Sterben und sterben lassen

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die CDU/CSU streiten sich. Das ist nicht grundsätzlich neu. Diesmal aber geht es um Leben und Tod.

Die Justizministerin hat in den vergangenen Tagen einen Gesetzentwurf zum Verbot gewerblicher Sterbehilfe vorgelegt, der bei der Katholischen Kirche und den C-Parteien Protest auslöst. Die Liberale möchte zwar das Geschäft mit dem Tod, das zum Beispiel der Schweizer Verein Dignitas betreibt, unterbinden. Die private Hilfe zum Suizid etwa unter Angehörigen oder nahen Freunden soll aber straffrei bleiben. Bei der nun aufziehenden Diskussion wird es hoch hergehen und vor allem kunterbunt durcheinander.

Verschiedene Szenarien werden um die Gunst des Publikums konkurrieren. Da ist zunächst der Fall der Bettina Koch, die durch einen Unfall ab dem Hals gelähmt war und trotzdem unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper spürte. Sie konnte klar artikulieren, dass sie sterben wollte. Ärzte konnten ihr keine dauerhafte Linderung ihrer Qual versprechen. Ihr Mann musste sie mühsam in die Schweiz transportieren, damit sie dort das lebensbeendende Präparat verabreicht bekam. Diese grausige Reise soll nun vermieden werden. Der Ehemann der Bettina Koch würde sich, würde das Gesetz der FDP-Ministerin verabschiedet, nicht strafbar machen, wenn er die Tablette seiner Frau in den Mund legen würde.

Neben den üblichen Verdächtigen, die fast jede Art von Eingriff in Lebensabläufe verdammen, sei es Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch oder in diesem Fall eben Sterbehilfe, werden sich aber auch sehr aufgeklärte Menschen zu Wort melden. Was ist mit denjenigen, die sich nicht klar artikulieren können? Wird der Euthanasie Tür und Tor geöffnet? Mitleid wird hier schnell zur tödlichen Falle. Ob das Leben eines Komapatienten lebenswert ist, wird gern von außen beurteilt. Nur, stimmt dieses Urteil mit den inneren Welten des Patienten überein? Viele Menschen, die dem Tod schon nahe waren, verneinen dies. Koma kann anscheinend nicht nur für jugendliche Alkoholkonsumenten ein erquicklicher Zustand sein. Aber Angehörige möchten gern ihr eigenes Leiden, das sie als Zuschauer empfinden, schnell beenden und verwechseln ihre Gefühle mit denen ihrer Angehörigen. Auch geistig schwerbehinderte Menschen, psychisch kranke Menschen, Straftäter, demente Menschen, ihnen allen wird im Rahmen von Sterbehilfediskussionen an Stammtischen gern das Recht auf Leben abgesprochen.

Und deshalb ist bei dieser Diskussion ein schmerzhafter Blick in unsere Vergangenheit unumgänglich. Die Stammtische waren hierzulande mal in Regierungsverantwortung und beendeten mit ihrer menschenverachtenden Logik Millionen von angeblich unwerten Leben. Wer die Gleise von den Gaskammern zu den Öfen in der Tötungsanstalt im hessischen Hadamar, die nun eine Gedenkstätte sind, gesehen hat, auch die Fotos aus dem Jahr 1941, als gelber Rauch aus dem hohen Schornstein weit sichtbar über das beschauliche Städtchen zog, der wird die Diskussion um Sterbehilfe nicht nur akademisch führen können.

Aber trotzdem ist diese Diskussion so wichtig. In den Niederlanden, in Belgien und in der Schweiz sind die historisch begründeten Empfindsamkeiten verständlicherweise nicht so ausgeprägt. Vielleicht können wir voneinander lernen. Der Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium, das ist an dieser Stelle wichtig zu sagen, hat überhaupt nichts mit Euthanasie zu tun.




