieren hat man bislang versäumt. Denn seit der Vollendung sei kein Handschlag getan worden. Seitens der Stadt rechtfertigt man die Situation mit der angespannten Haushaltslage.

Beim allem Verständnis für die städtischen Hintergründe sollte eines nicht in Vergessenheit geraten: Trotz der Tatsache, dass bereits unter dem Dirigat von Christoph Brockhaus eine umfangreiche Mängelliste angefertigt wurde, die Raimund Stecker weitergeführt hat, ist bislang gar nichts geschehen. Das muss sich ändern, denn das Haus hat eine dauerhafte Zukunft mehr als verdient. Hinter vorgehaltener Hand wird das Verhalten auch der Politik als eine Abfolge von „Vertröstungen“ gewertet. Man habe die Causa ausgesessen und eben lange nicht reagiert. Und nun drücken die Not, das schlechte Gewissen, und es soll unbedingt vermieden werden, dass es zu einem weiteren schockierenden Ereignis kommt. Das ist natürlich vollkommen richtig, doch reicht es zu sagen, dass Geld fehle? Es ist schon erstaunlich, dass es für ein Museum von dieser Güte keinen Masterplan in Sachen Sanierung gibt. Dabei sei der Tenor bei allen in der Stadt klar: „Das Haus muss sein“, meint Stecker. Doch wie es weitergehen soll, weiß nicht nur er nicht. Der Stadtsprecher und der Kunsthistoriker erläutern quasi unisono, dass die Richtungsentscheidungen auf politischer Seite gefällt werden. Bleibt also zu hoffen, dass nun der Stein für eine ordentliche und finanziell abgesicherte Instandhaltung dieser wunderbaren Architektur endlich ins Rollen kommt.

Nachtrag, 14.3.2012: Wie das Lehmbruckmuseum und die Stadt Duisburg soeben bekannt gegeben haben, können beide Ausstellungen wie geplant, aber unter Auflagen am morgigen Donnerstag, 19 Uhr, eröffnen. Weiters bestehe Planungssicherheit auch für die darauf folgenden Projekte.




Meilensteine der Popmusik (5): Jim Croce

Was hatten sie schon gebracht, die 60er? Hatten sie die Welt verändert, diese Handvoll Protestsongs, die blumigen Parolen, wie z.B. „make love not war“? Alles tauchte irgendwann unter in den großen Drogensumpf. Und der Krieg ging erst einmal weiter. Die Vereinigten Staaten von Amerika verschleuderten 135 Milliarden Dollar für diesen sinnlosen Krieg. Viel schlimmer noch, 3 Millionen Kriegsopfer, darunter 56.000 tote GIs, waren die bedrückende Bilanz eines Horror-Trips in Vietnam. Wer wollte in diesen Tagen schon die Lieder der Heimat hören? Die Songs, die den Geist der Gründerzeit beschworen – die erzählten von den unbegrenzten Weiten des Landes, den unbegrenzten Abenteuern, den unbegrenzten Möglichkeiten seinen Mann zu stehen, der unbegrenzten Liebe zur Heimat. Die Geduld der Nation hatte Grenzen, Anfang der 70er Jahre. Jim Croce aus Pennsylvania bekam sie zu spüren, diese vorerst letzte, große Depression.

Er war ein einfacher Mensch vom Land, der die Dinge nahm, wie sie kamen. Und mit 18 kam erst einmal die erste Gitarre auf ihn zu, sogar eine 12-saitige. Ein paar Jahre später spielte er schon ganz passabel, und nebenbei hatte er schon so viele Berufe ausgeübt, dass er damit ein ganzes Arbeitsamt hätte beschäftigen können: Trucker, Autowäscher, im Steinbruch Steine kloppen, um sich herum erkannte er nur Proletarier. Danach vermittelte er kleinen Radiostationen Werbespots, und wenn Not am Mann war sprang er auch mal selbst ein. Über dieses wahrhaftige und doch so andere Amerika konnte Jim Croce wunderschöne Lieder schreiben, fast schon moderne Folklore, die aber keiner hören wollte. Immer wieder versuchte Jim Croce, seine Songs an den Mann zu bringen. Er zog sogar in die von ihm so ungeliebte Metropole New York, tingelte durch die Clubs, um dann wieder frustriert, gänzlich ohne Selbstvertrauen, aufs Land zurück zu ziehen. Kurz bevor der schnauzbärtige Jim Croce die Brocken endgültig hinwerfen wollte, kam doch noch ein Plattenvertrag zustande. „You don’t mess around with Jim“ hieß der trotzige Titel dieser LP, und die Kritiker überschlugen sich plötzlich. Auf einmal schien alles nur auf diese bodenständige Musik gewartet zu haben. Der Zeitgeist hatte mal wieder zugeschlagen, diesmal profitierte Croce davon. Seine Lieder aus der Welt der Arbeiter und Bauern, seine schlichten und auch melodiösen Liebeslieder, unterstützten ein gerade wieder neu entstehendes Selbstwertgefühl der Amerikaner. Jim Croce selbst blieb nur ein Jahr, um die Zeit als Superstar auszukosten. Am 20. September 1973 kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Er war gerade 30 Jahre alt.

Heute kann man sagen, dass kaum ein anderer Künstler eine solch´ große Lücke in den USA hinterlassen hat. Auch wenn Superstars wie Paul Simon, Billy Joel oder auch Bruce Springsteen in den folgenden Jahren immer wieder versucht haben die amerikanische Identität neu zu definieren, die einfache Mentalität des Otto-Normal-Amerikaners aus den Weiten des mittleren Westens trafen am besten die schlichten Songs des Jim Croce. Mit seinen persönlichen Erfahrungen können sich auch heutzutage noch viele Amerikaner identifizieren: Der tägliche Arbeitskampf, der Trott, die Selbstzweifel, die Unfähigkeit Gefühle auszudrücken. Immer wieder wird der „amerikanische Traum“ von Jim Croce in Frage gestellt. Besonders am Beispiel der großen Metropole, am Stolz Ihrer Einwohner. Was bedeutet es schon, dieses ‚Big Apple‘ New York: „Namenlose Gesichter in der Nacht – die Straßen sind zwar voll, doch alles sieht so fremd aus. Ein Jahr habe ich hier gelebt und wurde nie heimisch. Ich dachte, hier groß rauszukommen. Furchtbar schnell musste ich viel lernen; aber es waren keine schönen Dinge, und es ist schon so lange her, dass ich mich einfach nur wohlfühlen konnte. All´ das ist der Grund, warum New York nie mein Zuhause sein wird“.

