Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.




Goethe und Novalis – rückwärts übersetzt und dadurch verhunzt

Es gab einmal ein wunderliches Experiment: Da wurden Goethes berühmtestes Gedicht von der Ruhe über allen Wipfeln und andere seiner Poeme zunächst ins Japanische übersetzt, und dann bat man einen japanischen Übersetzer, die Gedichte zurück ins Deutsche zu übersetzen. Heraus kam eine ziemlich unverständliche, holperige Fassung jener Werke, die wir wegen ihrer Sprachkraft so lieben.

Der Dichter Novalis

Eher unfreiwillig komisch wirkt da ein Vorgang, den in der vergangenen Woche die Frankfurter Allgemeine Zeitung aufgespießt hat: Die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ widmete ihr neues Heft (60. Jahrgang, 2012) dem 1998 verstorbenen griechischen Denker Panajotis Kondylis, und der hatte sich unter anderem mit dem deutschen Dichter Novalis beschäftigt. In einem nun nachgedruckten Aufsatz zitierte Kondylis einen Textausschnitt von Novalis, aber anstatt den Originaltext des Romantikers aus einer Werkausgabe zu übernehmen, übersetzt die Philosophen-Zeitschrift das Zitat aus dem Griechischen zurück ins Deutsche. Entsprechend verhunzt kommt uns das vor, was die Frankfurter als Ergebnis wiedergibt.

Dem Fazit der FAZ will ich mich gerne anschließen: „Zitate deutscher Autoren, die in fremdsprachigen Texten vorkommen, ins Deutsche rückzuübersetzen, statt sie nachzuschlagen – wie soll man das nennen? Eine neuere Unart!“

 

 




Vergehende Zeit, hier im Revier: Zum Beispiel die Dortmunder Steinhammerstraße

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Jetzt bin ich doch tatsächlich ein kleines bisschen stolz und weiß gar nicht so recht, aus welchem Grund. Vielleicht bin ich auch einfach nur berührt vom Zeitvergang und vom verwehten Geist eines Ortes. Ja, das wird es wohl sein.

Die Sache ist die: Just über die eigentlich unscheinbare Dortmunder Steinhammerstraße, in der ich im Alter zwischen 2 und 6 Jahren unter kargen Umständen aufgewachsen bin, gibt es jetzt einen gewichtigen, höchst bemerkenswerten Bildband des Fotografen Wilhelm Schürmann. Es ist wahrlich selten, dass ein Buch Aspekte der eigenen Biographie so unmittelbar und nah betrifft.

Schürmann hat (wenige Jahre vor mir) in und um Nummer 117 seine Kindheit verbracht, also drei Häuser weiter auf der gleichen Straßenseite. Als bereits gestandener Fotokünstler kam er 1979 an die Stätten zurück und hat bis 1981 nicht nur atmosphärische Partikel der frühen Jahre aufgespürt, sondern auch Signaturen des teilweise schmerzlichen Wandels und – etwa in Gestalt trister Ladenleerstände – gar den Vorschein kommender Verheerungen vorgefunden. Nach und nach ist das Gefüge der einst recht geschäftigen Straße zerfallen.

Wohl nur jemand, der selbst dort gelebt hat, konnte derlei Stimmungswerte so genau erfassen und ins Bild setzen. Manchmal wird mir angesichts dieser Fotos, als könnte ich durch einen Zeittunnel schemenhafte Szenen der eigenen Kindheit aufflackern sehen. Die Gegend war, wie Gabriele Conrath-Scholl im Katalogtext richtig schreibt, einst ein gutes Gelände für „Vorstadtkrokodile“. Da konnte man stromern. Auch das macht Heimat aus.

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Um 1980 finden sich allerdings etliche Anzeichen der Verarmung und Überalterung, die Wohnzimmer wirken nur noch wehmütig, wie ein murmelndes Selbstgespräch, wie hilflose Beschwörung einer vermeintlich besseren Zeit. Doch rede niemand verächtlich vom „Gelsenkirchener Barock“. In diesem Kontext wird spürbar, dass wuchtige Plüschigkeit als Ausgleich in dieser schäbigen, verrußten, aschgrauen Welt eben notwendig zum Seelenhaushalt gehört hat.

Das Eintauchen ins eigene Herkommen hat Schürmann (1981 bis 2011 Professor für Fotografie in Aachen) damals ganz offenkundig neue künstlerische Anstöße gegeben. Am Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre hat man, wegen diverser Rückstände und Ungleichzeitigkeiten, gerade noch ahnen können, wie es in dieser Ruhrgebietsstraße im Stadtteil Marten einst zugegangen sein mag. Später hätte man Fotografien an dieser Stelle nicht mehr derart mit Nachkriegs-Vergangenheit aufladen können.

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Heute ist das alles eine vollends versunkene Lebenswelt und Schürmanns Fotos gehören somit zur „Archäologie“ der Region. Sie weisen übers rein Dokumentarische weit hinaus, es sind eindringliche Studien zum Lauf der Zeiten.

Die Schwarzweiß-Bilder (was sonst!) umkreisen – mal eher spontan, mal sorgsam arrangiert – einen rund 200 Meter langen Bereich der Steinhammerstraße anhand von typischen Sichtachsen, Gebäuden, Schaufenstern, Interieurs und vor allem Porträts einiger Bewohner. Und siehe: Um 1980 ist noch vieles vom einstigen Ruhrgebiets-Ambiente vorhanden, wenn auch in hie und da schon ramponierter Form.

Da kündet gewiss manches Detail von provinzieller Enge und Beschränkung. Doch man spürt vor allem jenen unverwechselbaren Charakter, der das Ruhrgebiet ausgemacht hat. Auch hier, im Schatten der Zeche Germania (deren markanter Turm später verpflanzt wurde und seither Wahrzeichen des Bochumer Bergbaumuseums ist), entlang des Bahndamms und rund um den Güterbahnhof lebte ein Menschenschlag, der härteste Arbeit und Entbehrungen kannte, sich aber nicht so leicht unterkriegen ließ. Die Verhältnisse werden nicht ohne leisen Humor registriert. Der Buchtitel „Wegweiser zum Glück“ leitet sich von einer Lotto-Broschüre her, die jemandem aus der hinteren Hosentasche lugt. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben…

Besonders berührend ist hingegen eine traurige Episode in der Mitte des Bandes. Da blicken einen 1979 die Eheleute Schwingeler an, die einen Gemüseladen im alten Güterbahnhof hatten. Sodann sieht man, wie der Bahnhof am 30. Juli 1981 abgerissen wird – und schließlich, wie das gramgebeugte alte Paar tags zuvor den Laden für immer verlassen hat.

Die Gegend um die Steinhammerstraße hat übrigens ohnehin einen Platz in der Fotografie-Geschichte. Sowohl Albert Renger-Patzsch als auch Bernd und Hilla Becher haben prägnante Aufnahmen der Zeche Germania gemacht. Mit Norbert Tadeusz (1940-2011) hat ein wichtiger Maler zeitweise in der Steinhammerstraße gelebt, sein Bruder hatte dort einen Frisiersalon.

Mehr noch: Der ebenfalls in Dortmund geborene Künstler Bernhard Johannes Blume (1937-2011) hat Wilhelm Schürmann seinerzeit darin bestärkt, das Fotoprojekt Steinhammerstraße weiter zu verfolgen. Schürmann wiederum hat sich auch als Kunstsammler einen Namen gemacht und hat sehr zeitig Arbeiten des jungen Dortmunder Martin Kippenberger (1953-1997) erworben. Da könnte man fast meinen, die Steinhammerstraße hätte wesentliche Kunstimpulse dieser Stadt gebündelt wie keine zweite.

Wilhelm Schürmann: „Wegweiser zum Glück“. Bilder einer Straße. Verlag Hatje Cantz. 228 Seiten, 175 Abbildungen. Format 25 x 29,5 cm, gebunden. Text in Deutsch/Englisch. 49,80 Euro.

Das auch drucktechnisch sehr ansprechende Buch basiert auf einer Ausstellung der SK Stiftung Kultur (Köln), die leider nur noch bis zum 12. August dauert. Ausschnitte waren früher schon einmal im Essener Folkwang-Museum zu sehen, doch die Aufnahmen sollten unbedingt einmal in Dortmund gezeigt werden – am besten im Industriemuseum Zeche Zollern.

Kölner Ausstellung: Bis zum 12. August 2012. Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Im Mediapark 7, 50670 Köln, Tel. 0221/888 95 300. Geöffnet täglich außer mittwochs 14-19 Uhr, Eintritt 4,50 Euro.

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)




Festspiel-Passagen I: Ein Hakenkreuz geht nie

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

Sie sind eröffnet, die alljährlichen Dionysien am mythischen Hügel. Doch Bayreuth wäre nicht es selbst, bliebe es bei den Tragödien im Festspielhaus. Die Komödien finden meist vorher statt, in diesem Jahr ersetzt durch ein deftiges Satyrspiel. Opfer der Medien-Mänaden – manche meinen auch, derer im Direktionsbüro – ist der Sänger Evgeny Nikitin. Seine „Tattoo-Affäre“ ließ die Debatten um Kartenvergabe und Wahnfried-Gestaltung, die Spannung um Neuinszenierung und Zukunftspläne, vorübergehend in den Hintergrund treten. Und besonders wichtig in Zeiten, in denen „Kultur“ der intellektuellen Bescheidung halber einfach mit „Freizeit“ gleichgesetzt wird: Angela Merkel schien das gleiche Kleid wie 2008 getragen zu haben! Jaja, die Spar-Kanzlerin! Und man will deutlich die Seidensöckchen zu ihren Pumps gesehen haben! Wenn das keine Meldungen sind ….

Evgeny Nikitin, der vorgesehene Sänger des „Holländer“, war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgereist. Er sollte der erste Russe sein, der am Grünen Hügel den ruhelosen, gespenstischen Seefahrer singt. Die PR-Maschinerie lief auf vollen Touren: Porträts hier, Interviews dort. Jeder wollte etwas über den Bassbariton mit der „tollen Wagner-Stimme“ erfahren, der sich auch als Drummer einer Metal-Band hervorgetan hatte. Doch mitten im Steigflug stürzte Evgeny Nikitin unsanft ab. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt: seine eigene, aber vor allem diejenige Bayreuths.

Tattoos wurden dem Sänger zum Verhängnis. Irgendwann in seiner Jugend hatte er sich tätowieren lassen: mit Runen und einem unübersehbaren Hakenkreuz auf der rechten Brust. Längst hat er es überstechen lassen. Aber die Medien speichern, so vergesslich sie sonst gerne sind, manche Bilder lange. In der ZDF-Sendung „aspekte“ war das Nazi-Mal in Aufnahmen des oberkörperfreien Drummers deutlich zu sehen. Und ein Boulevardblatt, dem jeder Anlass zum Skandal nur recht ist, hatte zu recherchieren begonnen.

Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier reagierten schnell. Ein Gespräch mit dem Künstler, danach eine Presseerklärung: Nikitin verzichtet auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Und dann ein Satz, den man zwei Mal lesen muss: „Im Ergebnis der ca. halbstündigen Unterredung wurden Evgeny Nikitin die Konnotationen dieser Symbole gerade in Verbindung mit der deutschen Geschichte bewusst.“

Als Nikitin in den siebziger Jahren in Murmansk aufgewachsen ist, konnten sie noch erzählen, die Leidtragenden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hatte er nie ein Wort gehört über Tod und Elend, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes über sein Volk gebracht wurden? War ihm das Hitler-Symbol tatsächlich nur ein Mittel, um jugendlichen Trotz, Protest, Verweigerung auszudrücken? Wenn ja – und man darf davon ausgehen, dass der Sänger die Wahrheit sagt –, lässt sich nur staunen, wie geschichtsvergessen und blauäugig jemand nach Bayreuth kommt, um den „Holländer“ zu singen.

Nikitin hat nicht mitbekommen, dass seine Tattoos mit dem Nationalsozialismus oder mit Neonazis in Zusammenhang gebracht werden könnten? Da will jemand zur Spitze der Wagner-Sänger weltweit gehören und scheint nicht den Schimmer davon zu haben, welche unheilvolle Rolle Wagners Denken, Wagners Musik und die Ideologie Bayreuths in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spielte? Und was soll die „spirituelle“ Bedeutung sein, die der Sänger in diesen Symbolen entdecken will? Nein, Nikitin ist kein Nazi, kein Neonazi, auch keiner von den schrecklichen Verharmlosern. Er ist wohl einfach nur geschichtslos und naiv. Aber: Kann ein Sänger, so schön die Stimme auch sein mag, das heute, zumal in Bayreuth, noch sein?

Nikitin wird dennoch seinen Weg gehen: Beinahe schon demonstrativ wurde darauf hingewiesen, dass er im Herbst als Telramund im Münchner „Lohengrin“ zu erleben ist. Bayreuth plante für die gestrige Premiere derweilen mit dem Koreaner Samuel Youn, der in der Titelrolle des „Holländer“ – und etwa auch als Klingsor im „Parsifal“ – schon in Köln zu überzeugen wusste. Seit 2004 singt Youn bereits bei den Festspielen; 2010 hatte er als Heerrufer seine erste große Bayreuther Rolle.

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Es war zu erwarten, dass sich ein „Skandal“ manifestiert – egal, wie die Wagner-Halbschwestern entschieden hätten. In Kommentaren wurde gemutmaßt, die entsprechenden Schlagzeilen seien schon gesetzt gewesen, als Nikitins Absage eintraf. Bayreuth und die Nazis bleibt ein heikles Thema, so lange Arnold Brekers Wagnerkopf noch über das Grün vor dem Festspielhaus in weite, weite Fernen stiert. Katharina Wagner, persönlich unverstrickt, hat bei ihrem Amtsantritt lückenlose Aufklärung gelobt – und das bei der Pressekonferenz zu Festspielbeginn noch einmal bekräftigt. Sie hat die geistige Auseinandersetzung mit den langen braunen Schatten in ihren „Meistersingern“ von 2007 gesucht und in Stefan Herheims „Parsifal“ mitgetragen. Doch so lange die wissenschaftliche Erschließung keine Ergebnisse vorzeigen kann, so lange Quellen weggeschlossen bleiben, wird sich das Gespenst nicht bannen lassen. Die Wunde schließt sich erst, wenn die „Nacht über Bayreuth“ dem hellen Tageslicht historischer Aufarbeitung gewichen ist.

Momentan holt sie die Geschichte wieder einmal ein, die beiden Wagner-Urenkelinnen. Ob sie richtig reagiert haben, darüber gibt es weit auseinander liegende Meinungen. Wäre eine gemeinsame Pressekonferenz mit Nikitin der bessere Weg gewesen, wie es der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vorgeschlagen hat? Wer die Eigendynamik medialer Prozesse kennt, wird der Idee skeptisch gegenüberstehen – so gutwillig und aufklärend sie auch gemeint sein mag. Andere sehen in der Entscheidung, Nikitin ziehen zu lassen, die richtige Reaktion angesichts der Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus. Brigitte Hamann, Autorin eines Buches über „Hitlers Bayreuth“, sagte der „Deutschen Welle“, es sei „so viel an Last durch die Nazis in Bayreuth, heute auch noch, dass man als Chefin der Festspiele ja überhaupt nicht anders kann, als immer wieder zu betonen: Wir distanzieren uns“.

Bachler hatte sich mit scharfer Kritik in die Debatte eingeschaltet: „Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers.“ Er halte es für verlogen, dass die „Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird“.