Selbstbestimmte Erdbeeren: Meine erste dOCUMENTA

Weltgeschichte auf Schilfgras: Für den "Zeitstrahl" von Geoffrey Farmer bilden sich auf der dOCUMENTA Warteschlangen (Copyright: Anders Sune Berg)

Spottet nur, ihr Daheimgebliebenen. Fragt ruhig ironisch, ob schon ein paar selbstbestimmte Erdbeeren oder herrschaftsfreie Hunde aufgetaucht seien, die von der dOCUMENTA-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev als Beispiele für einen Themenschwerpunkt der diesjährigen Ausstellung genannt wurden – was prompt einen kleinen Medienwirbel verursachte. Eure Häme kümmert mich nicht. Mich treibt das dringende Bedürfnis nach intellektueller Herausforderung nach Kassel.

Den vorgefertigten Meinungen vieler Medien, die ihre Leser zunehmend für dumm verkaufen, will ich mich lustvoll widersetzen. Ich will mich Neuem öffnen, und wenn dies dazu gehört, gerne auch ratlos vor Installationen stehen, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt. Ich will mich wehren gegen das feiste Grinsen, mit denen die Feinde von Kunst und Kultur auf die Fettecke von Joseph Beuys deuten, um dann mit perfider Grobheit zu fragen: „Is dat Kunst, oder kann dat wech…?“

Ganz alleine scheine ich mit solchen Wünschen nicht zu stehen. Bereits zur Halbzeit konnte die dOCUMENTA (13), diese 100 Tage währende Weltausstellung der Kunst, einen Besucherrekord vermelden. Genaue Zahlen sollen erst zum Abschluss am 16. September verraten werden. Indes wurde bekannt, dass die Verantwortlichen mit rund 750.000 Kunsthungrigen rechnen.

An diesem ersten Samstag im August, der sich trefflich auch im Freibad oder im heimischen Garten verbringen ließe, schwärmen die Menschen vom gesichtslosen Areal rund um den Hauptbahnhof aus in die Stadt. Bald schon bewege ich mich im Kielwasser kleiner Gruppen. Im Laufe des Tages wird der Besucherstrom anschwellen, wird mich zum Hugenottenhaus, zum Brüder Grimm Museum, zur Neuen Galerie, in die Karlsaue, zur barocken Orangerie, zur Documenta-Halle, zum Fridericianum und zum Hauptbahnhof führen. Er wird mich treppauf und treppab laufen lassen, das Verlangen nach Essen und Trinken auf später verschiebend, weil das Angebot bei 300 Künstlern so verlockend groß und vielfältig ist, mein Besuch aber leider auf diesen einen Tag beschränkt.

Neugierde, Spannung, aber auch einige Zweifel begleiten die erste Kontaktaufnahme. Wie werden wir miteinander zurechtkommen, die zeitgenössische Kunst und ich? Die erste Tuchfühlung erfolgt im Hugenottenhaus, einem kleineren Veranstaltungsort der diesjährigen dOCUMENTA. Das historische Gebäude zeigt sich von einer gewöhnungsbedürftigen Seite, befindet es sich doch in einem stark fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Leitungen liegen frei, vergilbte Tapeten schälen sich von den Wänden. Große Löcher in Decke und Wänden legen Schichten aus Stroh, Lehm und alten Balken frei, die dem Blick sonst verborgen bleiben. Das Haus zeigt seine Eingeweide her. Aber es gibt hier mehr zu sehen als Spuren vergangenen Lebens. Der 1973 in Chicago geborene Theaster Gates hat das Gebäude mit einer Gruppe von Auszubildenden aus Kassel und Chicago in Besitz genommen. Sie haben primitive Möbel geschreinert, eine Küche eingerichtet, in einem Freiraum neben der Diele sogar eine große Hollywoodschaukel aufgehängt. Die Schlafzimmer sind für Besucher nicht begehbar, stehen ihren Blicken aber offen. Wie kann man leben in dieser „sozialen Skulptur“, wie die Künstler diese Begegnungsstätte nennen? Gibt es eine Ästhetik des Schäbigen? Wo mögen sich die Künstler und Künstlerinnen tagsüber aufhalten? Der Zufall will es, dass eine von ihnen gerade auf ihrem Bett sitzt. Sie kehrt den Besuchern den Rücken zu, wird aber trotzdem fotografiert, als sei sie ein seltenes Tier in einem Zoo.

