Kleine Nixe mit großer Sehnsucht – Dvořáks Märchenoper „Rusalka“ in Gelsenkirchen

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe "Rusalka" in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe „Rusalka“ in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Worte eines ewig Unbehausten komponierte Franz Schubert einst seinem „Wanderer“ in die Kehle. „Die Sonne dünkt mich hier so kalt / die Blüte welk, das Leben alt / Und was sie reden, leerer Schall / Ich bin ein Fremdling überall.“

Ähnlich sieht Elisabeth Stöppler die Titelheldin aus Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“. Die Regisseurin, viel gerühmt für ihre Britten-Deutungen am Gelsenkirchener Musiktheater, nimmt sich dort jetzt der kleinen Nixe mit der großen Sehnsucht nach der Menschenwelt an. Wie diese Welt aus der Perspektive eines Naturwesens aussieht, zeigt Stöppler in einem verstörenden, zunehmend düsteren und blutigen Bilderbogen. Rusalka sucht Glück und erfährt Leid, übt Treue und erntet Verrat, schenkt Liebe und leidet Gewalt.

Das reizende Wasserwesen hat in der Gelsenkirchener Neufassung von Beginn an keine Heimat. Rusalka begegnet uns nicht in einem See, sondern eingesperrt in einer klinisch weißen Zelle. Wasser kommt als Element nur am Rande vor. Nixenschwestern und Wassermann scheinen sich aus Tilman Knabes Essener „Rheingold“-Inszenierung verlaufen zu haben: ein aufreizendes Damentrio auf Stöckelschuhen, gejagt von einem lüsternen Wassermann (sonor: Dong-Won Seo) in blauer Arbeitsmontur. Keusch und rein wirkt in diesem triebgesteuerten Umfeld allein Rusalka. Barfuß und in ein weites weißes Hemd gekleidet, hockt sie unbeteiligt in der Ecke und sehnt sich fort.

Mit dem Auftritt der Hexe Jezibaba (nicht ohne Schärfe: Gudrun Pelker) und des Prinzen (angenehm wenig forciert: Lars-Oliver Rühl) rückt die problematische, teils plakative Ästhetik der Produktion ins Blickfeld. Während die Hexe mit übertrieben viel Pelz und Perücke durch die Szene wallt, fallen beim Prinzen rasch die Hüllen. Die Regie übersetzt Natur und Natürlichkeit mit Nacktheit; die Zivilisation kommt mit Lippenstift und hohen Hacken daher. Diese allzu naheliegende Lösung wird mit grobem Strich durchgeführt. Die harsche Zivilisationskritik bringt diverse Seltsamkeiten hervor, zum Beispiel eine Putzkolonne in Schutzanzügen, die aussieht, als säubere sie gerade einen havarierten Reaktorblock.

Konträr zu solchen Grellheiten steht die intensive, oft berührend einfühlsame Personenführung. Der dritte Akt endet in einer wahren Farbschlacht: Alles und alle sind befleckt und verschmiert, sei es mit schwarzem Matsch oder mit Blut. Die geschundene Kreatur wiegt sich in traumatisierten Schaukel-Bewegungen. Immerhin gibt es Szenenapplaus für das eindrucksvolle Schlussbild (Bühne: Annett Hunger).

Sanfte Naturklänge, aber auch Pracht und Pomp höfischer Tänze erfüllen die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen mit sinfonischem Glanz. Erneut läuft das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann zu Hochform auf, zieht viele farbenreiche Klang-Register, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Musiker breiten ein feines Netz von Leitmotiven aus, das die Sänger trägt: Darunter Majken Bjerno als verführerische fremde Fürstin, sowie Petra Schmidt, die in der Titelpartie einen großen Erfolg feiert. Mit feinem Gefühl fächert die Sängerin die Seelenwelt der Nixe vor uns auf. Traumverloren besingt sie den Mond, keusch und kühl und innig zugleich. Ihr Sopran kann mädchenhaft hell klingen, entwickelt bei der Darstellung von Schmerz und Leidenschaft aber viel innere Glut. Trotz der physischen Vehemenz, mit der Petra Schmidt sich in das Spiel wirft, verliert ihre Stimme nie das Ebenmaß. Alles klingt wunderbar warm, kultiviert und geschmeidig. An dieser starken Leistung gibt es nichts zu rütteln.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Weitere Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Ein knappe Skizze zur NRW-„Wahlarena“

Das politische Spiel (WDR-Fernsehen, 20.15 bis 21.45 Uhr) in der „Wahlarena“, übertragen aus Mönchengladbach, hat 90 Minuten gedauert. Und was ist da rund gewesen?