Der Staatsopernintendant betonte weiter, man zeige offenbar „mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat“. Nikitin habe in seinen Aussagen den Vorfall aus seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe.“ In diese Kerbe schlägt auch das Feuilleton der FAZ: „Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele“, war dort zu lesen. Auch der „Lohengrin“ – Regisseur Hans Neuenfels sieht ein „großes Versagen“ der Festspielleitung: Von einem solchen Vorfall dürfe man nicht überrascht und von einem Boulevardmagazin zum Handeln genötigt werden. Dass das Problem nun in „einer solchen fast infantilen, analphasigen Boulevardposse endet, das finde ich schon besonders beschämend für die Festspiele“. So Neuenfels‘ Resümee.

Solche Äußerungen zeigen, wie bereitwillig mit der unglücklichen Jugendsünde des Evgeny Nikitin nun auch Politik gemacht wird. Die Festspielleiterinnen wollen doch nicht die Jugendtorheit eines Sängers „ahnden“. Sie haben mit Blick auf eine drohende Skandalisierung der Auftritte Nikitins entschieden. Der Bayreuth-Dirigent Christian Thielemann hat es auf seine Art zusammengefasst: „Ein Hakenkreuz geht nie.“ Und mit dieser Feststellung auch gleich einen geistigen Schlenker zu seiner generellen Abneigung gegen Inszenierungen mit Bezügen zur NS-Zeit vollzogen.

Vorwerfen wird diese „Notbremse“ den Festspielleiterinnen nur jemand, der ernsthaft glaubt, die wohlfeile Geschichte vom Hakenkreuzträger auf der braun belasteten Bühne wäre durch einen differenzierten, rationalen Diskurs zu verhindern gewesen. Wer weiß, wie das Mediengeschäft heute läuft, wird nicht im Ernst annehmen, dass Vernunft und Augenmaß die Gesetze dieses Marktes außer Kraft gesetzt hätten.




Alltagsnicken (3): „Ich brauch‘ ein Nappo“

Ich stand schon recht teilnahmslos auf Bahnsteig 4 des Hagener Hauptbahnhofes, diese teilnahmslose Grundeinstellung zum beginnenden Tag änderte sich auch nicht, als ich tapsig den Regionalexpress enterte, der ausnahmsweise die vorsichtshalber angekündigte Verspätung von ca. 5 Minuten nicht einhielt, sondern pünktlich war. Und anscheinend bereits ermattet von den Anstrengungen eines Morgens, der unweigerlich der Anfang eines Tages ohne nennenswerte Herausforderungen werden würde, sank ich im Parterre des Doppelgeschoss-Waggons auf einen freien Doppelsitz, um in die sogleich an meinen Augen vorbei brausende Umgebung zu dösen.

Da fiel mein müder Blick auf eine Krefelder Ausgabe der Westdeutschen Zeitung, die ich fast begeistert zur Hand nahm und spontan mit dem Studium dessen begann, was die Krefelder Kolleginnen und Kollegen für berichtenswert halten. So erfuhr ich, dass Willi Brücker 95 Jahre alt wurde, dass Apotheker Klaus Mellis davor warnt, zu oft zu duschen, dass auch in Krefeld der Sommer angebrochen ist, was fünf (vermutlich kreischende) Kinder mit einem Rudelsprung in Freibad-Wasser bildhaft belegen.

Und unter dem Bruch, nur die Zeile des Aufmachers lugt vorwitzig darüber, entdecke ich, dass für 14 Millionen Euro das ehemalige Nappo-Gelände zur Heimat für Familien umgestaltet werden soll. „Nappo“, nimmt die mählich erwachende Masse unter meiner Kalotte wahr. Sofort schnellt rautenförmiges Nougat-Süßzeugs, mit Schokolade umzogen und in wahlweise rotes, grünes oder blaues Silberpapier gehüllt, durch meine Gedanken, das ich gern nach Schulschluss an einem Büdchen erwarb und auf dem Heimweg den Zahnschmelz verheerend zu mir nahm.

Die Bude gibt es schon lange nicht mehr, meine ehemalige Schule kübelt noch immer gymnasiales Wissen in eine zahlenmäßig sinkende Schülerschaft und wie ich da in der Westdeutschen Zeitung sehe, auch von Nappo existiert nur mehr der Name, denn die ehemalige Produktionsstätte von zahnärztlichen Zulieferknabbereien ist planiert und wartet nun auf 200 Bewohner von Niedrigenergiehäusern, die dort entstehen sollen.

1920 war das Unternehmen, das genau unter Nappo-Dr. Helle & Co. GmbH & Co. KG firmierte, gegründet worden. In ganz guten Tagen machten 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Produkte marktreif, die ruinösen Einfluss auf die natürliche Kauleiste von Kindern nahmen. 1994 noch erweiterte die Hartnougat-Firma ihr Angebot um das legendäre Eiskonfekt von Moritz aus Hamburg. 2006 missrieten dann alle Rettungsversuche und das Unternehmen gab auf – mancher mutmaßte, dass zu enges Engagement in Groß-Discounter-Regalen Teilschuld am Niedergang trug.

Und schon war ich am Zielort, musste mich noch sputen, dass ich den Zug verlassen konnte, ehe er wieder ins Rollen kam. Kompliment an die Kollegen der Westdeutschen, ein kleines Kästchen in der Aufmacherstory informiert auch Krefelder darüber, wer oder was Nappo war, die von dem Gelände bisher nur die planierte Daseinsform kannten.

Noch auf Bahnsteig 2 in Unna beschließe ich, heute Abend sowohl nach ein paar Rauten Nappo als auch nach Eiskonfekt zu schauen. Die Zähne kann mir das Zeug nicht mehr ruinieren, Ihr ahnt sicher, aus welchem Grund.




„Die Deutschen und die Zwangsarbeiter“ in der Zeche Zollern

„Schloss der Arbeit“ wurde die Dortmunder Zeche Zollern genannt. Nun ist sie ein „Landesmuseum für Industriekultur“, allerdings nicht überall zugänglich, denn der Hauptteil, die Maschinenhalle mit dem wunderschönen Jugendstil-Portal, wird gerade aufwändig renoviert. Stattdessen gibt es in einem anderen Gebäude noch bis zum 30. September die Ausstellung „Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg“ zu sehen.

Allein in Dortmund schufteten etwa 30.000 Zwangsarbeiter. (Foto: lwl)

Die historische Forschung über das System der NS-Zwangsarbeiter-Rekrutierung und -Ausbeutung ist relativ weit fortgeschritten, doch diese Ausstellung wendet sich eher an Menschen, die wegen der Industrieanlagen kommen und nun mit einem wichtigen Problemkreis der jüngeren Geschichte konfrontiert werden.

Die Bilder und Dokumente in der sehr professionell zusammen gestellten Schau machen frösteln, manchen Besuchern stehen sogar Tränen in den Augen angesichts der deutlich dargestellten Grausamkeiten, der unvorstellbaren Unmenschlichkeit dieses durch und durch verbecherischen Systems. Vor allem die vorgestellten Text-Originale und die Tondokumente lassen anschaulich werden, wieviel Leid und Tod unsere Ahnen diesen unschuldigen Menschen brachten.

Die Ausstellung widmet sich am Schluss auch der Befreiung und den Schwierigkeiten in den DP-Lagern für „Displaced Persons“, heimatlosen ehemaligen Zwangsarbeitern und Krieggefangenen, wie es sie in unserer Region zum Beispiel in Iserlohn oder Ennepetal-Voerde gab. Etwas iritierend an der sehenswerten Ausstellung ist nur der Titel: Der Obertitel „Zwangsarbeit“ hätte gereicht, denn tatsächlich bekommt man einen umfassenden Überblick über das System und die Untaten.

Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Grubenweg 3 in Dortmund, Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Bis 30. September.




Höchstgebot für die Geheimnisse der Scheherazade

Welche Geheimnisse birgt Scheherazade und warum geraten ihretwegen so viele Menschen in Gefahr? Im neuen Krimi des deutsch/niederländischen Autoren-Duos Thomas Hoeps und Jac. Toes handelt es sich bei Scheherazade nicht um die geheimnisumwitterte Geschichtenerzählerin aus 1001 Nacht, sondern um ein bis dato der Öffentlichkeit unbekanntes Gemälde von Rene Magritte.

Dieses Bild befand sich jahrzehntelang im Familienbesitz der Aachener Industriellenfamilie Roeder, die das Bild nun aus unbekannten Gründen zur Versteigerung gibt. Die Scheherazade wird auf einer Kölner Auktion von einem unbekannten Bieter zu einem legendären Höchstgebot ersteigert. Kunstrestaurator Robert Patati hat das Bild auf Bitten seines Freundes Carsten Roeder für die Auktion aufbereitet und begleitet auch den Transport des geheimnisvollen Bildes auf seinem Weg zum neuen Besitzer, einer ebenfalls geheimnisvollen Firma im niederländischen Maastricht. Unterwegs wird der Transportwagen gekapert und bei einem spektakulär inszenierten Unfall an einem Bahnübergang lässt Patati beinahe sein Leben.

Zur gleichen Zeit geht das Aachener Labor des Familienbetriebes Roeder in Flammen auf, eine in alle Betriebsgeheimnisse eingeweihte Angestellte stirbt und schon bald verstricken sich die Mitglieder der Familie Roeder und ihre engsten Angestellten in Widersprüche. Zur Aufklärung der Vorkommnisse werden nicht nur grenzüberschreitende polizeiliche Ermittlungen anberaumt, auch die niederländische Profilerin und Ex-Polizistin Michy Spijker, die sich gerade erst als Detektivin selbstständig gemacht hat, wird involviert. Das Bild taucht relativ schnell wieder auf, Robert Patati erhält den Auftrag zur Restauratierung, unterstützt von Anouk, einer rätselhaften holländischen Kollegin. Schnell finden sie heraus, dass beide Geschehnisse zusammenhängen und vor allem die Scheherazade mehr als eine Geschichte zu erzählen hat. Doch bis diese Geschichten sich in allen Facetten zeigen, sind allerlei Abenteuer zu bestehen und Fäden zu entwirren.

„Höchstgebot“ ist das dritte gemeinsame Werk des deutschen Autors Thomas Hoefs und des Niederländers Jac.Toes. Ihre bisherigen Krimis erfuhren viel Lob und Anerkennung auf beiden Seiten der Grenze und auch „Höchstgebot“ erfüllt die Erwartungen. Der Krimi ist durchweg flott geschrieben und weiß zu unterhalten. Die Sprache ist auf einem guten Niveau, der Leser vermag nicht zu erkennen, welche Teile von welchem Autor in welcher Sprache ursprünglich geschrieben wurde. Die Beiden verstehen es, auch Zusammenhänge, die nicht unbedingt für die breite Masse interessant sind – so z.B. die kunsthistorischen Hintergründe – unterhaltsam zu gestalten und so ganz nebenbei Wissen zu vermitteln. Zum Ende hin wird es allerdings etwas langwierig, nun rächt sich, dass die Autoren ihre thematischen Kreise von zerstörerischer Geschwisterliebe über Primzahlen-Codierung bis hin zu Afghanistan etwas zu weit gezogen und nun Mühe haben, diese zu schließen. So richtig stört aber auch dies nicht, bietet es doch die Gelegenheit, das deutsch/niederländische Geplänkel über holländischen Geschäftssinn und deutsche Hierarchiegläubigkeit noch ein wenig länger zu genießen.

In „Höchstgebot“ begegnet der Leser mit Robert Patati und Micky Spijker alten Bekannten wieder und erfährt, wie sie sich in der Zwischenzeit weiterentwickelten. So haben die Beiden nicht nur ihre Liebesbeziehung, sondern auch ihr jeweiliges Arbeitsverhältnis beendet und sich auf ihren Sachgebieten selbstständig gemacht. Auch im Verlaufe dieses Romans wird sich einiges in ihrem Leben ändern und sie zu der Einsicht bringen, dass man für die Verwirklichung seiner Wünsche und Pläne nur dieses eine Leben hat. So endet der Roman mit dem Beweis für ein altes holländische Sprichwort: „Auch als ferner Freund würde er sich hervorragend machen“.

Der Leser lernt aber neben den in den Kriminalfall verwickelten Personen auch neue Figuren kennen, besonders gefallen hat mir die Figur der Anouk. Anouk ist wohl das, was gemeinhin als Borderlinerin bezeichnet wird, im Roman bezeichnet sie sich selbst aber als Surrealistin und trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, dass auch diesmal eine schöne Scheherazade vor dem Tod bewahrt bleibt.

Fazit: „Höchstgebot“ ist ein willkommenes Angebot für Krimifreunde, die Unterhaltung und Spannung auf gutem Niveau suchen. In diesem Sinne: Veel plezier met het hoogste bod.

Die Autoren: Toes & Hoeps bilden ein internationales Schrifststeller-Team, welches sich 2007 bei einer Zusammenarbeit zwischen deutschen und niederländischen Museen bildete. Ihre gemeinsamen grenzüberschreitenden Werke entstehen u.a. in langen bilingualen Gesprächen, Hoeps auf deutsch, Toes auf holländisch. Unvorstellbar? An der deutsch/niederländischen Grenze aber so üblich und völlig normal, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Mehr über die Arbeitsweise des Autorenduos auf der Webseite: hoeps.wordpress.com

Thomas Hoeps/Jac.Toes: „Höchstgebot“, Grafit Verlag, Dortmund. 347 Seiten, €9,99




Nützliches und Kurioses übers Ruhrgebiet

Das Cover gibt sich internetaffin: Die Buchkapitel werden durch bunte Icons angekündigt, als müsse man nur noch klicken. Überdies heißt das Ganze „Smartbook“. Wenn das kein Appell an jüngere Kundschaft ist…

Im kleiner gedruckten Untertitel wird dann ganz konventionell verraten, worum es geht: „Ruhrgebiet für Fortgeschrittene“ versammelt auf 192 Seiten Wissenswertes und vielfach auch Kurioses übers Revier. Da finden sich nicht nur Ausführungen über spektakuläre Aussichtspunkte oder einschlägige Rekorde der Region, sondern etwa auch die Rubriken „Dummes Zeug“, „Schräges“ oder „Unnützes Wissen“.

Da mag der Eindruck aufkommen, es sei nach dem Larifari-Prinzip munter drauflos gelistet und getextet worden. Irrtum! Gerade die schrilleren Mitteilungen erhellen oft den speziellen Charakter der Gegend. Das Buch taugt zwar in erster Linie zum schnellen Blättern, doch man kann sich hie und da auch mal festlesen.

Der Autor Wolfgang Berke hält mit – eigentlich immer nachvollziehbaren – Meinungen nicht zurück, sofern es denn angebracht ist. Nicht alle Fakten lassen sich eben „wertfrei“ aufzählen. Zu Tatsachen aus der Sozialgeschichte oder zu kommunal- und regionalpolitischem Schwachsinn (letzterer besonders in den Kapiteln „Flops“ sowie „Dichtung und Wahrheit“) muss man Stellung beziehen, die Dinge beim Namen nennen. Wem wäre heute schon noch bewusst, dass das heutige Unesco-Weltkulturerbe, die Essener Zeche Zollverein, nach 1986 von der Ruhrkohle AG mit Billigung der Lokalpolitiker beinahe abgerissen worden wäre?

Wolfgang Berke hat offenkundig auf ein gut sortiertes Archiv zurückgreifen können. Das ordentlich, wenn auch kleinteilig bebilderte Buch eignet sich also nicht nur für Zugezogene oder etwaige Touristen. Auch alteingesessene Bewohner erfahren noch Neues.