Schlafstatt und Ausstellungsraum: Theaster Gates und eine Gruppe von Auszubildenden machten aus dem Hugenottenhaus eine "soziale Skulptur" (Copyright: Nils Klinger)

Kurz darauf tappe ich ins Dunkel. Der Raum, in dem eine Performance des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal stattfinden soll, ist aber nur auf den ersten Blick stockfinster. Wer vorsichtig voran geht, bemerkt bald einen schwachen Schein von einer indirekten Deckenbeleuchtung, die ein Minimum an Sicht erlaubt. Staunend und langsam bewegen sich Menschen durch diesen Raum, der von einem leisen Summton erfüllt ist. Er stammt unverkennbar aus menschlichen Kehlen. Sind es vielleicht die anderen Besucher, die hier leise vor sich hin summen? Oder vielmehr: Sind die Menschen um mich herum denn überhaupt Besucher? Kaum taucht der Gedanke auf, da bricht auch schon die Hölle los: Die vermeintlichen „Besucher“ beginnen laut zu singen und rhythmische Texte zu skandieren. Dazu tanzen sie im Dunkeln nach einer ausgefeilte Choreographie. Plötzlich wälzt sich ein Tänzer auf dem Boden. Die anderen stampfen und toben rhythmisch durch den Raum. Ich fürchte eine Kollision, werde aber nicht einmal gestreift. Ein Sprecher sinniert verwundert über die existenzielle Unzufriedenheit vieler wohlhabender Menschen in den westlichen Gesellschaften. Und plötzlich ist der Spuk vorbei. Die Tänzer schwanken leise wie Rohre im Wind. Nichts bleibt als das Dunkel und der geheimnisvolle Summton.

Verzaubert kehre ich zurück ins Tageslicht. Wie Atréju aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ habe ich ein Orakel besucht, einer geheimnisvollen Stimme gelauscht und eine Botschaft empfangen, die ich nur halb verstehe. Ich fühle mich zurückversetzt in Kindheitstage, erinnere mich an aufregende Spiele im dunklen Flur des Kellers, die zur Abendzeit nur durch ein Machtwort der Erwachsenen beendet werden konnten. Um einen Kindheitstraum dreht sich auch die Ausstellung „Knights (and other dreams)“ im Brüder Grimm Museum. Dort beleuchtet der Bulgare Nedko Solakov seine kindliche Faszination für Ritter von denkbar vielen Seiten. Das ist erwartungsgemäß verspielt und auch hübsch anzusehen. Gleichwohl resümiert der Künstler hellsichtig: „Ich hätte sie in meinem Kopf behalten sollen, diese Träume. Dort hätten sie wohl glücklich bis an das Ende ihrer Tage gelebt. Vielleicht.“