You don´t mess around with Jim – Jim Croce




„On the Road“ und seine Nachbeben – Jack Kerouac wäre jetzt 90 geworden

Noch heute ist es – wie gern statistisch angemerkt wird – zwar nicht das meistverkaufte, dafür aber das meistgeklaute Buch in den USA, so als wollten viele derer, die es später lesen wollen, bereits mit der Art des Erwerbs manifestieren, dass auch sie wie einst der Autor gesellschaftlichen Konventionen entweichen und gemäß dem Titel „On the Road“ („Unterwegs“) gehen, eins werden mit den Haikus und ihren Zen-Inhalten, die Jack und Neal zitierten, während letzterer die beiden halsbrecherisch quer durch die Staaten chauffierte.

Neal, das war Neal Cassady, der für Jack, Jack Kerouac, Inbegriff des rastlos, abenteuerfreudigen, frontiers suchenden Amerikaners war. Neal Cassady lag 1968 bereits im Koma, als man ihn in Mexico fand und starb kurz darauf, betrauert unter anderem nicht zuletzt auch von den „Greatful Dead“-Musikern, die er nach Jack halsbrecherisch durch die Staaten chauffiert hatte. Jack Kerouac, der heute, am 12. März, 90 Jahre alt geworden wäre, überlebte ihn um ein Jahr, weil er seiner Leber einfach zu viel zugemutet hatte. Aber „On the Road“ überlebte beide, den eigentlichen Helden und den für die Beatniks, die Beat-Generation sinnstiftenden Helden, der nach diesem Buch und dem damit verbundenen Ruhm nicht mehr so recht etwas literarisch Wertvolles zu Papier brachte.

"On the Road"-Übersetzung "Unterwegs" in der Rowohlt-Ausgabe von 1968

"On the Road"-Übersetzung "Unterwegs" in der Rowohlt-Ausgabe von 1968

Beide lebten noch, als ich von ihnen und über sie las. Es faszinierte mein spätpubertierendes Gemüt und inspirierte mich zu manchem Haiku, das besser ungeschrieben geblieben wäre. Ich sah mich bereits durch Kalifornien (weil es da so schön warm sein soll) easyridern, obwohl ich ja eigentlich Motorräder nicht mochte. Und doch, schon bald darauf verhallten derlei Träume im immer stärker werdenden Donnerhall des Schlachtens im fernen Vietnam und seinen Folgen auch in Westeuropa – zumindest für mich.
Damit verhallten aber auch Kerouac und „On the Road“ und es umfing mich ein schnöder Alltag, der sowohl mein Interesse an Haikus als auch an der Beatnik-Romantik erstickte.

Sehr viel später, als ich vermutlich in den Fängen einer Midlifecrisis versuchte, bloß nicht in Angststarre zu geraten, kehrte das Interesse zurück, ergründete ich für mich, dass Neal und Jack eigentlich ein Beben auslösten, das nicht eine, sondern mehrere, aufeinander folgende Generationen in Wallung versetzte. Dass Bob Dylan und zahllose Musiker dem Rhythmus dieses Bebens folgten und selbst bei den „Sportfreunden Stiller“ – das waren die mit der WM-Hymne, die 2006 jede Fanmeile in den strahlenden Sommerhimmel schmetterte – noch nachhallende Akkorde angeschlagen wurden, was auf den ersten Blick niemand vermutet hätte.

Jack Kerouac wäre heute 90 geworden, sein Urahn aller Roadmovies lebt heute noch ziemlich ohne entscheidende Alterserscheinungen. Ich werde auf ihn und Neal ein Haiku verfassen, es wird ebenso wie seine Vorgänger von damals von mir nicht veröffentlicht werden. Erstens, weil das besser so ist und zweitens, weil das nur eine Sache zwischen uns Dreien bleiben soll.




Sarah Kirschs „Märzveilchen“: Fern vom dröhnenden Lärm der Welt

Die Wochentage heißen hier beispielsweise Montauk, Mistwoch, Donner, Sonntach. Sie verteilen sich auf Monate wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandril, Mayen oder Junius. Hamburgs Schanzenviertel firmiert als Chancen-Viertel. Mit dem Internet verhält es sich so: „Sonst gab es nur Mist im Indernetz und man vergeudet seine herrliche Zeit.“

Wie soll man das finden, wenn jemand seine Notizen stellenweise so verdrechselt datiert und verballhornt: liebenswert versponnen oder auch ein bisschen albern?

Sobald man freilich weiß, dass hier die hochgeachtete Lyrikerin Sarah Kirsch am Werk ist, und wenn man nur einige Seiten liest, so lässt man es gern gelten. Denn auch in dieser Kurzprosa erklingt ja immer wieder dieser leise, ganz eigene, mitunter aufgerauhte Herzton, den man nicht missen mag.

Ihr neuer Band „Märzveilchen“ enthält Aufzeichnungen von Dezember 2001 bis September 2002. Ein recht kurzer Zeitabschnitt also, der inzwischen aus gemessener Distanz betrachtet werden kann.

Es ist kein Tagebuch im üblichen Sinne. Nicht tagtäglich stehen da Einträge, es gibt Lücken. Die Mitteilungen sind angenehm lakonisch, bisweilen etwas schnoddrig, hie und da behaucht mit Berlinischem Atem: „Beschäftige mir mit alle möglichen Texte.“

Sarah Kirsch hat sich von Lärm der Welt in einen entlegenen Winkel Schleswig-Holsteins zurückgezogen. Nur unwillig und widerstrebend lässt sie sich noch bei literarischen Anlässen sehen. Ihr Fazit nach einem solchen Abstecher: „Also ein Dichtertreffen brauch ich in diesem Leben nicht mehr…“

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Wiederholt betont sie, wie froh sie sei, beispielsweise nicht im Berliner Rummel zu leben und dort vom Wesentlichen abgelenkt zu werden: „Ich will viel lieber in Ruhe vertrotteln.“ Schon das beschauliche Städtchen Rendsburg genügt für den meisten Bedarf.

In der Abgeschiedenheit werden auch unscheinbare Glücksmomente festgehalten, so etwa beim Fernsehen nebst Strümpfestricken: „…und ruhe so wunderbar leichtherzig in mir, dass ich gar nicht genug davon kriege.“

Zwei gegenläufige, doch auch ineinander verwobene Hauptstränge ziehen sich durch diese Kurzprosa. Zum einen und vor allem die natürlichen Vorgänge im Jahreskreislauf. Jede Wetterwendung, jeder Vogelflug können dort draußen in Tielenhemme an der Eider zum Ereignis werden. Treffliches Zitat: „Es geschieht immer das Gleiche, worauf ich stets warte.“

Zum anderen registriert die Dichterin manche politischen und sonstigen Aufregungen, wie sie durchs Fernsehen in ihre oft sturmumtoste Klause dringen. Es sind gleichsam arge Störgeräusche aus der unselig betriebsamen oder auch katastrophalen Welt, die damals durch den 11. September 2001 gerade gründlich erschüttert worden war.