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

So lernt man nicht nur, dass Duisburg die bundesweit erste Parkuhr hatte und über 650 Brücken verfügt, sondern es werden z. B. auch die sonderbarsten Straßennamen erläutert. So gibt es in Essen eine Gasse namens Zornige Ameise und in Witten kann man „Auf der Marta“ wohnen.

Sangesgut mit Regionalkolorit (Steigerlied, Mond von Wanne-Eickel, Georg Kreislers Gelsenkirchen-Schmähung etc.) und „Geisterorte“ („Horrorhaus“ in Dortmund) werden ebenso aufgerufen wie bemerkenswerte Kunstwerke (Wolf Vostells auf dem Rücken liegende „Tortuga“-Lok in Marl usw.). Das Kunst-Kapitel bestätigt übrigens leider (ungewollt?) das Vorurteil vom Ruhrgebiet als Kulturprovinz mit vorwiegend dürftig realistischem Skulpturen-Bestand. Ein trauriger Abschnitt betrifft die größten Unglücke (von den vielen Zechenkatastrophen bis zur Duisburger Loveparade), die sich natürlich nicht in den ansonsten meist launigen, aber nie zu flapsigen Duktus des Buches fügen.

Am interessantesten sind häufig die Fundstücke zum angeblich „unnützen Wissen“: So gab es schon zwischen 1955 und 1967 entlang des Ruhrschnellwegs eine veritable Radautobahn, die hernach dem anschwellenden Autoverkehr zum Opfer fiel. Man sieht, das Rad und seine Infrastruktur müssen wirklich nicht neu erfunden werden.

Wolfgang Berke: Smartbook. Ruhrgebiet für Fortgeschrittene. Klartext Verlag, Essen. 192 Seiten, Broschur, zahlreiche farbige Abb. 14,95 Euro.

P.S. zwecks Transparenz: Autor Wolfgang Berke wird gelegentlich – wegen ähnlicher Berufsfelder – schon mal mit meiner Wenigkeit verwechselt, wir sind aber weder verwandt noch verschwägert und kennen uns nicht einmal persönlich.




„Blauer Engel“, „Verräterin“ und vergessene Kriegsheldin: Marlene Dietrich starb im Mai vor 20 Jahren

Ich hockte vor meinem altersreifen TV-Gerät, zappte vor mich hin und meine Augen wurden unversehens an den Bildschirm gefesselt. Und meine Augen begannen zu tränen, weil mein Gehör dafür sorgte, dass ich keine Kontrolle mehr hatte über den Tränenfluss.

Marlene Dietrich, mondän-divenhaft in Weiß gewandet, sang Pete Seegers „Where Have All The Flowers Gone“ mit deutschem Text. Als sie zur Textstelle „Wo sind die Soldaten hin …“ gelangte, wurde sie wütend-laut, ruckte ihre Körperspannung sichtbar und änderte sich ihre Mimik von traurig in zornig, gab sie in ihrer Emotionalität vor dem Publikum offen zu, dass sie aktive Kriegsteilnehmerin war, dass sie beinahe in deutsche Gefangenschaft geraten war, dass sie auf ihre Weise gekämpft hatte, Hitler und Hitlers Deutschland zu besiegen. Nicht das Deutschland, in dem sie zur Welt gekommen war, sondern das Deutschland, das sie zwang es zu verlassen, damit sie aufrecht bleiben konnte.

Eher beiläufig erfuhr ich, dass sie vor 20 Jahren am 6. Mai starb, woran ich mich zwar blass erinnere, woran ich im Mai allerdings von niemandem so nachhaltig erinnert wurde, dass ich mich daran erinnern könnte, obwohl ich ja eigentlich recht aufmerksam durchs Leben gehe. Und was lehrt mich das? Es lehrt mich, dass Marlene (eigentlich Marie Magdalene) Dietrich dem Deutschland, in dem sie zur Welt kam und das sie in seiner dunkelsten Zeit regelrecht ausspie, dass sie diesem Deutschland auch heute noch nicht recht geheuer ist. Dass unterschwellig vielleicht doch noch die Haltung im Innersten mancher Vaterländler wabert, die sie als Verräterin schimpften und ihr in Gestalt eines jungen Mädchens vor einem Auftritt während ihrer Europatournee 1960 in Düsseldorf gar ins Gesicht spuckten.

„Die Dietrich, das ist doch gar keine Deutsche mehr“, maulte meine Mutter einst. Teile meiner Verwandtschaft fanden drastischere Ausdrücke für diese menschliche Ikone, die dem deutschen Film ebenso wie der Hollywood-Fabrik fabelhafte Höhepunkte gab. Und Teile meiner Verwandtschaft zeigten sich vollkommen unversöhnlich, weil die Dietrich dem Vaterland aller Vaterländer den Rücken kehrte und eine neue Staatsbürgerschaft annahm, die der Vereinigten Staaten von Amerika. Und noch unversöhnlicher wurden alle die, die „stets von nichts gewusst hatten“, wenn sie über Marlenes Kriegseinsatz sprachen, weil sie und nicht Lale Andersen wehrkraftzersetzend „Lilli Marlen“ über alliierte Wellen sang und nachdenklichere Deutsche vor dem Rundfunkgerät hocken ließ als den Nazis lieb war.

Marlene Dietrich wurde in den Staaten hingegen von ihren „Boys“ geliebt, weil sie den frontnahen Einsatz suchte, auf dass sie helfen konnte, diesen „Boys“ ein wenig Erholung vom täglichen Grauen zu bescheren. Sie liebten sie, weil sie durch Lazarette krauchte und die oft kraftlosen Hände geschundener Soldaten hielt. Sie liebten sie so nachhaltig, dass sie noch als Veteranen zu Hunderten nach Las Vegas tourten, um ihre Marlene (begleitet von Burt Bacharach) singen zu hören und vielleicht einen ihrer begehrten Händedrücke zu erhaschen, die sie fröhlich ihren „Boys“ anbot. Und die USA vergaßen auch nicht, welchen persönlichen Einsatz sie gezeigt hatte, als sie half, ein Deutschland zu bezwingen, das nie mehr ihres wurde. Sie erhielt die „Medal of Freedom“, die höchste zivile Auszeichnung, die die USA zu vergeben haben.

Es wundert nicht, dass Spencer Tracy ihr im persönlichen Gespräch sagte, nur sie könne diesen Satz aussprechen, glaubhaft aussprechen: „Wir haben von nichts gewusst.“ Sie tat es als Frau Berthold, Generalswitwe gegenüber Richter Haywood (Spencer Tracy) in ihrem letzten großen Film „Das Urteil von Nürnberg“. Wie sehr müssen ihr diese Wörter zuwider gewesen sein.

Mir schwollen noch einmal die Augen, bis sie überliefen. Da stand Marlene, wieder in Weiß, zart und stark auf der Bühne des Warschauer Kongresszentrums und sprach brüchiger Stimme in Französisch das Publikum an, beschrieb ihre unendliche Bewunderung für Polen und seine Menschen und endete mit einem kaum mehr hörbaren „Je vous aime!“ Wie schlecht muss man sich fühlen, wenn man daran mitgewirkt hat, dass ihr lange und hartnäckig Ehrungen in ihrem Geburtsland verweigert wurden, sich auch Prominente öffentlich über ihre Lebensleistung herablassend äußern konnten, ihr erst 2002 posthum die Berliner Ehrenbürgerschaft verliehen werden durfte.




Vertrag verlängert: Benedikt Stampa bleibt bis 2018 Intendant des Dortmunder Konzerthauses

Vertragsverlängerung zum Konzerthaus-Jubiläum. Intendant Benedikt Stampa. Foto: Achim Multhaupt

Zehn Jahre alt wird das Konzerthaus Dortmund im September, und rechtzeitig zur anstehenden Jubelfeier sorgt die Stadt für gute Nachrichten. Denn soeben wurde der Vertrag mit Intendant Benedikt Stampa vorzeitig um fünf Jahre verlängert.

Bis 2018 also darf er die Geschicke des Hauses nun leiten. Er habe es seit seinem Amtsantritt 2005/06 durch kluge Programmpolitik und beispielhafte Formate wie „Exklusivkünstler“ (aktuell Esa-Pekka Salonen), „Zeitinsel“-Festivals oder „Junge Wilde“ zum Erfolgsmodell gemacht, heißt es in der offiziellen Begründung.

Das exklusive Popabo, Konzerte mit hochkarätigen Solisten und Orchestern oder kleinen Ensembles, Weltmusik oder konzertante Oper spiegeln zudem eine Erfolgsmixtur wieder, die in ihrer Vielfalt Spannung verheißt, das Publikum neugierig macht. Stampa hat stets betont, dass Klappern zum Handwerk gehört. Will sagen: Ohne eine subtile, ideenreiche, auch freche Werbestrategie wäre das Konzerthaus kaum in der Lage, eine Auslastungsquote von aktuell 70 Prozent zu erreichen.

Frechheit bringt Gewinn: Dass dies nicht nur ein Spruch ist, beweist der Werbefilm über die neue Generation der „Jungen Wilden“ ebenso wie der Schatz an markigen Sätzen, die sich im Programmbuch für die Saison 2012/13 finden. Da werden die Nachwuchssolisten, schon mehr oder weniger berühmt, unter dem Titel „Das Ende der klassischen Klassik“ vorgestellt, da lesen wir als Gesamtmotto „Musik bereichert“.

Binsenweisheit hier, die Neuerfindung des Rades dort? Nehmen wir also die „Jungen Wilden“: die Pianisten Jan Lisiecki und Khatia Buniatishvili, die Geiger Ray Chen und Vilde Frang, die Sopranistin Anna Prohaska, der Cellist Andreas Brantelid sowie Sebastian Manz (Klarinette) werden sich in den nächsten drei Jahren die Konzerthaustür in die Hand geben. Im Werbefilm agieren sie wild bis zum äußersten: Musizieren sich in einen Rausch, der zur Zerstörung der Instrumente führt, während sich die Sängerin die Perlenkette vom Halse reißt.

Derartige Leidenschaft, lautet die Botschaft wohl, ist auch bei den Konzerten zu erwarten (ohne Sachbeschädigung, versteht sich). Und wie steht’s um die Bereicherung mit Musik? Intendant Stampa weiß sehr wohl, dass die Kunst nach Brot geht. Doch Botschaften wie „Ich bin Millionär an Glückshormonen“ oder „Ich spekuliere. Auf Freudentränen“ bedeuten nichts anderes als die Tatsache, dass ein Leben ohne Musik seelenlos ist. Der Kunstgriff, Reizwörter aus der Wirtschaftssprache ästhetisch umzudeuten, ist dabei so originell wie frech. Aber viele mögen denken: So hätte das schon längst mal jemand formulieren müssen, um der Kunst willen.

Gut aufgestellt und ziemlich präsent also darf das Dortmunder Konzerthaus sein Zehnjähriges feiern. Mit vier Gala-Abenden vom 7. bis 10. September. Mit insgesamt etwa 100 Eigenveranstaltungen. Auf dass das geistige Kapital wachse, wie es im Programmbuch steht.

Informationen zur neuen Saison gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Eine Marotte im Buchdesign

Bei Durchsicht der neuen Buchkataloge (Herbstprogramme 2012) ist mir eine Eigenart des Schriftdesigns aufgefallen.

Ich weiß nicht, ob das Kind in der Fachwelt einen Namen hat. Jedenfalls haben sich etliche Umschlaggestalter stillschweigend darauf geeinigt, Titelzeilen in mehr oder weniger willkürlich abgehackter Schreibweise zu präsentieren. Die einzelnen Buchstaben werden dabei gleichsam zu Hauptdarstellern, bildliche Elemente rücken in den Hintergrund oder fehlen ganz.

Da ich das Copyright an den aktuellen Entwürfen keineswegs verletzen möchte, stelle ich hier keine Originalcover ein, sondern habe zwei denkbar gewichtige Titel der Weltliteratur handschriftlich portioniert und das Ergebnis abgelichtet. Voilà!

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Natürlich sind die wirklichen Buchumschläge typographisch und auch sonst ungleich gewiefter gestaltet, es gibt gar vereinzelt veritable „Hingucker“. Das Prinzip bleibt aber erhalten. Die Resultate sehen en masse mächtig gewollt aus, sie riechen sehr nach kurzlebigem Trend. Der kleine Überraschungseffekt verbraucht sich rasch; erst recht, wenn er dermaßen in Serie geht. In der nächsten Saison wird man das schon nicht mehr ernsthaft aufgreifen können.

Solange es aber noch währt, könnte man daran noch schnell ein paar Fragen knüpfen. Hat das etwas mit einst modischer, inzwischen aber etwas abgestandener Dekonstruktion zu schaffen? Oder wird gegen den Hang zur leichtgängigen Lektüre Einspruch erhoben? Fast überall sonst wird einem Lesestoff möglichst mundgerecht und übersichtlich dargeboten, selbst Romane werden mit Kurzkapiteln und zahllosen Zwischenüberschriften häufig häppchenweise verabreicht.

In diesem Umfeld bedeuten die zerhackten Titelzeilen vielleicht: Halt! Hier müsst ihr euch Mühe geben, hier gibt es keine schnellfertigen Verbrauchstexte, sondern wahre, lohnende Literatur, deren Sinn- oder Unsinnsgehalt man langsam umkreisen muss. Ach, wenn es tatsächlich so wäre, dann wollten wir ein paar Design-Marotten wohl gern ertragen.




Neuer Spielplan, alte Probleme – die Oper Dortmund ringt ums Publikum

Das neue Programmbuch des Theaters Dortmund. Foto: -n

Nach der Saison ist vor der Saison. Die alte Fußballerweisheit gilt nicht zuletzt auch für das Theater. Und wer sieht, wie intensiv die Dortmunder Bühnen bereits Vorstellungen der Spielzeit 2012/13 bei Facebook posten, mag erkennen, dass Werbung eben auch in der Sommerpause wichtig ist. Genauer gesagt: Diese PR-Maßnahme ist dringend geboten, zumindest mit Blick auf die Besucherzahlen des Opernhauses.

Denn die nun abgelaufene Saison, die erste des neuen Opern-Intendanten Jens-Daniel Herzog, hat zwar einen leichten Publikums-Aufschwung bewirkt, von guten Auslastungszahlen zu reden aber wäre pure Beschönigung. Herzog ist allerdings zugute zu halten, dass ein Haus, das mit einer Zuschauerquote unter 50 Prozent zu kämpfen hatte, nicht von heute auf morgen aus dem Sumpf der Geringschätzung herauszuziehen ist. Abgerechnet wird am Schluss, nach den ersten fünf absolvierten Vertragsjahren des Intendanten.

Der Opernchef selbst hat zugegeben, dass die Imageverbesserung des Musiktheaters offenbar länger dauert als gedacht. Gleichwohl ist sein Optimismus ungebrochen. Und vor ein paar Monaten, als Herzog sein neues Programm im Kulturausschuss vorstellte, führte das von politischer Seite zu wahren Belobigungsattacken. Das klang allerdings so ehrlich wie routiniert.

Nun also das neue Programm: Der Intendant hatte zum Amtsantritt versprochen, über die fünf Jahre opernhistorische Linien zu verfolgen. Er begann mit Wagner, doch die Musik des Bayreuther Meisters hat in dieser Saison Pause. Stattdessen wird als erste Premiere Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ zu sehen sein, in der Inszenierung der Dortmunder Hausregisseurin Katharina Thoma.

Es folgt Jule Stynes „Funny Girl“ als Fortführung der Musical-Linie, dann Monteverdis „Krönung der Poppea“ (Renaissance/Barock) in Herzogs Inszenierung. In Sachen Operette steht diesmal Kálmáns „Csárdásfürstin“ auf dem Programm, im dramatischen Belcantofach deutet wiederum Katharina Thoma Verdis „Il Trovatore“.

