50 Jahre danach: „Pardon“ vor der Wiederwi(e)dergründung

Wenn das mal nicht reale Satire ist, die einst eben jene alte „Pardon“ vollends durch jeden Kakao gezogen hätte und den realen Satirikern auch noch angeboten hätte, ihn auszutrinken. „Pardon“ soll zum zweiten Male wiederbelebt werden.

Medial sachkundige Titel rühmen, dass „renommierte Autoren“ sich an der Beatmung einer Erstausgabe anlässlich der 50. Wiederkehr des Ersterscheinens (27. August 1962 nach Nullnummer 1961) beteiligen werden: Harald Schmidt, Eckart von Hirschhausen unter anderen, auch Hellmuth Karasek sei mit dabei. Das Ganze in Planung durch einen Ex-Chef der „Welt“ und Ex-Chef des „Focus“ mit Namen Wolfram Weiner, der den Titel „Pardon“ kaufte und, weil er ja im Hauptberuf so intensiv Finanztitel verlegt, nun auch damit lachend Geld verdienen will.

Hallo? „Pardon“ meinten in den Sechzigern Robert Gernhardt, Friedrich Karl Waechter, Kurt Halbritter, Hans Traxler, Chlodwig Poth, ein gewisser Vicco von Bülow, der auch das erste Titelbild zeichnete (Knollennasenmännlein mit Blumenstrauß in der erhobenen Hand, in dem die Zündschnur einer Bombe glimmt). Ach ja, und dann gehörte auch noch Erich Kästner zum ersten Redaktionsstamm, dem sich später Alice Schwarzer, Günter Wallraff, Robert Jungk, Freimut Duve oder Hans Magnus Enzensberger anschlossen. Oder es schrieben Günter Grass und Martin Walser für das Produkt der Gründer Erich Bärmeier und Hans A. Nikel, das in Auflage von 320 000 Stück verschlungen wurde, in besten Zeiten von 1,5 Millionen Leserinnen und Lesern – und einer davon war ich.

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Und eine neue „Pardon“ soll uns nun von Witzeerzählern wie Hirschhausen und Schmidt nahe gebracht werden, vielleicht noch literarisch aufgehübscht durch Karasek, verlegt von einem einst führenden „Welt“-Mann? Das wird ja was werden.

„Pardon“ wurde einst von „Titanic“ abgelöst, die „Titanic“-Redaktion sog einen Teil ihres frühen Lebens aus den „Pardon“-Mitarbeitern und –innen. Sie bewegt sich bis auf den heutigen Tag in echter Tradition ihrer Vorgängerin und wenn die neuen Antreiber von „Pardon“ damit prahlen, dass es bei ihnen nicht vorkommen werde, mit einem nässenden Papst eigene Titel zu schmücken und anderen Titeln Schlagzeilen zu servieren, dann haben diese neuen Herren wenig verstanden von dem, was vor 50 Jahren angeschoben wurde.

Sicher war das Waechter-Teufelchen (F.K.Waechter zeichnete das pfiffig-freche Symbol fürs Titelblatt) nicht so krass, wie heutige „Titaniker“. Aber vor 50 Jahren wurden die Frechheiten des Blattes ebenso empört aufgenommen wie die aktueller Satiriker. Franz Josef Strauß versuchte allein 18 Mal, sich in Rechtsstreitigkeiten mit „Pardon“ zu messen, mochte vorauseilende Entschuldigungen im Namen des Blattes nicht akzeptieren. Er verlor 18 Mal, was ihn aber nie wirklich entmutigte, ebenso wenig wie die Redakteure.

Nun, offenbar hatte „Pardon“ seine begrenzte Zeit. Erst sagte Bärmeier ade, dann widmete sich Hans A. Nikel yogischen Flugversuchen, was zwar eine Titelstory brachte („Kein Witz. Ich kann fliegen!“) aber auflagenschädlich wurde. Die treuen Leserinnen und Leser kamen einfach nicht damit klar, dass ihr Blatt mal etwas todernst zu meinen schien, was niemand ernst nehmen konnte. Hennig Venske stieg dann zum Chefredakteur unter „Konkret“-Herausgeber Hermann L. Gremliza auf, „Pardon“ stieg stetig weiter ab, um dann 1984 gänzlich eingestellt zu werden.

2004 noch mal Beatmungsversuche durch Bernd Zeller aus Jena, der von Nikel die Namensrechte erworben hatte. Doris Dörrie, Wiglaf Droste und Roger Willemsen texteten. Und Harald Schmidt schrieb das Vorwort, einen Absagebrief. Schmidt ahnte wohl, dass dem Versuch seines Gagschreibers Bernd Zeller keine längere Lebenszeit beschieden sein würde.

Vielleicht aber war es auch die Tatsache, dass Zeller zu wenig zahlte und vielleicht ist es heute der Umstand, dass Wiederwi(e)derbegründer Weimer prima Kohle auf den Tisch legt, die Harald Schmidt bewegt, Bewegendes von sich geben zu wollen. Motto: Wir sind jung und brauchen Geld, Pardon!




„Nullzeit“ von Juli Zeh: Thriller mit Tauchgang

Gleich nach dem Examen schwant dem angehenden Juristen Sven, dass er keine Lust hat, Menschen zu beurteilen, zu bewerten, zu bestrafen. Zusammen mit Antje, seiner Freundin, packt er seine Siebensachen, sagt Deutschland Adieu und eröffnet auf Lanzarote eine Tauchschule.

