Carla Bley auf dem Moers Festival

An der Uraufführung von Carla Bleys neuster Komposition „La Leçon Française“ gäbe es nichts zu kritisieren, hätten die Veranstalter nicht – in Absprache mit der Künstlerin oder ohne ihr Wissen? – in der Programm-Ankündigung die Frage gestellt, ob es sich bei dem neuen Stück um „eine Fortsetzung zu ihrem epochalen Werk ‚Escalator Over The Hill‘“ handeln könnte. Die überspannten Erwartungen taten der Aufführung nicht gut.

Vergleiche mit der vor vierzig Jahren als Dreifachalbum erschienenen Jazz-Oper verbieten sich schon wegen der ungleichen Voraussetzungen. Nicht nur, weil eine solche Aufführung heute ohne Don Preston auskommen muss, den inzwischen bald achtzigjährigen Pionier am damals noch neuen Moog-Synthesizer, und ohne die Gitarrenlegende Jack Bruce, ohne den gerade frisch bekehrten „Mahavishnu“ John McLaughlin, ohne einen Charlie Haden am Bass, ohne den Schlagzeuger Paul Motian, ohne Don Cherry, ohne die aus Andy-Warhol-Filmen bekannte „Viva“ und so viele andere. Das war ja bei der Bühnenfassung von „Escalator over the Hill“ von 1997 in Köln oder 2006 in der Philharmonie Essen nicht anders.

Von der Länge her und im Programmablauf des Moers Festivals eingebettet zwischen einem bezaubernden Solo-Auftritt des Cellisten Erik Friedlander und den experimentierfreudigen und wirklich neue Musik schaffenden „Rocket Science“ mit dem Trompeter Peter Evans, dem Saxofonisten/Klarinettisten Evan Parker, dem radikalen Craig Taborn am Piano und Sam Pluta an der Elektronik aber war die als Höhepunkt des Festivals angekündigte 45-minütige Weltpremiere von „La Leçon Française“ nur ein guter Act zwischen anderen.

Dass die ausgezeichneten Musiker der schwedischen Bohuslän Big Band noch nicht genügend Gelegenheit hatten, sich dem Ruhm der Alt-Stars, die 1971 an den Aufnahmen zum „Escalator“ beteiligt waren, anzunähern, kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Soli wie das Ensemble der Bläsergruppe waren exzellent.

Eine besonders gute Idee war es, für die Aufführung der simulierten Französischstunde echte Schüler zu wählen, die auf das Zeichen des Dirigenten – stellvertretend für den Lehrer – zu ihren Einsätze aufstehen und sich anschließend wieder hinsetzen mussten. Wer wie der gequälte Zehnjährige mit den mittellangen blonden Haaren das Pech hatte, auf der Stufe des schmalen Podests direkt hinter dem Dreifuß des Mikrofonständers zu sitzen, dürfte mehr Sorge gehabt haben, gegen das wacklige Gestell zu stoßen, als dass er die Ehre hätte genießen können, gemeinsam mit der berühmten Carla Bley an der Uraufführung eines möglicherweise epochalen Werks beteiligt zu sein.

Von meinem Sitzplatz aus hatte ich den Knabenchor der Chorakademie Dortmund (im Programmheft als „Dortmund Choral Academy Boys Choir“) direkt vor Augen, während Carla Bley die meiste Zeit von ihrem Konzertflügel verdeckt war. Vielleicht lagen die Dortmunder Schulknaben – soweit ich die Gelassenheit auf ihren Gesichtern nicht fehlinterpretiere – in ihrer Einschätzung der Bedeutung des Werks ganz richtig, wenn sie, anders als die Musiker der Bohuslän Big Band, aus dem zwischendurch immer wieder aufbrausenden Applaus des Publikums keinerlei Bestätigung zu erfahren schienen. Sie sangen sauber und gut und erfüllten ordentlich ihre Aufgabe, inklusive des schulmäßigen Auftretens und Abgehens und der eingeübten Verbeugung beim Schlussapplaus. „La Leçon Française“ – nicht epochal, aber nett.

Einer der langjährigen Mitstreiter Carla Bleys war übrigens doch an der Aufführung beteiligt: Ihr Lebenspartner am gütigen E-Bass, Steve Swallow, mit dem die Komponistin bereits am Freitagabend neben dem ebenfalls routinierten Andy Sheppard (Saxofon) als Trio aufgetreten war. Beide Konzerte Carly Bleys auf dem Moers Festival bewiesen einmal mehr ihre Weltklasse. Die Musik neu zu erfinden aber haben andere Kreative übernommen.

Carly Bley: „La Leçon Française“
Carla Bley cond + p, Steve Swallow, b (us)
Bohuslän Big Band (se) & Dortmund Choral Academy Boys Choir (de)
Moers Festival

Carla Bley in Moers, 27. Mai 2012, Foto: W. Cz.

Knabenchor der Chorakademie Dortmund auf dem Moers Festival 2012 neben Musikern der Bohuslän Big Band aus Schweden; Foto: W.Cz.




Romy Schneider starb vor 30 Jahren: Sie war eine große Künstlerin

30. Oktober 1974: Boxlegende Bubi Scholz, Schauspieler und Regisseur Burkhart Driest, dessen durchaus freundlich wirkende Augen aus einem Gesicht blicken, das anmutet, als habe es 12 Profirunden mit eben jenem Bubi überstanden und Romy Schneider talken sich (souverän geführt von Dietmar Schönherr) durch den Abend, der ja bekanntlich immer später wird, je schöner die Gäste sind.

Ein Gast indes wird an diesem Abend im Minutentakt schöner und beginnt langsam, aber sicher unverhohlen den Herrn Driest anzuglühen, was mir als Betrachter der Szene missbehagt und mir mal wieder Illusionen raubt, denn schon geraume Zeit glühe ich sie an, die Diva, den Superstar, die Kultschauspielerin Romy Schneider – natürlich nur aus der Ferne. Und dann entschlüpfen ihr die legendären Sätze: „Sie gefallen mir! Sie gefallen mir sogar sehr!“ Wobei sie mit der zarten Hand auf Burkhart Driests lederbejackten Arm tappt.

Vor 30 Jahren, acht Jahre nach diesem TV-Auftritt, starb Rosemarie Magdalena Albach, wie Romy Schneider bürgerlich gerufen wurde, weil ihr Talentgeber väterlicherseits Josef Albach-Retty war, den sie aber ebenso wenig als Vater erlebte wie Magda Schneider (der man heftiges Führer-Anhimmeln nachsagte) als ihre Mutter. Mehrheitsdeutschland verlor die „Sissi“, unseres Landes kleinerer Bevölkerungsanteil und ganz Europa eine brillante Schauspielerin, die in Frankreich sowohl vom Publikum als auch von der Kollegenschaft geradezu verehrt wurde.

Und doch, dahoam wurde sie bis heute mit den Kinokassenschlagern von Ernst Marischka verbunden, assoziiert noch immer schier jedermann und jede Frau die süße „Sissi“, wenn ihr Name fällt. Dabei freuten sich Regisseure wie Luchino Visconti, Claude Sautet, Orson Welles oder Otto Preminger, wenn sie Romy Schneider für eine Rolle verpflichten konnten. Und selbst so eine deutsche Filmikone wie Hans Albers japste einst nach dem gemeinsamen Spiel: „Das war nicht mein Film, das war ihr Film!“

Und während sie zum Unwohlsein vieler Deutscher, der gesamten deutschen Filmindustrie und eines einzelnen Herrn, gemeint ist ihr geschäftstüchtiger Stiefvater Hans Herbert Blatzheim, dem väterliche Freude über das Glück der (Stief)tochter fremd war, dafür aber die fremdverantwortete Überfüllung des eigenen Portemonnaies lieber, während sie dem „Sissi“-Image entsagte, weitere Aufgüsse dieses Jugenderfolgs ablehnte wurde sie beruflich immer besser und persönlich schöner. Unvergessen unter vielen anderen Filmen – zumindest für mich – ihre böse Laszivität in „Der Swimmingpool“ mit Alain Delon, dem sie Jahre zuvor sehr nahe war. Delon sorgte vor 30 Jahren dafür, dass Romy würdig ins Grab kam, er war ihr Freund geblieben.

Irgendwie straft deutsches Publikum Stars ab, die nicht heimattreu und blutbodenhaftend genug sind. So jedenfalls hat es den Anschein, z.B. auch Marlene Dietrich. Ziemlich still und wenig bewundernd vergehen Gedenktage unter anderem von Romy Schneider. Allenfalls käme irgendein Fernsehsender auf die großartige Idee, die „Sissi“-Trilogie zu wiederholen. „Trio infernal“ hingegen kennen zwar manche Ältere noch, aber dass der auch mit Romy Schneider war, kommt bisweilen überraschend.

Romy Schneider, sie führte ein ungeheures künstlerisches Leben und hat jeden ihrer Tagebucheinträge aus der Jugendzeit eins zu eins in Realität umgesetzt. Sie führte privat ein trauriges Leben, mit selbstsüchtigen Eltern, Stiefvätern, Liebhabern und musste liebste Menschen sterben sehen, obwohl noch viel vor ihnen lag. Wohl deshalb umkränzte man in der Öffentlichkeit ihren Tod mit „gebrochenem Herzen“. Lassen wir es dabei.




Abenteuer in den Dortmunder U-Bahn-Tiefen

Wer in seinen Bewegungen eingeschränkt ist – vulgo behindert –, der hat in Dortmund oft schlechte Karten, vor allem im Öffentlichen Nahverkehr.

Stadtbahn Dortmund, unterirdisch.

Das fängt schon im Hauptbahnhof an, in dem die Rolltreppen alle Nase lang defekt sind und daher still stehen. Dass man auf die Fahrstühle zu den DB-Bahnsteigen noch jahrelang wird warten müssen, an diesen Gedanken hat man sich ja schon gewöhnt. Auch in anderen U-Bahn-Stationen, zum Beispiel Kampstraße, werden marode Fahrsysteme nur noch selten repariert. Mit großkotziger Geste hat man sich vor Jahrzehnten ein modernes und teures System geleistet, und jetzt kann man nicht einmal die kleinen Folgekosten stemmen. Wenigstens sieht es in Düsseldorf etwas besser aus.

Griechische Verhältnisse in Dortmund? In einigen deutschen Großstädten kann man manchmal den Eindruck haben. Nur protestiert hier seltener jemand.




Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss‘ Jahrhundertroman auf der Bühne

Immer häufiger bereichern Roman-Bearbeitungen die Spielpläne der Theater, auch die dicksten Wälzer finden ihren Weg auf die Bühnen. Denn freilich: Der Stoff lässt sich schon verdichten, wenn es nur gelingt, mit den Mitteln des Theaters eine eigene, vielleicht gar neue Sicht aufs Werk zu bekommen. Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tilman Neuffer formulieren noch einen anderen Anspruch: Sie wollen Peter Weiss’ in den 1980er Jahren viel diskutiertes Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“, den „deutschen Ulysses“, erst einmal schlicht vor dem Vergessen bewahren. Denn, so die These: Das dreibändige Werk, das die Strömungen, Entwicklungen und Widersprüche des antifaschistischen Widerstands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs reflektiert, hat uns noch etwas zu sagen. Die dreieinhalbstündige Uraufführung im Essener Grillo-Theater hinterließ ein nachdenkliches Publikum.

Im Roman wie im Stück führt ein junger Arbeiter als Erzähler durch die Erfahrungen und Gedankenwelt der Widerstandskämpfer; Stationen seiner Reise sind Berlin, Spanien, Paris und das schwedische Exil. Nicht nur der Umfang des Werkes erschwert eine Dramatisierung: Der Erzähler ist kein klassischer Held, er bekommt nicht einmal einen Namen und kaum eine Geschichte. Die Entwicklung fokussiert mehr auf die Zeitgeschichte denn auf einzelne Figuren. Charakteristisch für den Roman sind außerdem lange, essayistische Kunstbetrachtungen – Peter Weiss ließ seine Figuren große Hoffnung in die Wirkung der Kunst setzen und Kraft aus ihr schöpfen. Die Besprechung von Werken wie Picassos „Guernica“ oder Géricaults „Das Floß der Medusa“ nehmen im Roman viel Raum ein.

Gleich zu Beginn steht eine Schilderung des Pergamonaltars – im Roman ebenso wie im Stück. Auf der mit weißem Plastik verkleideten, wie ein Gefängnis-Innenhof anmutenden Bühne verrenken sich die Museumsbesucher, um den Altar zu betrachten; später diskutiert der Erzähler mit seinen kommunistischen Freunden. „Wir müssen solche Werke wie den Pergamonaltar immer wieder neu auslegen, bis wir eine Umkehrung gewinnen“, resümiert Heilmann (Jannik Nowak). Ein Schlüsselsatz, in dem sich auch der Wunsch des Autorenteams verbirgt: So wie die uralte, in Stein gemeißelte Darstellung des Götter-Sieges über die Giganten die Berliner Kommunisten inspirierte, so möge sich das Essener Publikum von der „Ästhetik des Widerstands“ gefangen nehmen lassen und herausholen, was es für brauchbar hält.

Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Auch nach dem vermutlich gigantischem Kraftakt des Kürzens und Verdichtens wird aus der Vorlage kein fesselndes Bühnenstück, dazu fehlen schlicht Spannungsbogen und Identifikationsfiguren. Krupa, Neuffer und das Bühnen-, Kostüm- und Videoteam (Jana Findeklee, Joki Tewes, Andreas Jander) haben gleichwohl einige starke, eindringliche Bilder geschaffen – etwa, wenn des Erzählers Mutter langsam zuschneit, während sie unbewegt von einem Alptraum berichtet, in dem sie traumatischen Erfahrungen auf der Flucht verarbeitet (bleibt in Erinnerung: Melanie Lünighöner). Oder wenn die Spannungen zwischen Arbeitern und Intellektuellen sichtbar werden, indem sich die Widerstandskämpfer bürgerlicher Herkunft unters Publikum mischen. In Tempo und Dynamik gibt es wohltuende Wechsel.

Dennoch: Es dominiert die Rede, nicht die Handlung oder Aktion; es gibt mehr zu hören als zu sehen; es gibt viel zu denken und wenig zu fühlen. Elf Darsteller spielen 22 Personen – eine enorme Herausforderung nicht nur für das Ensemble, sondern auch für den Geist der Zuschauer. Nicht umsonst beschreibt das Programmheft unter der Überschrift „Erste Hilfe“ in ungewohnter Direktheit und Ausführlichkeit Inhalt, Regieansatz, Personen und Schlüsselbegriffe. Wer unvorbereitet in das Stück ginge, zöge kaum Gewinn daraus.

Die Produktion leistet Großartiges, indem sie das Werk überhaupt neu zugänglich macht – wenn auch in der Art eines lebendigen Geschichtsbuchs. Peter Weiss erzählte in seinem Roman die Geschichte des Scheiterns und setzte den gescheiterten, teils ermordeten Widerstandskämpfern ein Denkmal. Das und nicht mehr gelingt der Bühnenfassung auch.

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Winterreise im Mai – Katja Riemann und Arne Jansen bei den Ruhrfestspielen

Das Thermometer in Recklinghausen zeigte gut 25 Grad, auf dem Festspielhügel herrschte gepflegte Festival-Atmosphäre. Die Gastronomie gut besucht, das Publikum eigentlich sommerlich heiter gestimmt. Auf dem Programm aber steht eine Winterreise, im Festspielhaus rieseln die Schneeflocken.

Mit einer Schneekugel beginnt die Uraufführung von „Winter – ein Roadmovie“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Schneekugel – das unscharfe Symbol einer verkitschten, heilen Welt. Im Laufe der Jahre geliebt, verpönt, belächelt, derzeit Kult. Auf einer großen Leinwand sind sowohl Heinrich Heine als auch Franz Schubert in solch einer Kugel zu sehen. Die künstlichen Flocken rieseln zu den Klängen der Black Eyed Peas.

Erst dann beginnt die eigentliche Reise, auf die Schauspielerin und Sängerin Katja Riemann und der virtuose Jazz-Gitarrist Arne Jansen das Publikum in diesem Jahr mitnehmen. In ihrem Roadmovie verbinden sie den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert mit Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“. Wie derWesten berichtet, ist die Idee zu diesem ambitionierten Projekt im letzten Jahr beim Brunch im Festspielhaus entstanden. 2011 waren Katja Riemann und Arne Jansen erstmals gemeinsam mit einem Projekt auf der Bühne. „Doitschlandlied“ war der Titel ihrer ersten gemeinsamen Konzeption, die so großen Anklang fand, dass die Frage nach einer Fortführung der erfolgreichenen Zusammenarbeit einfach im Raume stand.

