Mitliebender Zuschauer – Franz Hessels Roman „Der Kramladen des Glücks“ neu aufgelegt

Wer schon als Knabe bei Ringkämpfen „die köstliche Lust des Besiegten“ zu genießen verstand, aus dem wird auch später kein Eroberer, wenn ihm egoistische Interessen nahelegen müssten, eine Geliebte nicht kampflos dem Rivalen zu überlassen. Gustav Behrendt in Franz Hessels frühem Roman Der Kramladen des Glücks (1913) ist solch eine kontemplative Natur, die schon zufrieden ist, in Ruhe die Hände der Angebeteten verehren zu dürfen.

„Ich liebe schöne fremde Damen, die vorübergehen und mich nicht ansehen“, notiert er in seinem Tagebuch, und über ein Mädchen, dem er ein einziges Mal in einem Wirtshaus begegnete: „Ich liebte sie sehr.“ Das zeugt von einer mächtigen Vorstellungskraft.

Seinem Betrachterglück kann Gustav am besten nachgehen, solange er von anderen unbemerkt bleibt – „dann war sie so freundlich, müde zu werden, legte sich auf den Diwan und schloss die Augen“, heißt es über Marianne, deren Schlaf er wiederholt bewacht. Jedoch hält Gustav auch somnophile Begierden im Zaum.

Mit Kornelie und seinem älteren Bruder Rudolf scheint sich einen schönen Moment lang eine Ménage-à-trois anzubahnen, bis sich der jüngere mit der Rolle begnügen muss, am Paarglück der beiden anderen durch beobachtende Anwesenheit teilzuhaben.

Sollte eine Geschichte doch einmal über eine „körperlose Schwärmerei“ hinausführen, wirkt Gustav seltsam initiativlos – „es warf ihn an sie hin.“

Der profunde Franz-Hessel-Kenner Manfred Flügge, der in diesem Jahr auch eine Monographie über Franz‘ derzeit berühmteren Sohn, Stéphane Hessel, veröffentlichte, steuert zu Der Kramladen des Glücks ein erhellendes Nachwort bei und weist darin unter anderem auf Franz Hessels Nähe zu Robert Walser hin, dessen Werk Hessel später für den Verleger Ernst Rowohlt lektorieren wird.

Wie Walsers Protagonisten macht auch Gustav sich gern klein oder nimmt eine niedere Perspektive ein. „Ich saß auf dem Fußkissen“; eine fast weißblonde Kellnerin, zwei Köpfe größer als er, setzt ihm „von hoch oben“ seinen Trunk vor; beim Bootsausflug liegt er auf dem Boden und sieht „empor zu Gerda, die mit starken Armen rudert.“ Gustavs Mutter starb, als er noch Kind war – dabei handelt es sich einmal nachweislich um keine Parallele zwischen dem Autor Hessel und seinem Protagonisten in dem episodenhaften Roman, der sonst alle Stationen aus Hessels Biographie (Stettin, Berlin, Freiburg, bis zum Abschied von München im Jahr 1906) mitvollzieht.

Authentische Schauplätze und manche Zeitgenossen sind ohne weiteres identifizierbar, wie beispielsweise die Gerda des Bootsausflugs, in der Hessel die Schwabinger Bohème-Gräfin Franziska zu Reventlow porträtiert. Mit ihr und einem gemeinsamen Malerfreund lebte er in einer Wohngemeinschaft zu dritt. Es war die Zeit der ausgiebigen Kostümfeste im Künstlermilieu, die auch im Kramladen des Glücks nicht zu kurz kommen. Doch auch hier findet der meistens so identitätslos Wirkende nicht die passende Maske und würde statt mitzuspielen lieber aus einer Saalecke heraus zusehen.

Gustav sei „eigentlich gar kein moderner junger Mann“, urteilt Gerda. Nur einen Zustand, entweder „ganz zugehörig oder ganz abgelöst“, hält sie für erstrebenswert. An Gustav fehlt ihr „eine gewisse Erwachsenheit“, doch schätzen Frauen auch dessen Ernsthaftigkeit, die ihn von der Münchner Spaßgesellschaft und ihren „fidelen Hühnern“ unterscheidet.

Freunde und Lehrer können ihn nicht ändern, weder der Fechtlehrer, der empfiehlt, Frauen zu „rauben statt zu bitten“, noch Emanuel, von dem Gustav zeitweise glaubt, in ihm seinen Meister gefunden zu haben, und der es als Glück bezeichnet, „in dem andern die Liebe wachsen zu fühlen.“ Das ist aber nicht das, was der Ungebundene anstrebt.

„Nun will ich weggehen von hier“, sagt sich Gustav am Ende des Romans, „ich lerne die Liebe doch nicht.“

Wohin er geht, bleibt im Kramladen des Glücks ausgespart. Franz Hessel jedenfalls ging nach Paris, lernte seine spätere Frau, Helen Grund, kennen und verarbeitete (wiederum mit zeitlichem Abstand) die Jahre zwischen 1906 und 1913 in Pariser Romanze. Dieses Werk hat der Lilienfeld Verlag als einen weiteren Band in seiner schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ für den September dieses Jahres angekündigt. Wir können uns jetzt schon darauf freuen und in der Zwischenzeit vielleicht Robert Walser wieder lesen.

Franz Hessel: „Der Kramladen des Glücks“. Roman. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Ruth Habermehl. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 14, ca. 300 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 21,90 Euro.


Franz Hessel: „Pariser Romanze“. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 15, ca. 160 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 18,90 Euro (Erscheinungstermin: September 2012)




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!