Sven begleitet seine Kunden nicht nur bei ihren Tauchgängen unter Wasser, er vermietet ihnen auch Appartements und ist rund um die Uhr für sie da. Wer bereit ist, eine ziemliche Stange Geld zu zahlen, kommt bei Sven auf seine Kosten. Oberstes Gebot des Aussteigers ist es, sich keinesfalls in das Leben seiner Gäste hineinziehen zu lassen. Doch bei Theo, dem versoffenen Schriftsteller, der seine besten Tage hinter sich hat, und Jola, der attraktiven TV-Serien-Schauspielerin, will ihm das nicht gelingen. Das deutsche Künstlerpaar verhält sich nicht nur unter Wasser etwas seltsam. Ständig streiten sich die beiden, um sich dann um so inniger zu versöhnen.

Als Theo beim Tauchen die Luft weg bleibt und beinahe kollabiert, muss Sven feststellen, dass Jola ihrem Geliebten die Druckflasche mutwillig abgedreht hat. Will die Schauspielerin den Schriftsteller umbringen? Und warum macht sie ihrem Tauchlehrer ständig schöne Augen und beschreibt in ihrem Tagebuch ausführlich den tollen Sex, den sie angeblich mit Sven hat? Spielt sie ein Spiel, dass Sven nicht versteht oder sind die sich häufenden Psychokriege und Mordanschläge nur Ausgeburten der liebeskranken Fantasie eines verwirrten Tauchlehrers?

Mit „Nullzeit“ hat Juli Zeh eine eigenwillige und spannende Mischung aus Psychothriller und Unterwasserabenteuer, Aussteigersatire und Wohlstandskritik, Kunstpersiflage und Beziehungsdrama geschrieben. Die Autorin nimmt nichts richtig ernst. Die Psychologie ihrer gelegentlich zum Klischee verfremdeten Figuren ist ihr ziemlich schnuppe. Nur das Tauchen ist ihr wirklich wichtig, da will sie mit Wissen und (wahrscheinlich) eigener Erfahrung glänzen. Und so erfahren die Leser, wie man sich für einen Tauchgang präpariert und dass die „Nullzeit“ die Anzahl der Minuten ist, die man unter Wasser verbringen darf.

Aber irgendwann müssen die Leser ja auch wieder auftauchen und nachschauen, ob noch alle am Leben sind. Sven, so scheint es, kann noch so weit reisen und noch so tief tauchen, er wird keinen Frieden, keine Liebe und keinen Sinn im Leben finden. Der ohnmächtig von Sven aus dem Wasser gefischte Theo könnte endlich seine Schreibblockade überwinden und einen Roman über seine mordlüsterne Schauspiel-Freundin schreiben. Jola, die sich mit ihren Unterwasserabenteuern auf eine Film-Rolle vorbereiten wollte, die dann doch nicht sie, sondern ihre größte Feindin bekommt, müsste zur Strafe in ihrer TV-Soap versauern und alt werden. So oder so ähnlich könnte der mit unzähligen falschen Fährten und Finten hantierende Roman weitergehen.

Juli Zeh setzt auf die Fantasie des Lesers, der sich zwischenzeitlich immer wieder fragt, ob Ich-Erzähler Sven nur besonders naiv oder dumm ist und einfach nicht begreifen will, in welches Netzwerk aus Lug und Trug er sich da verheddert. Dass ihm die stille Antje, das einzig Wichtige und Konstante in seinem verpfuschten Leben, abhanden kommt, geschieht diesem Sven wohl ganz recht.

Juli Zeh: „Nullzeit“. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 256 S., 19,95 Euro.




Mark Boogs „Mein letzter Mord“: Ein Polizist zieht Lebensbilanz

Cover Download, zur Verfügung gestellt von Dumont Buchverlag, Köln Es ist sein letzter Mord, die letzte Ermittlung, die ein alter niederländischer Polizist vor seiner Pensionierung noch durchführt. Einen ganz alten Fall hat man aus den Akten gekramt. Einen alten, ungelösten Fall, den der alte Polizist noch einmal neu aufrollen soll. Vielleicht ein letzter Versuch, diesen Fall noch zu klären, wahrscheinlicher aber der Versuch, den Polizisten auf seine letzten Tage vor dem Altenteil zu beschäftigen.

Der alte Polizist wählt einen ungewöhnlichen Weg, um den Fall zu lösen. Er versetzt sich in den Mörder hinein, geht dessen Wege gedanklich und real nach, besorgt sich eine Waffe, schläft mit dessen Witwe und schreibt darüber einen außergewöhnlich langen Ermittlungsbericht an seinen Vorgesetzten. Der Bericht ist nicht nur ein Bericht über die Ermittlungen, sondern vielmehr eine Lebensbilanz, die der Polizist zieht. Viel zu bilanzieren gibt es allerdings nicht, weder auf der Haben-, noch auf der Sollseite. Er war halt Polizist – „alles andere hat er vergessen zu tun“.

„Mein letzter Mord“ ist das erste auf Deutsch erschiene Buch des Niederländers Marc Boog, ein im Nachbarland erfolgreicher und anerkannter Schriftsteller. Das Buch ist eher ein Essay als ein Roman oder gar ein Thriller. Eine Studie über den Versuch einer späten Selbstbefreiung. Es geschieht wenig in diesem Buch, dafür wird viel resümiert, erkannt, geschlussfolgert. Im niederländischen Literaturbetrieb hat man für diese Art Roman ein eigenes Genre erdacht, den „literaire thriller“ und in der niederländischen Presse mutmaßt man nicht ganz zu Unrecht, dass es für dieses Genre schwer sein dürfte, über die Landesgrenzen hinaus Verständnis zu wecken. So verwundert es nicht, dass auch der niederländische Originaltitel den Leser schneller auf die richtige Fährte führt: „Ik begrijp de mordenaar“ (ich verstehe den Mörder). Dem Autor geht es nicht darum, einen Fall zu lösen, sondern er möchte einen Mörder verstehen und erkunden, ob sich ein gewöhnlicher, ja langweiliger Mensch in diesen hineinversetzen kann.