Mozarts „Figaro“ und Donizettis „Liebestrank“ bedienen nicht zuletzt die Abteilung „Beliebte Opern für jedermann“. Schließlich offeriert Intendant Herzog seine Sicht auf eine „knallige Revue-Oper“ (so das Programmbuch) des Briten Mark-Anthony Turnage: Anna Nicole. Das Stück um Aufstieg, Glanz und Verfall eines Playboy-Models wurde im letzten Jahr in London aus der Taufe gehoben. In Dortmund ist diese „Neue Musik“ in Deutscher Erstaufführung zu sehen.

Gestrichen ist indes die Linie „szenisches Oratorium“, wie sie mit Mendelssohns „Elias“ wirkmächtig begonnen hatte. Stattdessen steht als konzertante Oper Jules Massenets „Manon“ auf dem Programm.

Herzog hat stets betont, auch die Junge Oper zu stärken. Dies spiegelt sich in der neuen Saison in vier Premieren wieder: Der kleine Barbier (nach Rossini), das märchenhafte „Sneewitte“ (in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater), Xavier Montsalvatges „Der gestiefelte Kater“ (zusammen mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg) und der experimentell klingende Dreiakter „Das Innere des Äußeren – Musik auf der Grenze zum Theater“.

Der Premierenkalender der Oper Dortmund ist also in der kommenden Saison prall gefüllt. Zum Vergleich: Im Essener Aalto-Theater gibt es 2012/13 ganze vier (!) neue Musiktheaterproduktionen. Nur blöd, dass dort fast alles immer ausverkauft ist.




Unbefriedigende Rückschau – was bleibt am Ende eines Lebens?

Coverdownload S.Fischer Verlag Eine Frau liegt auf dem Sterbebett. Die Stimmen um sie herum blendet sie aus. Sie mag ihre eigenen Stimmen hören, ihre eigenen Bilder sehen. Die Bilder ihres Lebens. Sie braucht zehn Minuten, um siebzig fragmentarische Szenen ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge ablaufen zu sehen.

Es werden die letzten zehn Minuten ihres Lebens sein. Die Zeit der Möglichkeiten ist endgültig vorbei. Die Szenen, die sie sieht, sind flüchtige Bestandsaufnahmen von der Kindheit bis ins Alter. Die Autorin Manuela Reichart schreibt in „Zehn Minuten und ein ganzes Leben“ die Rückschau eines erschreckend banalen Frauenlebens. Vielleicht kein Zufall, dass auch der Titel an den eher banalen, aber wirkungsvollen Slogan fürs Blutspenden erinnert.

Es ist kein außergewöhnliches Leben gewesen, an das die namenlose Protagonistin sich erinnert. Es gab Höhen und Tiefen, aber zumeist nur Höhen und Tiefen, die sie selbst in die Banalität der Ereignisse hinein interpretiert hat. Hauptsächlich erinnert sie sich an Männergeschichten, so gut wie alle gescheitert. Gelegentlich blitzen zwar Erinnerungen aus ihrem frühen Familienleben auf, auch aus der Kindheit ihrer eigenen Kinder, aber in der Relation sind sie selten. Selbst eine der allerersten Szenen aus ihrer Kindergartenzeit ist der Frau nur deshalb erinnerlich, weil eine vierjährige Rivalin ihr den Kindergartenfreund abspenstig machte. Ihre eigenen Kinder haben sie wohl enttäuscht, haben der Mutter nicht die erwartete Anerkennung, den erwarteten Dank erwiesen.

Sie erinnert sich an den Mann, der einstmals sogar mit Selbstmord drohte, wenn sie ihn nicht erhöre. Doch auch dessen Verehrung währte nicht ewig. Er schloß eine Ehe, die nicht auf ihren Stöckelschuhen daherkam, sondern „fest in den Gesundheitsschuhen“ einer bodenständigeren Frau stand. So war auch “er ihr zum Verräter geworden“. Der Mann, den wiederum sie einst bis zum Wahnsinn verehrte, er erzählt beim Wiedersehen von seiner letzten Darmspiegelung. So geht es mit den Männergeschichten munter weiter und gipfelt schließlich in der Erinnerung an unbefriedigende Masturbationsversuche.

Ist es wirklich das, woran man sich am Ende eines Lebens erinnern will? Sind dies wirklich die Ereignisse, die bleiben?

Im Klappentext steht “Es ging ihr immer nur um die Liebe“. War das wirklich so oder ging es ihr nicht vielmehr doch um die verzweifelte Suche nach Anerkennung? „Einen gescheiten Satz sollte jeder zurücklassen“. Das ist ihr dringendster Wunsch. Doch „hat sie ihn gesagt, hat man ihn gehört?“ Manuela Reichart hat mit dieser kurzen Prosa kein Rührstück geschrieben, auch keines, welches an die viel beschworenen wirklich wichtigen Dinge im Leben gemahnt. Vielmehr zeigen ihre kurzen Fragmente, wie erschütternd wenig bleiben kann, wenn man am Ende seines Lebensweges angelangt ist. Als Leser empfindet man es bitter, dass diese Lebensrückschau sich in erster Linie mit der unbefriedigt gebliebenen Suche nach Anerkennung und Respekt beschäftigt. Es scheint wenig Gutes gegeben zu haben, an das die namenlose Frau sich erinnern kann.

Gleichwohl macht dieses Buch nicht traurig. Melancholie ist das äußerste Gefühl, welches die kühl und komprimiert geschriebene Prosa hervorruft. Die Autorin lässt den Szenen selten einen freien erzählerischen Lauf. Sie traut sich durchaus was mit diesem Buch, doch sie traut den Lesern zu wenig zu. Rasch und unbeteiligt analysiert Manuela Reichart lieber selbst. Gerade bei den Erinnerungen an Szenen aus dem Familienleben lässt sie kein Klischee gelten, sie entlarvt und verurteilt unerbittlich.

Am Ende jedes Fragments steht eine lakonische Zusammenfassung, die den Kern drastisch vor Augen führt. Die kurzen, komprimierten Texte bringen dem Leser jedoch nur wenige Einsichten. Vor allem die Männerfixiertheit als Priorität irritiert. Andere Geschichten werden nur angedeutet, obwohl sie eine wohltuende Abwechslung gewesen wären. So erfährt man nur an Rande, dass die Schwester, mit der sie den Anfang teilte, in der Mitte des Lebens unwichtig wurde und jetzt am Sterbebett die wichtigste Bezugsperson ist. Wieso und warum, das erfährt man nicht.

Aber nun – einen wichtigen Satz hinterlässt jeder. Die namenlose Sterbende hinterlässt eine Erkenntnis, die den Leser mit der im Unterton der Unzufriedenheit geschriebenen Rückschau versöhnt:
„Klar ist am Ende nur eins. Man hat in all den Jahren viel zuwenig getanzt.“ Dem werden wohl viele Frauen zustimmen.

Manuela Reichart: „Zehn Minuten und ein ganzes Leben“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 110 Seiten, €14,99

(Die Autorin: Manuela Reichart lebt als Radio-Moderatorin und Autorin in Berlin. Den Lesern in NRW dürfte sie auch als langjährige Moderatorin von „Gutenbergs Welt“ auf WDR3 bekannt sein).




Düstere Szenen und klare Linie – Plakate, Fotos und Grafiken im Museum Folkwang

Karl Jacob Hirschs Plakat "Was will Spartakus?" (1919). Foto: Museum Folkwang

Kaum etwas scheint langweiliger zu betrachten, nichtssagender in der Wirkung als Wahlplakate. Eine bunte, zumeist familienkompatible Szenerie oder ein plumpes Symbol, garniert mit so flotten wie hohlen Sprüchen – fertig. Doch vielleicht ist dies nur Ausweis eines routinierten, ja ritualisierten Politikbetriebes, trotz aller Krisen und Probleme.

Dieser Eindruck von gesitteter Normalität verfestigt sich, blickt man nur ein wenig zurück. Vor 90 Jahren, also in den „wilden“ 20ern, war Wahlkampf nicht weniger als Glaubenskrieg, schufen die Plakatmaler drastische und krasse Szenarien, in denen die werbende Partei als Engel, der Gegner indes als Killer der Menschheit dargestellt werden. Diese grob expressionistische Bildsprache ist nun in Essens Folkwang-Museum (kopfschüttelnd) zu bestaunen, im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit Plakaten, Fotos und Grafiken zumeist der 20er Jahre auseinandersetzt. „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist der fast neutral wirkende Titel der großen Schau.

Die Formen waren, mit Blick auf die illustrierte politische Propaganda, ziemlich wuchtig. Der bildmächtige Expressionismus hielt sich nicht mit Filigranem auf. Hinzu kommt eine klare Farbsymbolik bei zumeist düsterer Grundierung. Ein Plakat mit dem Titel „Der rote Hammer der Vereinigten Sozialdemokratie zerschlägt den faschistischen Drachen“, Max Schwimmer schuf es 1927, bedarf im Grunde keiner näheren Beschreibung. Die Gegner, also die Rechten, waren in der Wahl ihrer Mittel nicht weniger zimperlich: Bei ihnen stellt sich der Bolschewismus als Zwergenfratze dar, mit wirrem Haar und gezücktem Dolch. Nur gut, dass ein engelsgleiches Wesen das Volk vor diesem Schurken beschützt.

All dies war gewissermaßen Symbol eines brodelnden Vulkans namens Nachkriegsdeutschland oder Weimarer Republik, wo die politische Debatte regelmäßig in Straßenkämpfen endete. Doch ungeachtet dessen wurde getanzt, gelebt, gelacht – zumindest von denen, die es sich leisten konnten. Und so zeigt die Essener Schau eben auch das dekorative Plakat jener Zeit. Präsentiert mit Walter Schnackenbergs „Deutsches Theater – Vornehmstes Variété Münchens“ symbolträchtig den Hang zum Vergnügen. Ein Paar bestaunt aus der Loge heraus eine Tänzerin – geschwungene Linien, freundlicher Blick, das Leben scheint schön.

Andere Exponate verweisen auf den Aufstieg des Kinos. B. Namirs Plakat zu „Quick“, mit Lilian Harvey und Hans Albers, wirkt fast fotorealistisch. Später entwirft Jan Tschichold, im Sinne von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit hellgrundierte Blätter mit grafischen Elementen und viel leerer Fläche. Hier offenbart sich die neue Form, die der Ausstellungstitel vorgibt.

Anneliese Kretschmer: Der Arbeiterdichter Karl Höller (1931).

Von expressiver Kraft zur klaren Linie: Die Essener Ausstellung zeigt auch in der Sparte Fotografie wirkmächtige Beispiele. Auffällig ist, dass die Porträtaufnahmen, als messerscharfe Studien einfacher Leute, überwiegen. Helmar Lerskis „Köpfe des Alltags“ (1928-1931) sind markantes Beispiel. Leere, abgewandte oder trotzig aufbegehrende Blicke, die Gesichter motivfüllend, einzelne Partien durch wunderbares Licht-Schatten-Spiel hervorgehoben: Lerski illustriert das Leiden (an) der Zeit. Oder nehmen wir nur das Bild der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, die 1931 den Arbeiterdichter Karl Höller ablichtete. Gesicht und Kleidung verschmutzt, alles wirkt düster wie mancher Holzschnitt von Kirchner. Daneben aber hatte Kretschmer auch den Blick fürs Glamouröse, wie das Bild „Modisches Porträt“ (etwa 1931 entstanden) zeigt. Die fotografierte Dame, vornehm gekleidet mit Kappe, Handschuhen, Gürtel und Rüschenbluse senkt fast schüchtern den Blick – eine Aufnahme der stillen Art.

Das Neue, Sachliche in der Fotografie ist hier vor allem Produkt der zunehmenden Industrialisierung. Die Meister der Kamera entdeckten Strukturen wie etwa Germaine Krull die Verstrebungen des Eiffelturms oder Lotte Goldstern-Fuchs die Kölner Eisenbahnbrücke. Anton Bruehl wiederum bannte eine Anordnung von Garnrollen aufs Fotopapier, gesehen aus der Froschperspektive und aus nächster Nähe. Dieser Blick und das elegante Spiel mit Schatten gibt den Gebrauchsgegenständen eine bedrohliche Größe, als handele es sich um Fabrikschornsteine. Hier also überlagert sich grafische Anordnung mit expressivem Gehalt.

Schließlich Zeichnungen und Druckgrafik: Die Schau blickt etwa auf die Landschaften Alexander Kanolds, die mit ihren geometrisch angehäuften Gebäuden eher bedrohlich denn einladend wirken. Düster-expressionistisches (Kirchner) steht in schärfstem Kontrast zum Konstruktivismus eines László Moholy-Nagy oder El Lissitzky. Es ist eine imposante Schau im Folkwang-Museum, die die Kunst einer aufregenden Zeit ins Blickfeld rückt.

Die Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist im Essener Museum Folkwang bis zum 5. August zu sehen.




„Bella Italia“ wird zwar behauptet, aber leider nicht gezeigt

Grandiose Erwartungen weckt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum mit seiner Ausstellung „Bella Italia“: Fotos und Gemälde aus den Jahren 1815 bis 1900 bekommt man in abgedunkelten Räumen zu sehen, aber die versprochenen „Bella Italia“-Gefühle kommen nicht auf.

Ostern auf dem Petersplatz um 1870 (Foto aus der Ausstellung)

Was sieht man? Offensichtlich hat der Sammler Dietmar Siegert seine sicherlich wichtige und wertvolle Kollektion alter Fotografien dem Museum für diese Ausstellung angedient, und dort hat man nun um die Bilder herum diese Ausstellung konzipiert. Entsprechend zufällig wirkt die Zusammenstellung, und wer dem Thema angemessene Gemälde in ausreichender Zahl erwartet hatte, der wird mit einigen kleinformatigen Italien-Motiven aus dem Bestand der Wuppertaler Ständigen Ausstellung (oder aus dem Depot) abgespeist.

Die Bilder sind geographisch gehängt, zeigen also Szenen aus dem alpinen Norden über Venedig und Florenz, Rom und Neapel bis Sizilien. Schrifttafeln an den Wänden zitieren zahlreiche deutsche Dichter und andere Italien-Reisenden mit ihren Berichten über das Land und behaupten eine Sehnsuchtslandschaft, die sich in den Fotos nicht wieder finden lässt – allenfalls in den Gemälden spiegelt sich der romantische Anspruch. Auch der Anspruch im Katalog, den Fokus auf „das Italienbild der Deutschen im 19. Jahrhundert“ gelegt zu haben, zeigt sich nur in den Zitaten, nicht in den Exponaten.

Lohnt sich ein Besuch? Eigentlich nur für Freunde und Fachleute der Fotografiegeschichte. Italienfreunde fahren besser selber in das Land.

Bella Italia. Fotografien und Gemälde 1815-1900. Von der Heydt-Museum Wuppertal. Bis 9. September. Eintritt 7 Euro.




Zwei Tage Kulturschock in New York – der neue Film von Julie Delpy

Sommerlochzeit. Das Gros der Kulturschaffenden hat sich in die Sommerpause verabschiedet. Da man derzeit eh den Eindruck hat, der Sommer finde nur noch in Filmen statt – eine gute Zeit, mal wieder ins Kino zu gehen. Der Film, für den wir uns entschieden, spielt zwar in der Zeit um Halloween, ist aber dennoch eine sommerlich leichte wunderbare Abwechslung während des Monsuns: 2 Tage New York – die Fortsetzung von 2 Tage Paris, des Überraschungshits aus dem Kinosommer 2007.