Das Publikum ist von infratest/dimap nach repräsentativen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Immer wieder werden Befragungsergebnisse eingeblendet. Volkes Stimme. Pflichtschuldigst zelebriert und rasch abgehakt.

Einstiegsfrage nach dem Umgang mit den Benzinpreisen.

„Wir müssen weg vom Öl“, sagt Sylvia Löhrmann (Grüne). Ein schöner Satz. Sagt sich schnell.

Arena = Gladiatoren? Ach was! Es bleibt so zahm.

Mal wieder ein grausliches Studiodesign. Und eine wahrhaft fahrige Kameraführung. Bloß nirgendwo verweilen.

Norbert Röttgen (CDU): „Unsere Antwort heißt Elektro-Mobilität.“ Folgt eine kleine Fensterrede gegen die Ölkonzerne. Den kleinen Pendler dürfe man nicht – na? na? – „im Regen stehen lassen“.

Hannelore Kraft (SPD): „Ölkonzerne in den Griff bekommen.“ Auch das sagt sich flott. Wie denn überhaupt in dieser Sechserrunde (Arena) noch ungleich holzschnittartiger argumentiert wird als bei einem Duell. Doch früher hat es noch mehr gestanzte Sätze und betonierte Meinungen gegeben.

Joachim Paul (Piraten): Zur Pendlerpauschale wird eine Position „noch entwickelt…“ – „Wir Piraten kopieren gerne“ (z. B. Ideen aus anderen Ländern). Ein wohlfeiler Lacher.

Mehr oder weniger sprechen sich alle für die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs aus, die Piraten wollen auf Fahrscheine verzichten. Und wer bezahlt’s?

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Thema Haushalt/Schulden

Christian Lindner (FDP): „Der Staat soll bescheiden sein.“ Die Wirtschaft muss schneller wachsen als der Staat. Ach, es gibt sie noch, die alte Tante FDP.

Kraft: Nicht zu Lasten der Kommunen sparen. Nicht zu Lasten der Kinder sparen. Und bloß nicht sagen, auf wessen Kosten man sparen will (gilt für alle).

Hier reden, so könnte man meinen, wandelnde Wahlplakate. Talking Heads.

Röttgen (CDU): Sparen mit uns ginge weitgehend schmerzlos. 2 Prozent der Subventionen einsparen, das täte nicht weh. Rotgrün geht euphorisch mit Steuereinnahmen um = verprasst das Geld. Vier Ausnahmen beim sparen: Familie, Schule, Kultur… (juchhu! Es hat einer Kultur erwähnt). Da vergisst man glatt die vierte Option. Röttgens traditionelle Suggestion: Sozis können mit Geld nicht umgehen.

Schwabedissen (Linke): Privaten Reichtum abschöpfen. Keine Kürzungsorgien im Haushalt.

Paul (Piraten): Bedingungsloses Grundeinkommen prüfen (auch fahrscheinfreies Fahren sollte just „mal ausprobiert“ werden). „Es gibt Überlegungen in Richtung Vermögenssteuer“… Aha. Und wohin führen die wohl eines fernen Tages?

Lindner: Rotgrüne Verschuldungspolitik wird zur Staatsphilosophie erklärt. „Legende der guten Schulden“ beenden…

Thema Arbeit/Löhne

Lindner (FDP): Bloß keinen Überbietungswettbewerb in Sachen Mindestlohn, etwa zwischen Gabriel und Gysi. Das führt nur zur höheren Arbeitslosigkeit.

Löhrmann (Grüne): Unterste Linie 8,50 Euro pro Stunde.

Kraft (SPD): „Auch da gilt es, klare Kante zu zeigen.“ (SPD-Wahlplakat „Klare Kante Kraft“)

Röttgen (CDU): Tarifparteien haben Vorrang.

Schwabedissen (Linke): 10 Euro Mindestlohn. Gewonnen! Ihr Lieblingswort: „absurd“.

Paul (Piraten): Für bedingungsloses Grundeinkommen. Kostet den Staat keinen Euro mehr = Nullsummenspiel. Es sollte wenigstens „mal untersucht“ werden. Dann übt mal schön.

Kraft (SPD): Arbeit ist wichtig für die Würde des Menschen. Wer könnte da widersprechen?

Der unvermeidliche Moderator Jörg Schönenborn würgt die laufende Debatte nach Minutenschema ab.

Thema Bildung/Kinder

Löhrmann (Grüne): Für Ausbau der Kitas und Verbesserung der Kitas. Das unsägliche „Betreuungsgeld“ einsparen und in Kitas stecken. Gegen aufgezwungene Kita-Pflicht. Doch wenn die Kitas gut sind, wären die Eltern schlecht beraten, wollten sie ihre Kinder nicht hinschicken. Statements wie aus dem Wahlomaten.