Ein erster Höhepunkt ist die Neue Galerie. Hier bewundere ich die teils fragilen, teils kraftvoll-bewegten Bronzeskulpturen von Maria Martins und die fröhliche Farbintensität der Bilder von Gordon Bennett, die Muster und Zitate aus der Kunst der australischen Ureinwohner (Aborigines) aufgreift. Eine leuchtend bunte Jukebox hat die US-amerikanische Künstlerin Susan Hiller aufgestellt: In 100 verschiedenen Sprachen und Varianten bietet sie das Lied „Die Gedanken sind frei“ zur Auswahl an. Die dazugehörigen Texte zieren die Wände bis unter die Decke. Eine lange Warteschlange bildet sich im zweiten Stock vor dem spektakulären „Zeitstrahl“ des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer. Es handelt sich dabei um eine 44 Meter lange Collage aus Ausschnitten des amerikanischen „Life“ Magazins, die von 90 Mitarbeitern in filigranster Arbeit ausgeschnitten und auf Schilfgras geklebt wurden. Bilder von Figuren, Menschen und Gegenständen, 50 Jahrgängen des Heftes entnommen, erzählen die Geschichte der Jahre 1935 – 1985 auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Skulpturen von Maria Martins sind in der Neuen Galerie zu sehen (Copyright: Anders Sune Berg)

Nur selten stehe ich an diesem Tag vollkommen ratlos vor einem Kunstwerk. Sogar das auf den ersten Blick Lächerliche ergibt bei näherer Betrachtung Sinn, lädt ein zum Nachdenken über die Vergangenheit oder über den Alltag in fernen Kulturen. Zum Beispiel gibt die 1949 in Zagreb geborene Sanja Ivekovic einer Sammlung von Stoff-Eseln in einer Glasvitrine den Titel „The Disobedient“ (Die Ungehorsamen). Namensschilder weisen die Plüschtierchen als berühmte Personen der Zeitgeschichte aus: Rosa Luxemburg, Martin Luther King und die Geschwister Scholl sind hier versammelt. Ein historisches Foto aus Kassel im Jahre 1944 bildet den Schlüssel zu dieser vermeintlich niedlich-belanglosen Installation: Es zeigt einen Esel, den die Nationalsozialisten in der Stadtmitte von Kassel in Stacheldraht eingezäunt haben, verbunden mit einer Warntafel, dies sei „ein KZ für alle widerspenstigen Staatsbürger“, die nach wie vor bei Juden kauften. Die zwei toten Fliegen, die der thailändische Künstler Pratchaya Pinthong in einer Vitrine ausstellt, verweisen auf den erbitterten Kampf, den die Menschen in seiner Heimat gegen die Tsetsefliege und die von ihr übertragene tückische Schlafkrankheit führen.

Kühne und zugleich kühle Visionen von Technik und Fortschritt beherrschen die große Documenta-Halle. Der deutsche Künstler Thomas Bayrle zeigt dort ein acht Meter hohes und über 13 Meter breites Schwarz-Weiß-Bild eines Flugzeugs, das aus unzähligen kleinen Flugzeug-Bildern zusammengesetzt ist. Am Eingang steht die „Monstranz“, ein feingliedriger Sternmotor, der einst ein tschechisches Saatflugzeug antrieb. Er ist längs durchgeschnitten, sein Inneres ist bloßgelegt, zusammen mit Lautsprechern ist er auf einen stählernen Fuß montiert. Die Maschine läuft, wenn das Stromkabel angeschlossen ist: Gleich wird ihr gleichförmig arbeitender Originalton mit einer vielkehligen Rosenkranzandacht aus dem Kölner Dom zusammenklingen. Der Motor „betet“.

Technik als Religion: Arbeiten von Thomas Bayrle in der Documenta-Halle (Copyright: Anders Sune Berg)

Vermutlich in dem Versuch, möglichst viele Orte in die dOCUMENTA einzubeziehen, werden die Künstler in der Orangerie in der Karlsaue recht lieblos präsentiert. Ihre Arbeiten drücken sich schamhaft in eine Ecke, werden von den ständigen Exponaten nachgerade erschlagen. Die Weiten der Karlsaue zu durchmessen, ist an diesem einen Tag natürlich ganz unmöglich. So entgeht mir der Hundespielplatz für vierbeinige Documenta-Besucher. Die Hunde, die ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme, sind erkennbar nicht „herrschaftsfrei“. Auch die glücklichen Himbeeren und Tomaten an einem „Fair Trade“-Stand machen keinen sonderlich politischen oder selbstbestimmten Eindruck. Was im Vorfeld so viel Anlass zum Spott gab, kann andererseits als der durchaus ehrbare Versuch gesehen werden, von einem Weltbild abzurücken, das den Menschen als Maß aller Dinge sieht.