In der Tat fällt es schwer, einen Zugang zu diesem Buch zu finden. Ik begrijp de mordenaar – man ist versucht zu sagen: „schön für ihn“. Aber wer begreift den Schriftsteller und das, was er uns damit sagen will? Der Mörder bleibt nebulös, spät kann man ein Motiv erahnen, seine Gedankengänge hingegen kann wohl nur der halbherzig ermittelnde Detektiv nachvollziehen. Aber auch das weiß man nicht sicher. Zu sehr vermischt sich dessen Lebenssicht, seine Wut auf verschenkte Lebenszeit mit dem, was er herausfindet. Zu keiner Zeit kommt der Leser diesem Polizisten nahe. Mehr noch, dieser Polizist – er interessiert einfach nicht. Zuviel Gejammer. Wie auch die anderen maßgeblichen Protagonisten bleibt er ohne Namen. Namen- und konturlos blickt er zurück auf ein Leben voller verpasster Chancen und er ergreift auch diese letzte Gelegenheit, aus seinem eigenen Schatten herauszutreten, eher zögerlich.

Auch Marc Boogs Sprache bleibt fremd und ist schwer zugänglich. Er formuliert wunderschön, aber konstruiert. Man hat den Eindruck, er betrachtet jedes Wort, dreht es um, stellt es mal hierhin, dann dorthin, solange, bis er zufrieden ist. So entstehen zwar Sätze, die für sich genommen gefallen und sicher auch nachdenkenswerte Wahrheiten beinhalten, doch als wahrhaftiger empfindet man den Roman dadurch nicht.

Mark Boog: „Mein letzter Mord“. Du Mont, Köln. 157 Seiten, € 18,99




Zum 100. des Hagener Malers Emil Schumacher: Vergleich mit seinen Zeitgenossen

In Hagen kann man jetzt malerischen Energieströmen nachspüren – zwischen Fließen und Stocken, spontaner Bewegung und Innehalten der Linienführung, zwischen schützender Versiegelung und vehementer Durchbrechung der Bildoberflächen. Von den zahllosen weiteren Nuancen gar nicht zu reden.

Der Ausstellungsanlass ist gewichtig: 100 Jahre alt wäre der aus Hagen stammende Maler Emil Schumacher (1912-1999), ein Künstler von anerkanntem Weltformat, am 29. August geworden. Ursprünglich hatte man in seiner Himatstadt eine umfangreiche Retrospektive ausrichten wollen, die sich aufs Emil-Schumacher-Museum und das benachbarte Osthaus-Museum erstreckt hätte.

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Dann aber, so Emil Schumachers Sohn Ulrich (langjähriger Leiter des Bottroper Museums, dann spiritus rector des Emil-Schumacher-Museums), sei man zu der Einsicht gelangt, dass eine solche Werkschau einigermaßen unsinnig wäre. Denn das nun von Rouven Lotz geleitete Haus zeigt ja ohnehin unentwegt Schumacher-Bestände vor, wenn auch sukzessive und in wechselnden Zusammenhängen.

Nun also sind ausgewählte Bilder Schumachers im internationalen Vergleich mit Werken einiger Zeitgenossen zu sehen. Der Titel geht auf ein abgewandeltes Schumacher-Zitat zurück: „Malerei ist gesteigertes Leben“. Die von Gastkurator Prof. Erich Franz eingerichtete Schau konzentriert sich auf 62 Arbeiten. Hochkarätige Künstlerliste: Außer Schumacher stehen darauf Jean Dubuffet, Lucio Fontana, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Emil Nolde, Pierre Soulages, Antoni Tàpies, Cy Twombly, Emilio Vedova und Wols. Und noch ein paar weitere Namen. Dies und das reichhaltige Beiprogramm sind nur mit Sponsoren möglich, die der Katalog getreulich verzeichnet.

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Kurator Franz vertraut darauf, dass auch Menschen ohne sonderliche Kunstkenntnis hier manche Zusammenhänge erkennen werden, weil die Formen für sich selbst sprechen. Doch man muss wohl schon einige Seherfahrungen mitbringen, um mit der nötigen Feinheit unterscheiden zu können. Wer etwa die Urkräfte eines Wols-Bildes mit jenen vergleichen will, die bei Emil Schumacher walten, sollte möglichst kein Museumsneuling sein. Andererseits ist es mit elaboriertem Kunstwissen allein nicht getan. Hier ist – vielleicht mehr als sonst – auch einlässlich emotionales Schauen gefragt.

Emil Schumacher hat die scheinbar urwüchsig „wilde“ Linien-Dynamik immer wieder ganz bewusst mitten im Schwung angehalten oder jäh umgelenkt, weil ihm ungehemmte Spontaneität nicht geheuer war. Trotzdem gibt es laut Erich Franz „keine ruhige Stelle in seinen Bildern“. Er wollte den Betrachter sinnlich und existenziell berühren, ja mit der Materialität des Farbauftrags gleichsam anspringen. Darf die Linie nicht frei fließen, sondern muss sich mühsam Wege bahnen, muss sie Hindernisse und Widerstände überwinden, so resultiert daraus eine noch ungleich heftigere Energie. Auch führt das Liniengeflecht dann mehr Spuren des Erlebens und Erleidens mit sich – und nicht zuletzt errungenes Glück.