„Winter – ein Roadmovie“ ist anders als das „Doitschlandlied“. Es ist elegischer, melancholischer, leiser. Das Thema Deutschland bleibt, weitet sich aber auf Europa aus. Die Werke Heines als auch Schuberts spiegeln nicht nur deutsche Geschichte wider, sie zeigen auch eine früh entstandene Sehnsucht nach einem geeinten Europa. In Zeiten der Eurokrise sind beide Werke aktueller denn je. Riemann und Jansen zeigen dies akzentuiert und punktgenau. Bearbeitet haben die beiden ihr Roadmovie mit akribischer Sorgfalt, spürbarer Hingabe, aber auch mit Respekt und Demut für die zugrunde liegenden Werke. Und so ist auch die diesjährige konzertante Vorlesung des Duos trotz des frostigen Themas mitten im Sommer wieder ein Erfolg.

Arne Jansen ist ein Ausnahme-Gitarrist. Selbst wenn er sich zurücknimmt wie an diesem Abend, sein großes Talent trägt die konzertante Begleitung und begeistert durchgehend. Die Riemann zeigt sich vielseitig. Dass sie eine gute Sängerin ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen – bei dieser Aufführung traut sie sich auch an instrumentale Ergänzung mit Blockflöte und Melodica. Die Texte fordern ihr ganzes schauspielerisches und gesangliches Können, sie ist eine Schauspielerin, die noch Mut zum Drama und zum Deklamieren hat. Souverän steht sie diese sicher anstrengende Reise durch, schafft es dabei nonchalant, das Publikum einzubeziehen und mit diesem in einen angenehm unaufgeregten Dialog zu treten. Unaufdringlich unterstützend wirken kleine Film-Einspieler auf der Leinwand, jeder für sich ein kleines Kunstwerk.

Die Ruhrfestspiele dümpeln in diesem Jahr zwar gewohnt erfolgreich, aber auch unspektalulär vor sich hin. Wie schon im letzten Jahr sind es die Aufführungen im kleinen Haus, die Mut und Kreativität zeigen, so wie jetzt die Winterreise im Mai. Intendant Frank Hoffmann verbindet die Ruhrfestspiele gerne mit dem Anspruch, sie seien ein Ort der Kreativität, deren dort uraufgeführte Werke von Recklinghausen aus einen erfolgreichen Weg durch die Theater und Bühnen der Republik finden. Zumindest „Winter- Ein Roadmovie“ dürfte diesen Anspruch erfüllen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen noch bis zum 16. Juni ein breitgefächertes Programm.




Der herrliche Kosmos des Abkupferns

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Intelligenzija hierzulande nachhaltiger, als die Frage nach dem Wesen und Unwesen der Kopie und des Kopierens von Kulturerzeugnissen in Zeiten des Internets. Unversöhnlich scheinen sich diejenigen gegenüberzustehen, die einerseits Angst um den Ertrag aus ihrer Musik oder ihren Texte haben, andererseits diejenigen, die für weit reichende Freiheiten des Kopierens stehen. Angefeuert nicht zuletzt durch die Erfolge der Piratenpartei.

Man hört von Filmern, Literaten und Musikern, die sich in groß angelegten Kampagnen gegen Diebstähle an geistigem Gut richten, als ob der Untergang des globalen Dorfs kurz bevor stünde. Bildende Künstler sind in dieser verzerrenden Schein-Schlacht allerdings eher in der Unterzahl. Indes spiegelt sich gerade in der Geschichte von Malerei, Plastik, Grafik etc. geradezu beispielhaft, wie die Kopie unsere visuelle Kultur von Beginn an geprägt und bereichert hat.

Es ist das Verdienst einer hervorragend strukturierten und aufbereiteten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, den aktuell etwas einseitigen Blick zu korrigieren. Eingängig und aufregend, historisch fundiert bietet die Schau Gelegenheit, den Horizont mit Blick auf das anregende Erbe künstlerischen Kopierens anhand von 120 Werken aus dem Spätmittelalter bis heute zu erweitern. “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube” grenzt hierbei schöpferische Aneignungsverfahren vom vermeintlichen Verbrechertum der bösen “Raubkopierer” ab.

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), (c) Kunsthalle Karlsruhe

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), Öl/Holz, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Die Ausstellung hebt an mit einer wunderbar sinnigen Fotoarbeit von Claudia Angelmaier. Das zwei Meter breite Tableau “Das große Rasenstück, 2004/2008″ zeigt Albrecht Dürers ikonenhaftes Aquarell auf ganz besondere Weise. Die 1972 geborene Künstlerin hat sich ein Dutzend Kunstbücher, in denen das legendäre Blatt abgedruckt ist, vorgeknöpft und diese zu einer kleinen Schausammlung in zwei Reihen zu sechs Buchdoppelseiten arrangiert und abgelichtet. Die Bücher überlappen einander derart, dass die Abbildungen, recht nahe beieinander liegend, zum Vergleich anregen. Mit dem Ergebnis deutlich sichtbarer Unterschiede nicht nur im Format, sondern vor allem hinsichtlich der Druckfarben. Das mahnt die Unmöglichkeit eines Ersatzes von Originalen mit Reproduktionen an und verweist gleichfalls auf den aktuellen Schwachsinnsstreit, den sich GEMA und YouTube liefern: Die kleinen Flash-Filmchen sind Surrogate fürs Kino beispielsweise – und nicht mehr. Ihre Qualität ist relativ und gibt den Eindruck des Originals kaum hinreichend wieder.

Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Das Original: Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

 

A propos Dürer. Das Werk des fränkischen Superstars der deutschen Renaissance durchzieht beinahe die gesamte Ausstellung. Nicht ohne Grund, denn er markiert die neuzeitliche Auffassung eines Originalitätsbegriffs, der merkantile Faktoren und die Genese des Künstlersubjekts als Schöpfer impliziert und zum Vorschein bringt. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. Kopien firmierten zu dieser Zeit als Garanten für stimmige Ikonografien. Außerdem tradierten Musterbücher gelungene Werke und gewährleisteten auf diese Weise ästhetische Orientierung. Die Kopie war demgemäß nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie diente eben nicht der monetären Bereicherung. Sie fungierte als Medium der Überlieferung von Qualität und Ehrerbietung gleichermaßen.

Das ändert sich in Dürers Zeit. Er selbst, dessen vor allem druckgrafisches Werk in der Ausstellung mit wunderbaren Beispielen von Medientransfers Auskunft über je unterschiedliche Formen der ästhetischen Wertschätzung gibt, lobte das Kopieren als Mittel zur Erkenntnis von Güte. Andererseits verwehrte er sich dem Ideenklau. 1511 beschimpfte er Kopisten als Diebe und Betrüger. Der Nürnberger Rat ging 1512 gegen das unerlaubte Verwenden seines Monogramms vor. In der zweiten Abteilung hängen zwei Ölgemälde eines bekannten Motivs: “Ritter, Tod und Teufel”, ein Kupferstich aus dem Jahr 1513. Übertragen hat es einerseits ein anonymer Meister, andererseits ein Johann Geminger. Beide Bilder entstanden um 1600 und sind letztlich Interpretationen. Geminger vergrößerte die Darstellung ins Tafelbildformat. Und es bereitet schlicht Freude, die drei Bilder auch hinsichtlich der verschiedenen Wirkungen von Grafik und Malerei miteinander zu vergleichen.

Dürers Papierarbeiten als Schnitzwerk, Glasmalerei oder schlicht in der druckgrafischen Reproduktion mehrerer Stecher im direkten Vergleich beobachten zu können, mag nach übertriebener Pädagogik klingen. Jedoch ist die Argumentation der Ausstellung und die historische Aufarbeitung des Begriffswandels zwingend und den Werken direkt anzusehen. Endlich einmal eine Schau, die nicht nur plausibel und deutlich ihre Inhalte in den Ausstellungsräumen organisiert und mit knappen wie pointierten Saaltexten das Verstehen der je verschiedenen Konnotationen von Kopie in den Zeitläuften erlaubt, sondern überdies noch eine, die einen umfassenden Beitrag zur bislang nur partiell geschriebenen Kunstgeschichte des Kopierens offeriert.

Diesen entbergenden und Augen öffnenden Kosmos an Werken durchhaucht der Geist der Etymologie, denn das lateinische “copia” meint “Fülle”, “Mittel”, “Wohlstand”, “Vermögen”, “Fähigkeit”, “Möglichkeit”, “Gelegenheit” oder “Vorrat” und nicht etwa “Verbrechen” oder “Diebstahl”. Nachvollziehbar wird jene Auffassung im Werkstattbild. Pieter Breugel d. J. kopierte mehrfach das Gemälde “Anbetung der Könige im Schnee”, das aus der Hand seines Vaters stammte. Drei seiner Repliken sind in Karlsruhe zu sehen. Mal fehlt der Schnee, dann sieht man beispielsweise die unbeholfene Umsetzung des Eislochs im Kanal. Das alles sind Einladungen zum vergleichenden Sehen. Und es wird erkennbar, dass bestimmte Motive einfach Hits zu ihrer jeweiligen Zeit waren und gerade in den sehr spezifizierten bürgerlichen Märkten der Niederlande ganz unbedarfterweise kommerziellen Erfolg garantierten.

Von Rubens, der das Kopieren streng überwachte und auch Reproduktionsstiche nur an ausgewählte Grafiker übertrug, weiß man, dass eine eigenhändige Kopie ein Drittel bis maximal 50 Prozent des Originalbildes erbrachte. Und nicht jeder, der eine wollte, bekam eine. Erst der Adel, dann der Rest. Selbst im Falle einer abgekupferten Komposition.

In der großen Zeit der Akademien, ging es darum, dem Original so nahe zu kommen, dass man als Schüler die Meisterschaft eines kanonisierten Juwels quasi durch die eigenen Hände nachvollziehen lernte. Amüsante Petitessen bietet die Ausstellung ferner auf. Beispielsweise einen Teil des “Prehnschen Kabinetts” von 1780 bis 1824, ein Holzkasten mit 24 Miniaturen. Diese Minimuseen zeigen zumeist keine direkten Kopien von originalen Meisterwerken, sondern entstanden oft nach Druckgrafiken. Außerdem interpretierten die beteiligten Maler stilistische Eindrücke auf dieses puppenstubenhafte Medium hin. Der gesamte Umfang beträgt 32 Kästen mit 800 Miniaturen, die Themen und Motive aus verschiedenen Jahrhunderten und Geografien wiedergeben: Eine einzigartige Kunstliebhaberei bringt sich zum Ausdruck.

In Bildern nach Frans Hals sieht man die Entwicklung der schmackhaften Pinselführung Lovis Corinths. Hier und auch bei Max Beckmann mutiert die Kopie zum Beschleuniger und Medium der künstlerischen Innovation. Bis dann im späten 20. Jahrhundert die Kopie als künstlerisches Prinzip zu einer oft verwendeten Ausdrucksform wurde. In den Jahren der Appropriation Art, die konzeptuell die Kopie zur Schleifung der Bastion namens Genie einsetzte, entwickelten Künstler die Entgrenzung des Bildes bei Entwertung materieller Faktoren wie Leinwand, Farbe oder Form. Elaine Sturtevant, die beispielhaft für diesen Modus der Aneignung gelten kann, sagte einmal über ihre Arbeit: “Es ist eine Kunst, welche die Verführung der Oberfläche wiederholt und im Prozess der Wiederholung auflöst, um dem wirklich Wichtigen Platz zu machen, dem Denken.” Sturtevants Interpretation von Andy Warhols “Flowers” (1969/70) ist demgemäß in Karlsruhe präsent. Und es ist erstaunlich, dass Mr. All is Pretty die Wiederverwendung seiner Originalsiebe durch die 1930 geborene Künstlerin gestattete. Ob das heute noch denkbar wäre?

Aber auch diese Weise der Erweiterung des künstlerischen Potenzials der Kopie stellt nicht das Ende dar. Erstaunlich ist die Vielfalt, die heutzutage möglich ist. Klaus Mosettigs Bleistiftzeichnungen des Action-Paintings “Lavender Mist” von Jackson Pollock sind mehr als nur akribische Nachahmungen. Sie verlagern den Blick auf Prozessualität und Zeit. Dass auf YouTube oder Flickr künstlerische Laien etwa Cindy Sherman imitieren, rückt nach der Faszination an der Geschichte der Kopie wieder den Alltag von heute in den Blick.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für viele Bürger schließlich schwer nachzuvollziehen, was erlaubt und was verboten ist. Die Gesellschaft steht vielleicht vor einem Paradigmenwechsel. Bei der Einschätzung dessen, was als Kopie verstanden werden soll, bereichert die Karlsruher Schau den Diskurs erheblich. Sicher ist nicht das massenhafte, illegale Brennen von CDs, Software oder Hollywood-Streifen gemeint, ein Verfahren, auf das bestverdienende Unterhaltungskünstler wie Mario Adorf, Sven Regener oder Charlotte Roche das Spektrum der Kopie verengen wollen. Interessanterweise kaprizieren sich die halbwegs intelligenten Aneignungen von Laien auf recht komplexe Arbeiten. Siehe Cindy Sherman und ihre “Untitled Film Stills”. Das schärft auch den Blick auf tatsächliche intellektuelle Güte und entlarvt so manchen, der sich als “Künstler” gegen das Kopieren verwehrt, lediglich als Schacherer. Diesen Kandidaten kann man nur die Ausstellung ans Herz legen, damit sich vielleicht ein kontrollierterer Sprachgebrauch in Sachen Kopie durchsetzt.

Begleitet wird das Projekt, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung entstand, von einem exzellenten Katalog, der neben einer eingängigen Einführung von Ariane Mensger (S. 30-45) auch mit den derzeit rechtlichen Fragestellungen (Thomas Dreier: Original und Kopie im rechtlichen Bildregime, S. 146-155)) auseinander setzt. Außerdem kann sich der Interessent umfangreich in der Ausstellung “Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens” im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM, bis 10.2.2013) über die vielfältigen künstlerischen Verwendungsweisen von Zitat und Kopie informieren. Übrigens gibt es aufgrund der Zusammenarbeit beider Häuser bis zum 5.8. jeweils einen ermäßigten Eintritt bei Erwerb eines Kombitickets.

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”, bis 5. August 2012, Eintritt 8 Euro, 6 Euro erm., 2 Euro Schüler, 16 Euro Familien, Di-Fr 10 – 17 Uhr, Sa, So, feiertags 10 – 18 Uhr, www.kunsthalle-karlsruhe.de, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe




Meilensteine der Popmusik (12): Joe Cocker

Wenn heutzutage U2 oder Madonna eine Tournee in Angriff nehmen, wird alles im Vorfeld generalstabsmäßig geplant. Die Bühnen werden immer größer, Light-Shows immer gewaltiger, der Sound noch perfekter, Lautsprechertürme wachsen ins Endlose. Einen Flop kann sich heute keiner mehr leisten. Die Tourneen der Superstars sind mittlerweile durchweg Riesenerfolge – fast schon Erfolge mit Garantie. Das war einmal ganz anders, als Manager und Konzertveranstalter noch unerfahrener, Künstler noch unbedarfter waren.

Der Engländer JOE COCKER wurde eines der ersten Opfer dieser Naivität. Im August 1969 gehörte er noch zu den neuen Superstars auf der Wiese von Woodstock. Die Amerikaner waren hellauf begeistert. Sie konnten kaum glauben, dass eine derart schwarze Rhythm & Blues-Stimme aus Europa kam. COCKER selbst, dem einfachen Klempner aus Sheffield, wurde der Rummel um ihn alsbald zu viel. Er zog sich zurück, löste seine englische Band auf, und flog erst am 11. März 1970 – also über ein halbes Jahr später – wieder in die USA. In Los Angeles wollte er in aller Ruhe Songs und Musiker suchen. Für den kommenden Sommer plante er einige kleine Auftritte. Doch seine amerikanischen Manager waren hier ganz anderer Meinung. Schon einen Tag nach seiner Ankunft in L.A. standen sie vor seiner Tür. Sie hatten einen Vertrag über eine ganze US-Tournee mitgebracht. Unter der Androhung, dass nicht nur sie, sondern auch die Musiker-Gewerkschaften und vor allen Dingen die Einwanderer-Behörde sauer wären, wenn er nicht unterschreiben würde, willigte JOE COCKER schließlich ein. Der unglaubliche Nervenkitzel bei der ganzen Aktion: Die Tournee sollte schon acht Tage später in Detroit starten. Und JOE COCKER stand noch ohne Begleitband da.