Überhaupt sieht die Autorin viel fern – von Rohmer-Retrospektiven über die Muppets bis hin zu Partien der Fußball-WM 2002. Auch Theaterinszenierungen verfolgt sie im TV. Man mag so nicht auf der Höhe aller landläufigen Debatten bleiben. Doch lässt sich wohl nur so ein lyrischer Ton finden und halten; indem man sich weitgehend verschließt vor den dröhnenden Verhältnissen und seinen Garten bestellt.

Es bleibt also Zeit fürs Schreiben und die Lektüre. Hervorbringungen der literarischen Großprominenz beurteilt Sarah Kirsch mitunter harsch. Während sie etwa V. S. Naipaul rühmt, heißt es über Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“ knapp: „Heldin eine Bankiersfrau. 750 Seiten in schlechter Sprache.“ Und über Günter Grass’ „Im Krebsgang“: „Dieses bürokratische Gerede – nie kann man fliegen, es ist ganz entsetzlich!“

Ungleich einlässlicher spürt sie den Meistern der Romantik nach, in deren Versen Hoffnung und Tröstungen der Natur aufgehoben sind. Der Buchtitel „Märzveilchen“ beschwört das gleichnamige Gedicht von Adelbert von Chamisso herauf, gegen Schluss zitiert Kirsch das „Herbstweh“ des Joseph von Eichendorff, das ins vollkommen Lautlose ragt:

„Bald kommt der Winter und fällt der Schnee, /
Bedeckt den Garten und mich und alles, alles Weh.“

Sarah Kirsch: „Märzveilchen“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA). 238 Seiten. 19,99 Euro.




Niederungen des Alltags (1): Räderwechsel beim Bobby Car

Werkstattbesuche sind meist ärgerlich. Reparaturen kosten reichlich, ohne Scherereien kommt man selten davon. Wie aber, wenn bloß ein Bobby Car umgerüstet werden soll? Da wird doch wohl alles ganz kinderleicht von der Hand gehen?

Testfall „Whisper Wheels“. Flüsterreifen also, die nachträglich ans Plastikauto montiert werden, wenn man’s gern etwas geräuschärmer hätte. Ein Unding übrigens, dass die deutlich leiseren Räder erst neuerdings serienmäßig drauf sind. Bei älteren Exemplaren muss man folglich werkeln.

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Die Anleitung ist etwas für Tüftler. Die Skizzen sehen verwirrend aus. Nach ersten vergeblichen Versuchen, die alten Reifen zu lockern, schaut man vielleicht ratsuchend im Netz nach – und findet virtuelle Kummerkästen.

Ein erschütternder Erfahrungsbericht auf www.doyoo.de trägt gar den windschiefen, nahezu apokalyptischen Titel „Leidensweg und Martyrium der Flüsterreifen“ und erzählt die Gräuelmoritat von angerosteten Metallclips, die nur mit einer Flex und Brachialgewalt hätten entfernt werden können. Im Fazit des Beitrags heißt es: „Es war wirklich ein Martyrium, ich habe nicht übertrieben.“ Was soll man dazu sagen? Dass viele Menschen nicht mehr wissen, was wirkliches Leiden ist?

Dermaßen gewarnt und wohl auch entmutigt, gibt man seine handwerklichen Bemühungen allerdings rasch auf.

Schließlich die scheinbar goldene Idee. Einfach mal bei einer richtigen Autowerkstatt nachfragen. Aber das hieße doch gleichsam, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Wäre das nicht peinlich? Und wenn schon.

Also hin. Dort feixt man freundlich, nimmt sich aber der Sache an. Doch ach! Auch dort ist man hilflos. Sie haben Angst, mit allzu groben Maßnahmen das Kinderauto zu zerstören. Wahrscheinlich fürchten sie, es käme dann eine Prozessflut auf sie zu…

Ja, ist es denn zu glauben?

Last Exit: Baby-Fachgeschäft. Und siehe, dort kennen sie das Problem. Es wächst das Rettende. Sie hämmern und schrauben an den richtigen Stellen. Hosianna!




Was den designierten Chefdirigenten Gabriel Feltz in Dortmund erwartet

Der Berliner Gabriel Feltz soll neuer Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker werden. Foto: Stadt Dortmund

Nun also Gabriel Feltz. Er soll 2013 die Nachfolge Jac van Steens als Generalmusikdirektor (GMD) der Stadt Dortmund antreten. So hat es die Findungskommission einstimmig beschlossen. Nun hat der Rat das Wort, dieses Votum zu bestätigen. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Politiker dem folgen. Alles andere wäre eine Sensation, die einem kleinen Eklat gleichkäme.

Dem neuen Mann am Pult der Dortmunder Philharmoniker ist Glück zu wünschen. Denn Fortune wird er brauchen in einer Stadt, deren Kulturdezernent (und Kämmerer) Jörg Stüdemann beim überfallartigen Rauswurf van Steens verkündete, die meisten Dirigenten der Stadt seien nach fünfjähriger Amtszeit ausgewechselt worden. Das mag richtig sein, für die künstlerische Entwicklung eines Orchesters indes ist diese Hire-and-fire-Mentalität eine Katastrophe. Bochum, Essen oder Duisburg haben ohnehin längst bewiesen, dass Kontinuität zum Erfolg führt.

Feltz ist Berliner, 1971 geboren, Absolvent der Hanns-Eisler-Musikhochschule und gegenwärtig Leiter der Stuttgarter Philharmoniker sowie erster Gastdirigent des Theaters Basel. Feste Engagements neben Dortmund wird er sich aber wohl verkneifen müssen. Sein Anstellungsvertrag soll entsprechend streng formuliert sein, ist zu hören. Damit reagiert die Stadt offenbar auf die Causa van Steen, dem sie mangelnde Präsenz vorwarf.

Feltz wird sich zudem wappnen müssen gegen ein höchst kritisches Publikum. Die Musik des 20. oder gar 21. Jahrhunderts hat in dieser Stadt keine ernstzunehmende Lobby. Und viele werden sich daran erinnern, dass Jac van Steen als sympathischer Menschenfischer im Dienste der Tonkunst sehr geschickt zu Werke ging und geht. Feltz, so heißt es, sei eher der analytische, weniger der emotionale Typ.