Lindner (FDP): Gegen Betreuungsgeld (hat aber im Bundestag dafür gestimmt).

Schwabedissen (Linke, zweifache Mutter): Für 150 Euro „Herdprämie“ lässt sich kein Kind erziehen. Kita sollte generell gebührenfrei sein. Auch für Millionäre?

Röttgen: 60-70% der Eltern lassen ihre Kinder in den ersten zwei Jahren ohnehin zu Hause. Die sollten gefördert werden – bei völliger Wahlfreiheit zwischen den Lebensmodellen. Ansonsten ist alles „in der Diskussion“ (hört sich in der faserigen Offenheit fast nach Piraten an).

Kraft (SPD): Wer Betreuungsgeld zahlt, glaubt wohl, er müsse keine weiteren Kita-Plätze schaffen…

Lindner (FDP): Erhalten Leute, die nicht in die Oper gehen, dann auch einen Scheck? (Juchhu, noch einer hat Kultur erwähnt – wie grinsbereit auch immer)

Paul (Piraten): Wir müssen erst mal kompetente Menschen befragen… Wir haben nicht auf alles eine Antwort, stellen aber die richtigen Fragen.

Lindner: Rotgrün trocknet Gymnasien in punkto Ganztagsbetreuung und Klassengrößen aus.

Löhrmann, Kraft & Röttgen (!) widersprechen gemeinsam. Oh, einsame FDP.

Schwabedissen (Linke): „Eine Schule für alle“ statt dieser chaotischen Schullandschaft.

Paul (Piraten): „Wir sind keine Linke mit Internet-Anschluss.“ Ein bis zwei Dutzend Schulen sollen neue Modelle erproben… Verwaltungskräfte einstellen, um Lehrer zu entlasten. Alle Lerninhalte digital vorhalten.

Schlussrunde/Koalitionsaussagen

Lindner (FDP): Wahrscheinlich ist eine große Koalition. Wir sind dann Opposition. Prinzip Hoffnung.

Kraft (SPD): Es wird wohl für Rotgrün reichen. Kann trotz vieler Nachfragen die Piraten nicht so recht einschätzen.

Paul (Piraten): Wir würden gern auf der Oppositionsbank lernen. Darüber hinaus jetzt keine Aussage.

Röttgen (CDU): Dies ist kein Lagerwahlkampf. Auch überraschende Koalitionen sind denkbar. Die Demokratie wird bunter.

Löhrmann (Grüne): Rotgrün bevorzugt.

Schwabedissen: Wer will, dass die SPD sozialdemokratisch ist und die Grünen ökologisch sind, muss die Linke wählen. Gut auswendig gelernt.

Und das Fazit? Diffus. Um das Mindeste zu sagen. Röttgen und Lindner rhetorisch gar nicht mal übel, aber mit ihren Positionen z. T. auf verlorenem Posten. Auch die Vertreterin der Linken gewandter als so manche ihrer NRW-Kollegen. Piraten bitte ein paar Jahre lang hinten anstellen und erst mal Positionen klären. Themen, bei denen die Grünen gern volkserzieherisch werden (Ökologie, Rauchverbot etc.), kamen kaum zur Sprache. Ich persönlich weiß immer noch nicht recht, was und wen ich am 13. Mai wählen soll. Zwischenzeitlich hatte ich schon erwogen, dem Wahllokal erstmals gänzlich fernzubleiben. Aber das darf ja wohl nicht wahr sein.




„Das Leben der Bohème“ in Bochum – Freundschaft in Zeiten der Krise

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Das kann nur das Theater: Eine Duschkabine wird zum Hauseingang und dann zur Pariser Metro, aus einem Schauspieler werden fünf Charaktere, aus dem Lachen der Zuschauer wird Nachdenklichkeit und Staunen. Melancholisch, witzig, phantastisch, chaotisch, dramatisch, traurig, all das ist „Das Leben der Bohème“. Das Stück feierte Premiere im „Theater Unten“ des Bochumer Schauspiels.

Ein bemerkenswertes Werk: Die junge Regisseurin Barbara Hauck inszenierte es nach einem 20 Jahre alten Film des Finnen Aki Kaurismäki, der in jedem seiner Filme lakonisch vom großen Scheitern der kleinen Leute erzählt. Kaurismäkis „Leben der Bohème“ bezieht sich mehr auf die Romanvorlage von Henri Murger als auf die Oper „La Bohème“. Erst durch Pucchini jedoch wurden die Szenen des Künstlerlebens und der Lebenskunst im Paris des 19. Jahrhunderts bekannt – und kleben seitdem als Klischees in den Köpfen.