 

Am nächsten Tag erreicht ihn dann ein Anruf von Leon Russell. Der wohl begehrteste Studiomusiker seiner Zeit hatte von den Problemen gehört, und bot sich an eine Band zusammenzustellen. Es schien so, als wäre jetzt der erste Profi am Werk, denn Russell brauchte nur einen Tag und eine gepfefferte Telefonrechnung, dann hatte er zehn Topmusiker beisammen. Immerhin elf Chorsänger und -Sängerinnen kamen später hinzu. Der Wettlauf mit der Zeit begann. Tag und Nacht wurde geprobt bis das Programm stand. Die ganze Crew umfasste mittlerweile außer den Musikern, Sound-Technikern, Roadies, Managern, auch Ehefrauen, Freundinnen, dazugehörige Kinder und sogar Hunde. Als einer auf die Idee kam, die ganze Tournee auch noch zu filmen, zählte man incl. Kameramännern 43 Leute. Für die ganze Meute stand ein Flugzeug mit der Aufschrift „Cocker-Power“ bereit.

 

Am 19. März ging es los. In 56 Tagen flog man 48 Städte an. Den ganzen Zirkus nannte man „JOE COCKER – Mad Dogs And Englishmen“. Tournee, Film und Doppel-Album wurden zum Knüller des Jahres. Am Ende waren alle erschöpft, aber letztlich doch zufrieden. Das aus dem Nichts entstandene Spektakel hatte sich wohl für fast alle Teilnehmer gelohnt – nur für JOE COCKER selbst nicht. Nach Abzug aller Unkosten wurde er mit lumpigen 862 Dollar abgespeist. Er tauchte bei seinen Eltern unter, bekam anschließend einen Nervenzusammenbruch. Man hatte den einfachen Kerl aus Sheffield aufs Kreuz gelegt.

 

Eineinhalb Jahre lang trampte er ziellos durch Großbritannien, soff und spritzte sich fast zu Tode. Wie ein Magnet zog es ihn dann doch wieder nach Los Angeles, wo einige Manager darauf warteten, ihn erst einmal aus dem Sumpf zu ziehen, um kurz darauf den Junkie wieder enttäuscht fallen zu lassen. Erst Jahre später (1982 ) bekam er noch einmal eine Chance. Er hat sie genutzt, und feierte ein grandioses Comeback. Ein Erfolg, der bis heute anhält.

Joe Cocker on youtube




Virtuoses Stammeln durch deutsche Zeitgeschichte: Dieter Hildebrandt ist 85

Sie waren meine ersten Serienhelden: Dieter Hildebrandt (inzwischen 85-jähriger Altersjubilar), Klaus Havenstein, Jürgen Scheller, Hans-Jürgen Diedrich, Ursula Noack – die Münchner Lach- und Schießgesellschaft.

Brannten sie und ihr listiger Mann im Hintergrund, der unvergleichliche (auch als Sportreporter) Sammy Drechsel, ihr bissiges Feuerwerk in alle Richtungen des damaligen Polit-Establishments ab, ließ ich meinen Tränen des Lachens freien Lauf, verzieh Wiederholungen der Ausstrahlungen den öffentlich-rechtlichen Anstalten ohne Murren und wäre so gern einer von ihnen gewesen, wäre mein Talent nur ausreichend gewesen.
Meine uneingeschränkte Zuneigung verdankten die im „Laden“ – wie das Ensemble seinen Arbeitsplatz nannte – diesem Dieter Hildebrandt, der durch sein anscheinend plan- und hilfloses Gestammel die boshafte Verbindlichkeit ins kabarettistische Gemenge brachte, der durch Auslassen von Sätzen raus lassen konnte, was ihm stank und der frohgemut improvisieren konnte, ohne je nachlässig zu sein mit der akribischen Vorbereitung seiner Nummern. Er ist nun 85 Jahre alt, fragt sich erstaunt, ob er schon alt sei oder es noch werde und repräsentiert ikonesk stets moderne Urformen des deutschen Kabaretts. Sozusagen ist er nach wie vor das Maß aller Stimmen, die sich mit ihm, nach ihm und um ihn herum bewegten. Auch wenn Richling noch heute grummelt, weil er „Scheibenwischer“ nicht inhaltlich mit Comedians durchsuppen durfte und folglich dieses Programm aus dem öffentlich-rechtlichen TV-Bild verschwand.
Der gebürtige Schlesier und adoptierte Münchner Dieter Hildebrandt bohrte seinen fröhlich-bissigen Humor durch jedes sich nach dem Kriege anbietende Polit-Segment und tat seinen Repräsentanten jeglicher Couleur damit weh, was Politiker und Wirtschaftsführer am meisten peinigen kann – er sprach ihnen öffentlich ab, dass sie ernst genommen werden müssen. So rein als Menschen, die Spätfolgen ihres Jobs schon. Auch wenn ihm bisweilen ein Bannstrahl nach dem anderen um die Ohren flog, er überstand sie alle. Und stammelte sich weiter durch die real existierenden Gesellschaftsformen deutscher Provenienz, ganz im Stile eines Werner Finck, der ihm anscheinend Vorbild war, im Einlassen auf Auslassungen und Wortspielen, die so aus ihm fielen als ob sie ihm mal einfielen. Der legendäre Finck trat übrigens im Theater „Die kleine Freiheit“ in München auf, Erich Kästner schrieb an den Programmen und Dieter Hildebrandt war wesentlich dafür verantwortlich, dass das Publikum es bequem hatte – als Platzanweiser.
85 Jahre alt, wachen Hirns und kritischer Einstellung gegenüber allem, was ihm entgegentritt, sich ihm in den Weg stellt und sich der Gefahr seiner Pointen aussetzt – Dieter Hildebrandt möge so bleiben. Mein erster Serienheld – und nicht in Dr. Murkes gesammeltes Schweigen verfallen (Kurzgeschichte von Heinrich Böll, die vom Hessischen Rundfunk als Fernsehspiel verfilmt wurde mit Dieter Hildebrandt in der Hauptrolle).




Wahl-Düsseldorfer Bildhauer Imi Knoebel ausgezeichnet

Der deutsche Maler und Bildhauer Imi Knoebel wird mit dem Kythera-Preis der gleichnamigen Kulturstiftung unter dem Vorsitz ihrer Gründerin Gabriele Henkel ausgezeichnet. „Es käme Verkennung gleich, in den Arbeiten Knoebels das formal Unbeschwerte, ein reines Spiel der Flächen, Figuren und Formen oder gar das Dekorative und ästhetisch Unverbindliche absolut zu setzen“, so die Jury. Sie hebt insbesondere seine für die Kathedrale von Reims entworfenen sechs Fenster hervor, die 2011 fertig gestellt wurden und sich in der Nord- und Südkapelle seitlich des 1974 geschaffenen Chagall-Fensters befinden. Mit Knoebel wird erstmals ein bildender Künstler ausgezeichnet, der in direktem Bezug mit dem Stiftungsort Düsseldorf steht.

Die in Düsseldorf ansässige Kythera-Kulturstiftung wurde 2001 gegründet und würdigt mit ihrem Preis Künstler, die einen Beitrag zur Vermittlung der romanischen Kultur in Deutschland und umgekehrt geleistet haben. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt wurden bisher unter anderem der Architekt Renzo Piano, die Kunsthistorikerin Sylvia Ferino und zuletzt der Grafikdesigner, Verleger und Kunstsammler Franco Maria Ricci.

Imi Knoebel, der eigentlich Klaus Wolf Knoebel heißt, stammt aus Dessau. 1964 kam er an die Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst in der Gebrauchsgrafik-Klasse von Walter Breker, wechselte er 1965 zu Joseph Beuys, wo er und sein Künstlerfreund Rainer Giese im legendären Raum 19 u.a. auf Jörg Immendorff und Blinky Palermo trafen. Knobel wurde seit 1972 mehrfach zur „documenta“ nach Kassel sowie zu Ausstellungen und Werkschauen u.a. nach Leipzig, Amsterdam, Rom und Valencia, nach Sao Paulo, San Francisco und New York geladen. Er wird den Preis am Mittwoch, 23. Mai, in K21 in seiner Wahlheimat Düsseldorf entgegennehmen.

(Mit freundlicher Genehmigung von http://www.kunstmarkt.com)




Losung des Tages: Keine Gnade mit Computern – und dann weg mit dem Internet!

Das ist bedenklich: wie sehr unsereiner vom Online-Zugang abhängt.

Viele werden das empört von sich weisen: Wir doch nicht! Doch muss man ihnen glauben? Nein. Auch ihr seid süchtig, liebe Leute. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.

Die Sache verhält sich so. Ich bin für ein paar Tage in Urlaub und die Online-Verbindung streikt hier immer wieder.

(Werte Einbruchswillige, meine Lieben und ich können jede Sekunde zurückkehren – dann lauere ich sofort wieder mit meinem Schießgewehr, kawumm!).

Quälend offline also. Dabei ist man doch nur in Holland und nicht im Outback.

Es grenzt an Slapstick. Nur im Freien funktioniert der vom Haus des Vermieters kommende WLAN-Empfang, doch zuweilen lediglich dann, wenn ich das Notebook in einer bestimmten Zone des Grundstücks über Kopfhöhe halte, zähneknirschend das schüttere Empfangssignal abwarte und nun laaaangsam das Gerät senke, um mich schließlich wieder voooorsichtig hinsetzen zu können. Bis auf weiteres.

Es ist entwürdigend. Es ist demütigend.

Und nein: Ich will nicht ins Internet-Café.

Verfluchte Technik, die einen zum Deppen degradiert und sowieso auf Verschleiß beruht. Mit Computern samt allem Drum und Dran mag ich keine Nachsicht oder Geduld aufbringen. Wie denn auch?

Alle kennen das, gebt es nur zu! Man möchte die Apparatur anschreien, maßregeln oder am besten gleich vor die Wand klatschen. Man möchte das Display aufschlitzen, die Tasten oder die Platine herausreißen und überhaupt das vermaledeite Internet aushebeln, ankokeln, abservieren. Weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte. Von vorn beginnen.

Doch man muss ja so dringend Mails verschicken, Freunden bei Facebook dies und jenes mitteilen, seine Homepage, sein Blog oder sonstwas weiterführen. Das virtuelle Leben darf doch nicht pausieren. Man könnte sonst womöglich zur Besinnung kommen. Zur Einkehr gar!

Solcher Zwiespalt setzt wohl voraus, dass man eine lange Zeit des Lebens gänzlich ohne Internet verbracht hat. Den digitalen Eingeborenen (um die Formel ein allerletztes Mal zu verwenden) ist das nicht mehr begreiflich zu machen.

Weiß man denn selbst noch, wie es vorher gewesen ist? Wie man ohne Suchmaschinen und all die anderen Phänomene und Phantome sein Dasein hat fristen können? Sollte man etwa Bücher befragt oder sich bei Fachleuten erkundigt haben? Sollte man Dinge im Wortsinne begriffen haben?




Grenzgänge zwischen Kunst und Musik: Ruhrtriennale-Chef Heiner Goebbels arbeitet für eine Ausstellung in Darmstadt

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

So starr waren sie auch früher nicht, die Grenzen zwischen (bildender) Kunst und Musik, man denke nur an die Oper als „Gesamtkunstwerk“. Oder an synästhetische Fragen wie die nach dem „Klang“ von Farben (Olivier Messiaen) oder eben auch der „Farbe“ von Klängen, ein Thema, das die Musik seit den 19. Jahrhundert ausdrücklich beschäftigt.

Doch die Mathildenhöhe in Darmstadt will nun in einem Großprojekt das Thema völlig neu aufrollen. Anlass dazu ist der 100. Geburtstag von John Cage, dem wohl bekanntesten unter den avantgardistischen Infragestellern von Grenzen.

Mit dem Ausstellungsprojekt „A House Full Of Music“ will das Institut, angesiedelt in einer der schönsten Jugendstil-Stadtlandschaften Deutschlands, parallel zur documenta 13 in Kassel „erstmals die inneren Zusammenhänge zwischen den Gattungen Musik und Kunst“ thematisieren. Und der neue Chef der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, wird dazu eine neue Sound- und Video-Installation kreieren.

Der Anspruch der Ausstellung ist ehrgeizig: Ein ganzes Jahrhundert soll auf neue Art und Weise präsentiert werden. „A House Full Of Music“ – so die Aussteller – gehe grundsätzlich anders vor als einschlägige Musik- und Kunst-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte: Die haben etwa die Klangkunst als neue Hybridgattung, gattungsübergreifende soziokulturelle Kontexte von Kunst und Musik oder einzelne Medien – wie etwa die Schallplatte – in den Fokus gerückt.

Die Mathildenhöhe dagegen setzt auf die epochenübergreifende Präsentation wirkmächtiger Strategien: speichern, collagieren, schweigen, zerstören, rechnen, würfeln, fühlen, denken, glauben, möblieren, wiederholen, spielen – zwölf Strategien, die sowohl die Musik als auch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bis heute prägen. In kontrastreichen Strategieräumen – so verspricht die Ausstellung – will sie die parallelen Vorgehensweisen von Musik und Kunst in Geschichte und Gegenwart erfahrbar machen. Damit wirft „A House Full Of Music“ einen neuen Blick auf die thematischen, formalen und durch Personen gestifteten Zusammenhänge der beiden künstlerischen Disziplinen.

Bis 9. September geht es also um Pioniere und Grenzgänger zwischen Musik und Kunst: John Cage, Erik Satie, Steve Reich, Marcel Duchamp, Joseph Beuys, Nam June Paik, Yves Klein oder Paul Klee; aber auch The Beatles, Miles Davis, Frank Zappa – insgesamt 110 bildende Künstler, Musiker und Komponisten. Mit 350 Werken in allen Medien und Techniken können die Besucher die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, die Netzwerke zwischen den Musikern und Künstlern sowie die Themen, die beide gleichermaßen beschäftigt haben, erschließen.

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Der Komponist, Musiktheaterregisseur, Intendant der Ruhrtriennale 2012 bis 2014 und Träger des Ibsen-Preises Heiner Goebbels realisiert im Wasserreservoir der Mathildenhöhe eigens eine von John Cage und Gertrude Stein inspirierte Sound- und Videoinstallation „Genko-an 64287“. Und in den Bildhauerateliers des Museums Künstlerkolonie wird ein Cage-Kino installiert. Dort läuft im CinemaScope-Format der Künstlerfilm „Sound ??“ von 1966, der John Cage mit dem Jazz-Saxophonisten Rashaan Roland Kirk in einen kreativen Dialog setzt. Im benachbarten Weißraum ist Nam June Paiks filmisch-künstlerische Hommage „A Tribute to John Cage“ von 1973/76 zu erleben.

Zur Ausstellung erscheint neben einem weiteren Band aus der Reihe „Kunst zum Hören“ der Katalog „A House Full of Music. Strategien in Musik und Kunst“, herausgegeben von Ralf Beil und Peter Kraut im Verlag Hatje Cantz, mit Essays und Werktexten u. a. von Samuel Beckett bis Erwin Schulhoff und Karlheinz Stockhausen.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der 416 Seiten starke Band mit 468 Abbildungen kostet 45 Euro an der Museumkasse. Ein umfangreiches Rahmenprogramm begleitet die Ausstellung; unter anderem gibt es am 16. Juni eine Aufführung von Erik Saties Vexations (840 Wiederholungen) über mehr als 24 Stunden am Flügel im Foyer des Ausstellungsgebäudes.

Die Darmstädter Ausstellung „A House Full of Music“ im Ausstellungsgebäude, im Wasserreservoir Mathildenhöhe und im Bildhauerateliers Museum Künstlerkolonie ist bis 9. September von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt kosten 10, ermäßigt 8 Euro, eine Familienkarte ist für 20 Euro erhältlich.

Kontakt: www.mathildenhoehe.info

Tel.: (0 61 51) 13 33 50.




Soziale Miniaturen (14): Klassentreffen

Vergangene Zeit... (Foto: Bernd Berke)

Vergangene Zeit… (Foto: Bernd Berke)

Kürzlich nach Jahrzehnten ein Klassentreffen gehabt. Vorher ein etwas mulmiges Gefühl: Wie würde das werden? Allgemeines Protzen mit Erfolgen, Titeln, Besitztümern? Herumreichen diverser Segelyacht-Fotos (selbstredend via iPhone) oder anderer Trophäen? Das angeblich übliche „Mein Haus, meine Frau, mein Sonstwas“…

Doch nein! Praktisch nichts von alledem. Fast möchte man von Milde und Weisheit reden, hie und da vermischt mit ein wenig Übermut der Sorte, die Demut keineswegs ausschließt. Es scheint, als wären wir in einem Alter angelangt, wo (wieder) andere Werte in den Vordergrund rücken. Wo sich etwaige Anmaßungen abgeschliffen haben. Wo sich das mehr oder weniger verbissene Konkurrieren zum großen Teil erledigt hat. Denn aus allen (jedenfalls aus denen, die zum Treffen erschienen sind) ist ja „etwas geworden“, man hat im Leben das eine oder andere bewirken können, wenn auch wohl nichts Weltbewegendes. Doch nun geht der Blick allmählich in andere Gefilde. Man muss das nicht näher erläutern, es steht ja allen bevor.