Damit nicht genug: Jüngst erst hat sich eine Initiative „PPP – Publikum Pro Philharmoniker Dortmund“ gegründet. Das klingt nach Unterstützung des Orchesters, ist aber in Wahrheit eine Bürger-Gruppierung, die sich gezielt gegen den Rauswurf van Steens wendet. Bei Bekanntgabe des Votums der Findungskommission pro Feltz wurde eilends ein Flugblatt gedruckt, das eben jene Entscheidung in Frage stellt und die Ratsmitglieder zumindest indirekt auffordert, den Gang der Ereignisse möglicherweise noch aufzuhalten. Die Initiative sieht vor allem die vertragliche Fesselung des neuen GMD als Problem. Dies würde zu einer künstlerischen Verarmung der Stadt führen, heißt es. Und weiter: „Lokale Fixierung führt schnell zur Degradierung. Wir sehen die Gefahr, dass die Philharmonie, die sich derzeit im Aufwind befindet, auf diese Weise auf das Niveau eines ,Provinzorchesters’ absinken könnte.“

Solcherart Pessimismus mag übertrieben sein, wie es auch seltsam anmutet, dass „PPP“ relativ spät (zu spät?) ans Licht der Öffentlichkeit drängt. Doch andererseits legt sie äußerst gezielt den Finger in eine gefährliche Wunde: Gabriel Feltz ist nicht Wunschkandidat des Orchesters. Eine Tatsache, die übrigens auch der Findungskommission bekannt war. Ulrike Märkel (Grüne), Mitglied der Kommission, wird jedenfalls mit den Worten zitiert, Nicholas Milton (zuletzt GMD in Jena) sei der Favorit der Dortmunder Philharmoniker gewesen. Die Musiker hätten sich indes auch positiv über Feltz geäußert.

Wer das Orchester kennt, weiß, dass dieses Positive sich schnell als Giftpfeil entpuppen kann. Aus dem jubilierenden „Habemus GMD“ wird dann bald ein „Kreuzigt ihn“. Erst den Neuen feiern, dann beginnt die Nörgelei. Ein Insider hat dies mit Blick auf van Steens Rauswurf so umschrieben: Der Dirigent sei an Intrigen, ernsten Problemen und Irrationalität gescheitert.

Deshalb steht am Ende dieser Betrachtung ein (wohlfeiles) Wortspiel: Der neue Chef der Dortmunder Philharmoniker, so er es denn wird, muss sich als „Feltz“ in der Brandung erweisen.




Expressionen in Sachen Wulff: Er lässt den Zapfen streichen zur besten Gottschalk-Zeit

Was so durch die Republik wulfft, kann wirklich nicht unwesentlich genug sein, es weckt mediales Interesse – ich könnte auch die kühne Behauptung aufstellen: Die Kolleginnen und Kollegen bringen Nachrichten, die überhaupt nicht blöd genug sein können, Hauptsache diese haben etwas mit dem meistveröffentlichten, aber auch bedeutungslosesten Bundespräsidenten aller Zeiten zu tun – mit Christian Wulff.

Nun stellt eine Gazette in Köln fest, dass der Zapfenstreich für den unwürdigen Herrn aus Niedersachsen aller Voraussicht nach die Sehgewohnheiten vieler TV-Anhänger des immer jungen Thomas Gottschalk auf das Empfindlichste stören wird, weil er dessen relativ schnellflüssige, ja sozusagen überflüssige Talkerei doch glatt aus dem Programm drängen werde. Unglaublich das, da stört doch eine völlig unnötige Übertragung eine andere Sendung, deren Sehens-Wert so groß ist wie der oft herangezogene Sack Reis, der in China gegen die Mauer purzelt.

Die Tatsache, dass diese nachhallende Meldung der rheinischen Expresse einen aufmachernahen Beitrag wert erscheint, kann uns manches lehren. Entweder haben die nix anderes, haben die nix mehr. Oder sie werten das als werten Lesestoff, dann haben die Redakteure sie nicht mehr alle oder die rheinischen Leserinnen und Leser haben einen ausgemachten Knall. Noch eine Lehre: Heutzutage richten sich die Nachrichten mancher Blätter eben an Menschen, die so schlau sind, dass sie in der völligen Bedeutungslosigkeit des Leseangebotes noch Rudimente von Sinn erkennen. Das wären denn also besonders kluge Lesende.

Es wächst bei mir allerdings der Verdacht, dass sowohl die Nachrichtenverbreiter als auch die von ihnen angesprochenen Nachrichten-Wahrnehmer ähnlich durchschnittlich sind wie der Mann, dessen Zahnputzglas interessanter ist als er selbst und der einmal unser Präsident war. Ich gerate schon in Panik bei der Erwartung dessen, was sie uns alsbald vom neuen Mann im Schloss vorgauckeln werden.




Schubert-Abend von Tzimon Barto in Essen: Exerzitien der Stille

Tzimon Barto spricht fünf Sprachen fließend, lernt Mandarin und schreibt an seinem literarischen Riesenwerk "The Stelae". Der Pianist, der den Tod zweier Söhne verkraften musste, lebt auf einer Ranch in Florida. (Foto: Eric Brissaud)

Ein einsamer Lichtstrahl schneidet den Konzertflügel aus der Dunkelheit heraus. Die Tür zur Bühne öffnet sich. Herein schreitet ein hünenhaft großer, vom jahrzehntelangen Bodybuilding gestählter Amerikaner.

Tzimon Barto, seit den 1980er Jahren quasi ständiges Mitglied im Kreis der internationalen Pianisten-Elite, geht langsam zum Instrument. Die Zeichen stehen auf Kontemplation. Barto ist im Begriff, seinen Beitrag zur Schubert-Reihe der Philharmonie Essen zu leisten.

Dafür lässt er sich Zeit. Viel Zeit. Eine Stunde und fünfzehn Minuten benötigt er für drei „Moments musicaux“ und die Sonate G-Dur D 894. Um satte 40 Minuten wird er das für 22 Uhr angekündigte Konzertende überschreiten. Aber der Pianist dehnt nicht nur die Tempi, sondern auch den dynamischen Rahmen seines Vortrags. Über weite Strecken murmelt er Schuberts späte Klavierwerke im sanftesten Pianississimo vor sich hin. Harsche Fortissimo-Ausbrüche schockieren, sinken alsbald aber wieder in den säuselnden Strom der Musik zurück.

So absurd das zuweilen anmuten mag, so konsequent hält Barto diesen Ansatz durch. Er verweigert dem Publikum einen Wohlfühl-Schubert. Im Zentrum dieser späten Klavierwerke, per se eine Musik an der Grenze zum Verstummen, steht bei ihm eine große Leere. Seine Schubert-Interpretationen sind ein Exerzitium der Stille, eine Meditation über die Verlorenheit des Menschen und die Gebrochenheit unserer Existenz. Bartos Schubert muss man aushalten, ja im Wortsinne durchsitzen. Sein Klavierklang aber ist schlichtweg herrlich: rund und volltönend im Bass, leuchtend im Diskant, wunderbar farbenreich und warm in den Mittellagen. Indes führt Barto diesen Reichtum nicht vor, sondern nimmt ihn häufig bis zur Unhörbarkeit zurück.