Franz hat die Exponate weitgehend chronologisch gehängt, meidet aber klugerweise Direktvergleiche, die zwischen je zwei Bildern womöglich flach ausfallen würden. Man wird hier beständig hin und her gehen und etliche Blickachsen erproben müssen, um Querbezüge oder auch energetische Abstoßungen zu entdecken.

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Früheste Anregungen, die nachvollziehbar ins Werk der 1930er Jahre eingeflossen sind, empfing Schumacher von Christian Rohlfs und Emil Nolde, sodann auch von Matisse, dessen Schaffen er anfangs nur aus Büchern kannte. So scheint noch Schumachers „Strandbild“ (1950) von Matisse-Bildern wie „Das blaue Fenster“, 1913) inspiriert zu sein.

In den 1950er Jahren markieren fulminante Bilder mit sprechenden Titeln wie „Eruption“ (1956) Schumachers künstlerischen Weg, den auch eine singuläre Erscheinung wie Wols (hier mit zwei Bildern von 1946/47 vertreten) gebahnt haben mag. Um 1957 sprengen Schumachers Tastobjekte die Leinwand und wachsen als Reliefs in den Raum, beispielsweise, indem der Farbauftrag mit Nägeln durchschossen wird. Natürlich liegt hier die Assoziation zu Günter Uecker (allzu?) nahe, dessen „Nagelbaum“ von 1962 hier zu sehen ist.

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

In seinen „Hammerbildern“ hat Schumacher die Leinwand denkbar heftig attackiert und verletzt – ganz anders als Lucio Fontana, der seinen Bildträgern nur sanfte Schnitte zugefügt hat. In solchen Fällen lässt eine Gegenüberstellung eher die Kontraste hervortreten.

Gleichviel! Es ist jedenfalls spannend, die teilweise subtilen Bezüge und Eigenheiten nachzuempfinden. Besonders fruchtbar könnten vertiefende Vergleiche zwischen den äußerlich verkrusteten, erdig verhärteten Bildern Schumachers und den schier undurchdringlichen Oberflächen bei Dubuffet oder Tàpies ausfallen. Auch dürfte eine Zusammenschau der Linien- und Flächenverläufe bei Schumacher, Motherwell und Twombly zu feinsten Differenzierungen führen, die an den Ursprung alles Bildnerischen rühren. Doch dies ahnt man ebenfalls: Auf diesem erhabenen Qualitätsniveau ist jeder Künstler letztlich ein Planet für sich.

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Bei all dem hilft die kunsthistorisch eingeübte Begrifflichkeit, derzufolge Schumacher zum vermeintlich formlosen „Informel“ zählt (wahlweise auch zum Tachismus, Action Painting oder zum Abstrakten Expressionismus), nicht wesentlich weiter. Prof. Ernst-Gerhard Güse, der just ein neues Standardwerk über Schumacher verfasst hat, wertet nicht nur das mit über 70 Jahren geschaffene Spätwerk auf, sondern verweist darauf, dass Schumacher selbst sich keineswegs als Vertreter des „Informel“ verstanden hat. Noch die explosivsten Bilder seien immer auf Form und Gegenstand rückbezogen. Nur eine akademische Debatte? Oder der Ansatz zu einer grundlegenden Neudeutung?

„Malerei ist gesteigertes Leben – Emil Schumacher im internationalen Kontext“. 29. August 2012 (Eröffnung nach einem um 19 Uhr beginnenden Festakt mit geladenen Gästen in der Stadthalle Hagen, Festredner Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert) bis zum 20. Januar 2013. Am Eröffnungsabend ist das Museum bis Mitternacht geöffnet.

Reguläre Öffnungszeiten Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 2 Euro), Familie 18 Euro, Kinder unter 6 Jahren frei.

Katalog (Hirmer Verlag), 160 Seiten, 29,90 Euro im Museum.

Weitere Neuerscheinung: Ernst-Gerhard Güse „Emil Schumacher. Das Erlebnis des Unbekannten“, Verlag Hatje Cantz. 504 Seiten, 49,80 Euro




Steinzeit in Hattingen: Die Blut-Ablaufrinne im Opferstein – wohl nur ein Mythos

So ein kleines Museum findet man selten, so ein schönes aber auch nicht. Das „Bügeleisenhaus“ in der Hattinger Altstadt gehört dem Heimatverein, und dort wird die Ausstellung „Steinzeit in Hattingen“ gezeigt.

Das Bügeleisenhaus in Hattingen. (Foto: Stadt)

Zugegeben, die Zahl der Objekte ist begrenzt. Einen schönen Mammutzahn, Werkzeuge und kleine Waffen kann man sich ansehen, und in einem Sonderraum wird die Geschichte eines Steins vorgestellt, der in einem Hattinger Park liegt und schon Gegenstand eines Romans und zahlreicher Ortslegenden wurde. Er hat einen länglichen Einschnitt, der von den Hattingern lange Zeit als „Blut-Ablaufrinne“ in diesem „Opferstein“ gedeutet wurde. Geologen erklären die Besonderheit jedoch ganz anders, nämlich als Spur einer misslungenen Stein-Teilung.