Ganz früh hatte man einigermaßen vergleichbare Sorgen, dann driftete es auseinander. Jeder suchte seinen Platz in der Welt einzunehmen und zu festigen. Jeder auf seine Weise, auf seinem Gebiet. Jeder, so gut er eben konnte. Manche auf verschlungenen Wegen, andere geradeaus draufzu. Und man weiß nicht, was besser ist. Im Bestreben war man einander wohl doch wieder ähnlich. Was ehedem nicht so zu ahnen war: Diese Jahrgänge haben wahre Arbeitstiere hervorgebracht, die sich für eine Aufgabe geradezu aufopfern können. Zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbetäubung ist der Grat oft schmal.

Nun herrscht auch wieder das Gefühl vor, ein und derselben Generation anzugehören. Noch dazu sind wir bis heute geprägt durch eben jenes Gymnasium, durch ganz bestimmte Lehrer(innen) und Mitschüler. So wird jetzt gleich wieder ein gemeinsamer Generalbass hörbar. Das war ja – neben dem und jenem Stoff – überhaupt ein Hauptzweck schulischer Bemühungen; dass man einige Grundtypen des Menschlichen in Nahsicht erleben konnte. Seinerzeit lebten sich Lehrer, sofern nicht angreifbar schwach, noch ziemlich schrankenlos vor den Klassen aus. Allen weiteren Erfahrungen zum Trotz: Im Hintergrund hat es – über alle Jahre hinweg – noch ein paar innere Instanzen und Haltungen gegeben, die sich aus jener Zeit herleiten.

Die anderen hatten sich vor zehn, fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Bei mir war’s wegen eines damaligen Schulwechsels erheblich länger her. Eine weite Zeitreise also. Im Grunde schockierend, wenigstens frappierend. Gesichter von damals, verwandelt von all der Zwischenzeit und rauhen Wirklichkeit. Das Klassenfoto aus alten Tagen durfte man nicht zu eingehend betrachten, sonst hätte einen Zeitweh erfasst.




Deutsche Gotik in London oder: Was gilt der Prophet denn im Heimatland?

Vor vielen Jahren bin ich mal nach London gefahren und dort ins Nationalmuseum gegangen, weil ich unbedingt die gotischen Malereien aus Deutschland sehen wollte.

Nach der Auflösung der Klöster durch den Reichsdeputationshauptschluss zu Beginn des 19. Jahrhundets waren viele ländliche Pfarreien verarmt und hatten ihre wertvollen Schätze an Kunsthändler und Sammler verramschen müssen, zum Beispiel den berühmten Liesborner Altar oder auch die wunderschönen Bilder aus der Kirche meiner Kindheit, der Klosterkirche St. Christina in Herzebrock bei Gütersloh.

Diese Bilder hängen also nun in London, und ich war tief beeindruckt. Auch im New Yorker Metropolitan Museum of Art finden sich solche Werke, zum Beispiel eine Kreuzigungsszene vom „Meister des Berswordt-Altars“, die vom Altar der Neustädter Marienkirche in Bielefeld stammt.

Der Berswordt-Altar in der Marienkirche Dortmund.

Bei Berswordt horchen manche Dortmunder auf, findet sich doch in der Marienkirche jener Berswordt-Altar, der das Wappen der Stifterfamilie enthält und von dem der Name des anonymen Künstlers abgeleitet wurde. Es gibt in Dortmund auch die Berswordt-Halle, und so mancher Kultur-Interessierte weiß um den Hintergrund, aber an die Berühmtheit eines BVB-Spielers kommt das so herausragende Kunstwerk bei weitem nicht heran.

Ich bin zwar kein Dortmunder, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Bewohner dieser schönen Stadt gar nicht zu schätzen wissen, welch großartiges Erbe sie da in ihrer Mitte aufbewahren. Dazu gehört natürlich auch die romanische Madonna in der Marienkirche. Der Prophet gilt eben in der Heimat oft nicht das Allermeiste.




Meister der Notenmassen – Pianist Igor Levit mit Etüden von Debussy und Liszt

Igor Levit, Tasten und Finger fest im Blick. Foto: Mohn/Klavier-Festival Ruhr

Zehn Tage sind nunmehr beim Klavier-Festival Ruhr 2012 ins Land gegangen. Es hat sich einen fulminant wuchtigen, wie elegant pianistischen Auftakt gegönnt – mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane und dem Solisten Jean-Yves Thibaudet. Als berühmter Dauergast gab sich Daniel Barenboim die Ehre, als fingerflinke Sinnsucherin kam Yuja Wang.

So weit, so interessant. Nun aber hat der Russe Igor Levit in Essen die Bühne betreten. Als ein Zeremonienmeister des Klavierspiels, der in strenger Selbstdisziplin dafür sorgt, seine Kraft im Zaum zu halten. Der sich in einen dämonischen Virtuosen verwandeln kann, ohne Gefahr zu Laufen, als Hexenmeister apostrophiert zu werden. Und der vom Musizieren offenbar nicht genug bekommt, Werk um Werk, Stück um Stück auftürmt, als wolle er sich einer neuen olympischen Disziplin des Abarbeitens von Notenmaterial unterwerfen.

Wenn also dieser Mittzwanziger, der vom Feuilleton schon zum jungen Meister erkoren ist, in Essen Debussys 12 Etüden interpretiert, um nach der Pause noch eine Stunde Liszt draufzulegen, dann ist die Verehrung durchs Publikums schon ob der Quantität des Programms riesengroß. Levit liefert (zu) viel des Guten, füllt den Raum mit Klang(über)sättigung. Er exerziert und attackiert. Der Körper ist gebeugt, das Gesicht auf Tastenhöhe, die Mimik verrät zumeist Ernst, Ingrimm, bisweilen Verbissenheit. Diesem gewaltigen ästhetischen Rausch ergeben wir uns unmittelbar.

Dennoch: Levit ist kein Zauberer. Er kann viel, aber letzthin stellt er sich selbst ein Bein. Mag er als Meister der Notenmassen ungeheuer beeindrucken, stellt sich trotzdem die Meinung ein: Er hat’s im Griff, wir hören es wieder und wieder. Viel Ursache, viel Wirkung und manche Erschöpfung. Nun bitte, es ist genug.

Dabei beginnt alles spielerisch leicht. Debussys zwölf Etüden, die ja mehr sind als eine Abfolge raffinierter Triolen- Sextolen- oder Akkord-Exerzitien, serviert uns Levit als klangschöne Piècen. Der Pianist meidet allen Akademismus, zeichnet klare Strukturen, verzückt das Publikum mit hochdifferenzierter Dynamik. Wir hören kantige Motorik und entmaterialisiertes Schweben. Der Solist zelebriert, ohne die Etüdenfolge in falscher Schönheit zu ertränken.

Dem Zauber, der dieser Musik gleichwohl inne ist, darf sich das Publikum wohlig hingeben, darf Gedanken spinnen über Stimmungen oder eigene Bilder evozieren. Debussy hat, im Gegensatz zu seinen Préludes, hier keine poetischen Titel notiert. Und so gibt uns Levits kontrolliertes, Klangräume öffnendes Spiel alle Möglichkeiten der Assoziation.

Bei Franz Liszts „Douze études d’exécution transcendante“ liegen die Dinge anders. Die meisten Stücke dieses hochvirtuosen Dutzends tragen Titel, sind teils klavieristische Programmmusik. Der Komponist gießt Helden- und Befindlichkeitstum überwiegend in gleißende Fingerakrobatik. Für sich genommen ist dieser Zyklus eine Offenbarung. In Verbindung zu Debussys Etüden wirkt er eher derb, protzend, ranschmeißerisch.

So gesehen, ist Levits Konzertdramaturgie nicht glücklich zu nennen. Zudem werden seine pianistischen Grenzen deutlich. Unfallfrei entkommt er dem virtuosen Wahnwitz mancher Stücke jedenfalls nicht. Und alles Zarte scheint nur Atempause, um sich erneut ins Exzessive zu stürzen. Selbst das „Schneetreiben“, wie Liszt seine letzte Etüde umschreibt, ist bei Levit eher ein winterliches Unwetter. Wie gesagt: Wir ergeben uns.

 

Informationen zum Programm unter www.klavierfestival.de

 




Gesang im Blut: Gewandhausorchester Leipzig gastiert in der Philharmonie Essen

Leonidas Kavakos kommt mit einer Art Maß-Schlafanzug aufs Podium. Wer so ein Designer-Stück trägt, will auch Aufmerksamkeit darauf lenken – denkt man. Doch noch bevor man irgendeinen weiteren Gedanken an den Robenschöpfer verschwendet hat, nimmt die Musik gefangen. Und anders als bei manchem geigenden Girl stellt sich die Verpackungsfrage nicht mehr. Denn mit den ruhig gelösten ersten Takten von Dmitri Schostakowitschs Violinkonzert a-Moll hat der griechische Geiger alle Aufmerksamkeit auf die Musik gezogen. Und da bleibt sie – bis zur expressiven Kadenz des vierten Satzes.

Kavakos setzt nicht auf das Spektakel, für das Schostakowitschs Musik selbst in diesem Konzert gut wäre. Der meditativ-schweifende Charakter des ersten Satzes, „Nocturne“ bezeichnet, ist in selten glücklicher Einigkeit mit dem Gewandhausorchester und seinem Chef Riccardo Chailly phrasiert: Dem Italiener liegt das „Singen“ im Blut, das hat schon er als junger Aufsteiger in den siebziger Jahren mit grandiosen Verdi-Dirigaten am Teatro alla Scala bewiesen. Kavakos zeigt, wie ein ebenmäßiger Geigenton differenziert werden kann, ohne dem Klang Gewalt anzutun. Es gibt keine Drücker, keine harschen Geräusche, keine dünnen Stellen, auch kein wallendes Pathos.

Die Musiker des Leipziger Traditionsorchesters folgen dieser polierten, aber keinesfalls belanglosen Schönheit des Tons: ob Kontrafagott und Horn in sacht beigemischter Farbe, ob das tiefe Blech im Pianissimo oder die Streicher in einer kaum mehr vernehmbaren Grundierung für Bassklarinette und Harfe. Den zweiten Satz, das gerühmte „Scherzo“, rücken Kavakos und Chailly nicht auf die dämonische Nachtseite, wie eine Beschreibung des Uraufführungs-Solisten David Oistrach nahe legt. Die zackigen Staccati und knackigen Mini-Motive wirken eher sarkastisch, vom schillernden Humor eines gefährlichen Kobolds ausgespien.

Brillante Polyphonie und kontrastreiche Beleuchtung des Orchesterparts finden wir in Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie. Der Beginn mit dem kraftvollen Blechbläserakkord und der regelgerechten Vorstellung der Themen ist nicht ganz gelungen; Chailly baut zu wenig Spannung auf und das Orchester klingt pauschal. Doch gerade als sich der Eindruck festigen will, nun eine urdeutsche Version der Symphonie des grämlich gründelnden Greises, wie Brahms auf Bildern oft erscheint, absitzen zu müssen, ändert sich die Atmosphäre. Da bilden weite Phrasierungen die Architektur der Sätze nach und überspannen das motivisch variantenreiche Detail-Geschehen; da zeigt sich intime Vertrautheit mit der Musik in gelassener Souveränität des Spiels.

Die Musiker des Gewandhausorchesters, derzeit mit Chailly auf Europa-Tournee, lassen Brahms glänzen und strahlen – und trotz aller Vorsicht vor derartigen Verknüpfungen von Biografie und Werk ist man geneigt, die freundliche Heiterkeit der Tage zu spüren, während derer Brahms im Wiesbaden des Sommers 1883 die Symphonie geschrieben hat. Der leuchtende Schluss nach Dvořák-Art war nicht das Ende des Konzerts in der Philharmonie: Das setzte Riccardo Chailly, spürbar gut aufgelegt, mit der umjubelten „Akademischen Festouvertüre“.




Zwischen Landtagswahl und Fußballfesten: Das Propaganda-Dilemma

Was würden die Menschen nur machen, wenn man ihnen die Rituale nehmen würde, wenn es keine Identifikationen gäbe mit dem Ort, wo man seine wertvolle Zeit verbringt und lebt? Was wäre die Welt ohne Massenbewegungen? Was wäre das Leben ohne Fußball und ohne Parlament? Wir brauchen Begeisterung und Bewunderung, Schimpf und Schande, Leid und Freude, besonders, wenn man ein Leben führt, das in einem Umfeld stattfindet, das nicht zu den paradiesischen gehört – im Ruhrgebiet. Derzeit befinden sich zum Beispiel in Dortmund die Plakate, Banner und sonstige weit sichtbare Werbung in einem engen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit: Meisterfeier und Wahl zum nordrhein-westfälischen Parlament.

An der Wand des Hauses, in dem ich wohne, hängt ein Banner zum Ruhm des ehrenwerten Ballsportvereins Borussia Dortmund, dargebracht durch ansässige Firmen, die ihre Wärme zum hiesigen Verein demonstrieren wollen. Warum nicht? Auch der Liverpooler, der Manchester, der Römer, der Madrilene, sie alle identifizieren sich mit ihrem Heimatverein. Da sieht man Fußballbrötchen und Meisterwürste, kleine, gelbe Herzen und T-Shirts, die die Liebe aus dem Bauch bedecken.  Und dazwischen stehen und hängen die Wahlplakate und – je nach Zuneigung – frohlockt der Genosse und sein Wähler.

Die Parteien sind vom Wähler abhängig, sowie der Wähler letztendlich von den Parteien abhängig ist. Und wer abhängig ist, flucht gern und entzieht sich dem Gedanken, sich der Abhängigkeit zu entledigen. Immerhin kann man sich mehr oder weniger aussuchen, von wem man denn abhängig sein will. Das gilt auch für den Fußballer und seine Fans, die ja im Falle einer Meisterschaft kurzfristig zu einer großen Masse anschwellen. Da will jeder mal den Lewandowski oder den Hummels anhimmeln. „Unsere Jungs“, heißt es dann. Es gibt ganze Städte, ja, Regionen, die vom Fußball abhängig sind. Er ist das Aushängeschild und das Tor zur Welt. Das gilt mindestens für Dortmund und erst recht für Gelsenkirchen (dort gibt es den Verein Schalke 04). Wir lassen uns auf die Abhängigkeit ein, oft mangels Alternativen.

Wenn man jedoch ein griesgrämiger Zeitgenosse ist, dann wird der Fall schwierig, denn für ihn oder sie ist das Propaganda. Er fühlt sich überdeckt von all den gleichen Meinungen und Feierstimmungen, seien es die des ungeliebten Fußballvereins, oder die der ungeliebten Partei. Das geht zu weit. Man solle ihn in Frieden lassen mit diesen Massenverehrungen, erste recht wenn er, wie in einem angenommenen Fall, einer anderen Partei zuneigt als der, die gerade feiert, oder wenn die Mannschaft, zu der er neigt, eine andere ist, zum Beispiel die aus Gelsenkirchen. Aber bei einem Bierchen und mehr kann er darüber nachsinnen, wenn es denn mal anders kommt, wenn seine Partei und erst recht seine Mannschaft die Liebesbekundungen ganzer Regionen zu spüren bekommt. Dann ist er Teil des Ganzen und freut sich gnaden- und rücksichtslos nur über seine Freude. Da schlägt die monogame Identifikation durch, wie jetzt für alle anderen in dieser Stadt, wo an jenem Haus, in dem er wohnt, ein Banner mit Liebeserklärungen das Leben verklärt.




Der Familie entgeht man nicht – Zeruya Shalevs Roman „Für den Rest des Lebens“

Auch wenn man selbst schon Kinder hat und in der Mitte des Lebens steht: Solange die eigenen Eltern leben, bleibt man ein Kind. Ein Kind, das von der Erziehung und den Erwartungen und Enttäuschungen der Eltern geprägt ist, ein Kind, das den Tod der Eltern verkraften muss, während man selbst Kinder erzieht und sie vor dem Tod beschützen will.

Vor allem davon, dass Eltern uns „Für den Rest des Lebens“ prägen und die Familienbande stärker sind als alle Versuche, diese emotionalen Abhängigkeiten aufzulösen, handelt der neue Roman von Zeruya Shalev. Es ist ein meisterlicher und oft versponnener, von Rückblenden und Erinnerungen durchwirkter Roman, ein feinfühliges, psychologisch aufgeladenes Erzählkonstrukt, das niemanden kalt lassen kann. Und ein Buch, mit dem die israelische Autorin ein eigenes Trauma bearbeitet.