Die Protagonisten sind älter geworden, aber nicht unbedingt reifer. Zumindest allerdings ein bisschen weniger sexbesessen. Der nervige Jack ist zum Glück Geschichte, von ihm ist nur noch am Rande die Rede. Hat er der Heldin Marion doch den schnuckeligen kleinen Sohn Lulu beschert. Marion (Julie Delpy) zankt sich nun mit Mingus (Chris Rock), einem um Klassen attraktiverem, schlagfertigerem und sympathischerem Mann als die Nervensäge Jack. Mingus hat die Tochter Willow mit in die französisch-amerikanische Patchwork-Familie gebracht, alle zusammen sorgen für ein liebevolles, aber geordnetes kreatives Chaos.

Fotografin Marion steht am Vorabend einer ihrer bis dato größten Vernissagen. Als konzeptionelle Beigabe und zur Beilegung ihrer finanziellen Engpässe plant sie als Höhepunkt den Verkauf ihrer Seele. Davon abgesehen, dass diese nur enttäuschende 5000 Dollar wert ist, muß Marion sich in diesen zwei Tagen wieder mit ihrer französischen Familie rumschlagen, die zahlreicher als erwartet angereist ist, um der Vernissage, den Halloween-Feierlichkeiten und der Familien-Intimität allgemein beizuwohnen.

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Julie Delpy allein ist schon Grund genug, ins Kino zu gehen. Ihre Rolle ist Lichtjahre weg von der ätherischen Sabeth aus „Homo Faber“. Delpys Marion ist eine gestandene Frau, kreativ, chaotisch, liebevoll. Ein Charakter, den man ihr unbesehen abnimmt und von dem man sofort glaubt, dass sie auch im wirklichen Leben diesen Reifeprozess durchlebt und sich genauso entwickelt hat. Wie in 2 Tage Paris zeichnete die Delpy nicht nur für die Produktion verantwortlich, sondern führte auch Regie. In der männlichen Hauptrolle glänzt diesmal der Komiker Chris Rock und er macht das großartig. Überzeugend schwankt er zwischen ernsthaft und komisch, überfordert und der Situation gewachsen. Wunderbar verschroben, eigenwillig und liebenswert wiederum Albert Delpy, auch im echten Leben der Vater der Hauptdarstellerin. Alexia Landeau als Rose, der stadtneurotischen Schwester Marions, Alex Nahon als der rücksichtslose Ex-Geliebte von Marion und nunmehr Geliebter von Rose sind die witzige Krönung des Ganzen. Natürlich fehlt auch der in einem Delpy Film obligatorische Glücksbringer-Auftritt von Daniel Brühl nicht. Nach dem militanten Veganer im ersten Teil verkörpert er diesmal einen unbeirrten Baumschützer, wenn er auch in Teil zwei das Fliegen nicht lernen darf.

Julie Delpy spielt mit den Klischees, von denen sie nicht ein einziges auslässt. „Der amerikanische Traum trifft die französische Revolution“, so hieß es in der Ankündigung und diese verspricht nicht zuviel. Zwei Tage Kulturschock reichen, um aller Leben gehörig zu verwirbeln. Nicht einmal die guten französischen Würste kriegt der Vater durch den Zoll und er muss lange warten, bis er ein auf dem Bürgersteig geparktes Auto findet, welches er aus hehrem Prinzip zerkratzen kann. Rose hüpft den lieben langen Tag ohne Höschen durch die Gegend und bringt nicht nur Mingus, den bis zu einer gewissen Grenze liberalen, aber im Herzen stockkonservativen Schwarzen, der sich von einem Pappkameraden in Gestalt Obamas beraten lässt, in die Bredouille. Es geht auch wieder um das freizügige Sexverständnis der Franzosen, die Prüderie der Amerikaner, aber wenigstens nicht so ausschließlich wie in 2 Tage Paris. Die Sprachschwierigkeiten sind dabei eher eine Hilfe als ein Hindernis. Denn mehr als einmal ist es nur gut, dass man aneinander vorbeiredet.

Mit seinen witzig-chaotischen Szenen führt der Film die romantischen Komödien Hollywoods vor und dreht sie gekonnt ins Surreale. Die Franzosen kennen keine political correctness und darauf Rücksicht zu nehmen, ist das Letzte, was ihnen in den Sinn käme. Sie benehmen sich überall daneben, das aber mit viel Charme. Manchmal überdrehen sich die Szenen ins Hysterische, das kann zugegebenermaßen nerven. Alles in allem ist es aber gerade das Überdrehte, Wahnwitzige, welches diese Großstadtkomödie so liebenswert macht. Neben der unvergleichlichen Julie Delpy natürlich. Versteht sich.

Der Film ist gut fotografiert, wie in jedem ordentlichen Großstadtfilm zeigt sich New York von seiner besten Seite. Direkt zu Beginn präsentiert Julie Delpy eine witzige Montage der meistfotografierten Sehenswürdigkeiten der Stadt, alle getarnt als Schnappschüsse von Marion und ihrer Familie.

Gleichwohl scheint mein Verständnis von einer federleichten Sommerkomödie ein anderes zu sein als das etlicher Zuschauer, die den Kinosaal fluchtartig verließen und mit dem Humor dieses Films wohl nicht allzu viel anfangen konnten. Vielleicht hatten sie sich auch von Chris Rock eher Comedy im Stile eines Mario Barth versprochen. Schließlich war Barth derjenige, der Chris Rock dareinst den Rekord „Live Comedian mit den meisten Zuschauern“ abjagte.

Fazit: Wer 2 Tage Paris mochte, wird 2 Tage New York lieben. Selten genug – diese Fortsetzung ist eindeutig auch ein Fortschritt.




Schubert für Feinsinnige: András Schiff beim Klavier-Festival Ruhr

András Schiff berichtete in einem Interview einmal aus seiner Jugend: Er habe im Unterricht bei seinem Landsmann György Kurtág als Hausaufgaben Schubert-Lieder bekommen, die er in der Klavierstunde dann selbst singen musste. Und Schiff folgert: „Singen und Spielen, das war der vielleicht wichtigste Impuls in Richtung Schubert.“ Wer dem Klavierabend des ungarischen Pianisten in der Stadthalle Mülheim folgte, wird die Spuren dieser Ausbildung unschwer erkannt haben. Kurtág, einer der bedeutenden Komponisten der Gegenwart, hat dem jungen Schiff etwas mitgegeben, was dieser in seinen unvergleichlichen Stil integriert hat. Sein Schubert-Abend zum Abschluss des „klassischen“ Programms des Klavier-Festivals Ruhr war inspiriert von den Grundtugenden des Singens und des Atmens.

Dass Schubert in „singenden Phrasen“ denkt, macht Schiff sogleich deutlich: Den Anfang der G-Dur-Sonate D 894 setzt er in einem kunstvoll gesponnenen Bogen an, einer subtilen Mischung aus gebundener Phrase und perlender Staccato-Leichtigkeit, gegliedert mit einer schier unerschöpflichen Vielfalt an dynamischen Valeurs. Für einen solchen Ansatz ideal ist der Hammerflügel aus dem Bonner Beethoven-Haus, den Schiff spielt: Einem gewissen Franz Brodmann, einem unbekannten, angeblich in Wien zu lokalisierenden Instrumentenbauer, zugeschrieben, bietet er einen diskreten, farbigem Spiel zugeneigten Klang. Der Bass lässt sich markant betonen oder seidig-trocken ausspielen; in der Mittellage zeigt der Flügel warme, etwas metallisch klingende Tragfähigkeit. Nur der Diskant wirkt noch recht altertümlich spitz, wenig tragfähig im Ton. Dass vor allem in der oberen Mittellage die Stabilität der Stimmung schnell nachlässt, gehört zu den Kompromissen, die man bei historischen Instrumenten eingehen muss: Man bezahlt den Zugewinn im Klang durch Mängel der technischen Perfektion.

Dennoch: Mit diesem Flügel kann Schiff zeigen, worum es ihm bei Schubert geht: die gesanglich geprägte Phrasierung, die unerschöpflichen Abmischungen und Schattierungen in Klang und Dynamik, die Kunst der leisen Töne, der kaum hörbaren Andeutung. Die Zuhörer versetzt der Zwang zur Konzentration dabei nicht immer in Ruhe. Warum man spätestens 90 Sekunden nach dem Beginn eines Stücks das Ritual des Bonbon-Auspackens beginnen muss, bleibt mir auf ewig ein Rätsel.

Feines Geraschel in 4-D-Ausstrahlung also zu Schubert/Schiffs melancholischer Heiterkeit, zur diskreten Leidenschaft sanfter Aufschwünge und erlesen miniaturisierter Kontraste, zu elegischem Verklingen, nachdenklichem Kreisen und – hin und wieder – einem delikat gezügelten Forte-Akzent. Der Gefahr sanft-elegischer, versüßter Ästhetik entkommt Schiff nicht immer – vor allem in diesem schweifenden ersten Satz. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, Schubert zu „verzärteln“: Schon im Andante-Satz greift der Pianist beherzter zu, arbeitet harmonische Kontraste deutlich heraus. Vor allem überspielt er nichts. Nur meidet er, Schuberts Psycho-Dramatik vorzuführen, wie ich es einmal etwa von Arcadi Volodos in jugendlichem Zupacken gehört habe.

Bei Schiff bleibt es bei Schubert für Feinsinnige. Der Anfang der ungeheuer tiefsinnigen posthumen C-Dur-Sonate D 960 ist etwa bei Alfred Brendel unter einen spannungsreicheren Bogen gestellt; Brendel betont – allerdings auf modernen Flügeln – eher das Gebrochene, das widerständige Potenzial des Bass-Trillers. Schiff achtet eher den Fluss der Musik, aber gerade auf dem Hammerflügel wirken die Triller nächtlich harsch und fast böse. Zwei Aspekte einer Schlüsselstelle, beide genial erfasst und dennoch so unterschiedlich!

Nun entwickelt Schiff die Sonate dann auch eher aus einem kantablen Aspekt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er der Dynamik des Fließens unbekümmert Noten opfert. Bis in die fast unhörbaren Pianissimi des zweiten Satzes behauptet jeder Ton sein Gewicht. Dieses Andante sostenuto rückt Schiff nahe an die „Winterreise“ mit ihrer lakonischen, gelähmten Trauer.

Das Scherzo setzt er mit deutlich markanteren Rhythmen und spielerischer Frische deutlich ab; im vierten Satz muss die schmerzliche Intensität, die der Diskant auf dem modernen Flügel gewinnt, miniaturisierten Porzellantönen weichen – ein Eindruck, der das Bild von Schubert als dem Weltschmerz-Komponisten der Romantik etwas relativiert. Vier Zugaben, darunter die „Ungarische Melodie“ und zwei der unvergleichlichen Impromptus – runden einen Abend der Innerlichkeit ab, der in unserer lärmvollen Welt wie eine der Zeit enthobene Zauberinsel wirkte.




Ein Hoch der Tastenkunst: Martha Argerich beim Klavier-Festival Ruhr

Der Jubel war programmiert: Martha Argerich, eine der bekanntesten Pianistinnen weltweit, gehört zu den geschätzten „Stammgästen“ des Klavier-Festivals Ruhr. Solo-Konzerte gibt die Dame mit den langen grauen Haaren seit langem nicht mehr gerne. Sie macht mit Musikern, die sie schätzt, Kammermusik. In diesem Jahr konzentrierte sich ihr Auftritt in der Philharmonie auf das Klavier. Zwei Flügel, vier Spieler, acht Hände: Der Tastenkunst wurde Tribut gezollt!

Argerich eröffnete den Abend mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Lilya Zilberstein. Mozarts D-Dur-Sonate zu vier Händen (KV 381) schnurrte in perfekter Gleichzeitigkeit dahin. Die Damen gönnten sich kein Innehalten, preschten durch den ersten Satz. Kein idealer Zugang zu Mozart: Farbwechsel wären durch die Noten beglaubigt und würden die Vorherrschaft des rein Motorischen brechen. Dass Mozart zum Beispiel die Staccato-Treppchen schon nach vier Takten durch Bindebögen, nach weiteren vier Takten durch Rhythmuswechsel ersetzt, hat für die beiden stürmischen Damen keine Konsequenz für ihre Rhetorik. Und der piano-Einsatz ab Takt 14 zählt nicht als Zäsur, nach der sie die Artikulation verändern. Der zweite, schön fließende Satz gestand Mozart jedoch die Tiefe der Empfindung zu; im dritten Satz waren die Pianistinnen brillant-gelöst im Allegro molto angekommen.

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Aus zweien von Debussys „Trois Nocturnes“ hat Maurice Ravel ein effektvolles Stück für zwei Klaviere gemacht, in dem Zilberstein und Argerich in ihrem Element sind: Konzentration auf magische Klangmomente, meditatives Kreisen, ein raffiniertes Spiel mit der Spannung, aber auch rasantes Martellato. Wenn im zweiten Stück, „Fêtes“, die dunkle Bässe „ausrollen“, die Spannung der Musik verebbt, noch einmal ein paar Töne aufklingen, wie Schaumkrönchen sich an einem Felsbrocken am Strand bilden, bevor bestimmende Bass-Akkorde das Ende signalisieren, dann wird beim Zuhören klar, wie souverän die beiden zu gestalten wissen.

In Franz Liszts „Concerto pathétique“ steigern sie die Ausdrucksmittel noch: Musikalische Gesten werden – wie im Stummfilm – expressiv überzeichnet: schmerzliches Pathos, aufgewühlte Bewegung, verzehrende Intensität, bittersüße Melancholie. Doch in einer von Martha Argerich unvergleichlich innig erzählten Melodie klappt jemand – schnapp – die Handtasche zu. Kein Augenblick der Zeit ist vollkommen …

Der Abend wurde auch genutzt, den Söhnen von Lilya Zilberstein zu ihrem Klavier-Festival-Debüt zu verhelfen: Daniel und Anton Gerzenberg verstärkten das Damen-Duo in Bedrich Smetanas Sonate für zwei Klaviere zu acht Händen. Füllig und orchestral kommt diese Musik daher, aber Smetana war doch wohl eher Melodiker als ein Freund kontrapunktischer Herumfeilerei. Die harmonischen Subtilitäten sind bei den Vieren in schön ausbalancierten Händen. Daniel und Anton, zwei sympathische Jungs, können leider – auch in der Zugabe eines Smetana-Rondos – nur beflissenes Teamwork beisteuern. Da die beiden seit 2008 als Klavierduo auftreten, wird es wohl irgendwann die Gelegenheit geben, zu hören, was sie wirklich können.

Ans Ende – vor die drei heftig beklatschten Zugaben – setzen Argerich und Zilberstein acht Sätze aus Tschaikowskys „Nußknacker“: Tanzmusik vom Feinsten, mit Geschmack, blitzender Präzision und einem kleinen Schuss Sentiment veredelt. Noch ein Hinweis: Am 20. Juli erscheint Martha Argerichs neuestes Album. Mit Gidon Kremer (Violine), Yuri Bashmet (Viola) und Misha Maisky (Cello) spielt sie Brahms‘ Klavierquartett op. 25 und Schumanns Fantasiestücke op. 88.




Meilensteine der Popmusik (15): The Rolling Stones

Nur wenige Bands haben ihre Gefühle so offen bloßgelegt, waren so widerspenstig, und doch so ehrlich wie die Rolling Stones. Für sie gab es keine Tabuzonen. Den Grundsatz, nur nichts Persönliches in die Pop-Musik einzubringen, warfen sie einfach über den Haufen. Seit nunmehr 50 Jahren auf der Bühne und bis heute: „shocking“ um (fast) jeden Preis.