Nach neun Stunden dOCUMENTA bin ich müde, glücklich, voller neuer Eindrücke. Ein Versäumnis fällt mir auf der Heimfahrt plötzlich doch noch ein: Ich habe Hitlers Badewanne nicht gesehen! Diese wurde von der Fotografin Lee Miller aufgenommen, die im April 1945 als Kriegsberichterstatterin mit den amerikanischen Truppen in München eingezogen war und einige Tage in Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz wohnte. Am Tag seines Selbstmords badete sie dort. Nun ja, es muss ja nicht immer Hitler sein. Und was die dOCUMENTA betrifft: In fünf Jahren treffen wir uns bestimmt wieder. Ganz selbstbestimmt und herrschaftsfrei.




Auf dem Berg der Wahrheit – Ein Spaziergang auf den Spuren von Hermann Hesse

Eigentlich ist er nur ein Hügel und sein richtiger Name ist Monte Monescia, doch das weiß heute kaum einer mehr. Weithin ist er als Monte Verità bekannt, als Berg der Wahrheit, ein legendenumwobener Hügel, über den Villendächern des einstigen Fischerdorfes Ascona im schweizerischen Kanton Tessin thronend.
Blick auf den Lago Maggiore

 

 

 

 

Anfang des 20 Jahrhunderts sammelten sich auf diesem Berg reformbeseelte Künstler, Pazifisten und Gründer der sogenannten Alternativbewegung. Schon früh – 1907 – fand auch Hermann Hesse den Weg auf den Monte Verita. Bis heute unbestätigten Gerüchten zufolge soll er sich dort von seinen Alkoholproblemen entzogen haben. Schnell zeigte er sich inspiriert von der dortigen Künstlerkolonie, die in gewissem Maße das Hippieleben der 60erJahre vorwegnahm. Man lebte spartanisch in Hütten oder einfachen Steinhäusern, aus dem Granit der Tessiner Berge gebaut.

 

 

 

 

 

Besonders dem Propheten Gusto Gräser, einem langhaarigen bärtigen, stets in eine Tunika gewandetem Mann, schloss sich Hesse an. Gräser lebte zeitweilig in einer Höhle, seiner Waldgartenwelt nahe des Dorfes Arcegno im Tal hinter dem Monte Verita. Unklar ist, ob Hesse ihn dort nur besuchte oder auch mit ihm in dieser Höhle lebte.

So könnte sie ausgesehen haben, die Höhle von Gräser

Zu Arcegno behielt Hesse eine enge Bindung, die über seinen Tod hinaus wirkte. Bis heute leben dort die Nachlaßverwalter seines literarischen Werkes. Sein ältester Sohn Heiner, 2003 verstorben und heute sein Enkel Silver. Arcegno gilt dem Wanderer im Tessin als Ausgangspunkt für die „Suche nach dem Schluss vom Ende der Welt“ und ist auch der einzige Ort aus dieser Gegend, dem Hesse ein explizites Werk widmete, in dem es aufschlussreich heisst:
„Hier ist mein heiliges Land,
hier bin ich hundertmal
Den stillen Weg der Einkehr in mich selbst
Im Sinnbild einsamen Geklüfts gegangen.“*

Auf den Spuren von Hermann Hesse auf dem Monte VeritaHermann Hesse verbrachte einen Großteil seines Lebens im Tessin, er wählte den bei Lugano gelegenen Ort Montagnola als sein eremitisches Ziel. Immer wieder jedoch kehrte er an den Monte Verità und nach Ascona zurück. Auffällig ist, dass der Monte Verità viele Künstler anzog und inspirierte, doch ihre bekanntesten Werke entstanden allesamt woanders. Eine bleibende, typische Kunst des Monte Verità gab und gibt es nicht. Dennoch finden sich viele Ansätze, die eine Interpretation zulassen, dass sich der Geist dieses sonderbaren Ortes in etlichen von Hesses Werken wiederfindet. So die Erzählung in den Felsen bei der man sofort an die besagte Höhle denken muss.