Zeruya Shalev, international berühmt geworden mit Romanen wie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, wurde 2004 bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Noch heute leidet sie seelisch und körperlich unter den Folgen. Doch weil sie sich nicht in ihren Schmerz verkriechen, sondern der sinnlosen Gewalt ein Zeichen des Lebens entgegensetzen wollte, entschied sie sich, einen kleinen russischen Jungen zu adoptieren.

Dina, eine der Hauptfiguren des Romans „Für den Rest des Lebens“, ist beileibe nicht identisch und kein schlichtes Abziehbild von Zeruya Shalev, aber auch Dina will ihrem ins Stocken geratenen Leben einen Ruck geben und dem politischen Stillstand in Israel etwas entgegenhalten: Auch wenn ihre Ehe fast daran zerbricht und ihre schon erwachsene Tochter ihre Mutter nicht verstehen kann, wird Dina nach Russland reisen, um einen kleinen Jungen zu adoptieren. Als sie dem Jungen das erste Mal begegnet und in seine traurigen Augen schaut, weiß sie, dass sie den Tod besiegen und vielleicht auch die verschüttete Liebe ihres Mannes zurückgewinnen kann. Da schließt sich der Kreis des Lebens: Denn im selben Moment klingelt ihr Mobiltelefon und Dina erfährt, dass Chemda, ihre seit langem schwer kranke Mutter, soeben gestorben ist.

Die mit dem Tod ringende Chemda ist das erzählerische Zentrum des Romans. Während ihr Bewusstsein sich trübt, lässt sie noch einmal ihr Leben Revue passieren, denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, an ihre Ehe und ihre zwei Kinder. An ihren Sohn Avner, den sie viel zu sehr verhätschelte und den die überbordende Liebe der Mutter fast unfähig machte, eigene Beziehungen zu Frauen einzugehen. Chemda denkt auch an Dina, die vernachlässigte Tochter, die nur ein bisschen Liebe und Verständnis bei ihrem lebensfremden und melancholischen Vater finden konnte. Der Roman ist randvoll mit ödipalen Konstellationen und Konflikten der Kindheit, die das weitere Leben bestimmen. Da wundert es auch kaum, dass Dina mit ihrer eigenen erwachsenen Tochter hadert und sich nach einem kleinen Jungen sehnt.

Wer das alles als Variation altbekannter psychologischer Gemeinplätze und Klischees abhaken möchte, wird dem äußert vielschichtig und elegant erzählten Roman nicht gerecht. Immer wieder werden neue Türen aufgestoßen, kämpfen die sich in Erinnerungen verkriechenden Familienmitglieder gegen Wut und Enttäuschung, sehnen sie sich nach ein bisschen Glück und Zufriedenheit. Shalevs breit angelegter, über viele Jahre reichender Erzählhorizont weitet sich zu einer filigranen Topografie seelischer und politischer Landschaften. Wahrlich keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro.




Meilensteine der Popmusik (11): Earth, Wind & Fire

Monoton hämmerte eine neue Welle…in den Discos dieser Welt begann das Zeitalter der Plastikmusik aus den Einwegstudios Italiens und Hollands. Die Lage schien aussichtslos für diejenigen, die beides suchten: Abwechslung für Ohren  u n d  Beine. Aber da gab es ja noch die fröhlich-bunte Truppe aus Los Angeles. Maurice White, ein ehemaliger Profi-Jazz-Drummer, hatte Erfahrung genug, um Anfang der 70er seine eigene Band zu gründen. Der Hobby-Astrologe fand auch schnell einen Namen für sein neues Musikkonzept. In den Daten für sein Sternzeichen Schütze waren alle Elemente aufgeführt, außer Feuer. Aus Luft wurde Wind und fertig war „Earth, Wind & Fire“.

I am

Sie machten anfangs seichten Popjazz, nichts für die Charts. Das merkte auch der Meister selbst, und jonglierte solange mit dem Personal herum, bis die Mischung stimmte. Die bestand aus Gospel, Jazz, Funk und Rock. Für manchen Kritiker war diese Sauce zu dick, andere feierten White als wahrhaftigen Geschichtsschreiber der schwarzen Seele. Da wurden historische Bögen gespannt zwischen ägyptischen Pharaonentempeln und den Ghettos der US-Großstädte. Solche Interpretationsversuche gefielen Maurice White, er selbst war ein tief spiritueller Mensch, der sich lange im mittleren Osten zu Studien aufhielt, und seine Gruppe stets aufforderte sich vegetarisch zu ernähren. Die Fans merkten von all dem wenig. Für sie war Earth, Wind & Fire die perfekte Tanzmaschine der 70er. Was vielleicht Pink Floyd in der Rockmusik, das wurde E, W & F im Soulgeschäft: Ein audio-visuelles Großereignis. Bei ihren ausgefeilten Bühnenshows lieferten sie regelmäßig pyrotechnische Lichtorgien ab, die durch trickreiche Einfälle unterbrochen wurden. Mal schwebte der Gitarrist drei Meter über der Bühne, ein anderes Mal drehte sich der Drummer auf einem Podest um die eigene Achse.

Als Mitte 1979 die LP „I am“ erschien, waren die mittlerweile neun Leute von Earth, Wind & Fire schon fast am Ende ihrer langen Erfolgskarriere. Das Ergebnis war gerade so, wie man ihre Musik liebte. Ein cooler Knack-Bass, der scheinbar versuchte jeden Song zu zerhacken, peitschende Bläsersätze, um die sie von Produzenten auf der ganzen Welt beneidet wurden. Darüber lagen drei klebrige Falsettstimmchen, manchmal wie etwas zu dünn aufgetragener Tortenguss. Die Bandbreite auf „I am“ reichte vom Tanzfetzer „Boogie Wonderland“ bis zum triefenden Lovesong. „After the love has gone“ hieß eine dieser Traumballaden, die all diejenigen einfing, die sonst mit Earth, Wind & Fire nicht so viel anfangen konnten.

Danach folgte der Abstieg auf Raten. Zum einen strebte fast jedes Gruppenmitglied ein eigenes Soloprojekt an. Am erfolgreichsten auch hier der Macher Maurice White mit seinen vielen christlichen Produktionen, und natürlich Mitsänger Philip Bailey, dem mit „Easy lover“ im Duett mit Phil Collins ein Welthit gelang. Zum anderen begann Earth, Wind & Fire – zum Schrecken aller Fans – mit neuen Experimenten. Das „Handgemachte“ wurde immer mehr durch Computer ersetzt, man wollte wohl dem aktuellen Trend nachjagen. Doch das konnten neue Künstler weitaus besser, so dass die Leute von Earth, Wind & Fire nach ein paar letzten Disco-Hits nur noch ein mitleidiges Lächeln ernteten.

Earth, Wind & Fire on dailymotion




Seit 100 Jahren: „Biene Maja“ begleitet den BVB

Wie oft habe ich mitgesummt, wenn der „Biene Maja“-Titelsong durchs Stadion klang. Das war fröhlich und stimmte uns wie die Spieler auf optimistischen Tatendrang ein, Tore, Punkte, Tabellenplätze – natürlich vorn, ganz vorn. Heute Morgen entstieg ich dem Zug in Unna, Winni bestieg ihn schweren Koffers. Blind im Verständnis rief ich hinter ihm her: „Viel Spaß in Berlin!“ Es tönte aus dem Abteil zurück: „Ich bin Montag mit dem Pokal wieder da!“

Schwarz-Gelbe Ringelsocken, „Biene Maja“-Titelsong, grenzenlose Zuversicht und fröhliche Feste glücklicher Fans. Doch, was hat eigentlich diese Fernsehsummse mit dem BVB zu tun? Die Biene Maja wurde vor 100 Jahren geboren, nur etwas später als der BVB. Sie war in der Fantasie ihrer Leserinnen und Leser damals schon schwarz-gelb – der BVB lief anfangs noch in Blau auf.

PIlgerstätte (Foto: Bernd Berke)

PIlgerstätte (Foto: Bernd Berke)

Maja schaffte es beinahe aus dem Stand an die Spitze, der BVB brauchte ein wenig länger. Dafür war der BVB bereits ein Fernsehstar mit viel Auf und Ab, als das Bienchen die TV-Mattscheibe betrat und zu Karel Gotts Tenor eroberte.

Ein gewisser Waldemar Bonsels hatte vor einem Jahrhundert im eigenen Verlag den Kinderroman veröffentlicht, nannte ihn „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“. Nein er hieß nicht „… und ihr Freund Willi“, der kam erst viele Jahre später dazu, war eine Erfindung des ZDF-Redakteurs Josef Göhlen, der die Schwarmtierchen 1975 zu Fernsehstars machte. Herr Bonsels war gebürtiger Schleswig-Holsteiner, den es nach München zog und der als gelernter Kaufmann so etwas wie ein Bestseller-Autor seiner Zeit wurde. Dass sein größter Erfolg ein Kinderroman wurde, mag ihm nicht behagt haben, gut gelebt hat er dennoch davon, bis er 1952 starb und seine Maja fortfuhr, ganze Kindergenerationen zu begeistern.

Waldemar Bonsels, dessen heimelige Tiergeschichte selbst Soldaten vor Verdun fesselte, hatte allerdings den Makel, ein erklärter Antisemit zu sein. Er wurde ihn auch nie los, schmückte sich gar damit und textete in zuschlagenden deutschen Zeiten auch gern heroisches Versgedrechsel auf einen „Führer“.

Das konnte Majas Weltruhm indes nicht beschädigen, der Biene und ihrem Freund Willi, der inzwischen zum Urbestandteil der Geschichte gehört, flogen weiter die Herzen zu und immer neue Geschichten ins Drehbuch.

Und natürlich dieser Titelsong. Ich musste ihn mit anhören, wenn am Wochenende die unvermeidlichen Maja-Abenteuer über den Bildschirm flimmerten. Und ich durfte ihn mit anstimmen, wenn er unsere Schwarz-Gelbe Truppe beflügeln half. Und nun summe ich ihn am Samstag in einer Fernseh-bestückten Kneipe mit, dulde einen Marler neben mir und genehmige mir den grenzenlosen Optimismus, dass niemand den BVB daran hindern kann, den Pokal nach Dortmund zu holen.




Wie geht es weiter mit „Occupy“?

Vielleicht wird das Jahr 2011 in die Geschichte eingehen als Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung. Denn nicht nur in den von Armut und Willkür beherrschten arabischen Diktaturen, auch in den Zentren des westlichen Turbokapitalismus, in denen Banken und Börsen schrankenlos walten können, haben Massenproteste die Straßen und Plätze erobert.

Nach revolutionären Umwälzungen in Tunis, Tripolis und Kairo, nach jugendlichen Aufständen und Zusammenrottungen in Madrid und London, hat sich eine globale Welle der Empörung breitgemacht. Seit die „Occupy“-Wall-Street-Bewegung den Zuccotti Park im New Yorker Finanzzentrum besetzt hat, zelten überall in der Welt Aktivisten gegen den Kapitalismus. Unter dem Motto „We are the 99 percent“ kämpfen sie für soziale Gerechtigkeit und die strikte Trennung von Wirtschaft und Politik, entwerfen sie Modelle für eine lebenswerte und menschliche Gesellschaft. Wie „Occupy“ entstand und welche Perspektiven diese neue antiautoritäre Bewegung haben könnte, davon berichtet jetzt eine mit flinken Fingern erstellte Dokumentation.

Neben atmosphärisch dichten und emotional aufgeladenen Reportagen sowie Tagebuchnotizen über den heißen Herbst in New York, versammelt der Band auch intellektuell anregende Essays über die ökonomischen Hintergründe und politischen Aussichten des Aufstands. Marco Roth, Mitbegründer des „Occupy“-Magazins „n+1“, schreibt bittere „Abschiedsbriefe an den amerikanischen Traum“; Anwältin und Schriftstellerin Marina Sitrin reflektiert über die Kraft der „neuen horizontalen Bewegungen“; Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz legt Zahlen über die immer größere Kluft zwischen arm und reich in Zeiten der globalen Finanzkrise vor; und Philosoph Slavoj Zizek meint, es gehe jetzt, nach dem lauten Nein, um die Formulierung von Zielen: „Welche Gesellschaftsordnung kann den bestehenden Kapitalismus ablösen? (…) Welche Organe, einschließlich derer zur Kontrolle und Repression, brauchen wir?“

Anstelle eines Nachworts formulieren die Herausgeber ein paar Vorschläge: „Verstaatlicht die Banken“ und „Verbot aller Parteispenden von Unternehmen“ liest man da, aber auch: „Kostenlose Fahrräder für alle“, und: „Nie wieder Arbeitsessen!“ Klingt, als hätten die „Occupy“-Unterstützer ziemlich viel Spaß.

Wer es ernsthafter mag, dem sei das Fazit von Ökonom Stiglitz empfohlen: „Die oberen Zehntausend besitzen die schönsten Häuser, Zugang zu den besten Bildungseinrichtungen und den Top-Kliniken, sie führen das bestmögliche Leben, doch es gibt etwas, das sie mit Geld offenbar nicht kaufen konnten: die Einsicht, dass ihr Schicksal untrennbar an das der übrigen 99 Prozent geknüpft ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit habe die Führungsschichten diese Tatsache am Ende immer eingesehen. Allerdings zu spät.“

„Occupy! Die ersten Wochen in New York“. Eine Dokumentation. Hg. von C. Blumenkranz u.a. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012, 94 Seiten, 5,99 Euro.




Mordgerät im Malz: Donizettis „Le Duc d’Albe“ in Antwerpen

Belgien ist das Land des Bieres, und so wirkt es naheliegend, dass in diesem Land auch Revolutionen mit der Kunst des Brauens zu tun haben.

Im zweiten Akt von Donizettis unvollendeter Oper „Le Duc d’Albe“ ist die Brauerei eines gewissen Daniel ein Hort des Widerstands gegen den spanischen Schlächter: Mordwerkzeuge unter Malz, Kämpfer kehren keimendes Korn weg. Der Lobpreis des Bieres könnte jedem Männergesangverein zur Ehre gereichen, aber er ist mehr als ein launiges Genrestück: Ähnlich wie der Gesang der Fischer in Daniel François Esprit Aubers großer Oper „La Muette de Portici“ enthält das Lied einen Code: Der unverdorbene Trank belgischer Vaterlandsliebe gegen den unbekömmlichen spanischen Wein der Willkür und der Gewalt.

Donizettis Oper von 1839, ein Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Großmeister des Librettos, Eugène Scribe, an der „Opéra“ zu landen, wurde durch ein Veto der Primadonna Teresa Stolz, der späteren Geliebten Verdis, verhindert. Sie lehnte die Rolle der Hélène ab, die uns heute als eine der innovativen Frauengestalten Donizettis gegenübertritt: kein leidendes Opfer á la Lucia oder Linda, keine zwischen staatsfraulicher Pflicht und privatem Gefühl zerriebene Königin. Sondern eine Kämpferin für die nationale Sache, eine ideologisch unbeirrbare Fanatikerin, fest im Hass und in der Linie klar wie belgisches Bier. Der Liebesbeweis, den sie fordert, ist so grausam wie eindeutig: Der Spanier muss sterben.

Doch Henri, Hélènes Geliebter, kann die Hand nicht gegen den Herzog von Alba heben. Der junge Mann aus dem Kreis der Widerständler muss erfahren, dass er kein Geringerer als der Sohn des Herzogs ist. An ihm ist es nun, zwischen Vaterliebe und Vaterlandsliebe abzuwägen. Sein Flehen um den Verzicht auf Rache ist vergebens. Hélène, eine Vorläuferin Elektras, muss ihren Vater, den Grafen Egmont, rächen: Henri wirft sich in ihren tödlichen Streich, rettet dem Vater das Leben und stirbt.

„Le Duc d’Albe“ ist also in mehrfacher Hinsicht kein konventionelles „Sopran-liebt-Tenor“ Belcanto-Stück. Bemerkenswert in Scribes Charakterisierung der Personen ist auch die Wandlung des spanischen Herzogs. Als er in einer bewegenden Szene zu Beginn des dritten Akts erfährt, wer sein Sohn ist, beginnt die Vaterliebe den hartherzigen Anwalt der spanischen Sache zu bekehren: Im Finale der Oper tritt uns ein zutiefst tragischer Mensch entgegen, dessen humane Läuterung das Unglück, seinen Sohn sterben sehen zu müssen, nicht verhindert hat.