Wie ein frischer Windstoß wirken da die Sechs Etüden des 1980 geborenen Briten George King, der vor zwei Jahren den von Barto ins Leben gerufenen Kompositionswettbewerb gewann. Nahezu frohgemut hämmert Barto ihre maschinenhafte Motorik in die Tasten, erfreut sich an rasenden Tonrepetitionen, bleibt im Andante aber doch einem poetischen Duktus treu.

Warum sich Barto in der Schubert-Sonate leichte Fehlgriffe leistet, ist angesichts solcher Fingerfertigkeiten nachgerade rätselhaft. Obgleich er bewusst nicht auswendig spielt, um Genauigkeit und einen lebendigen Dialog mit dem Notentext zu erzielen, scheint er in der Sonate zuweilen verkrampft an den Noten zu kleben. Manches Ländler-Thema klingt da seltsam hölzern. Auch wirkt es unfreiwillig komisch, wenn Barto zwischen dem ersten und zweiten Teil eines Themas geräuschvoll umblättern muss.

Nach vier weiteren Impromptus, die im Andante vollends zu versanden drohen, ist es geschafft. Nicht ohne Grund gibt Barto den herzlichen Beifall am Ende an sein aufmerksames Publikum zurück, das sich selbst von einem losplärrenden Handy nicht aus der Konzentration reißen ließ.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Soziale Miniaturen (13): Ein Nachruf im bleibenden Zorn

 

 

 

 

 

 

 

Es ist einer gestorben, um den ich nicht richtig trauern mag.

Wie man hört, muss sein Sterben qualvoll gewesen sein. Kann man hier jegliches Mitleid verweigern? Eigentlich nicht. Sicherlich nicht.

Doch zu seinen Lebzeiten habe ich ihn als ein Charakterschwein hassen gelernt. Ja, ich schreibe diese furchtbaren Worte ganz bewusst hin und weiß, dass nicht wenige diese Zeilen unterschreiben würden. Mir ist schon geläufig, dass Hass und Feindschaft schlechteste Ratgeber sind. Auch verraten derlei entschiedene Abneigungen viel über einen selbst. Geschenkt.

Und überhaupt: Über die Toten darf nur Gutes gesagt werden. Es wäre in diesem Falle gar selbstlos. Eher schon neige ich zu einem Nachruf im bleibenden Zorn. Ich will nicht daran ersticken.

Meine nicht allzu tiefe Trauer betrifft denn auch eher allgemeine Sphären. Das Leiden an sich. Die Conditio humana. Hier ist ja ein Mitmensch verstorben. Auch mit ihm ist eine ganz eigene Weltsicht hinweg – wie krude auch immer. Auch er hat sein Innenleben gehabt. Nur hat er es niemals offen gezeigt, sondern mit aller Machtanstrengung einen Kraftkult der Unangreifbarkeit verkörpern wollen. Wie der sich immer über alle Alten und Schwachen lustig gemacht hat! Wie überaus dumm und kurzsichtig das gewesen ist. Es ist, als hätte er nun den allerhöchsten Preis für seinen Zynismus entrichtet.

Er wurde mitten im Weltkrieg geboren, wahrscheinlich hat man ihm in aller Kindesfrühe unerbittliche Härte eingepflanzt. Ebenso wahrscheinlich ist er im Innersten ein armes Würstchen gewesen, insgeheim um ein Zipfelchen Zuneigung bettelnd, freilich ringsum gepanzert. Solch einer wird dann unter gewissen Umständen zum gnadenlosen Schleifer und Galeeren-Einpeitscher, was elend sentimentale Anwandlungen vor hohen Feiertagen und im allfälligen Alkoholnebel nicht ausschließt.

Er hatte sich eine tigerhaft gefährlich klingende Stimmlage antrainiert, er hat sich – völlig ungebrochen, daher zunehmend lächerlich – als Alphamann geriert, hat dabei vielen die Motivation geraubt, sie erdrückt, vor den Kopf gestoßen oder gedemütigt. Etlicher Groll und unterdrückte Wut haben sich gegen ihn angesammelt. Umso betrüblicher, dass er höchst selten wirklichen Widerstand erfahren hat. Ein diktatorisches Lehrstück.

Für seine dumpfen Scherze aus dem Ungeist gesammelter Vorurteile hat er lachbereite Hilfstruppen gefunden, die sich wohl Vorzugsbehandlung oder wenigstens Schonung erhofften. Er hat sich sehr genau gemerkt, wer da nicht aus vollem Halse mittun wollte. Doch nie, nie hat man erlebt, dass er selbst wohlwollend oder gar herzlich über den Scherz irgend eines anderen gelacht hätte. Das hätte er sich selbst als Schwäche angerechnet.

Seine sterblichen Überreste sollen in Frieden ruhen, den er manchem Lebendigen nicht gelassen hat. Und damit gut.




Straßennamen erinnern an den Widerstand

Im schönen Münster tobt seit Monaten eine Debatte über politisch korrekte Straßennamen. In diesem Zusammenhang will ich hier einmal an einige „gute Beispiele“ aus der Stadt Ennepetal erinnern.

Die NS feiert den "Heldengedenktag" auf dem Hindenburgplatz in Münster

Da ist zum einen der „Hindenburgplatz“, den es auch in Münster in besonderer Größe gibt. In Ennepetal wurde nach Hitlers Steigbügelhalter ein Sportlatz an der Städtischen Realschule genannt – inoffiziell. Als der Platz in den 80-er Jahren mit Wohnhäusern überbaut werden sollte, kam aus dem Rathaus der Vorschlag, das Straßensystem in der neuen Siedlung nun auch offiziell Hindenburgplatz zu nennen. Aus der Redaktion der Westfälischen Rundschau heraus haben wir Kollegen damals heftig dagegen polemisiert, und in der Folge gab der Rat der Stadt die Idee auf und benannte die Siedlung nach einem lokalen Schriftsteller um in  „Wilhelm-Crone-Hain“.