„Zwischen Fund und Dichtung“ heißt deshalb auch die kleine Ausstellung in einem Fachwerkhaus, das allein schon den Besuch lohnt. Fast alle Besucher staunen besonders über die schrägen Fußböden, die teils bis zu 15 Zentimeter Höhenunterschied in einem Raum aufweisen. Das „Bügeleisenhaus“ gehört übrigens auch zu den 200 Orten in Nordrhein-Westfalen, die am 3. Oktober zum „Türöffner-Tag“ kostenlos zugänglich sein werden. Die Aktion wurde von den Machern der „Sendung mit der Maus“ ins Leben gerufen und wendet sich dementsprechend vor allem an Kinder.

„Zwischen Fund und Dichtung – Die Steinzeit in Hattingen/Ruhr“. Bis zum 9. Dezember 2012, Museum im Bügeleisenhaus, Haldenplatz 1, Hattingen. Freitags und samstags16 bis 18 Uhr, sonntags 14 bis 18 Uhr, Eintritt 2 Euro.




Zum Tode von Neil Armstrong: Die Mondfahrt und der historische Satz

„Wie, du hast dir das entgehen lassen?“ Die Kolleginnen und Kollegen, angeführt von Chef Malte, blickten ungläubig bis verblüfft in meine naiv-blauen Augen und schüttelten unisono ebenso entgeistert wie im Geiste scheibenwischend die erfahreneren Köpfe. Gerade hatte ihnen so ein nassforscher Berufsneuling die überraschende Tatsache verkündet, dass er nicht wie im Falle von faustkämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Cassius Clay (der hieß damals noch so) und Ingemar Johansson nächtens aus den Federn gekrabbelt war und schlaftrunkenen Auges den unvermeidlichen Sieg des tänzelnden US-Profis wahrgenommen hatte.

Nein, dieser Berufsneuling des Jahres 1969, Ihr werdet es erraten, das war ich, hatte sich nach links umgedreht und weiter geratzt, während Neil Armstrong auf die staubige Mondoberfläche hüpfte und seine legendären Worte hinaus in All nuschelte: „That’s one small step for a man, one giant step for mankind.“ („Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Schritt für die Menschheit.“) Der nassforsche Jüngling hatte vor sich selbst auch eine Begründung für diese historische Respektlosigkeit: Die USA waren immer noch das Land, das Rassen diskriminierte, die USA waren das Land, das den Vietnamkrieg führte, die USA ließen nicht erkennen, dass sie wesentliche Beiträge dafür leisten wollten, dass Bettelarmut im reichsten Land der Welt verschwindet, die USA ließen noch weniger erkennen, dass sie ernsthaft Frieden als ultimatives Ziel ihrer Außenpolitik sahen, usw. usw.. Warum also sollte ich noch stumm applaudieren, wenn ein solches Land Milliardenbeträge ins Weltall schießt, um den eiskalten Steinklumpen zu erobern.

Nun, ich räume ja ein, dass ich wie manche andere ziemlich naiv und vielleicht auch übertrieben politisch korrekt durch die frühen Arbeitsjahre wandelte und es als Lust empfand, mich auf bisweilen schräge Art und Weise zum sogenannten Linkssein bekannte. Richtig Unrecht geben kann ich mir aber bis heute noch nicht, nur halte ich mich inzwischen für etwas zu respektlos diesem Neil Armstrong gegenüber. Er, der am vergangenen Samstag starb, wurde zum Symbolhelden einer wissenschaftlich-kulturellen Glanzleistung, die bis auf den Tag in fast alle Lebensbereiche nachwirkt – und nicht nur beim fettlosen Eierbraten in einer Teflon-Pfanne. Nicht nur er allein war der Held, sondern auch Buzz Aldrin, der nach der Landung in der Mondfähre „Eagle“ blieb und keine Chance bekam, historische Sätze ins All zu nuscheln.

Nun, ich bleibe dabei, es für richtig zu halten, mich nicht meines Schlafes zu berauben, um diese einmalige TV-Aufführung einer amerikanischen Ruhmestat in Live-Erinnerung zu behalten. Ich verbeuge mich angesichts des Todes von Neil Armstrong am Samstag vor ihm, weil er sich nach anstrengender Reise beim ersten Fußtritt auf Mondboden einen Satz (sicher wohl überlegt) heraus schraubte, der in der Geschichte bleiben wird. Ähnlich wie Cäsars „Iacta est Alea!“ (laut Plutarch – „Geworfen ist der Würfel!“).
Obgleich ich gestehen muss, dass ich davor und danach noch andere, werthaltigere Sätze hören durfte. Wie Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen!“ Oder Robert Jungks: „Die Welt kann verändert werden. Zukunft ist kein Schicksal.“

Gut, dann gehen wir mal ans Werk und arbeiten mit daran, dass gute Lehren gezogen werden, aus den Segnungen einer Mondfahrt und aus meinen nicht so weit hörbaren Begründungen für die mir eigene Mondfahrt-Ignoranz.




Recherchen in der Biosuppen-Firma – Krimi „Neben der Spur“ von Ella Theiss

Download Cover des Grafit Verlags, Dortmund  Die Fabrikantenfamilie Hepp bereitet sich auf die Feier eines ganz besonderen Geburtstages vor. Der Seniorchef wird sagenhafte hundert Jahre alt. Karo Rosenkranz, freiberufliche Journalistin, hat in der Redaktion die Niete gezogen und soll über den Geburtstagsempfang berichten. Widerwillig macht sie sich auf den Weg zur Firma, doch plötzlich wird es spannend.