Im April 1966 mussten die Feministinnen daran glauben. Die Aussagen des Albums „Aftermath“ trieben die engagierte Weiblichkeit zur Weißglut. Auf einen Punkt: Männer sind Männer, und Frauen sind Sex-Objekte. Alles „under my thumb“, unter meinen männlichen Daumen…

Die Stones als chauvinistische Frauenhasser? Der hämische, rachsüchtige Tonfall ist laut Mick Jagger ganz und gar nicht politisch gemeint. Das ist nur die Art, wie die Stones über die Sachen reden, die sie beschäftigen. Wer so die Texte Stones-mäßig interpretierte, der begriff schnell, dass die Feministinnen nur oberflächlich zugehört hatten – ja, sogar den Fünf eigentlich hätten dankbar sein müssen. Ihr Angriff richtete sich nämlich gegen die hirnlosen Miezen, die wie Katzen schnurren. Gegen den modischen Disco-Darling, die neurotischen, reichen Töchter.

Die Beatles saßen zur gleichen Zeit (1966) im Studio und spielten ihre neue Single „Paperback Writer“ ein. Mitten in den Aufnahmen schickten sie ihren Road-Manager los um die neue Stones-LP zu kaufen, die sie dann gemeinsam durchhörten. Man witterte die mächtig heraufziehende Konkurrenz. Für viele Fachleute war „Aftermath“ die Antwort auf die damals aktuelle Beatles-LP „Rubber Soul“. Doch die Stimmungen dieser beiden Platten trennten Welten.

Die Rolling Stones hatten einen neuen sozialkritischen Höhepunkt erreicht. Zwei aufreibende US-Tourneen hatten ihr Amerika-Bild gründlich verändert. Aus dem riesigen, einsamen Land wurde ein Chrom- und Drogen-Dschungel. Trotzdem produzierten sie weiter in Hollywood, entdeckten die technischen Möglichkeiten der dortigen Studios.

„Aftermath“ brachte nicht nur zum ersten Mal ausschließlich Songmaterial von Mick Jagger und Keith Richards, sondern war auch – man höre und staune – ihre erste Stereo-Platte. Vielleicht der wirkliche Startpunkt einer Weltkarriere, die bis heute anhält. Der musikalische Durchbruch für die Stones kam mit großer Bandbreite: das zarte „Lady Jane“, das düstere „Mother´s little helper“, das hymnische „Out of time“, oder auch die modische Sitar auf „Paint it black“ (nur auf US-Album) – die damals übermächtigen Beatles hatten endlich einen gleichwertigen Gegenpart gefunden.

The Rolling Stones on youtube

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14)




Sie waren eigentlich schon immer da: Ein halbes Jahrhundert „Stones“

Ja, sie waren eigentlich schon immer da, sie waren das musikalische Inventar ganzer Generationen, sie oder eigentlich wohl mehr ihre anhängenden Fans, ihre Follower durch die sich wandelnden Zeiten, begingen schon zahllose Jubiläen und heute haben wir wieder eines, an das wir uns erinnern: Heute, genau vor 50 Jahren, traten „The Rollin‘ Stones“ (damals noch ohne „g“) zum ersten Mal öffentlich unter diesem Namen auf – im Marquee-Club in London.

Bei realistischer Rückschau wurde die Premiere von Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones, Dick Taylor, Ian Stewart und Tony Chapman ganz und gar nicht mit huldvollem Staunen aufgenommen, ja sogar Buh-Rufe sollen vernommen worden sein. Das Publikum, das noch nicht ahnen konnte, gerade einem Jahrhundert-Ereignis beizuwohnen, hätte lieber mehr lupenreinen Blues zu sich genommen, wie ihn Alexis Korner, der eigentlich der Star des Abends sein sollte, von sich gab – und sie riefen nach dieser Musik. Hingegen fand Keith Richards in verklärender Erinnerung , dass die junge Truppe ganz prima aufgenommen worden war – so jedenfalls berichtete er es mal autobiografisch.

Nun haben schon viele sich über die „Stones“ ausgelassen, haben in den zurückliegenden 50 Jahren mannigfaltige Details beleuchtet, die sie fachmännisch und –fraulich aus ebenso mannigfaltigen Blickwinkeln betrachtet hatten. Ich mag eigentlich nur so ein bisschen damaligen Zeitgeist spiegeln, in meinen Erinnerungen baden und erzählen, dass es uns dann und wann ähnlich ging, den „Stones“ und mir (und vielen, vielen anderen), obwohl gutes Essen und eine lebenslange Abstinenz von härteren Drugs mein Gesicht nicht so plastisch plissierten wie das von Keith Richards, dessen Neigung, gemeinsam mit seinem Kumpel Mick Jagger zur absoluten Dauerwurst des Rock werden zu wollen, mich hoffen macht, noch ein paar Jährchen durchhalten zu können, mit dem Rhythmus der „Stones“.

Diese und einige andere Stones-Platten gehören in jede vernünftige Sammlung. (Foto: Bernd Berke)

Diese und einige andere Stones-Platten gehören in jede vernünftige Sammlung. (Foto: Bernd Berke)

Es ist eigentlich gleichgültig, was mir ins Gehör gelangt, ob „Jumpin‘ Jack Flash“ oder „As Tears go by“, ob „Little Red Rooster“ oder „Get off of my Cloud“ und natürlich „Satisfaction“ – in mir nährt sich immer mal wieder der Verdacht, dass ich jeden Titel, den sie je eingespielt haben, zumindest erkenne, vielleicht sogar kenne. Dabei sind sie alle, und damit sei von mir Laien eine jede der zahlreichen „Stones“-Formationen gemeint, die Hinterhof-Combo geblieben, die sie einst waren, die einhämmernde Truppe, die, von Mick Jaggers Rumpelstilzchen-Hüpfen angetrieben, selbst meine Füße zum Wippen zwingen und die bisweilen auch mal die Töne trifft, die gemeint waren, als sie den Song schufen.

Gern erinnere ich mich an eine Skizze, die ein wesentlich kundigerer Mensch als ich verbalisiert hat, an dessen Namen ich mich aber nicht erinnern kann. Er beschrieb Keith Richards als die heimliche Seele der „Stones“, dessen Spiel erstaunlich viel Ännäherung an die gewünschte Melodie schaffe. Es fehlte ihnen vom ersten Tag an die filigrane Experimentierfreude ihrer Kurz-Zeitgenossen, der „Beatles“, was sie aber keineswegs zu den viel beschriebenen Gegnern machte, die eine gern gepflegte Fama sich bastelte. Die Musiker tauschten (gegen Geld, versteht sich) dann und wann sogar hitverdächtige Titel untereinander.

Ich vermute, dass es diese urwüchsige Authentizität ist, die sie so überlebensfähig im schnellebigsten Metier überhaupt macht. Die alten Herren liefern über Jahre hinweg aufregende Bühnenshows ab und entlocken den Kehlen ihres stets gemischtaltrigen Publikums immer wieder jauchzende Begeisterung, mögen die Stücke auch noch so tradiert erscheinen. Die Eltern hörten sie in jungen Jahren, die Kindern hörten sie, inzwischen auch die Enkel. Das Entzücken kennt keine Altersbeschränkung. Von so manchem Vater, der mit Tochter und deren aktuellem Freund einen Auftritt der „Stones“ besuchte, hörte ich, dass seine tuschelnd geäußerte Frage vor der Ticket-Kontrolle gelautet habe: „Wo kriege ich denn hier noch einen Joint her?“ Wollte vorglühen, ehe er textsicher jedes Lied in tontreffender „Stone“-Manier mitsingt.

Ja, sie waren eigentlich immer da. Es fällt schwer, sich Zeiten vorzustellen, da es keine „Stones“ mehr auf der Bühne geben könnte, da die beiden ewigen Frontmänner ihre zerschlissenen Antlitze nicht mehr ans Mikrofon halten und aus Leibeskräften „Satisfaction“ brüllen.

Es war schon ein besonderer Tag, der vor 50 Jahren, als der unaufhaltsame Aufstieg der „Stones“ begann und in einen anscheinend unendlichen Gipfelaufenthalt mündete.




Die schwebende Komik des Bernd Pfarr

Der leider so früh verstorbene Bernd Pfarr (1958-2004) war ein unvergleichlicher Cartoonist, Zeichner und Maler. Kaum auszudenken, welche Figuren und Szenen er noch hätte erschaffen können, wenn ihm mehr Jahre geblieben wären.

Seine Bilder führen in ungeahnte Vorstellungsräume, sie sind nicht einfach nur hochkomisch, sondern heben mit allem Inventar gleichsam sachte ab vom Boden der Verhältnisse, öffnen unversehens Türen in eine andere Wirklichkeit. Ach, es ist verteufelt schwer, diese wunderbar schrägen, immer auch geheimnisvoll schwebenden Bilder mit Worten zu erfassen. Pfarrs zutiefst merkwürdige Figur „Sondermann“ zählt jedenfalls zu den grotesken Legenden neuerer Zeitrechnung.

Wer, wenn nicht solche erhabenen Könner wie Pfarr, der überdies auch ein höchst feinsinniger Texter gewesen ist, gehörte in eine Buchreihe mit dem Obertitel „Meister der komischen Kunst“? Der Band über Bernd Pfarr erscheint hier neben ähnlich aufgemachten Einblicken ins Oeuvre von Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Marie Marcks und anderen Großkalibern. Die Namen lassen es ahnen: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, welche sich vornehmlich um die Zeitschriften „Pardon“ und „Titanic“ gruppierte, macht längst einen bildnerischen Kernbestand der Komik im deutschsprachigen Raum aus, der sicherlich auch den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Die „Frankfurter“ und ihr Umfeld prägen somit auch diese Reihe des Münchner Kunstmann-Verlags.

Das 2010 begonnene verlegerische Projekt (Herausgeber ist der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher WP Fahrenberg) hat durchaus verdienstvolle Ansätze, sucht es doch die Erinnerung an Künstler wachzuhalten, die sonst womöglich verblassen könnte. Auswahl und Präsentation sind jeweils ordentlich, wenn auch nicht berauschend. Denn viele Cartoons würden durch größere Formate erheblich gewinnen, ja, manche verlangen gar gebieterisch nach mehr Platz, als ihnen hier zugestanden wird.

Handelsübliche Cartoonbände sind nun mal nicht von ungefähr deutlich größer als die Titel dieser Reihe. Mit knapp über 100 Seiten lassen sich zudem manche Lebenswerke nur recht knapp skizzieren. Auch im Falle Bernd Pfarrs langt es – neben Kostproben aus dem Schaffen – nur für ein paar kleine Beigaben: einen kurzen, klugen Aufsatz von Patrick Bahners (der „Mäuerchen“ als zentrales Motiv in Pfarrs Werk benennt), ein paar biographische und bibliographische Daten sowie eine Handvoll Fotos aus Pfarrs Leben. Das weckt Appetit, stillt ihn aber nicht.

Es ist anzunehmen, dass man bei Kunstmann einigermaßen vorsichtig kalkulieren musste und sich eben nicht getraut hat, mit voluminösen Großformaten auf den Markt zu gehen. Man kann das nachvollziehen, es ist sicher vernünftig. Schade ist es trotzdem.

Meister der komischen Kunst: Bernd Pfarr. Kunstmann Verlag, München. 112 Seiten im Format 23,4 x 18 cm. 16 Euro.




Mitliebender Zuschauer – Franz Hessels Roman „Der Kramladen des Glücks“ neu aufgelegt

Wer schon als Knabe bei Ringkämpfen „die köstliche Lust des Besiegten“ zu genießen verstand, aus dem wird auch später kein Eroberer, wenn ihm egoistische Interessen nahelegen müssten, eine Geliebte nicht kampflos dem Rivalen zu überlassen. Gustav Behrendt in Franz Hessels frühem Roman Der Kramladen des Glücks (1913) ist solch eine kontemplative Natur, die schon zufrieden ist, in Ruhe die Hände der Angebeteten verehren zu dürfen.

„Ich liebe schöne fremde Damen, die vorübergehen und mich nicht ansehen“, notiert er in seinem Tagebuch, und über ein Mädchen, dem er ein einziges Mal in einem Wirtshaus begegnete: „Ich liebte sie sehr.“ Das zeugt von einer mächtigen Vorstellungskraft.

Seinem Betrachterglück kann Gustav am besten nachgehen, solange er von anderen unbemerkt bleibt – „dann war sie so freundlich, müde zu werden, legte sich auf den Diwan und schloss die Augen“, heißt es über Marianne, deren Schlaf er wiederholt bewacht. Jedoch hält Gustav auch somnophile Begierden im Zaum.

Mit Kornelie und seinem älteren Bruder Rudolf scheint sich einen schönen Moment lang eine Ménage-à-trois anzubahnen, bis sich der jüngere mit der Rolle begnügen muss, am Paarglück der beiden anderen durch beobachtende Anwesenheit teilzuhaben.

Sollte eine Geschichte doch einmal über eine „körperlose Schwärmerei“ hinausführen, wirkt Gustav seltsam initiativlos – „es warf ihn an sie hin.“

Der profunde Franz-Hessel-Kenner Manfred Flügge, der in diesem Jahr auch eine Monographie über Franz‘ derzeit berühmteren Sohn, Stéphane Hessel, veröffentlichte, steuert zu Der Kramladen des Glücks ein erhellendes Nachwort bei und weist darin unter anderem auf Franz Hessels Nähe zu Robert Walser hin, dessen Werk Hessel später für den Verleger Ernst Rowohlt lektorieren wird.

Wie Walsers Protagonisten macht auch Gustav sich gern klein oder nimmt eine niedere Perspektive ein. „Ich saß auf dem Fußkissen“; eine fast weißblonde Kellnerin, zwei Köpfe größer als er, setzt ihm „von hoch oben“ seinen Trunk vor; beim Bootsausflug liegt er auf dem Boden und sieht „empor zu Gerda, die mit starken Armen rudert.“ Gustavs Mutter starb, als er noch Kind war – dabei handelt es sich einmal nachweislich um keine Parallele zwischen dem Autor Hessel und seinem Protagonisten in dem episodenhaften Roman, der sonst alle Stationen aus Hessels Biographie (Stettin, Berlin, Freiburg, bis zum Abschied von München im Jahr 1906) mitvollzieht.

Authentische Schauplätze und manche Zeitgenossen sind ohne weiteres identifizierbar, wie beispielsweise die Gerda des Bootsausflugs, in der Hessel die Schwabinger Bohème-Gräfin Franziska zu Reventlow porträtiert. Mit ihr und einem gemeinsamen Malerfreund lebte er in einer Wohngemeinschaft zu dritt. Es war die Zeit der ausgiebigen Kostümfeste im Künstlermilieu, die auch im Kramladen des Glücks nicht zu kurz kommen. Doch auch hier findet der meistens so identitätslos Wirkende nicht die passende Maske und würde statt mitzuspielen lieber aus einer Saalecke heraus zusehen.

Gustav sei „eigentlich gar kein moderner junger Mann“, urteilt Gerda. Nur einen Zustand, entweder „ganz zugehörig oder ganz abgelöst“, hält sie für erstrebenswert. An Gustav fehlt ihr „eine gewisse Erwachsenheit“, doch schätzen Frauen auch dessen Ernsthaftigkeit, die ihn von der Münchner Spaßgesellschaft und ihren „fidelen Hühnern“ unterscheidet.