Zum anderen wurden in Ennepetal bewusst mehrere große Straßen nach verfolgten Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime benannt, die zum Teil bereits 1933 in „Schutzhaft“ kamen und von der Gestapo in der berüchtigten Dortmunder Steinwache inhaftiert wurden. Das waren Sozialdemokraten wie Gustav Bohm, Otto Hühn und Julius Bangert, aber auch der Zentrums-Politiker Ewald Oberhaus, der Kommunist Karl Polixa und vor allem zu nennen der Metall-Gewerkschafter Peter Alfs. Nach der Freilassung aus der Schutzhaft machte Alfs einen kleinen Tabakladen auf, der zu einem Treffpunkt der NS-Gegner und entsprechend beobachtet wurde. 1938 wurde er erneut von der Gestapo verhaftet und wieder nach Dortmund gebracht. Später kam Alfs zusammen mit den Widerstandskämpfern Karl Polixa aus Gevelsberg, Wilhelm Kraft aus Haßlinghausen und Otto Hühn, dem späteren Landrat des Ennepe-Ruhr-Kreises, in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Frühjahr 1945 organisierte die SS den so genannten „Todesmarsch“ aus dem KZ Sachsenhausen Richtung Norden. Im Wald bei Below wurden hunderte von Kranken erschossen, darunter auch Peter Alfs aus Milspe (heute Ennepetal) und Wilhelm Kraft, der ehemalige Bürgermeister von Haßlinghausen (heute Sprockhövel).

Auch Wilhelm Kraft wurde von SS-Leuten erschossen.

Das Urteil gegen Peter Alfs, nach dem er ins KZ kam, wurde erst 1955 aufgehoben, ein Jahr später wurde er offiziell für tot erklärt. 1978 ehrte ihn der Rat der Stadt Ennepetal durch die Benennung einer Straße mit seinem Namen. Nach Wilhelm Kraft wurde wenig später die neue Gesamtschule des Ennepe-Ruhr-Kreises in Sprockhövel benannt, und die Schulgemeinschaft bemüht sich sehr, das Gedenken an Krafts Wirken und den Widerstand gegen die Nationalsozialisten allgemein lebendig zu erhalten.




„Glück“ – und was daraus werden kann: Der neue Film von Doris Dörrie

Entlaubt, grau, desolat.
Baum, Himmel, Gegend.
So fängt der Film an. Schon weiß ich, was ich zu erwarten habe. Irgendwann wird zartes Grün sprießen, werden ein blauer Himmel mit entzückenden weißen Wolkenformatiönchen und ein lebendiges Stadtviertel zu sehen sein. Denn schließlich heißt der Film „Glück“ und das muss ja dann auch optisch zu erkennen sein.
Symbolik.

Nun kommt die Vorgeschichte: Irina erleidet ein brutales Schicksal in einem der von Kriegen zerrütteten Länder Osteuropas. Ihre Eltern werden ermordet, sie wird vergewaltigt. Sie taucht tief in einen Fluss ein. Überlegt sie Selbstmord zu verüben? Will sie die Entwürdigung, die Verletzung abwaschen? Vermutlich Letzteres, denn sonst wäre der Film nach 10 Minuten zu Ende gewesen, aber da taucht Irina auch schon in Berlin auf. Wie sie da hingekommen ist, erfährt man im Film nicht. Es steht im Buch „Verbrechen“ von Ferdinand von Schirach, das ich mit großer Begeisterung gelesen habe, und in dem „Glück“ einer von 11 Fällen ist, die er als Strafverteidiger verhandelt hat.

Und hier möchte ich kurz diese Filmbesprechung verlassen, um das Buch zu loben und zu empfehlen. Es ist ein hochspannendes Buch, in einem Stil, den ich gern „bare bones“ nenne. Unverschnörkelt, geradeaus, Fakten. Einfach erzählt, alles Wesentliche ist drin, und dennoch ist es nicht kalt oder unbeteiligt. Ich hab es in einer Nacht gelesen und sofort den zweiten Band „Schuld“ bestellt.

Zurück zum Film.
Natürlich ist es ein Klischee, dass alle Frauen, die aus den osteuropäischen Ländern kommen, illegal in Deutschland sind und ihr Geld auf der Straße verdienen. Aber das war die Buchvorgabe, und es trifft wohl hier und da für einige Frauen zu, egal woher sie kommen.

Nun trifft Irina (Alba Rohrwacher, sehr überzeugend, zurückgenommen in Gestik und Mimik) den jungen Punker Kalle (Vinzenz Kiefer). Der sieht so aus, wie sich der deutsche Michel den Straßenjungen vorstellt: mit strähnigen Zottelhaaren, mehreren Piercings in Unterlippe und Nase, fadendünnen Klamotten und einer stylischen Bikerjacke mit Nieten. Und mit Hund. Aber unter dieser Fassade steckt ein hübscher Teenieschwarm, der im Laufe der Geschichte das ganze Blech aus seinem Gesicht spurlos entfernt. Keine Stechlöcher, wo die Piercings waren, schön geschnittene Frisur, blankpoliertes Strahlegesicht. Alles aus Liebe zu Irina. Und weil er einen Job hat, für den er im Film aber zu blöd ist. Dass eine Zeitung gefaltet werden müsste, bevor sie in den Briefkasten passt, kann man als obdachloser Punk auch nicht wissen. Ist klar. Aber Kalle und Irina sind glücklich, irgendwie ist es egal, dass sie im neuen Ein-Zimmer-Heim Kundschaft bedient und er nichts gebacken kriegt. Die Liebe siegt. Das ist schön, und wenn ich wogende Mohnblütenfelder sehe, und mittendrin räkelt sich Irina, dann habe auch ich verstanden: das ist das reine Glück. Erwachsene, die glückselig in Kinderschaukeln dem schäfchenbewölkten Himmel entgegenschwingen? Achtung: Glück.

Ein schmuddeliger Punk, der für seine Freundin zum Sauberbubi mutiert? Noch mehr Glück.
Ja danke, ich habe verstanden.
Ist es das Glück, das Herr von Schirach meinte?

Der Film ist gefühlte drei Stunden alt, als es endlich zum dem Ereignis kommt, das von dem Anwalt – im Buch dem Ich-Erzähler von Schirach – vor Gericht verhandelt wird: die etwas unorthodoxe Entsorgung der Überreste (und man darf das wörtlich nehmen) eines dummerweise am falschen Ort zur falschen Zeit durch Herzinfarkt verstorbenen (und offenbar auch einzigen) Kunden von Irina.
Weil auch das in den malerischsten Farben beschriebene Glück irgendwann mal kinematographisch ein Ende nehmen muss, wird dann der eigentliche Kriminalfall in den letzten 10 Minuten zwischen einem Verteidiger (Matthias Brandt) namens Noah Leyden (hä???) und einer namenlosen Anklagevertreterin (Maren Kroymann) schwupp-di-wupp in einem Bistro ausgehandelt. Glück.
Zwischendurch gewährt uns der Anwalt noch schnell einige schnipselige Einblicke in sein eigenes familiäres Glück. Mit einer tollen Gattin und zwei gescheiten Kindern. Zu viel des Guten.
Dass Matthias Brandt, der kaum Möglichkeiten hatte, sein Rolle als Anwalt zu unterfüttern, hier so blass blieb, liegt wohl an der Aufbereitung des Drehbuchs.
Was in von Schirachs kompakte Geschichte hineininterpretiert wurde, ist hanebüchen. Überfrachtet mit Symbolik und überwältigend kitschig.