In der Produktionshalle explodieren ganz unfeierlich zwei Sprengsätze. Zu Schaden kommt niemand, die herumfliegenden Kadaver gehören tiefgekühlten Hähnchen. Karo wittert Morgenluft und eine spannende Story. Umso mehr, als Biosuppenhersteller Hepp eigentlich streng vegetarisch produziert. Was also hatten dann die tiefgekühlten Flattermänner dort zu suchen? Und von welchem Krieg brabbelt der Hundertjährige dauernd? Die Zeit des dritten Reiches hat er doch angeblich gut abgeschirmt in einem Sanatorium verbracht. Und wo befindet sich der designierte Firmenerbe, Valentin? Ist er vielleicht der Drahtzieher des Anschlags und gar nicht – wie kolportiert – mal kurz weg auf dem Jakobsweg? Schließlich hat er sich bisher auch eher einen Namen als eifriger Tierschützer gemacht denn als begabter Firmenlenker. Fragen über Fragen. Karo beschließt, es sei Zeit für investigativen Journalismus und tritt mutig in die Fußstapfen Günter Wallraffs. Kurzerhand tritt sie die Stelle einer PR-Beraterin der Suppenköche an und fördert alsbald ein ziemliches Gebräu an übel schmeckenden Ungereimtheiten zu Tage. Ihre Recherchen führen sie bis weit zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges – und sie selbst in tödliche Gefahr.

„Neben der Spur“, der erste zeitgenössische Roman der Autorin Ella Theiss ist ein mal pikant, mal deftig gewürzter Krimi. Dabei kommt sie ganz ohne Serienmörder, Psychopathen und blutiges Gemetzel aus und vermittelt dem Leser dabei das Gefühl, jederzeit selbst in eine solche Gemengelage hineinstolpern zu können. Sie kocht aus den verschiedensten Zutaten unterschiedlicher Zeiten und Genres ihr ganz eigenes Süppchen. Auch wenn ihre Karo Rosenkranz und erst recht die sich selten mit Ruhm bekleckernden Polizisten gelegentlich „neben der Spur“ liegen, Ella Theiss bleibt gekonnt auf Kurs und schafft es, auch unerwartete Wendungen einzufädeln. Die Grundlagen ihres Krimis – auf der einen Seite die Welt der nicht immer gut meinenden Bio-Produzenten, auf der anderen Seite die bis in die heutige Zeit hineinreichenden Folgen des Dritten Reiches – sind gut recherchiert, ihre Figuren lebensnah entworfen. Der Hintergrund ihres gut recherchierten Krimis ist durchaus ernst, dennoch wird der Ton nie zu bedeutungsschwer, versteht die Autorin es doch, ihr Werk mit einer ordentlichen Prise skurrilen Humors zu würzen.

Das Rezept für einen unterhaltsamen, spannenden Krimi auf einem ordentlichen Niveau hat Ella Theiss somit wohl auf jeden Fall gefunden.

Ella Theiss: „Neben der Spur“. Grafit Verlag, Dortmund. 253 Seiten, € 8,99




„Sounds Like Silence“: Auf den Spuren der Stille, an den Grenzen des Schweigens

Jubiläumshalber ist der Komponist John Cage (100. Geburtstag am 5. September) heuer erst recht eine kulturelle Leitfigur. Nicht nur setzt die Ruhrtriennale vielfach bei seinem Werk an, nicht nur hat die Fluxus-Kunst (derzeit im Fokus des Museums Ostwall) ihm Impulse zu verdanken – auch die gedankenreich unterfütterte Ausstellung „Sounds Like Silence“ kommt (parallel im selben Hause Dortmunder „U“) auf ihn zurück. Für die intellektuelle Durchdringung auf hohem Theorie-Plateau sorgt der ortsansässige Hartware MedienKunstVerein (HMKV), dessen Leiterin Inke Arns den Leipziger Medienwissenschaftler Dieter Daniels als Ko-Kurator gewonnen hat.

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

„Sounds Like Silence“. Hört sich an wie Stille. Oder: Geräusche wie Stille. Der auf den Welthit „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel anspielende Titel kann füglich auch auf Cage bezogen werden. Der hat das berühmte Stück 4’33’’ erschaffen, 4 Minuten und 33 Sekunden vermeintlich völliger Stille. Die Uraufführung war am 29. August 1952, also vor 60 Jahren. Eine Inspirationsquelle: Robert Rauschenbergs „White Paintings“ (ab 1951), monochrom weiße Bilder, die ebenfalls nicht pure Abwesenheit bedeuten. Bloß keine Angst vor der Leere! Am Saum des Nichtseins ist in allen Künsten stets ein Etwas gewesen.

Das Cage-Stück zwischen Sein und Nichts kann sich mitsamt allen Weiterungen in die Hirnwindungen fräsen. Und so kreist auch die Dortmunder Ausstellung gebannt (jedoch alles andere als kopflos, wenn nicht gar kopflastig) um diese Ikone der akustischen Kunst. Wer hätte gewusst, dass von diesem epochalen Werk viele verschiedene Notationen/Partituren sowie über 50 Platten-Einspielungen existieren – und dass keine exakt der anderen gleicht. Denn die vollkommene Stille gibt es nicht. Immer sind da noch so geringe Nebengeräusche, Schwingungen an der Wahrnehmungsgrenze. Selbst in der schalldichten Kammer (die man hier – sofern seelisch gefestigt – erproben kann) hört man, neben der Aufnahme vom angeblich weltweit stillsten Wüstenort, noch das Grundrauschen der eigenen Nerven- oder Blutbahnen. Dass wir nach dem Tode gar nichts mehr hören, ist auch noch nicht ausgemacht…

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Man schreitet hier durch lauter dunkle Räume, denn man soll sich ja auf Hören konzentrieren. Überall wollen Kopfhörer ergriffen und aufgesetzt sein, auf dass man lausche und zunehmend differenziere. Nun gut, ein paar Filme sind auch zu betrachten – bis hin zur Jux-Aufführung von 4’33’’ durch Helge Schneider in Harald Schmidts Late Night Show (ARD). Mit dem im Internet forcierten Projekt „Cage Against the Machine“ haben es Popmusiker 2010 geschafft, die Stille auf Platz 21 der britischen Charts zu hieven.