Donizetti hat diese beiden Schlüsselszenen nicht komponiert, sondern nur einige Skizzen hinterlassen. Offenbar war er sich bewusst, dass sie seine Charakterisierungskunst eminent herausfordern würden; ein Aufwand, den sich der viel beschäftigte Komponist angesichts des unklaren Schicksals der Oper wohl nicht zumuten wollte. Für die verspätete Uraufführung 1882 hat ein Schüler Donizettis, Matteo Salvi, die skizzierten Nummern orchestriert und die zwei letzten Akte zu einem zusammengefasst.

Für die Uraufführung der französischen Originalversion an der Vlaamse Opera Antwerpen hat der 1953 geborene Komponist Giorgio Battistelli die fehlenden Nummern komponiert: rücksichtsvoll gegen die belcantistische Anlage des Werks; hellhörig für Donizettis kennzeichnende Linien, Wendungen und Begleitfiguren, ohne den modernen Einsatz des Materials zu leugnen. Keine platte Nachahmung, sondern individuell geprägte musikalische Charakterisierung, demütig und respektvoll, aber entschieden eigen geprägt. Die finale Szene, die Klage und der Abschied des Alba, werden so zu einer bewegenden, musikalisch reichen Szene – ein zusätzliches Argument, für Donizettis Oper auf Repertoiretauglichkeit zu plädieren.

Die ergibt sich auch aus anderen Argumenten, etwa der ungewöhnlichen Charakterisierung der Figuren, fern der Klischees des „melodramma“. Donizetti zeigt sich wieder als sensibler Instrumentator, ein Erbe seines Lehrers Johann Simon Mayr. Mit dem Orchester der Vlaamse Opera unter Paolo Carignani klingt die Partitur allerdings oft pauschal. So sorgfältig Carignani dynamische Details modelliert, so forsch zieht er vor allem über den Streicherapparat hinweg, den man sich im Zusammenklang plastischer wünschen würde. Der große, Spannung erzeugende Bogen ist Carignanis Sache nicht – das war schon in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder zu hören.

In der Inszenierung von Carlos Wagner, mehr noch im bedrückenden Bühnenbild von Alfons Flores herrschen die Chiffren des Krieges vor. Riesige marschierende Soldaten erinnern an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der sich gerade in Flandern ausgetobt hat. Das Licht von Fabrice Kebour verbannt die Personen oft in fahles Zwielicht oder in tückisch grelle Strahlen. Die schwarz uniformierten Spanier agieren auf einer Brücke hoch über den beherrschten Flamen, die zum triumphalen Auftritt der Sieger ihre Toten beklagen. Aus dem staubigen Dunst der Mälzerei im zweiten Akt formiert sich der Widerstand des zu schmutzigen Lemuren verurteilten Volkes. Alba erinnert in seiner vom Licht akzentuierten Einsamkeit an Verdis Philipp II. – eine Statur, die ihm auch seine ausdrucksstarke Musik verleiht. Hélène trägt unter ihrem weißen Frauengewand die braune Montur einer Soldatin; das Kostüm A.F. Vandevorsts ist ebenso eine psychologische Chiffre wie die Entblößung im Duett Alba – Henri.

Die aufs Äußerste gespannten Linien in diesem Zwiegesang gehören zu den Höhepunkten der Partitur. Donizetti zeigt sich im dritten Akt auf der Höhe seiner musikalischen Charakterisierungskunst. George Petean und Ismael Jordi folgen dem fiebrigen Zug der Musik mit flammender Dramatik in der Stimme. Der rumänische Bariton füllt die intensiven Gesangslinien mit einer reichen, stets abgesichert gestützten, manchmal jedoch zu ruppig eingesetzten Stimme, die dann eher dem Verismo als einem stilistisch reflektierten Belcanto zuneigt. Ismael Jordi ist einer der erfolgreichen jüngeren Tenöre mit hoher Tessitura und intimem Wissen um Tonbildung und Legato. Er neigt nie zum „Krähen“, sondern kann den Ton stets abrunden; dass er in manchen Übergängen die sichere Formung der Stimme auf dem Atem vernachlässigt, muss nicht sein.

Rachel Harnisch als Hélène d’Egmont macht mit gleichmäßig geführter, schöner Stimme deutlich, warum Teresa Stolz mit der Partie nicht einverstanden gewesen sein könnte: Die Emotionen dieser Figur äußern sich eher in Stolz, Schmerz und Rachdurst als in den Kantilenen einer liebenden Frau. Die Stimme von Igor Bakan als Braumeister und Rebell Daniel bleibt beengt timbriert und unfrei in der Emission; das Gegenteil dazu repräsentiert Vladimir Baykov mit einem gewaltigen, aber kruden Bassbariton. Man hört, dass sich eine neue Generation von Sängern mit dem Genre des Belcanto intensiv befasst; dennoch sind die Beherrschtheit des Singens und der stilistische Schliff, wie ihn etwa Alfredo Kraus oder Juan Diego Flóres perfektionieren, noch nicht ihr Bier.

„Le Duc d’Albe“ passt nicht nur zum lokalhistorischen Erbe Flanderns; es ist eine Oper, der man eine baldige Erstaufführung in Deutschland wünschen würde. Die Chancen stehen freilich nicht gut: Sparzwang lässt die Opernhäuser zu den alten Schlachtschiffen des Repertoires greifen und vielerorts werden die tragischen Dramen Donizettis immer noch nur dann erwogen, wenn man einer Primadonna einen Gefallen tun will wie etwa Edita Gruberova in München. Verdient haben die Werke das nicht, denn Donizetti bietet beileibe kein saures Bier an, sondern den reinen Quell faszinierender Musikalität.

Aufführungen in Antwerpen: 9., 11., 15., 18. Mai um 19.30 Uhr; 13. Mai um 15 Uhr.

Aufführungen in Gent: 25., 29., 31. Mai, 2. Juni um 19.30 Uhr; 27. Mai um 15 Uhr.

Info: www.vlaamseopera.be

Tel.: (00 32 70) 22 02 02




Das Grauen lauert hinter den Tapeten: Brittens „The Turn of the Screw“ in Düsseldorf

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Wir blicken hinter die Tapeten, die ältliche, großmustrige Wandverkleidung, die an die verstaubte Gediegenheit englischer Landhäuser erinnert. Hinter der Fassade geschehen sinistre, unheimliche Dinge, dämonisch, nicht benennbar. Dort geistern schattenhafte Gestalten, deren Namen, werden sie ausgesprochen, den Tod bringen. Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“ – ein unübersetzbarer, auch im Englischen rätselvoller Titel – ist ein perfektes Schauerstück. Nicht im Sinne trivialgrusliger Gespenstergeschichten, sondern als Thriller des Undeutbaren, der unter die Haut geht.

Wie die Novelle von Henry James (1898) schafft Brittens Oper (1954) eine Atmosphäre des Ahnungsvollen, Ungreifbaren. Nichts ist eindeutig, nirgends lässt sich ein klarer, nachvollziehbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung festmachen. Selbst scheinbar unbezweifelbare Fakten und Beobachtungen verlieren ihre Evidenz, werden zu Mosaiksteinen in einem Bild, das sich, wie auch immer man es betrachtet, jedes Mal anders zusammensetzt.

Die Tapeten sind ein wiederkehrendes Bild in Kaspar Zwimpfers Bühne für Immo Karamans Inszenierung von „The Turn of the Screw“ an der Deutschen Oper am Rhein. Eine Trias von Britten-Opern in Düsseldorf vollendet diese Premiere am 4. Mai, der Karaman bereits „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ vorausgeschickt hatte. Ob im 100. Geburtsjahr des Komponisten 2013 eine weitere Inszenierung dazukommt, ist noch unklar. Sinnvoll wäre es – denn die Rheinoper will den für das 20. Jahrhundert epochemachenden Briten umfassend würdigen. Karaman hat am Münchner Gärtnerplatztheater eine ausgezeichnete Interpretation von „Death in Venice“ geschaffen; er wäre der richtige Mann etwa auch für „Gloriana“, „Albert Herring“ oder die schräge Operette „Paul Bunyan“.

Henry James, selbst ein vieldeutiger Charakter aus der viktorianischen Zeit, schreibt mit „The Turn oft he Screw“ eine Geschichte, die formal so penibel kalkuliert ist wie eine Mathematikaufgabe – aber eine, die unendlich viele Lösungsmöglichkeiten offen lässt. Britten folgt mit seiner Librettistin Myfanwy Piper dem Thema auf dem nebligen Pfad zwischen Gespensterstück und psychoanalytischer Erzählung. Innen und Außen, Wirklichkeit und Phantom, sichtbare und übersinnliche Welt verschränken sich unlösbar.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Ein vielbeschäftigter Londoner Anwalt engagiert für zwei einsam auf einem abgelegenen Landsitz lebende Kinder eine Erzieherin. Anfangs scheint das harmonische Zusammenleben ungetrübt, aber dann schleichen sich seltsame Schatten in die Idylle. Die Haushälterin identifiziert sie als Peter Quint und Miss Jessel, Hausdiener und frühere Gouvernante, die beiden unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind. Auch die Kinder zeigen immer auffälligeres Verhalten. Entschlossen, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen und überzeugt vom verderblichen Einfluss der Geister der Toten, will die junge Governess ihre Schützlinge retten – mit schlimmen Folgen…

Karaman greift für dieses Stück die Techniken einer ruhigen, am Geschehen orientierten Erzählweise auf, bricht die Szenen selten auf, öffnet aber durch herausgehobene Details den Blick für das Monströse hinter den Abläufen. Das Ambiente der Bühne Zwimpfers erinnert an das klassische englische „haunted house“; eine Treppe und ein hoher Durchgang bilden das zentrale Setting, das sich allmählich ins Surreale verdreht. Daneben gibt es nur wenige, bedeutungsvolle Accessoires: zwei Waschbecken, zwei Schulstühle, ein Bett.

Die Kinder sind abgerichtet: Knicks und Diener zur Begrüßung genau im Takt der Musik, mechanisch, dressiert. Erste Anzeichen von Gewalt: Miles, eine Maske vor die Stirn hochgezogen, tut seiner Schwester weh. Die beklemmende Atmosphäre verdichtet sich: Miles verliert sich abwesend in dem Lied mit den „Malo“-Rufen: „Malo, in der Not allein…“. Und Quints Schatten zeigt sich zum ersten Mal. Flora spielt gedankenverloren mit ihrer Puppe, zieht sie aus und ertränkt sie im „Toten Meer“ des Waschbeckens – und der Geist Miss Jessels erscheint als Spiegelbild der Gouvernante, dazu der spieluhrenhaft unwirkliche Klang der Celesta.

Über Henry James‘ Erzählung gibt es einen Berg von Literatur. Die Frage, ob die Gespenster-Erscheinungen echt oder bloße Phantasmagorie sind, äußere Manifestationen oder Gestalt gewordene psychische Bilder, wurde mit guten Argumenten für die eine und die andere Auffassung diskutiert. Freud, Jung und der Marxismus wurden ebenso bemüht wie Esoterik und christliche Theologie. Karaman versteht es souverän, seine Deutung in der Schwebe zu halten. Dass er die „Gespenster“ durch unsichtbare Stimmen, aber auch durch die unverstellte Leiblichkeit von Tänzern darstellen lässt, legt nahe, eine über eine bloße Psycho-Schau hinausgehende Deutung anzunehmen. Der düstere Jüngling mit der „gothic“ Frisur (Ulrich Kupas) erinnert an den verführerischen Verworfenen aus „Paradise Lost“, könnte auch eine erotische Fantasie der Gouvernante verkörpern. Die spinnwebverhüllte Gestalt der Miss Jessel (Anna Roura-Maldonado) könnte das abgestorbene Weibliche ebenso symbolisieren wie unterdrückte Sexualität.

Und was für Spiele treiben die Kinder? Warum bezeichnet sich Miles als „bad“? Ist er hilflos gegenüber seiner erwachenden Sexualität? Schwebt er zwischen einem ungerichteten Schuldgefühl und dem Bewusstsein seiner männlichen Begierde, mit der er die Gouvernante küsst? Spielen die Kinder einen Missbrauch nach? Oder probieren sie ihre erwachende Begehrlichkeit aus, gespalten zwischen Neugier, puritanischer Verleugnung der Sexualität und innerem Erschrecken? Oder manifestiert sich tatsächlich das Böse; sind sie von den Geistern besessen, die sich der Kinder bedienen, um ihre sexuelle Hörigkeit körperlich ausleben zu können?

Wie Henry James hält auch Immo Karaman die Antworten in der Schwebe. Alles ist möglich – auch in der Frage, die an den Schluss zu stellen ist: Stirbt Miles, als er den Namen des Dämons hinausschreit und sich so von seinem Bann befreit? Bleibt sein Herz im Schock stehen? Oder erstickt ihn die vereinnahmende Liebe der Gouvernante, wie es das Finalbild der Inszenierung nahe legt? „Nur keine Lösungen“, wehrte der aus Gelsenkirchen stammende Regisseur in einem Interview ab. Nun, dieses Ziel erreicht er; den Zuschauer lässt er mit dem beklemmenden Gefühl nach Hause gehen, dass alles offen bleibt. Der Wunsch nach Wissen wird nicht erfüllt.

Wissen finden wir bei Wen-Pin Chien: Der Taiwanese, auch Dirigent von Henzes „Phaedra“ an der Rheinoper, kann mit der kammermusikalischen Partitur glänzend umgehen: Er zeigt, wie Britten die Motive verarbeitet, wie sich dasjenige der „Drehung der Schraube“ durch die Musik windet, wie die „Malo“-Rufe, die gespenstischen Quinten, die Tritonus-Leere verarbeitet und transformiert werden. Und er lässt den Solisten Raum, vor allem den Leitinstrumenten des Gespenstischen, der Celesta (Ville Enckelmann) und der aus der Idylle ins Chaotische fallenden Harfe (Jie Zhou).

Die beiden Kinder Miles und Flora, sind dank einer englischen Spezialagentur vorzüglich besetzt: Der zwölfjährige Harry Oakes, Mitglied des Trinity Boys Choir, füllt die Rolle des Miles musikalisch und sprachlich optimal aus, hat aber vor allem auch eine faszinierende Bühnenpräsenz: Vom verspielten Kind über den niedergedrückten Jungen bis zum aufreizenden, sein Alter weit hinter sich lassenden, sexuell anzüglichen Knaben zeigt er alle Facetten dieses vielschichtigen und daher so schwer darstellbaren Charakters. Für Eleanor Burke, schon erfahren in der Partie der Flora, ist es etwas einfacher, weil in Brittens Oper die hysterisch-aggressiven Züge verhaltener sind als in der Novelle oder gar in dem kongenialen Schwarz-Weiß-Film „The Innocents“ von Jack Clayton. Burke realisiert die introvertierten Züge des Mädchens und ihre innere Qual vor allem in der Szene mit der Puppe im ersten Akt.

Corby Welsh singt die faulig-süßlichen Verführungsphrasen des Quint mit lockerem Tenor; Marta Márquez bleibt als Mrs. Grose eher blass und passiv. Anke Krabbe gibt der Erscheinung der Miss Jessel nicht nur tragische, sondern auch katzenhaft gefährliche Züge. Als Governess hat Sylvia Hamvasi die passenden stimmlichen Farben für die erleichterte Freude bei der Ankunft auf Schloss Bly ebenso zu finden wie für die Panikattacken und die angekränkelte Zuneigung zu Miles. Hamvasi lässt ihren Sopran blühen, kann ihn aber auch in fahle Tönungen zurücknehmen.

Düsseldorf hat mit dieser Produktion – die 2007 in Leipzig erstmals zu sehen war – der Liste eindrucksvoller Inszenierungen der Oper einen gewichtigen Beitrag hinzugefügt und braucht sich weder vor der gelobten Kölner Premiere von 2011 von Benjamin Schad (Regie) und Raimund Laufen (Musikalische Leitung) zu verstecken noch vor Cristian Pades Psychothriller in Frankfurt mit Yuval Zorn am Pult.

Vorstellungen in Düsseldorf: 13., 20., 22., 26. Mai; 10. Juni.
Vorstellungen in Duisburg: 1., 6., 8. Juni.
Geplante Wiederaufnahme in Köln: 17. März 2013




Wie ein Bochumer Kaufhaus zu dem Namen eines Dichters kam

Bochum war in meiner Kinder- und Jugendzeit unser Sommer-Urlaubsziel, weil meine Großeltern dort lebten, und auch der Kohlenstaub machte uns nichts – schließlich waren Opa und Onkels alle Bergleute gewesen. Eine Cousine arbeitete im Kaufhaus Kortum, und schon damals wunderte es mich sehr, dass man ein Kaufhaus nach der Straße benennt, an der es liegt, nämlich der Kortumstraße.