Freunde und Lehrer können ihn nicht ändern, weder der Fechtlehrer, der empfiehlt, Frauen zu „rauben statt zu bitten“, noch Emanuel, von dem Gustav zeitweise glaubt, in ihm seinen Meister gefunden zu haben, und der es als Glück bezeichnet, „in dem andern die Liebe wachsen zu fühlen.“ Das ist aber nicht das, was der Ungebundene anstrebt.

„Nun will ich weggehen von hier“, sagt sich Gustav am Ende des Romans, „ich lerne die Liebe doch nicht.“

Wohin er geht, bleibt im Kramladen des Glücks ausgespart. Franz Hessel jedenfalls ging nach Paris, lernte seine spätere Frau, Helen Grund, kennen und verarbeitete (wiederum mit zeitlichem Abstand) die Jahre zwischen 1906 und 1913 in Pariser Romanze. Dieses Werk hat der Lilienfeld Verlag als einen weiteren Band in seiner schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ für den September dieses Jahres angekündigt. Wir können uns jetzt schon darauf freuen und in der Zwischenzeit vielleicht Robert Walser wieder lesen.

Franz Hessel: „Der Kramladen des Glücks“. Roman. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Ruth Habermehl. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 14, ca. 300 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 21,90 Euro.


Franz Hessel: „Pariser Romanze“. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 15, ca. 160 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 18,90 Euro (Erscheinungstermin: September 2012)




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!




Ernest Borgnine starb mit 95: Er konnte mit Nuancen Charaktere prägen

Wirklich nicht mit äußeren Erscheinungsmerkmalen gesegnet, die gemeinhin Hollywood-Stars glamourös erscheinen lassen, als Darsteller eher mal auf polternde, aber auch tapsig-liebenswerte Eigenschaften abonniert, der Kerl, dem man gern Zuverlässigkeit und Loyalität zuordnen würde, und er war stets von einem außergewöhnlichen Wiedererkennungswert: Ernest Borgnine, der sein bewegtes Leben als Sohn italienischer Eltern mit Namen Ermes Effron Borgnino begann, hat es mit 95 Jahren abgeschlossen und hinterlässt viel mehr Lücken, als man auf den ersten Blick meinen könnte, denn er war ein ganz großartiger Darsteller – im wahrsten Wortsinne.

1953 spielte er nicht nur seine erste nennenswerte Rolle in „Verdammt in alle Ewigkeit“, sondern blieb als tiefböser Seargent „Fatso“ Judson stets auf künstlerischer Augenhöhe mit Montgomery Clift oder Burt Lancaster, was für den damaligen Anfänger Borgnine keineswegs einfach gewesen sein mag. Kein Wunder, dass er mal gerade drei Jahre später für die Darstellung des Metzgers „Marty“ im gleichnamigen Film den Oscar in Händen hielt. Es war wohl kein Zufall, dass der Co-Produzent Burt Lancaster hieß. Ob er diese Rollen oder einen warmherzig-harten Kerl in „The Wild Bunch“ (Sam Peckinpah) oder den handfesten „Trucker“ Cobb im „Der Flug des Phoenix“ gab, immer war der rumpelige Zupacker mit der Zahnlücke, die sein einnehmendes Lachen freilegte, genau die Nuance anders, die seine Rolle von ihm erwünschte. Der „Phoenix“ wurde im übrigen von Robert Aldrich in Szene gesetzt, dessen ausgemachter Lieblingsdarsteller er war.

Und selbst so zeitgeistigen Streifen wie „Höllenfahrt der Poseidon“ (da war er der bullige Großstadtcop „Mike Rogo“, der mit stets verliebten Augen hinter seiner Frau „Linda“ schützend durch den durchgekenterten Ozean-Liner krabbelte) gab seine Art zu spielen cineastischen Mehrwert und gleichberechtigte Aufmerksamkeit neben Gene Hackman. Dabei gelang es ihm fast (das fast sage ich nur, weil es selbst in seinem Leben mal ein Fehlgriff gab) immer, sich und sein unverwechselbares Gesicht als Unikat zu bewahren – daher meine Vorliebe dafür, solche Menschen wie Ernest Borgnine Darsteller zu nennen.

Auch bei kleineren Aufgaben unterhielt er sein Publikum prächtig. So als Gast bei Tim Allens „Hör mal, wer da hämmert“ neben dem silberblickenden Jack Elam oder als Synchronstimme des „Meerjungfraumannes“ im „Spongebob“ – er blieb zwar nicht der ernsthafte Darsteller, der er sein konnte, aber hatte selbst viel Spaß und vermochte ihn auch noch im hohen Alter zu verbreiten.
Ermes Effron Borgnino hat meine Kinoerfahrungen eindeutig bereichert.




Wenn Bäume Zähne zeigen

Mag sein, dass es das irgendwo schon seit 1966 gibt. Wahrscheinlich machen sie das im hippen Berlin schon seit zwei Jahrzehnten und in Hamburg seit 15 Jahren. Einige Stadtgänger werden’s vielleicht genauer wissen. Mir ist das Phänomen jedenfalls neu.

Ich rede von Bäumen mit Gebiss. Jawohl. Richtig gelesen.

Ein wahrscheinlich humoriger, gewiss jedoch handwerklich begabter Jemand hat bei uns im Dortmunder Innenstadtviertel über Nacht einige Bäume mit Zahnreihen versehen, welche wiederum in einem Gipsbett stecken. Falls es sich materialtechnisch anders verhält, bitte ich als dentistischer Laie um Nachsicht.

Es sieht irgendwie „echt“ aus. Ganz so, als feixe einen der Baum an. Eine angedeutete Lippenpartie hat er ja auch noch. Vielleicht kommen demnächst noch Glasaugen hinzu.

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

Sollte etwa der Zahnarzt, der gleich um die Ecke bohrt und schleift, hier heimlich Hand angelegt haben? Bestimmt nicht. Oder sehen wir die Resultate einer nächtlichen, sich post-anarchistisch wähnenden Praxis nach Art der herzigen Spaßguerilla? Manche legen hurtig Pflanzenbeete an, andere stricken Schals für Zweige und Äste, hier werden Bäume halt zum Grinsen oder Lächeln gebracht.

Fragt sich allerdings, ob Bäume im Normalzustand dem Urheber nicht mehr ausreichen, weil er sich vom Gewachsenen entfremdet hat. Und grünlich behauchte Bürger mögen bang vermuten, dass die Vergipsung dem Baum schade. Dann wäre es sogar Frevel und man müsste mahnend die Stimme erheben.




Frust und Tumult in der Philharmonie: Anne-Sophie Mutter musste absagen

Mutter oder gar nichts. Vor dem Konzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie spielten sich tumultuöse Szenen ab. Geld zurück, forderten vornehme Damen barsch, denn Anne-Sophie Mutter, die Geigerin mit Kult-Status, war nicht da! Die Damen am Info-Tisch des Klavier-Festivals wurden sogar rüde beschimpft, selbst Intendant Franz Xaver Ohnesorg musste einschreiten. Der Grund: Anne-Sophie Mutter hatte am Morgen anrufen lassen, sie sei ernstlich erkrankt und könne am Abend auf keinen Fall spielen.

Wer die Künstlerin kennt, der weiß: Sie würde nie ohne triftigen Grund absagen. Doch die Enttäuschung mancher Mutter-Fans saß so tief, dass die Fassade kultivierter Contenance unter dem Ansturm von Frust und uneingelöster Erwartung zerbröckelte. Hatte man sich doch so auf den einzigartigen Event gefreut!

In solchen Augen zählte das Wunder nicht, das die Disposition des Klavier-Festivals vollbracht hat: Binnen weniger Stunden waren Julia Fischer und ihre Klavierpartnerin Milana Chernyavska als Einspringer zur Stelle. Fischer hat zwischen Salzburg, München, Berlin und London eine Traumkarriere hinter sich, die von ihrer musikalischen Ernsthaftigkeit voll gedeckt wird. Von „Ersatz“ zu sprechen, wäre abwegig. Mutter und ihre Kollegin können sich auf Augenhöhe treffen.

Das zeigen Fischer und Chernyavska – deren Mentor Alfred Brendel saß im Publikum – selbst unter den ungünstigen Vorzeichen. In Claude Debussys g-Moll-Sonate herrscht nach glühend-dunklem Beginn ein leidenschaftlicher, vielfach schattierter Ton vor: lauernd, brüchig, unheimlich gespannt, schmelzend gelöst. In Camille Saint-Saëns‘ d-Moll-Sonate mit der berüchtigten Fingerakrobatik im letzten Satz scheint Julia Fischer dem Publikum zeigen zu wollen, dass sie sich vor keiner geigerischen Herausforderung fürchtet. Verdienstvoller: Sie hält Saint-Saëns frei von dem ihm immer unterstellten Parfüm.

Der erste Teil des Konzerts stand unter weniger gutem Stern: Bei Mozart (B-Dur Sonate KV 454) und in Schuberts „Rondeau brillant“ bleiben Fischer und die in den Noten klebende Chernyavska unter ihren Möglichkeiten. Da fordert das Einspringen wohl doch seinen Tribut. Jubel und eine sanft verklärte Tschaikowsky-Zugabe.




Mit Kindern das Revier entdecken

Wenn schon Ruhrgebietsführer, dann doch bitte lieber aus einem Ruhrgebietsverlag. Da erhöht sich die Chance eminent, dass etwaige Schnitzer noch erkannt und getilgt werden. Ehrlich jetzt.

Genug der Vorrede: Im Essener Klartext-Verlag ist ein kundiger Kinderreiseführer fürs Ruhrgebiet erschienen, Untertitel „Abenteuer, Zeitreisen und Experimente“. Aus der Region – für die Region.

Autorin Natascha Leo spricht in stets munterer Schreibe die Kleinen direkt an. Erwachsene dürfen staunend vor- oder mitlesen und dann die entsprechenden Kurztrips organisieren – anhand der getreulich verzeichneten Öffnungszeiten, Adress- und Telefonangaben sicherlich kein allzu großes Problem.

Ich gestehe freimütig: Auch als altgedienter Revierbewohner habe ich hier vieles gefunden, was ich noch nicht auf dem Radarschirm hatte, so etwa eine veritbale Kinderzauberschule in Bochum. Gar manches ist auch tauglich für den fröhlichen Kindergeburtstag.

Das Buch ist, dem Nutzerkreis entsprechend, flott und kurzweilig aufgemacht, mit kurzen, prägnanten Textabschnitten und knappen Infokästen. Auch die Bebilderung ist überwiegend ordentlich. Doch wenn man in den Quellenangaben nachblättert, merkt man, dass der Löwenanteil der Fotos von den Betreibern der jeweiligen Einrichtungen stammt. Man findet denn auch nicht den Hauch eines kritischen Untertons, erst recht kein mürrisches „Wir raten ab“; sämtliche Attraktionen werden uneingeschränkt empfohlen oder gar wärmstens angepriesen. Mutmaßung: Auch der eine oder andere Textbaustein wird von Broschüren angeregt worden sein. Wer kann denn schon überall selbst hinfahren?

Genauere Erfahrungen wird man mit dem Nachwuchs also selbst machen müssen, doch darf man den allermeisten Hinweisen wohl vertrauen. Es gibt ja vielfach erprobte, durchaus „kindgerechte“ Orte: Das breite Spektrum reicht von den Kinderangeboten diverser Revierbühnen (wo kann man selbst einmal mitspielen, wo kann man sich toll verkleiden oder mit Schauspielern quatschen?) über Kinderkinos, Kreativwerkstätten, Kindermuseen wie das „Mondo Mio“ in Dortmund, Bauernhöfe, Zoos, Kinder-Bergwerke, Kinder-Unis, Freizeitparks und Spezialitäten wie etwa das Wassermuseum in Mülheim/Ruhr, das Westfälische Schulmuseum oder spannende Programme der Planetarien.

Doch Halt! Wir können nicht einmal einen Bruchteil des staunenswert reichen Angebots aufzählen. Das Ruhrgebiet, so sieht man erfreut, bietet (noch) eine ganze Menge Anregungen und Spaß für die Kleinen, wenn man nur richtig sucht und hinschaut.

Bei solchen Büchern unvermeidlich ist der relativ rasche Aktualitätsverlust. Man sollte schon die überall genannten Internet-Adressen ansteuern, um zu sehen, ob die Daten noch dem Stand der Dinge entsprechen. Mag sein, dass der Verlag just deshalb auch meist auf Angaben zu Eintrittspreisen verzichtet hat, die morgen schon gestiegen sein können. Bei einem vergleichsweise teuren Zoo wie dem Gelsenkirchener „Zoom“ hätte man sich freilich einen diskreten kleinen Hinweis gewünscht…

Nützlich wären auch nähere Angaben zu den Altersstufen gewesen, die mit den Angeboten angepeilt werden. Doch wer sich halbwegs in sein(e) Kind(er) hineinversetzen kann, wird auch in diesem Punkt selten fehlgehen. Andernfalls müssen’s halt der Besuch des nächsten Spielplatzes und ein leckeres Eis ausgleichen.

Kinderreiseführer Ruhrgebiet. Abenteuer, Zeitreisen und Experimente. Klartext Verlag, Essen. 112 Seiten, Broschur, durchgehend farbige Abb. 9,95 €




Sensation: Ein Boulevardjournalist ruft bei mir an!

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle einen Nachruf auf eine Kollegin veröffentlicht. Ein Umstand, den ich damals bewusst nicht zur Sprache gebracht habe, weil er absolut nichts mit ihren Verdiensten zu tun hatte: Die Frau war offenbar nicht eines natürlichen Todes gestorben.

Müßig zu sagen, dass jenes monströse Boulevardblatt das Delikt alsbald grell herausschrie.

Nun steht in Dortmund der mutmaßliche Mörder vor Gericht – und prompt bekam ich heute den Anruf einer hier ansässigen privaten TV-Produktionsfirma, die in diesem Falle fürs ZDF arbeitet. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass es sich ums nachmittägliche Boulevardmagazin „Hallo Deutschland“ handelt. Das Zeug habe ich noch nie gesehen, kann mir aber Machart und Duktus lebhaft vorstellen, da ich das Pendant in der ARD mal goutieren musste.

Im kumpelhaften, augenzwinkernd Einverständnis voraussetzenden Tonfall ließ der Anrufer durchblicken, die von ihm zu beliefernde Sendung interessiere sich nicht gerade für die Bayreuther Festspiele, wohl aber für Tötungsdelikte. „Da schauen wir natürlich hin.“ Natürlich.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Der kriegt keine Information und erst recht kein Statement von mir. Aber ich will doch mal hören, wie er vorgeht…

Seinen Tonfall kenne ich genau, im Laufe des Berufslebens trifft man ein paar Exemplare dieser Sorte; selbst dann, wenn man sich auf Kulturthemen verlegt. Solche Journalisten (die Berufsbezeichnung ist leider nicht gesetzlich geschützt) liegen fortwährend auf der Lauer, sie umschleichen einen mit hinterhältigen Fragen, sie wollen dir um jeden Preis eine „Geschichte“ abluchsen. Manche würden für eine steile Story ihre Großmutter verkaufen. Hilfsweise würde ich mal von Raubtierjournalismus reden, ohne Tiger ins Zwielicht ziehen zu wollen.