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Die anspruchsvolle Ausstellung verfolgt etliche Nachwirkungen der in 4’33’’ berufenen Ideen. Merce Cunningham hat eine experimentelle Tanzversion besorgt. Selbst Heinrich Böll gerät mit seiner Hörfunk-Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955) in den Blick, obwohl er sich schwerlich auf Cage bezogen haben dürfte.

Breit ist das Spektrum: Die Formation „Einstürzende Neubauten“ hat mit „Silence is Sexy“ (2000) der Stille gehuldigt. Spezielle Dortmunder Varianten von 4’33’’ gibt es ebenso wie bewusst verfälschende Cage-Aufführungen, die die Frage nach geistigem Eigentum aufwerfen. Als stummer Handy-Klingelton ist das Stück so präsent wie als sukzessive Löschung vormals vorhandener Musik. Studien zur Wahrnehmung der Taubstummen stehen neben einer Videoinstallation von Bruce Nauman, der sein verlassenes Atelier nächtelang filmte. Auch da begab sich noch etwas…

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Kunsthistorisch interessant ist ein genialisches Gipfeltreffen von Nam June Paik und Cage. Wie der Koreaner 4’33’’ filmisch aufbereitet hat, ist für beide Oeuvres aufschlussreich. Ferner wird ein Interview mit Cage (von Vicki Bennett) ebenso sprachlos gemacht wie eine Tagesthemen-Ausgabe mit Ulrich Wickert (von Hein-Godehart Petschulat) oder eine kriegstreibende Rede des George W. Bush (durch Matt Rogalsky).

Am Horizont solcher Darbietungen erscheint eine Ökologie der Geräusche. Eine leisere Welt wäre wohl keine schlechtere.

„Sounds Like Silence“. Cage / 4’33’’ / Stille. 1912-1952-2012. Bis 6. Januar 2012 im Dortmunder „U“, Leonie-Reygers-Terrasse (Navi Rheinische Straße 1). Eintritt 5 Euro, freier Eintritt bis 18 Jahre. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr. Internet: www.hmkv.de

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)




Wortmusik: Robert Wilson liest John Cage bei der Ruhrtriennale

Komponist, Zen-Buddhist, passionierter Pilzsammler: John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden (Copyright: Rex Rystedt)

Die Sehnsucht nach vollkommener Stille, die der amerikanische Komponist John Cage im schalltoten Raum der Harvard-Universität suchte und aufgrund körpereigener Geräusche doch nicht fand, führte 1952 zu seinem epochalen Werk 4’33’’, in dem nicht ein einziger Ton erklingt. Zwei Jahre vor der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor hatte Cage die Grundzüge seines Denkens und Schaffens in seinem „Vortrag über nichts“ skizziert.

Der Sprachduktus folgt dabei einem strengen rhythmischen Muster: Cage schrieb eine Wortmusik, ein Duett zwischen Stimme und Stille, in dem es um nichts geht, oder wahlweise um alles. Tiefgründig Philosophisches trifft auf clowneske Alberei, zen-buddhistische Gelassenheit auf das nachgerade zwanghafte Aufzählen aller Abschnitte und Unterkapitel des Wortstroms.

Bei der Ruhrtriennale, die Cages Vortrag als „einen der zentralen Texte der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ankündigt, übernimmt es der berühmte Regisseur und Theaterkünstler Robert Wilson, die Botschaft des Komponisten unter die Festivalbesucher zu bringen – unterstützt vom Videokünstler Tomek Jeziorski und akustischen Einsprengseln von Arno Kraehahn. In ein weißes Nachthemd gekleidet, ganz Traumtänzer oder Pierrot lunaire, sitzt er in der Bochumer Jahrhunderthalle inmitten einer Wüste aus alten Zeitungen. Weiße Banner mit schwarz aufgemalten Cage-Zitaten dominieren die Bühne. Bevor die Vorstellung mit einer nicht erklärten Verspätung von 25 Minuten beginnt, zücken viele Besucher ihr Handy für ein Szenenfoto. Dann setzt der Lärm ein: unvermittelt, infernalisch. Es ist ein unbestimmbares computergeneriertes Getöse, das geschlagene zehn Minuten lang aus den Lautsprechern dröhnt und Ohren und Psyche an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Eine Handvoll Besucher streicht bei diesem Präludium die Segel. Die anderen harren aus, ja halten sich in der Mehrheit nicht einmal die Ohren zu. Es müssen wohl treue Cage-Adepten sein, denn der Komponist wollte bekanntlich stets „alles hören, was es zu hören gibt“ – sogar in der Nähe startender Düsentriebwerke.

Wilson beginnt, indem er mit der Hand über die Buchseiten streicht. So macht er den Fluss der Zeit und der Worte sichtbar. Deutsche Übertitel gibt es für den im amerikanischen Original gehaltenen Vortrag nicht, aber das gemessene Tempo und die deutliche Diktion machen das Folgen leicht. Trotz äußerlicher Unbewegtheit ist Wilson, der in den 1960er Jahren von John Cage und Merce Cunningham beeinflusst wurde, die innere Beteiligung beim Vortrag anzumerken. Seine Stimme, warm und modulationsfähig, lässt die von Offenheit und Optimismus bestimmte Lebenseinstellung des Komponisten ebenso anklingen wie seinen skurrilen Humor, der das Publikum an diesem Abend immer wieder zum Kichern bringt. In der Endlos-Schleife, in der sich der Vortrag schließlich verfängt, flüstert, predigt und bellt er den Text heraus, bis Cage über eine Tonbandeinspielung schließlich selbst das Wort übernimmt, während Wilson auf der Bühne ein kleines Nickerchen einlegt.