Carl Arnold Kortum

Erst sehr viel später verdrängten bessere Kenntnisse diese Idee, es war nämlich genau umgekehrt: Der Arzt und Dichter Carl Arnold Kortum (1745 bis 1824) war zwar in Mülheim geboren, gilt aber als einer großen Söhne der Stadt Bochum (neben Grönemeyer natürlich) und gab der heutigen Einkaufsstraße in der Fußgängerzone ihren Namen und später auch dem Kaufhaus.

Es gehörte zunächst zum Warenhauskonzern Alsberg, von einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Bielefeld aufgebaut, die mit ihren Geschäften nach Hermann Tietz (Kaufhof) und Rudolf Karstadt nach Umsatz an dritter Stelle im Deutschen Reich standen. 1933 enteigneten die Nationalsozialisten das Kaufhaus Alsberg in Bochum und die anderen Alsberg-Warenhäuser und nannten das Bochumer Haus um in „Kaufhaus Kortum“. Der alte Inhaber starb 1936, sein Sohn wurde 1941 im Konzentrationslager ermordet. Einer der Gewinner der „Arisierung“ des Alsberg-Konzerns war übrigens der Mitarbeiter Helmut Horten. Er stand den Nazis nahe und baute aus den „Erwerbungen“ den Kaufhauskonzern Horten auf.

Kortum und auch Horten gibt es heute nicht mehr. In Bochum wurde das imposante Haus zu einer Art Galerie umgebaut. Auch Horten musste aufgeben. Kaufhof und Karstadt teilen sich den Markt – noch. Vielleicht schließen sie sich ja demnächst zusammen. Kaufstadt wäre doch ein schöner Name.




Klagelied eines Zimmermädchens: So schlimm sind die betuchten Hotelgäste

Wo gibt es hierzulande noch zackig steile Hierarchien wie vor 60 oder 90 Jahren? Wo kann eine Arbeitswoche 70 bis 100 Stunden dauern – und das für ein äußerst bescheidenes Entgelt?

Im Hotelfach. Zumindest „ganz unten“, auf der Zimmermädchen-Ebene, muss sich das Berufsleben elend anfühlen. Ein privates Dasein gibt es auf dieser Stufe ohnehin nicht mehr.

Mit etwas Einfühlungsvermögen hat man sich das vielleicht schon vorstellen können. Doch die junge Frau mit dem Decknamen „Anna K.“ gibt – mit Hilfe zweier Ghostwriter – in ihrem Buch „Total bedient“ etwas genauere Einblicke ins Gewerbe.

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abitur hat diese Anna K. einige Praktika in Berliner Hotels und auf einem Kreuzfahrtschiff absolviert; mit dem Ziel, in die mittleren bis höheren Ränge des Metiers aufzusteigen. Ein Traum, der in immer weitere Ferne zu rücken schien. Flüchten schien höchst ratsam zu sein, anerzogenes Standhalten geradewegs in dauererschöpfte Verzweiflung zu führen. Gegen Ende ihres Leidenswegs kommt Anna K. auf die Idee, zunächst einmal eine Hotelfachschule zu besuchen, um danach womöglich in eine andere Branche zu wechseln. Nun ja.

Weite Teile des Buches geraten zur Gäste-Beschimpfung, zwischendurch wird das unmögliche Verhalten arroganter, neurotischer bzw. sadistischer Hotelchefs skizziert. Noch die letzte Gruppenleiterin (euphemistisch „Hausdame“ genannt) staucht Zimmermädchen nach Belieben zusammen.

Doch die teilweise bestürzend reichen Gäste sind, wenn man diesem Buch glauben darf, mindestens ebenso übel. Wer im Hotel mit vier bis fünf Sternen eincheckt oder gar auf VIP-Rabatt logiert, der „vergisst“ demnach auch die letzten Reste passablen Benehmens. Grußlos vorbei rauschende Wichtigtuer (Zimmermädchen sind für sie nicht einmal Luft) gehören fast noch zur harmlosesten Spezies.

Angeblich verlässt kaum jemand das Zimmer, wie er es vorzufinden wünscht. Der betuchte Hotelgast ist nach dieser Lesart in aller Regel unfreundlich, anmaßend, streitsüchtig, querulantisch, gierig, schamlos und schmutzig. Gibt es Erotik-Kanäle oder eine Minibar, so bedient er sich freihändig und leugnet das hartnäckig, wenn es ans Bezahlen gehen soll. Um keinen lautstarken Ärger zu bekommen, erlassen sie an der Rezeption meist den Betrag. Wer beim Empfang so eingeschätzt wird, dass er weniger Krach schlägt, der bekommt eventuell ein schlechteres Zimmer. So zahlt sich Unverschämtheit auch noch aus.

Bitte sehr, man hat ja nur darauf gewartet: Bestellen allein reisende Herren abends den Zimmerservice, verstehen sie darunter nicht selten auch erotische Dienstleistungen, zuweilen liegen sie schon nackt auf dem Bett, wenn angeklopft wird. Und wer das weibliche Personal nicht anmacht, der bestellt sich die eine oder andere Hure aufs Zimmer.

Hier noch, abschweifend wie manche Passagen im Buch (die Protagonistin berichtet etwas geschwätzig von ihrer Partnersuche), ein kleiner Info-Service für Reisende: Zeigt die Naht des Lampenschirms zur Wand, so deutet das auf umsichtigen Hotelservice hin, zeigt sie hingegen ins Zimmer hinein, so kündet das von Schlamperei.

Übrigens gibt es heimliche Standardstrafen („Rache der Zimmermädchen“) für gar zu schlimme Hotelgäste. Dann meldet sich – keineswegs Zufall – das TV-Gerät gegen 4 Uhr morgens mit der Weckfunktion, oder die Toilettenschüssel wird bei erster Gelegenheit mutwillig mit der Zahnbürste des Gastes traktiert.

Die geradezu genüsslich in Und-das-war-ja-noch-gar-nichts-Manier ausgebreiteten Verfehlungen der Gäste sind auf Dauer wiederholungsträchtig. Auch der galgenhumorige Grundton (mit sparsam eingeträufeltem Moralin) hilft nicht über alle Holprigkeiten hinweg. Immerhin gestaltet sich die Lektüre leidlich unterhaltsam, dem eigentlich betrüblichen Thema zum Trotz. Den nächsten Hotelaufenthalt wird man jedenfalls geschärften Blickes antreten.

Anna K.: „Total bedient. Ein Zimmermädchen erzählt“ (aufgeschrieben von Isabel Canet und Matthias Stolz). Verlag Hoffmann und Campe. 221 Seiten. 16,99 Euro.




Kleine Nixe mit großer Sehnsucht – Dvořáks Märchenoper „Rusalka“ in Gelsenkirchen

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe "Rusalka" in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe „Rusalka“ in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Worte eines ewig Unbehausten komponierte Franz Schubert einst seinem „Wanderer“ in die Kehle. „Die Sonne dünkt mich hier so kalt / die Blüte welk, das Leben alt / Und was sie reden, leerer Schall / Ich bin ein Fremdling überall.“

Ähnlich sieht Elisabeth Stöppler die Titelheldin aus Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“. Die Regisseurin, viel gerühmt für ihre Britten-Deutungen am Gelsenkirchener Musiktheater, nimmt sich dort jetzt der kleinen Nixe mit der großen Sehnsucht nach der Menschenwelt an. Wie diese Welt aus der Perspektive eines Naturwesens aussieht, zeigt Stöppler in einem verstörenden, zunehmend düsteren und blutigen Bilderbogen. Rusalka sucht Glück und erfährt Leid, übt Treue und erntet Verrat, schenkt Liebe und leidet Gewalt.

Das reizende Wasserwesen hat in der Gelsenkirchener Neufassung von Beginn an keine Heimat. Rusalka begegnet uns nicht in einem See, sondern eingesperrt in einer klinisch weißen Zelle. Wasser kommt als Element nur am Rande vor. Nixenschwestern und Wassermann scheinen sich aus Tilman Knabes Essener „Rheingold“-Inszenierung verlaufen zu haben: ein aufreizendes Damentrio auf Stöckelschuhen, gejagt von einem lüsternen Wassermann (sonor: Dong-Won Seo) in blauer Arbeitsmontur. Keusch und rein wirkt in diesem triebgesteuerten Umfeld allein Rusalka. Barfuß und in ein weites weißes Hemd gekleidet, hockt sie unbeteiligt in der Ecke und sehnt sich fort.

Mit dem Auftritt der Hexe Jezibaba (nicht ohne Schärfe: Gudrun Pelker) und des Prinzen (angenehm wenig forciert: Lars-Oliver Rühl) rückt die problematische, teils plakative Ästhetik der Produktion ins Blickfeld. Während die Hexe mit übertrieben viel Pelz und Perücke durch die Szene wallt, fallen beim Prinzen rasch die Hüllen. Die Regie übersetzt Natur und Natürlichkeit mit Nacktheit; die Zivilisation kommt mit Lippenstift und hohen Hacken daher. Diese allzu naheliegende Lösung wird mit grobem Strich durchgeführt. Die harsche Zivilisationskritik bringt diverse Seltsamkeiten hervor, zum Beispiel eine Putzkolonne in Schutzanzügen, die aussieht, als säubere sie gerade einen havarierten Reaktorblock.

Konträr zu solchen Grellheiten steht die intensive, oft berührend einfühlsame Personenführung. Der dritte Akt endet in einer wahren Farbschlacht: Alles und alle sind befleckt und verschmiert, sei es mit schwarzem Matsch oder mit Blut. Die geschundene Kreatur wiegt sich in traumatisierten Schaukel-Bewegungen. Immerhin gibt es Szenenapplaus für das eindrucksvolle Schlussbild (Bühne: Annett Hunger).

Sanfte Naturklänge, aber auch Pracht und Pomp höfischer Tänze erfüllen die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen mit sinfonischem Glanz. Erneut läuft das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann zu Hochform auf, zieht viele farbenreiche Klang-Register, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Musiker breiten ein feines Netz von Leitmotiven aus, das die Sänger trägt: Darunter Majken Bjerno als verführerische fremde Fürstin, sowie Petra Schmidt, die in der Titelpartie einen großen Erfolg feiert. Mit feinem Gefühl fächert die Sängerin die Seelenwelt der Nixe vor uns auf. Traumverloren besingt sie den Mond, keusch und kühl und innig zugleich. Ihr Sopran kann mädchenhaft hell klingen, entwickelt bei der Darstellung von Schmerz und Leidenschaft aber viel innere Glut. Trotz der physischen Vehemenz, mit der Petra Schmidt sich in das Spiel wirft, verliert ihre Stimme nie das Ebenmaß. Alles klingt wunderbar warm, kultiviert und geschmeidig. An dieser starken Leistung gibt es nichts zu rütteln.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Weitere Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Ein knappe Skizze zur NRW-„Wahlarena“

Das politische Spiel (WDR-Fernsehen, 20.15 bis 21.45 Uhr) in der „Wahlarena“, übertragen aus Mönchengladbach, hat 90 Minuten gedauert. Und was ist da rund gewesen?

Das Publikum ist von infratest/dimap nach repräsentativen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Immer wieder werden Befragungsergebnisse eingeblendet. Volkes Stimme. Pflichtschuldigst zelebriert und rasch abgehakt.

Einstiegsfrage nach dem Umgang mit den Benzinpreisen.

„Wir müssen weg vom Öl“, sagt Sylvia Löhrmann (Grüne). Ein schöner Satz. Sagt sich schnell.

Arena = Gladiatoren? Ach was! Es bleibt so zahm.

Mal wieder ein grausliches Studiodesign. Und eine wahrhaft fahrige Kameraführung. Bloß nirgendwo verweilen.

Norbert Röttgen (CDU): „Unsere Antwort heißt Elektro-Mobilität.“ Folgt eine kleine Fensterrede gegen die Ölkonzerne. Den kleinen Pendler dürfe man nicht – na? na? – „im Regen stehen lassen“.

Hannelore Kraft (SPD): „Ölkonzerne in den Griff bekommen.“ Auch das sagt sich flott. Wie denn überhaupt in dieser Sechserrunde (Arena) noch ungleich holzschnittartiger argumentiert wird als bei einem Duell. Doch früher hat es noch mehr gestanzte Sätze und betonierte Meinungen gegeben.

Joachim Paul (Piraten): Zur Pendlerpauschale wird eine Position „noch entwickelt…“ – „Wir Piraten kopieren gerne“ (z. B. Ideen aus anderen Ländern). Ein wohlfeiler Lacher.

Mehr oder weniger sprechen sich alle für die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs aus, die Piraten wollen auf Fahrscheine verzichten. Und wer bezahlt’s?

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Thema Haushalt/Schulden

Christian Lindner (FDP): „Der Staat soll bescheiden sein.“ Die Wirtschaft muss schneller wachsen als der Staat. Ach, es gibt sie noch, die alte Tante FDP.

Kraft: Nicht zu Lasten der Kommunen sparen. Nicht zu Lasten der Kinder sparen. Und bloß nicht sagen, auf wessen Kosten man sparen will (gilt für alle).

Hier reden, so könnte man meinen, wandelnde Wahlplakate. Talking Heads.

Röttgen (CDU): Sparen mit uns ginge weitgehend schmerzlos. 2 Prozent der Subventionen einsparen, das täte nicht weh. Rotgrün geht euphorisch mit Steuereinnahmen um = verprasst das Geld. Vier Ausnahmen beim sparen: Familie, Schule, Kultur… (juchhu! Es hat einer Kultur erwähnt). Da vergisst man glatt die vierte Option. Röttgens traditionelle Suggestion: Sozis können mit Geld nicht umgehen.

Schwabedissen (Linke): Privaten Reichtum abschöpfen. Keine Kürzungsorgien im Haushalt.

Paul (Piraten): Bedingungsloses Grundeinkommen prüfen (auch fahrscheinfreies Fahren sollte just „mal ausprobiert“ werden). „Es gibt Überlegungen in Richtung Vermögenssteuer“… Aha. Und wohin führen die wohl eines fernen Tages?

Lindner: Rotgrüne Verschuldungspolitik wird zur Staatsphilosophie erklärt. „Legende der guten Schulden“ beenden…

Thema Arbeit/Löhne

Lindner (FDP): Bloß keinen Überbietungswettbewerb in Sachen Mindestlohn, etwa zwischen Gabriel und Gysi. Das führt nur zur höheren Arbeitslosigkeit.

Löhrmann (Grüne): Unterste Linie 8,50 Euro pro Stunde.

Kraft (SPD): „Auch da gilt es, klare Kante zu zeigen.“ (SPD-Wahlplakat „Klare Kante Kraft“)

Röttgen (CDU): Tarifparteien haben Vorrang.

Schwabedissen (Linke): 10 Euro Mindestlohn. Gewonnen! Ihr Lieblingswort: „absurd“.

Paul (Piraten): Für bedingungsloses Grundeinkommen. Kostet den Staat keinen Euro mehr = Nullsummenspiel. Es sollte wenigstens „mal untersucht“ werden. Dann übt mal schön.

Kraft (SPD): Arbeit ist wichtig für die Würde des Menschen. Wer könnte da widersprechen?

Der unvermeidliche Moderator Jörg Schönenborn würgt die laufende Debatte nach Minutenschema ab.

Thema Bildung/Kinder

Löhrmann (Grüne): Für Ausbau der Kitas und Verbesserung der Kitas. Das unsägliche „Betreuungsgeld“ einsparen und in Kitas stecken. Gegen aufgezwungene Kita-Pflicht. Doch wenn die Kitas gut sind, wären die Eltern schlecht beraten, wollten sie ihre Kinder nicht hinschicken. Statements wie aus dem Wahlomaten.

Lindner (FDP): Gegen Betreuungsgeld (hat aber im Bundestag dafür gestimmt).

Schwabedissen (Linke, zweifache Mutter): Für 150 Euro „Herdprämie“ lässt sich kein Kind erziehen. Kita sollte generell gebührenfrei sein. Auch für Millionäre?

Röttgen: 60-70% der Eltern lassen ihre Kinder in den ersten zwei Jahren ohnehin zu Hause. Die sollten gefördert werden – bei völliger Wahlfreiheit zwischen den Lebensmodellen. Ansonsten ist alles „in der Diskussion“ (hört sich in der faserigen Offenheit fast nach Piraten an).

Kraft (SPD): Wer Betreuungsgeld zahlt, glaubt wohl, er müsse keine weiteren Kita-Plätze schaffen…

Lindner (FDP): Erhalten Leute, die nicht in die Oper gehen, dann auch einen Scheck? (Juchhu, noch einer hat Kultur erwähnt – wie grinsbereit auch immer)

Paul (Piraten): Wir müssen erst mal kompetente Menschen befragen… Wir haben nicht auf alles eine Antwort, stellen aber die richtigen Fragen.