In Bochum kommt eine schräge Mischung aus Pucchini/Murger und Kaurismäki auf die Bühne: Klischees ja, aber gern ironisch gebrochen. Die Künstler-WG ist weniger eine romantisch-ärmliche Mansardenwohnung denn veritable Messi-Bude, statt am Klavier klimpert der Komponist auf einem Papier-Instrument.

Was Barbara Hauck eigentlich inszeniert, ist neben dem prekären Künstlerleben der große Wert der Freundschaft. In Zeiten der Not – und in einer solchen befinden sich die ebenso engagierten wie erfolglosen Künstler – lebt und leidet es sich doch besser im Kollektiv. Wer hat, der gibt aus; ansonsten schmeißen die Besitzlosen zusammen. Maler Rodolfo, Schriftsteller Marcel Marx und Komponist Schaunard feiern und frieren, saufen und träumen miteinander. Die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der schließlich sterbenden Mimi nimmt zwar einen großen Teil der Handlung ein, doch das Schlüsselwort auch dieser Liebesgeschichte lautet letztlich Treue – in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Figuren sind herrlich angelegt, die Schauspieler herrlich anzusehen: Manfred Böll als charmant-unverschämter Schriftsteller, der sein Jahrhundert-Drama in 21 Teilen am Ende in einer Modezeitschrift abdruckt. Daniel Stock als krankhaft schüchterner, ebenso liebenswerter wie liebeskranker Maler Rodolfo. Roland Riebling, der es als Schaunard versteht, den Leuten das Geld aus der Tasche zu quatschen: „Es ist zwar etwas teurer im Restaurant, aber wir holen das Geld ja wieder rein, indem wir Zeit zum Kochen sparen.“ Katharina Bach, die als gar nicht so naive Mimi die Wahl hat – und sich aus vollem Herzen für die Liebe und die Armut entscheidet. Und Klaus Weiss, der teils im Minutentakt in neue Nebenrollen schlüpft. Mal wird dialogisch gespielt, mal wird die Handlung zeitraffend von einem der Protagonisten erzählt. Am Ende verzichtet die Inszenierung auf ein versöhnliches Abschlussbild: Mimi ist tot, Rodolfo weist seine Freunde zurück: Er will allein bleiben. Ein nicht ganz runder Abschluss eines gelungenen Abends.

(Der Artikel erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.




Alltagsnicken (1): Der Kofferträger

Gelbes Basecap mit schreiend aufgestickter Werbung, blassblaue Windjacke, stoisches Gesicht. So begegnet er mir täglich, wenn ich leicht schnaufend – da grüßen ein paar Jahresringe zu viel – die schmuddelige Treppe des Unnaer Bahnhofes erklimme und er felsengleich und unbewegter Mine auf dem ersten Absatz von oben die Wacht am Schienenstrang verkörpert. Wir nehmen einander kurzblickend wahr, benicken hastig unsere tägliche Begegnung, er wacht weiter und ich eile an den Schreibtisch.

Seit Wochen gärt in mir die unbeantwortete Frage, wer er denn sei, was er da jeden Tag unternehme, so habachtend starr stehend. Und im Tagesrauschen verliert sich diese Neugierde wieder, versickert die Entscheidung, morgen aber ganz bestimmt ihn fragen zu wollen. Und am nächsten Morgen wiederholt sich das Ganze, bei anderer Beleuchtung, bei anderem Wetter, bei anderen Gedanken.

Heute nun erhielt ich eine Antwort auf die Frage, die ich nicht stellte; der Alltag gab sie mir. Ich sah seine Mütze schon leuchten (Gelb mag ich ja nun einmal, vor allem, wenn mit Schwarz kombiniert), als ich den Bahnsteig entlang schlenderte. Bis ich in die Unterführung tauchte und mir nur hörbar ein Pärchen entgegen kam, das sich sotto voce unterhielt.

Er trug eine gelbe Mütze und seine blassblaue Windjacke, und er trug einen schweren Koffer. Sie, sehr betagt, trug leicht mühsam sich selbst, kleidsames Betagten-Beige und ein dankbares Lächeln. Er lächelte breit und froh, ein wenig stolz. Und wuchtete den Reisekoffer die Treppe hoch, dass seine Eigentümerin noch den Zug erreiche, ohne sich die Gelenke zu zerren. Mütze ab, artiger Diener und ein bescheidenes: „War doch selbstverständlich!“ So stellte ich mir ihren Abschied vor.

Er hatte sich und seinem Tag einen Sinn und Wert verschafft. Sie wird von der Begebenheit erzählen und überzeugt brusttönen, dass es nach wie vor freundliche und überaus hilfsbereite Herren gebe. Und ich verkneife mir zukünftig die Frage, sondern nicke ihm einfach zu – einem guten, alten Bekannten.