Allerdings gab es im Film tatsächlich eine Szene, die ich besonders erwähnen will: als Irina nach brutaler mehrfacher Vergewaltigung auf dem Tisch liegt und eine weiße mit Lämmchen bestickte Tischdecke komplett über sich zieht. Kitsch? Effekthascherei? Möglich. Aber das hat mich berührt.
Alba Rohrwacher ist ein Lichtblick im Film und ihrer Darstellung ist es zu verdanken, dass ich nicht vorzeitig das Kino verließ.
Ich habe ein Interview gesehen, in dem Herr von Schirach sich zufrieden über den Film äußerte. Frau Dörrie hatte große Hoffnungen für „Glück“ bei der diesjährigen Berlinale. Zu große Hoffnungen werden leider oft enttäuscht.
Vielleicht waren meine Erwartungen ebenfalls zu hoch (was ja bekanntlich auch Enttäuschung erzeugt), und ich habe mich zu sehr ans Buch geklammert?

Ich hatte meine Freundin, die das Buch nicht kannte, ins Kino mitgezerrt. Gerade WEIL sie das Buch nicht kannte.
Selten waren wir uns so einig.




„Mächtiger Körper, Wahnsinn im Glas“: Das Vokabular der Weinverkostung

In vino veritas! Wer wollte bestreiten, dass im Wein der Widerschein von Weisheit und Wahrheit funkeln kann? Das edelste aller Getränke spornt den Menschen seit jeher auch zu sprachlichen Anstrengungen an, mit denen er den zahllosen Geschmacksnoten halbwegs gerecht werden will – ein ähnlich schwieriges Unterfangen wie die verbale Umschreibung musikalischer Nuancen.

Von einem Schloss zum anderen... (Foto: Bernd Berke)

Von einem Schloss zum anderen… (Foto: Bernd Berke)

Der mindestens ebenso starke Hang zur Bequemlichkeit hat allerdings eine standardisierte, vielfach zu Formeln geronnene Sprache mit sich gebracht, die sich derart in Schwärmerei und Huldigung ergeht, dass oft genug die Gefilde des Lächerlichen gestreift werden. Da wird geraunt, rhapsodiert, psalmodiert und in die Harfe gegriffen, dass es nur so rauscht.

Aus zwei umfangreichen Weinkatalogen renommierter Häuser (Hanseatisches Wein- und Sektkontor sowie Tesdorpf) habe ich gängige Floskeln des Rühmens herausgepickt, wie sie nach der Verkostung offenbar so anfallen. Am Schluss dieses Beitrags finden sie sich in einer Auflistung, quasi fürs Vokalbelheft.

Mutmaßung: Wer die wichtigsten Signalwörter einigermaßen stilsicher anwendet, der ist schon ziemlich gut für den Verkauf gerüstet. In diesem Sinne ist es eine peinliche Entgleisung, wenn hie und da von „Powerwein“ gemunkelt wird. Die unbedarfte Wortschöpfung passt nicht in eine Welt, in der ansonsten Jahrhunderte währende Traditionen beschworen werden und in der etwa die Punktewertung des Wein-Gurus Robert Parker wie in einer Monstranz einhergetragen wird.

Bei all dem vermengen sich Begrifflichkeiten für Duft- und Geschmacksnoten manchmal bis zur Unschärfe. Überhaupt gewinnt man bei fortlaufender Lektüre solcher Beschreibungen den Eindruck, dass man die häufigsten Weinwörter nahezu beliebig kombinieren und stapeln kann – schon klingt es nach dem Jargon der Eingeweihten. Doch fragt man sich bang, wie die stille Post von den hochsensiblen Degustierern zu den Werbetextern gelangt. Ob da immer alles so ankommt, wie es gemeint war?

Vollmundige Lobpreisungen setzen bereits bei Gewächsen an der 12-Euro-Grenze ein, so dass bei edlen Tröpfchen zu mehreren tausend Euro pro Flasche auch sprachlich die Luft nach oben ganz dünn wird. Die stets selig schwelgenden Texter haben ihr Pulver, so scheint es, schon längst auf dem Gelände der moderaten Einstiegspreise verschossen. Was soll man verbal noch nachlegen, wenn man schon den einen oder anderen 25-Euro-Wein der „Weltklasse“ zugerechnet hat? Hier empfiehlt es sich vielleicht, die Fachsprache noch entschiedener zu systematisieren, also auf strenge Hierarchie zu trimmen und bestimmte Worte nur den teuersten Weinen vorzubehalten…

Es fällt auf, dass der Hanseaten-Katalog immerzu mit dem Begriff „Körper“ („saftiger Körper“, „mächtiger Körper“) wuchert und so manchen „Abgang“ („warm und schön lang“) getreulich verzeichnet, während es Tesdorpf eher mit Struktur, Statur und Finale hält. Im Großen und Ganzen aber überschneidet sich das wabernde Vokabular der Weinbeschreibung, wie es sich in vielen Jahrzehnten verfestigt hat. In aller Regel sind die angepriesenen Weine zumindest harmonisch und gut ausbalanciert, sodann beispielsweise nobel oder vital. Mit steigenden Preisen mehren sich denn doch Verzückungsworte wie diese: umwerfend, atemberaubend, betörend, hinreißend, bezaubernd, aristokratisch, majestätisch, zum Niederknien, monumental, unergründlich oder unbegreiflich. Man muss sich das mit tremolierender Stimme und weit ausholender Geste von einer gülden umrahmten Bühne herab gesprochen vorstellen. Oder gleich vor einem Altar mit Tabernakel.

Da wir hier in einem Kulturblog sind, folgen jetzt noch vier erlesene Wein-Vergleiche aus dem Reich der Künste. Bitte festhalten, es geht gleich scharf in die Kurve:

Tänzerisch wie der leichtfüßige Tanz des legendären Rudolf Nurejew.

Hier perlen die Aromen wie Bach’sche Fugen.

…zart konturiert wie ein Bild von Claude Monet

…überrascht mit aromatischen Wendungen wie eine Oper von Verdi

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So. Und nun der samt und sonders aus Originalzitaten geschöpfte Lernstoff, der beim nächsten Mal „sitzen“ soll, ganz nach dem altbewährten Motto: Hefte `raus – Klassenarbeit!

Kleines Weinbeschreibungs-Lexikon

ABGANG, FINALE & Co.