Lindner: Rotgrün trocknet Gymnasien in punkto Ganztagsbetreuung und Klassengrößen aus.

Löhrmann, Kraft & Röttgen (!) widersprechen gemeinsam. Oh, einsame FDP.

Schwabedissen (Linke): „Eine Schule für alle“ statt dieser chaotischen Schullandschaft.

Paul (Piraten): „Wir sind keine Linke mit Internet-Anschluss.“ Ein bis zwei Dutzend Schulen sollen neue Modelle erproben… Verwaltungskräfte einstellen, um Lehrer zu entlasten. Alle Lerninhalte digital vorhalten.

Schlussrunde/Koalitionsaussagen

Lindner (FDP): Wahrscheinlich ist eine große Koalition. Wir sind dann Opposition. Prinzip Hoffnung.

Kraft (SPD): Es wird wohl für Rotgrün reichen. Kann trotz vieler Nachfragen die Piraten nicht so recht einschätzen.

Paul (Piraten): Wir würden gern auf der Oppositionsbank lernen. Darüber hinaus jetzt keine Aussage.

Röttgen (CDU): Dies ist kein Lagerwahlkampf. Auch überraschende Koalitionen sind denkbar. Die Demokratie wird bunter.

Löhrmann (Grüne): Rotgrün bevorzugt.

Schwabedissen: Wer will, dass die SPD sozialdemokratisch ist und die Grünen ökologisch sind, muss die Linke wählen. Gut auswendig gelernt.

Und das Fazit? Diffus. Um das Mindeste zu sagen. Röttgen und Lindner rhetorisch gar nicht mal übel, aber mit ihren Positionen z. T. auf verlorenem Posten. Auch die Vertreterin der Linken gewandter als so manche ihrer NRW-Kollegen. Piraten bitte ein paar Jahre lang hinten anstellen und erst mal Positionen klären. Themen, bei denen die Grünen gern volkserzieherisch werden (Ökologie, Rauchverbot etc.), kamen kaum zur Sprache. Ich persönlich weiß immer noch nicht recht, was und wen ich am 13. Mai wählen soll. Zwischenzeitlich hatte ich schon erwogen, dem Wahllokal erstmals gänzlich fernzubleiben. Aber das darf ja wohl nicht wahr sein.




„Das Leben der Bohème“ in Bochum – Freundschaft in Zeiten der Krise

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Das kann nur das Theater: Eine Duschkabine wird zum Hauseingang und dann zur Pariser Metro, aus einem Schauspieler werden fünf Charaktere, aus dem Lachen der Zuschauer wird Nachdenklichkeit und Staunen. Melancholisch, witzig, phantastisch, chaotisch, dramatisch, traurig, all das ist „Das Leben der Bohème“. Das Stück feierte Premiere im „Theater Unten“ des Bochumer Schauspiels.

Ein bemerkenswertes Werk: Die junge Regisseurin Barbara Hauck inszenierte es nach einem 20 Jahre alten Film des Finnen Aki Kaurismäki, der in jedem seiner Filme lakonisch vom großen Scheitern der kleinen Leute erzählt. Kaurismäkis „Leben der Bohème“ bezieht sich mehr auf die Romanvorlage von Henri Murger als auf die Oper „La Bohème“. Erst durch Pucchini jedoch wurden die Szenen des Künstlerlebens und der Lebenskunst im Paris des 19. Jahrhunderts bekannt – und kleben seitdem als Klischees in den Köpfen.

In Bochum kommt eine schräge Mischung aus Pucchini/Murger und Kaurismäki auf die Bühne: Klischees ja, aber gern ironisch gebrochen. Die Künstler-WG ist weniger eine romantisch-ärmliche Mansardenwohnung denn veritable Messi-Bude, statt am Klavier klimpert der Komponist auf einem Papier-Instrument.

Was Barbara Hauck eigentlich inszeniert, ist neben dem prekären Künstlerleben der große Wert der Freundschaft. In Zeiten der Not – und in einer solchen befinden sich die ebenso engagierten wie erfolglosen Künstler – lebt und leidet es sich doch besser im Kollektiv. Wer hat, der gibt aus; ansonsten schmeißen die Besitzlosen zusammen. Maler Rodolfo, Schriftsteller Marcel Marx und Komponist Schaunard feiern und frieren, saufen und träumen miteinander. Die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der schließlich sterbenden Mimi nimmt zwar einen großen Teil der Handlung ein, doch das Schlüsselwort auch dieser Liebesgeschichte lautet letztlich Treue – in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Figuren sind herrlich angelegt, die Schauspieler herrlich anzusehen: Manfred Böll als charmant-unverschämter Schriftsteller, der sein Jahrhundert-Drama in 21 Teilen am Ende in einer Modezeitschrift abdruckt. Daniel Stock als krankhaft schüchterner, ebenso liebenswerter wie liebeskranker Maler Rodolfo. Roland Riebling, der es als Schaunard versteht, den Leuten das Geld aus der Tasche zu quatschen: „Es ist zwar etwas teurer im Restaurant, aber wir holen das Geld ja wieder rein, indem wir Zeit zum Kochen sparen.“ Katharina Bach, die als gar nicht so naive Mimi die Wahl hat – und sich aus vollem Herzen für die Liebe und die Armut entscheidet. Und Klaus Weiss, der teils im Minutentakt in neue Nebenrollen schlüpft. Mal wird dialogisch gespielt, mal wird die Handlung zeitraffend von einem der Protagonisten erzählt. Am Ende verzichtet die Inszenierung auf ein versöhnliches Abschlussbild: Mimi ist tot, Rodolfo weist seine Freunde zurück: Er will allein bleiben. Ein nicht ganz runder Abschluss eines gelungenen Abends.

(Der Artikel erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.




Alltagsnicken (1): Der Kofferträger

Gelbes Basecap mit schreiend aufgestickter Werbung, blassblaue Windjacke, stoisches Gesicht. So begegnet er mir täglich, wenn ich leicht schnaufend – da grüßen ein paar Jahresringe zu viel – die schmuddelige Treppe des Unnaer Bahnhofes erklimme und er felsengleich und unbewegter Mine auf dem ersten Absatz von oben die Wacht am Schienenstrang verkörpert. Wir nehmen einander kurzblickend wahr, benicken hastig unsere tägliche Begegnung, er wacht weiter und ich eile an den Schreibtisch.

Seit Wochen gärt in mir die unbeantwortete Frage, wer er denn sei, was er da jeden Tag unternehme, so habachtend starr stehend. Und im Tagesrauschen verliert sich diese Neugierde wieder, versickert die Entscheidung, morgen aber ganz bestimmt ihn fragen zu wollen. Und am nächsten Morgen wiederholt sich das Ganze, bei anderer Beleuchtung, bei anderem Wetter, bei anderen Gedanken.

Heute nun erhielt ich eine Antwort auf die Frage, die ich nicht stellte; der Alltag gab sie mir. Ich sah seine Mütze schon leuchten (Gelb mag ich ja nun einmal, vor allem, wenn mit Schwarz kombiniert), als ich den Bahnsteig entlang schlenderte. Bis ich in die Unterführung tauchte und mir nur hörbar ein Pärchen entgegen kam, das sich sotto voce unterhielt.

Er trug eine gelbe Mütze und seine blassblaue Windjacke, und er trug einen schweren Koffer. Sie, sehr betagt, trug leicht mühsam sich selbst, kleidsames Betagten-Beige und ein dankbares Lächeln. Er lächelte breit und froh, ein wenig stolz. Und wuchtete den Reisekoffer die Treppe hoch, dass seine Eigentümerin noch den Zug erreiche, ohne sich die Gelenke zu zerren. Mütze ab, artiger Diener und ein bescheidenes: „War doch selbstverständlich!“ So stellte ich mir ihren Abschied vor.

Er hatte sich und seinem Tag einen Sinn und Wert verschafft. Sie wird von der Begebenheit erzählen und überzeugt brusttönen, dass es nach wie vor freundliche und überaus hilfsbereite Herren gebe. Und ich verkneife mir zukünftig die Frage, sondern nicke ihm einfach zu – einem guten, alten Bekannten.




Der Tod trennt Künstlerduo Fischli & Weiss

In den Bergen  c Fischli&Weiss

Miniaturlandschaft aus Kissen: "In den Bergen". c Fischli&Weiss

Was passiert eigentlich in meiner Wohnung, wenn ich nicht da bin? Gibt es sie dann überhaupt noch? Existiert sie? Je fantasieloser ein Mensch ist, umso weniger werden ihn solche Fragen interessieren. Jener Mensch, Anhänger des Feststellbaren, des Zählbaren und des Verwertbaren, wird auf solche Fragen vielleicht mit einem verständnislosen Blick antworten und dann weitergehen. David Weiss hat sie gestellt, zusammen mit seinem Künstlerpartner Peter Fischli. Beide haben noch andere, bedeutungslosere Fragen gestellt. Rund tausend sind es in ihrer Installation „Fragen Projektion“, die 2003 in Venedig den Goldenen Löwen auf der Biennale erhielt.

„Gold“ also für Fragen, die jedem mal spontan durch den Kopf gehen, die harmlos wirken, aber sich in der Seele festbeißen wie böse Ungeheuer. Denn niemand weiß wirklich, was in einem Zimmer passiert, wenn die Tür zu und der Beobachter draußen ist. Die fundamentale Skepsis gegenüber einer wie auch immer gearteten fraglosen Welt-Erkenntnis; dieses Misstrauen gegen die fröhlichen Annahmen, die uns das Grauen über die Abgründigkeit des Daseins verdrängen helfen – die haben Peter Fischli und David Weiss auf beinahe beiläufige Weise gepflegt.

Wie Schlangen gleiten in der Biennale-Installation von 2003 die Fragen von Fischli & Weiss über eine schwarze Wand. c Fischli&Weiss

Wie Schlangen gleiten in der Biennale-Installation von 2003 die Fragen von Fischli & Weiss über eine schwarze Wand. c Fischli&Weiss

Und sie haben den Fragen zu jenem Gewicht verholfen, das ihnen akademische Philosophie, tiefschürfende Theologie, grübelnde Kunsthermeneutik nicht mehr zu geben vermochten. So leichthin das Fischli & Weiss–Buch „Findet mich das Glück“ als amüsantes Partygeschenk durchging: Wer das Schweizer Duo auf dieser Ebene verortet, der hat wohl ihre Bedeutung auch lediglich am Rang 26 auf der 2012er Kunst-Bedeutungs-Liste des „manager magazins“ festgemacht

Am 27. April ist David Weiss, der ältere der beiden Künstler, in seinem Zürcher Haus an einer Krebserkrankung gestorben, im Alter von nur 65 Jahren. Kennen gelernt hatten sich die beiden, wie es verschiedentlich zu lesen war, in der Punk- und Anarcho-Szene, in Zürichs damals bekannter Kontiki-Bar. Der Bildhauer David Weiss hat in seiner Heimatstadt Zürich den Vorbereitungskurs der Kunstgewerbeschule durchlaufen und anschließend in Basel studiert. Weiss war viel unterwegs, arbeitete mit dem Fotografie- und Performance-Künstler Urs Lüthi zusammen, mit dem er in Zürich studiert hatte.

Seit 1979 verband David Weiss und Peter Fischli, die sich selten interviewen ließen und ihre Biografien dem öffentlichen Zugriff entzogen, eine enge Zusammenarbeit. Sie begann mit einer spielerisch anmutenden Aktion, die wie ein kreativer Witz an einem bierseligen Abend wirkt: Sie modellierten Alltagsszenen aus Wurststücken und -scheiben, die sie für eine „Wurstserie“ von Fotografien posieren ließen.

"Modenschau" aus "Wurstserie" von Fischli&Weiss

"Modenschau" aus "Wurstserie" c Fischli & Weiss

 

Ähnlich schwankend zwischen naiv anmutendem Witz, kindlicher Kreativität, hintergründiger Ironie und schlagartig aufbrechender Abgründigkeit ist eine Figurenlandschaft mit dem Titel „Plötzlich diese Übersicht“ aus dem Jahr 1981: Etwa 250 ungebrannte Tonfiguren sind aufgebaut wie auf einer Modelleisenbahn-Platte. Wer sich in das Labyrinth der Figürchen und Mini-Szenerien begibt, mag sich wie ein „Übertourist“ vorkommen, wie ein über einer Welt schwebender Geist. Doch der Zwang, sich auf das Einzelne, auf das Detail zu konzentrieren, zerstört genau das, was der Titel der Arbeit behauptet: Die Übersicht geht verloren, man weiß nicht, wo man in dem Gewirr steht. Sich zu orientieren, fällt schwer.

Wer unwillkürlich beginnt, einen Zusammenhang zu konstruieren, dem wird mit Titeln wie „beliebte Gegensätze“ eine Systematik suggeriert, die sich im nächsten Moment wieder in Frage gestellt sieht. Auf der Suche nach der „Übersicht“ tappt der Betrachter nämlich ständig in die Falle des Augenblicks. Das zu vergessen hilft ihm der Witz einzelner Skulptürchen. Und das leise Grausen, das einen bei Szenen wie „Im Keller“ oder „Strangers in the Night“ beschleicht, löst sich bei der nächsten Detailstudie in reines, heiteres Schmunzeln auf.

Fischli und Weiss schaffen es in dieser Installation, die Fragwürdigkeit der Welt, der Begriffe und der Sinneseindrücke leise, doch nachhaltig ins Bewusstsein zu rücken. Sie nutzen dazu nicht die offensichtliche Provokation, nicht die grübelnde Verschlüsselung, nicht die pathetische Aufladung mit Symbolwert. Ihre Methode schafft Zusammenhang. Der wirkt nicht selten leichthinnig, spielerisch, unabsichtlich. Er nutzt zum Beispiel den geistigen Trieb des Betrachters, der entdecken, gliedern, systematisieren will. Nicht der schockierende Kontrast ist das Mittel des Künstlerduos, sondern eher ein verhaltenes, aber anhaltendes Bohren.

Ihren Durchbruch erlebten die beiden mit ihrem Film „Der Lauf der Dinge“ auf der documenta Kassel 1987. In diesem Jahr erhielten sie auch ihren ersten größeren Auftrag für die alle zehn Jahre stattfindende Ausstellung  „Skulptur Projekte Münster„. Fischli & Weiss schufen einen verkleinerten Dutzendware-Büroblock, Repräsentant einer banalen Alltagswelt, eine „Ikone mittelständiger Macht und Prachtentfaltung“, so die Künstler. Spätestens seit ihrer Teilnahme an der 46. Biennale Venedig 1995 waren sie in allen großen Kunstmuseen der Moderne unterwegs. Skulpturen, Filme, Installationen, Projektionen wurden gezeigt, zum Beispiel die Fotoserie „Airports“ mit ihrer kaum zu beschreibenden Mischung aus banal und unheimlich, vertraut und befremdlich. Oder ihre Polyurethan-Skulpturen: Sie geben Alltägliches wieder, aber die beiden Künstler nannten eine Sechserserie 1985 „metaphysisch“.

Vertreten von der Matthew Marks Gallery in New York, sind Fischli und Weiss mit ihren Werken in bedeutenden Museen präsent, vom Museum of Modern Art New York bis zur Tate Modern in London; natürlich auch im Kunstmuseum Zürich und anderen Schweizer Sammlungen. In Deutschland besitzen etwa die Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, das Museum im Hamburger Bahnhof in Berlin, das Ludwig Forum in Aachen und der Skulpturenpark Köln Werke des Duos.

Die Hamburger Deichtorhallen 2008 und die Sammlung Goetz in München 2010 zeigten die letzten großen deutschen Einzelausstellungen; 2011 waren im Art Institute of Chicago Fischli & Weiss‘ klassische Werke zusammengefasst. Erst am 29. April ging im Folkwang Museum Essen die Ausstellung „Der Mensch und seine Objekte“ zu Ende, bei der ebenfalls eine ihrer Arbeiten gezeigt wurde. Der Biennale-Beitrag von 1995, „Arbeiten im Dunkeln“, ist ab 12. Mai in Wolfsburg in der Ausstellung „Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg. Ausgewählte Werke von Carl Andre bis Sergej Jensen“ zu sehen. Dass durch den Tod von David Weiss dieses einzigartige Zusammenwirken zu Ende ist, schmerzt. „Muss ich mir den Tod vorstellen wie eine Landschaft mit einem Haus, in das man hineingehen kann, und wo ein Bett steht, in dem man schlafen kann?“, lautete eine der Fragen der Biennale-Installation. David Weiss wird sie jetzt beantworten können … .