Offenbar hat der Mann, den „Kollege“ zu nennen ich mich scheue, sich einiges von mir erhofft. Ich hätte die Verstorbene doch viele Jahre lang dienstlich gekannt. Da wüsste ich doch wohl auch, auf welche Weise sie den Herrn Dr. B. (den mutmaßlichen Täter) kennen gelernt habe. Ob das Gerücht denn stimme, dass…

Oh, wie musste ich ihn enttäuschen. Den Namen mit B habe ich jetzt gerade von ihm erstmals gehört, und zwar im Klartext, nicht nur als Abkürzung. Als ich ihm das sage, hört man geradezu seine Kinnlade klappen. Er hat mir etwas verraten, erfährt aber im Gegenzug rein gar nichts von mir. So ein Pech.

Bis dahin hat er mit sonorer Stimme joviale Verbindlichkeit und Entgegenkommen signalisiert, nun merkt man, wie’s plötzlich pressiert, andernorts auf dieselbe Tour anzurufen. Wünsche dabei fröhliches Scheitern!

P. S.:
Mit einem Statement im Fernsehen habe ich mal ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht. Vor etlichen Jahren war ich auf Jamaika, als dort ein Hurrikan ausbrach. Unser Flugzeug war das erste, das hernach wieder nach Deutschland zurückkehrte. Ein RTL-Kamerateam stürzte sich in Düsseldorf auf die Passagiere, so auch auf mich. Die paar Sätze, die ich gesagt habe, wurden durch Schnitt und Montage völlig sinnverdreht. Unvergessen der Moment, in dem der RTL-Reporter mich erregt fragte „Haben Sie Tote gesehen?“ und just in dem Augenblick heftig auf meine Augenpartie gezoomt wurde. Man hoffte auf mein Entsetzen und wollte es mir als Schauwert entreißen.




Meilensteine der Popmusik (14): Aretha Franklin

„Ein Song muss davon handeln, was man selbst erlebt hat oder auch noch erleben könnte. Nur dann ist er gut. Wenn mir etwas fremd ist, dann kann ich gar nichts hineinlegen, denn Soul bedeutet ja Leben – Leben, wie es wirklich ist“. Aretha Franklin sagte es mit ganz schlichten Worten.

Das wirkliche Leben hat natürlich noch viele andere Gesichter. Der reiche Farmbesitzer aus den Südstaaten sah es anders als seine schwarzen Baumwollpflücker mit einem 14-Stunden-Tag. Die Villa im kalifornischen Malibu mit Meerblick bietet eine andere Aussicht als das Ghetto am Rande von Detroit-City. Dort wuchs sie auf, die kleine Aretha mit ihren vier Geschwistern, und gehörte schon zu den Privilegierten. Papa war nämlich C. L. Franklin, ein überregional bekannter Prediger mit einem berühmten Gospel-Chor. Töchterchen Aretha durfte schon früh mitmachen, und erfuhr so, wie man sich das  Leben als Schwarzer vorzustellen hat: fromm und gottesfürchtig. Dass sich bei der Gospelmusik besonders bei jüngeren Leuten auch andere Gefühle regen, davon wollten konservative Baptisten allerdings nichts wissen. Kirchenmusik zum Lob Gottes und nicht für Hitparaden und Tanzschuppen.

Der weißen Musik-Mafia war das gerade recht. Sie hatte sich schon jahrzehntelang bei schwarzer Musik bedient. Dixie, Swing, Rhythm & Blues – alles wurde abgeguckt, glattgebügelt, und mit weißen Topstars wurde aus der „Negermusik“ der eine oder andere Tagesschlager. Doch spätestens seit James Dean und Elvis der weißen Jugend klipp und klar gezeigt hatten, wo’s lang geht, brodelte es auch unter den jungen Schwarzen. Einige von ihnen, die es unter großen Schwierigkeiten versucht hatten in die fast ausschließlich weiße Musikwelt einzudringen, gingen bei den Franklins ein und aus: Sam Cook und Mahalia Jackson zum Beispiel. Sie machten der 18-jährigen Aretha Franklin Mut und schufen die Verbindung zu einer Plattenfirma.

Dort saß schon damals so etwas wie eine graue Eminenz: John Hammond. In einer langen Karriere war er Entdecker von Billy Holliday, Bob Dylan, oder auch später von Bruce Springsteen. Mit Aretha Franklin sollte Mr. Hammond nicht so viel Glück haben. Denn ihre Produzenten zwängten sie in ein süßliches Big-Band-Kostüm. Nichts für die schwarze Seele, die gewohnt war, mit ihren vier Oktaven mal kernig aufzuschreien. Das erlaubten sich zwischenzeitlich schon andere Kollegen wie Otis Redding, Wilson Pickett, oder auch James Brown; so intensiv und auch aggressiv, dass die Seele anfing zu kochen, und den Weißen Angst und Bange wurde.

Atlantic hieß die größte Plattenfirma, die den Mut hatte, all´ das rauszulassen, was Schwarze wirklich fühlten. Dort bekam Aretha Franklin nun auch eine Chance. In einem Studio in Manhattan setzte man sie an ein Klavier und sagte: „Mädchen, nun sing mal wie damals in der Kirche“. ‚I never loved a man‘, so hießen LP und Single, und machten Aretha Franklin auf einen Schlag zur ‚Queen of Soul. Obwohl viele Sängerinnen diesen oder ähnliche Titel immer mal wieder für sich beanspruchten, nur Aretha Franklin ist es für viele bis auf den heutigen Tag geblieben. Zurückzuführen sicherlich auch auf ihren größten Hit, den Otis Redding für sie schrieb. In zweieinhalb Minuten gab sie der farbigen Jugend Amerikas das zurück, auf was die meisten ihrer Vorfahren verzichten mussten: Selbstwertgefühl, Anerkennung, Menschenwürde und Stolz – ein Leben mit Soul und ‚Respect‘.

ARETHA FRANKLIN on Dailymotion

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Die bisherigen „Meilensteine“:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13)

 




Der Blick auf diese ganz anderen Wesen – Künstlerische Tierfotografie in Recklinghausen

Wie bitte? Tierfotografie? Daran versucht sich doch fast jeder Amateur mit wechselndem Geschick. Kann man denn auf diesem Gebiet künstlerische Qualität oder gar Dignität erlangen, die womöglich entschieden übers Dokumentarische hinaus weist?

Aber ja! Das Sujet gibt jedenfalls alle Höhen und Tiefen her. Es hat doch alle Kunstausübung vermutlich mit jenen Tierdarstellungen in Höhlenzeichnungen begonnen und sich seither – auch zwischen den berühmten Hasen von Dürer und Beuys – überreich entfaltet. Immer wieder hat sich der Mensch im animalischen Gegenüber selbst befragt.

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Die Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt eine Auswahl höchst ambitionierter Tierfotografien. Sie stammen überwiegend von Künstlerinnen und Künstlern, die zuvor mit Malerei, Bildhauerei oder Installation befasst waren. Wie man schon ahnen konnte: Viele Wege und Techniken führen zum Tierbild. Der alberne Ausstellungtitel „Für Hund und Katz ist auch noch Platz“ lockt allerdings deutlich unter dem Niveau der präsentierten Arbeiten.

Denn natürlich finden sich Tiere hier nicht als niedliche oder liebliche Wesen abgelichtet. Ein Generalbass der Ausstellung betrifft die Herrschaftsausübung des Menschen, der die Tierwelt unterjocht, die Geschöpfe mitunter monströs zurichtet und nach Belieben tötet.

Da sieht man Tiere als verstörte und verstörende Fremdlinge in der entseelten Zivilisation (Marc Cellier), als Versatzstücke in agrarindustriellen Landschaften (Heinrich Riebesehl), in Todesstarre mit weit aufgerissenen Augen (Oleg Kuliks schockhafte Affenbilder), als elendiglich verzüchtete Horrorexemplare (Mona Mönnigs Nacktkatze und andere Irrwesen) oder als Opfer verheerender Umweltschäden: Inge Rambow hat einen erblindeten Albinohirsch fotografiert, der zwischen chemisch verseuchten Deponie-Tümpeln der einstigen DDR (Buna-Werke bei Schkopau) zu Tode erkrankt ist. Sein leerer Blick und seine hilflose Verrenkung geraten zum Inbild leidender Kreatur.

Doch es gibt auch etliche Künstler, die sich nicht in Empathie ergehen, sondern in erster Linie auf Formensprache zielen. So setzt Johannes Brus fotochemische Prozesse in Gang, die seine Tierbilder nach und nach farblich verwandeln und schließlich vielleicht ganz verschwinden lassen. Walter Schels hat Hund, Gans, Eule und Schaf in langwierigen „Model“-Sitzungen so aufgenommen, als seien sie etwa pikierte, eitle oder herrschsüchtige Individuen. Nicht die übliche Art der Vermenschlichung ist dies, sondern eine, die durchaus frappiert.

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Das Federkleid von hinten aufgenommener Wildvögel (Roni Horn) erscheint als samtige Struktur mit Tendenz zur Ungegenständlichkeit. Diese Fotos werden jeweils als Diptychen gezeigt, so dass man gezwungen ist, auf feinste Detailunterschiede zwischen beiden Hälften zu achten.

Vermeintliche abstrakte Strukturen können allerdings auch just fragwürdige Verhältnisse bloßlegen, wie Andreas Gefellers Luftbildsicht auf Massentierzucht bei näherem Hinsehen beweist. Das Ornament, das man da sieht, besteht aus Tausenden von Hühnern, die sich um Futtertröge scharen.

William Wegmann gruppiert seine Hunde für die Kamera so, dass sie – von oben betrachtet – gemeinsam die Zeichen des Alphabets, Ziffern oder Satzzeichen bilden. Beinahe so, als könnten die Tiere mit ihren Körpern schreiben. Dass sie ein menschliches Zeichensystem formen, ist einigermaßen absurd und lässt breiten Spielraum für Deutungsversuche.

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), "Letter A", 1993, 32x29

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), „Letter A“, 1993, 32×29

Die etwa 200 Exponate stammen aus dem prallen Fundus der DZ Bank (Frankfurt/Main), die quasi als Zentralinstitut der Volksbanken fungiert. Dort also hat man eine Sammlung mit inzwischen über 6500 fotografischen Arbeiten von rund 600 Künstlern angelegt.

In Zeiten, da so manche Privatsammlung durch öffentlich finanzierte Ausstellungen nobilitiert wird und somit im Wert steigt, legt Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich Wert auf die Feststellung, dass er und sein Stellvertreter Hans Jürgen Schwalm die unstrittige Hoheit bei Auswahl und Hängung hatten. Wir haben ja auch nichts anderes erwartet.

„Für Hund und Katz ist auch noch Platz“. Tierfotografien aus der DZ Bank Kunstsammlung. Bis 24. September in der Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr.




Die anderen siegen, ohne zu singen, wir siegen nicht, weil wir nicht singen

Ich hab’s, diverse Politiker haben’s auch, die BILD hat’s und wer hat’s übersehen? WIR konnten ja gar nicht den Titel des Europameisters gewinnen, weil WIR nicht richtig singen können – oder wollen – oder ethnisch so wenig vaterländisch sein mögen, dass WIR zwar Fußball spielen für UNS, also Schland, aber die vaterländische Tradition des kollektiven Chorgesanges nicht mittels Muttermilch in uns aufgenommen haben.

Wutentbrannt stürzten sich bereits vor der schmählichen Niederlage gegen Italien diverse User ganz ohne  Netikette auf Özil, Klose, Kedhira oder Podolski, weil deren Lippen unbewegt blieben, während eine ganze Nation bewegend die Brust schwellen ließ und das weinerliche Singdings vom Inselfelsen Helgoland in jedes sich bietende Wohnzimmer bzw. über jeden sich bietenden Rudelguck-Platz jodelte. Deutschland sucht den Superstar der Hymnen, Schlandlied walle wehrhaft, elf Sänger sollt Ihr sein.

Hingegen intonierten die schwarmintelligenten Mitglieder der Squadra Azzura gläubig ein donnerndes „Italia, Italia“ übers Feld und – gewannen, zumindest gegen die fortgesetzt böswilligen Verschmäher deutschen Hymnengutes.

Also, wir haben’s: Es war nicht die Unfähigkeit eines Trainers, modernen Fußball als siegbringendes Heilmittel zu erkennen, es war nicht die Unfähigkeit vieler Spieler, schnelles, zielgerichtetes Bewegen in Richtung gegnerisches Tor bzw. in Richtung ballführende Spieler als siegbringendes Mittel zu erkennen, es war nicht die seit Jahren siechend humpelnde Fußball-Philosophie in den Vereinen der Republik (einen nehme ich natürlich aus, den großartigen Deutschen Meister), die wieder einmal eine iberische Mannschaft ins Ziel brachte und nicht uns, die wir ja eigentlich dahin gehören. Nein, es war der eklatante Mangel an sängerischer Inbrunst, erzeugt von ganz sicher zu starker germanischer Nichtherkunft einiger Balltreter.

Nun denken (tun die das?) Politiker darüber nach, Singpflicht einzuführen. Damit WIR wieder singend ans Siegen kommen. So einfach kann Fußball sein: Viel Singen, wenig Rennen!

Übrigens, wie machen diese noch viel schwarmintelligenteren Spanier das bloß? Die singen nie. Können sie auch schlecht, weil ihre Ahnen es versäumten, der auch nicht sonderlich anregenden Hymne einen gescheiten Text zu verpassen – so etwa „Spanien, Spanien über alles …“, was in Sachen Fußball ja so weit von der Realität derzeit nicht entfernt wäre. Sie singen nie, sie siegen ständig – das geht doch nicht zusammen, kann den gesangsfördernden Politikern das mal jemand erklären?

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)




Absurditäten des Alltags: Alpträume in Rosé

Was geschieht eigentlich mit Frauen in der Nacht? Während es bei Männern die Legende des Werwolfs gibt und damit das Bild des haarigen, hungrigen, gewalttätigen Biestes (was natürlich auf der Klischeepunkteskala auch nicht besser wegkommt), scheinen sich Frauen des Nachts in pinkfarbene Gefälligkeitskindchen zu verwandeln.

Das ist zumindest der Eindruck, der sich mir aufgedrängt hat, als ich jüngst nach einem Nachthemd oder irgendeiner für die Nacht geeigneten Bekleidung suchte: Pink, hellrosa  oder babyblau waren die scheußlichen, dominierenden Farben der Textilien, auf denen sich außerdem wahlweise „süße“ Comictierchen (Bären, Hunde, Katzen) oder kecke Sprüche räkelten. Das tut mir nicht nur in den Augen weh. Das greift tatsächlich auch mein Selbstbild als Frau an.

Unterstellt die Nachtwäsche produzierende Industrie in Verkennung der eigentlichen Realität nur, was Frau sich wünscht? Oder gibt es tatsächlich (haha) eine dunkle Mehrheit, die sich in den unbeobachteten Stunden des Schlafes in einen Zustand der prinzessinnenhaften Kindheit träumt, die sich sanft, anschmiegsam, puschelig und rosawolkig präsentieren will? Da sträuben sich mir alle Nackenhaare.

Gut, ich weiß aus Gesprächen mit Freundinnen, dass die die Suche nach würdiger Wäsche längst aufgegeben und sich in die „Ich trage einfach die alten Shirts von meinem Liebsten“-Haltung geflüchtet haben. Das aber kann doch neben dem unbekleideten Schlafen nicht ernsthaft die einzige Alternative zu dieser „textilen Diskriminierung“ sein.

Liebe Nachtwäsche-Industrie – könnt auch Ihr einmal in der Gegenwart ankommen? Und sei es nur, damit ich nicht, beim Anblick meines eigenen Nachthemdes, von Alpträumen geplagt werde, in denen Snoopy & Co. versuchen, mich mit rosafarbenen Wattebäuschen zu ersticken.