Informiert man sich über Gusto Gräser, den Mitbegründer des Monte Verita Projekts denkt man unwillkürlich an den Propheten Eduard van Vlissen aus dem Weltverbesserer. Ziemlich sicher spielt Demian, das frühe Hauptwerk Hesses, auf dem Monte Verità und die Vermutung liegt nahe, dass Gräser sich auch in der Figur des Max Demian widerspiegelt. Gräsers stets und ständig gepredigtes Credo war „Sei Du selbst“ – und im Demian heisst es als Quintessenz „Wir empfanden einzig dies als Pflicht und Schicksal: dass jeder von uns ganz er selbst werde.“ Schlussendlich aber war der Geist des Monte Verità ihm wohl auch eine Warnung und liess ihn zu einem Gegner jeder absoluten Menschheitsbeglücker-Theorie werden. Deren Heilsversprecher nannte er in späteren Werken gerne barfüßige Propheten, Kohlrabi-Apostel oder Körndlfresser, wie in der Erzählung Dr. Knölges Ende.

Und heute? Heute ist der Monte Verità eine Art Gemischtwaren-Angebot aus der reichen Palette esoterischer Lehren. Man kann anthroposophisch geprägte Regenbogenwege gehen und fernöstlichen Zeremonien beiwohnen. Für dezente 38 Schweizer Franken kann man eine japanische Tee-Zeremonie erleben und dabei Tee verkosten, der tatsächlich im hügeligen Mikroklima auf einer kleinen Teeplantage angebaut wird.

antroposophisch inspiriertAngebaut wird grüner TeeGive Peace a chance. Oder so.

Die Betreiber des Monte Verita sind mächtig stolz auf das Bauhaus-Haus, aber man darf ruhig der Meinung sein: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.Man kleidet sich als Besucher des Monte Verità gerne hell, licht und luftig, wandelt entrückt auf den Wegen, ganz in sich selbst versunken, sorgsam darauf bedacht, niemanden zu grüßen – wie sonst auf Spazierwegen in der freundlichen Schweiz üblich. Da wirkt das in den vierziger Jahren auf den Hügel geklotzte Hotel im Bauhaus-Stil – an sich nicht gerade ein Prunkstück der Bauhaus Architektur – in seinen strengen klaren Linien geradezu erholsam.

Zwischen Magie und Spießbürgertum, hier eher MagieEs ist ein Ort, der wie Ascona zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, ein Ort, der sein Versprechen auf Wahrheit niemals einlösen kann, ein Ort bornierter Manierismen. Ich zitiere derzeit zu gerne Dea Loher aus ihrem Roman „Bugatti taucht auf„: dieser schreckliche Monte Verità mit seinen traurigen, sich esoterisch spreizende Gebäuden und Anlagen ist nur der fürchterlichste, weil vollkommen belanglose Ausdruck dieser Langeweile und Abgehobenheit. Ich bin mir sicher, Hermann Hesse hätte sich dort oben auch nicht mehr wohlgefühlt. Wer Orte der Sehnsucht und Kraftquellen im Tessin sucht, frage lieber Einheimische und Ortskundige. Die findet man auf dem Monte Verita nämlich auch eher selten.

*Bei Arcegno, 1925 veröffentlicht Weitere Quellen: Wikipedia/ Ascona und sein Berg Monte Verita, ArcheVerlag Zürich, 1979 / Ständige Ausstellung Monte Verità in der Casa Anatta/Bilder alle von Britta Langhoff