Erstaunlich frischer Abgang

Der Abgang ist warm und schön lang

Nachhaltiges Finale

Mit grandiosem Feuerwerk im Finale

Im Finale macht sich eine leicht malzige Würze bemerkbar

Mit einem sehr langen Finish

Ewig langes Finish

Konzentrierter, zugleich aber filigraner Nachhall

Tiefer und langer Nachhall

Langer, saftiger Nachhall

Beträchtliche Persistenz

Von beeindruckender Persistenz

FRUCHT

Die Aromen sind fruchtig und floral

Reife Frucht und kühle Mineralität wunderbar ausbalanciert

Geradlinig fruchtig

Schön prononcierte Fruchtaromen

Fruchtbetont

Delikate Frucht

Richtige Balance von Frucht, Frische und Volumen

Sehr schön ausgefeiltes Frucht-Säure-Spiel

Mit prallen Frucht-Aromen und überbordender Vitalität

Subtile, hochelegante Frucht

Üppige, elegante Frucht

Üppige und auskleidende Frucht

Saftig pikante Frucht

Brillanz der prallen Frucht

Feuerwerk delikat fruchtiger Aromen

GAUMEN

Der Gaumen ist samtig

Am Gaumen schmelzig und rund

Am Gaumen vielschichtig und samtweich

Am Gaumen sauber und erfrischend

Am Gaumen substanzreich und komplex

Am Gaumen wirkt er schlüssig und stimmig

Am Gaumen ein Schmeichler

Die Präsenz am Gaumen ist geschmeidig und sehr samtig, zeigt aber durchaus Kraft und Muskeln

…der den Gaumen liebkosend willkommen heißt

…dessen Präsenz am Gaumen einem Vulkanausbruch gleichkommt

Am Gaumen entwickelt sich ein regelrechter Sturm der Aromen

Der Gaumen wird von runden, samtigen Gerbstoffen zart gestreichelt

KÖRPER

Beeindruckt mit Frucht, gutem Körper und Tiefe

Hat einen vollen Körper

Mit charakteristischem und stabilem Körper

Mächtiger Körper

Am Gaumen mit tollem Körper

Der Körper ist stabil

Saftiger Körper

MINERALITÄT

Mineralische, erdige und leicht florale Noten

Hintergründige Mineralität

Beinahe salzige Mineralität

Rassige Mineralität

Hintergründige, feinherbe Mineralität

Säurespiel mit mineralischem Nerv

Cremige Mineralität

Erfrischende Mineralität

…ruht die Frucht auf einem mineralischen Kissen

NASE

Die Nase ist klar

Zeigt eine reife Nase

Vielschichtige Nase

Eine saubere, klare Nase

Hat eine konzentrierte Nase

STRUKTUR

Plus an Struktur und Kraft

Elegante Struktur

Subtile Struktur

Samtig-weiche, noble Struktur

Tiefgründig strukturiert

Von verwobener Struktur

Nobel strukturiert

Türmt sich die aromatische Struktur geradezu auf

Weit ausholende Struktur

Sehr reich in seiner Struktur

Verzaubernd strukturiert

Bezaubernd im reich strukturierten Duftspiel

Fein geschliffene Struktur

TANNINE

Angenehme Tanninstruktur

Seidenfeine Tannine

Seidige Tannine

Durch sechs Monate Barrique geschmeidig gewordene Tannine

Tanninrückgrat

Mit seidigen Tanninen gut strukturiert

Tannine sind fest und stabil

Runde Tannine

Weiche Tannine

Tannine sind fein und zurückhaltend

In Samt und Seide gehüllte Tannine

Zart schmelzende Tannine

Feinmaschige Tannine

Zarte, reife Tannine ummanteln den Säurenerv

TEXTUR

Die Textur ist viskos

Seidenfeine Textur

Feincremige Textur

Perfekt eingebundene Textur

TERROIR

Schieferkalk-Terroir

Schiefer-Terror

Terroirbezogen

Nektar des Bordelaiser Terroirs

VERSCHIEDENES

Spritzig frisch, lebendig

vital

juvenil

Mit dem besonderen „Pfefferl“

Maskulin im Auftreten

Geradezu muskulös

Blumige Akkorde

Herrlich saftig

Atemberaubendes Elixier, das sprachlos macht

Er ist tiefdunkel und deutet schon mit prächtigen „Kirchenfenstern“ Viskosität und Volumen an.

Samtig, sanft und auskleidend

„Outstanding“ schreibt Parker über diesen „Wahnsinn im Glas“.

Sensationell, nobel, feingliedrig, distinguiert und tiefgründig

Sagenhaft samtig, unglaublich dicht, hochelegant und doch kraftvoll

Kostümiert sich mit einem filigranen Duftspiel

Hinreißender Wein mit magischem Tiefgang

Komplexes aromatisches Geflecht

Schmeichelt den Sinnen wie eine warme, sternklare Nacht

…dass die Sinne nicht nur vibrieren, sondern beben

AROMEN, BOUQUET

Ananas Anis Apfel Aprikosen

Backpflaumen Beerenkonfitüre Birne Bittermandel Bitterschokolade Blaubeere Brioche Brombeere

Cassis

Datteln Dunkle Beeren Dunkles Steinobst

Eichenholz Erdbeeren Espresso Eukalyptus Exotische

Früchte Feigen Feuerstein Flieder Florale Komponenten

Gelbe Früchte Gewürzschränkchen Grapefruit

Haselnuss Himbeere Holunder Holz Honig Honigmelone

Jasmin Johannisbeere

Kaffee Kandierte Früchte Karamell Kernobst Kirsche Kirschkompott Konfitüre Koriander Kräuter der Provence

Lakritz Lavendel Lebkuchengewürz Leder Limetten Limonen Lorbeer Lychees

Mandelblüten Marillen Marzipan Maulbeeren Melone Minze Mokka Mokkabohnen

Nektarinen Nelke Nüsse

Orangenblüten Orangenschalen Orient-Tabak

Paprika Pfirsich Pflaumen Pflaumig-malzig-traubig Pfeffer Pilze

Quitte

Rhabarber Rosen Rosenholz Rosinen Rosmarin Röstaromen (dezente…) Rumtopffrüchte

Sandelholz Schattenmorellen Schokolade Schwarze Johannisbeeren Schwarze Oliven Schwarzer Tee Schwarzkirsche Stachelbeere Steinobst Süßholz Süßkirsche

Tabak Tarte au Citron Thymian Toastbrot Toffee Trockenfrüchte Trüffel

Vanille Veilchen

Waldbeeren Waldboden Waldfrüchte Walnüsse Weichselkirsche Weihrauch (Anmutung von…) Weinbergpfirsiche Weiße Blüten Weißer Pfeffer Wiesenblumen Wildkräuter

Zabaione Zartbitter Zedernholz Zigarrenkiste Zimt Zitronenbaiser Zitronengras Zitrusfrüchte Zwetschgen