Die Überblendung zeigt, wie verblüffend ähnlich Wilson-Cage und der echte Cage zu diesem Zeitpunkt klingen. Doch es dauert noch eine Weile, bis die vierzehnfache Wiederholung der immergleichen Sätze durchbrochen wird. Ein gequältes Aufstöhnen, unterdrückt und doch hörbar, können viele da nicht unterdrücken. Wer weiß, ob mancher nicht im Stillen dachte, was eine junge Frau einst frei heraus schrie, als sie Cages private Lesung dieses Texts in seiner New Yorker Dachwohnung miterlebte. Sie stürmte mit den Worten hinaus: „John, ich mag dich wirklich, aber das hier kann ich auch nicht eine Minute länger ertragen!“

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Andrea Eckers Roman-Debüt „Lichtwechsel“

Das Ruhrgebiet hat eine ernstzunehmende Autorin mehr. Andrea Ecker beweist mit ihrem Roman-Debüt „Lichtwechsel“ eine bestechende Fabulierkunst.

Die in Bochum geborene, in Essen lebende Autorin versetzt sich in die Lage einer Bankangestellten, die von drei Räubern als Geisel mit auf die Flucht genommen wird. Wer ans „Gladbecker Geiseldrama“ denkt, wird bei der Lektüre angenehm überrascht, wie weit Andrea Eckers Erfindungsgabe reicht, wie einfühlsam sie sich in die Situation der Geisel und der Täter versetzt und wie detailgesättigt die Autorin das Vier-Personen-Prosastück ausmalt. Schnell nimmt die voltenreiche Flucht vom Ruhrgebiet nach Le Havre Fahrt auf.

Nina erweist sich in dem Roadmovie als eine kooperative Geisel. Hatte sie zuvor als Familienmutter und Angestellte die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, nimmt sie auch die zeitweise schmerzvolle Geiselhaft klaglos an. „Ich galt als übermenschlich unwehleidig“ – schon als Kind. Im Hinblick auf ihr bisheriges Leben mit Ehemann Max und den Töchtern Melina und Letty (Letizia) bedeutet die neue Kollaboration allerdings ein bislang nicht für möglich gehaltenes Aufbegehren. Das plötzliche und mit Wucht über sie hereinbrechende Verliebtsein in einen ihrer Entführer erleichtert den nur scheinbaren Charakterwechsel.

Foto: Latos-Verlag

„Als Lehrlinge dürfen wir nicht altern, müssen immer sechzehn sein“, notierte Ernst Jünger im November 1939 in sein Tagebuch. Vielleicht könnte man analog sagen: Als Sich-Verliebende(r) muss man immer dreizehn bleiben (Jungen fünfzehn). Die Schwärmerei für „Billy“ müsste außenstehenden Betrachtern – aber es gibt dafür keine Zeugen, außer dem besonnenen Billy selbst – wie ein Rückfall der 42-Jährigen in ihre Teenie-Zeiten erscheinen. Gegenüber ihrem Entführer fühlt sie sich an eine Situation vor achtundzwanzig Jahren erinnert, als sie sich während einer Jugendfreizeit in Edinburgh bei einem Marc-Almond-Konzert mangels einer Eintrittskarte mit einer Freundin zum Hintereingang des Klubs schlich und dort unvermittelt der „puren Gegenwart“ des Pop-Idols teilhaftig wurde. Sogar Zigaretten wünscht sich die Nichtraucherin in dem urplötzlich emporschießenden Bedürfnis, ein anderer Mensch zu werden.

Im Lauf des von der ersten bis zur letzten Zeile spannenden Romans gewinnt der Leser mit der Protagonistin die Überzeugung, dass ihr die gewaltsame Entführung geradezu zu ihrer Selbstverwirklichung gefehlt hat. Über die geordneten Verhältnisse, aus denen sie jäh gerissen wird, denkt sie: „Ich stehe nicht mehr auf ihrer Seite. Ich bin auf der Rückseite ihrer Welt, auf der Rückseite all dessen, was sie sehen und verstehen können. Sie würden mir nicht glauben, wenn ich ihnen sagte, dass es hier nicht kalt und dunkel ist.“

Foto: Andrea Ecker

In der Sprache des Romans ahmt die Autorin den mitunter pathetischen Tonfall nach, der einer zur Gangster-Komplizin mutierenden Bank-Angestellten zuzutrauen wäre, und ruft dabei bekannte Bildvorlagen zwischen Trash und Traumfabrik hervor. „Die Waffe sah genauso aus wie die Waffen im Film. Wie all die Waffen in all den Filmen, die ich gesehen hatte. Kinder hatten solche Waffen benutzt, Hausfrauen, Geliebte. Opfer. Sie hatten die Pistole mit beiden Händen festgehalten, entsichert und gezielt. Sie hatten die Augen zusammengekniffen und abgedrückt. Sie hatten getroffen.“

Ihre Entführer, die ihre Namen verständlicherweise nicht preisgeben, benennt Nina für sich nach Filmschauspielern: „Billy“ nach Billy Crudup, „Paul“ nach Paul Bettany, und den um seinen Anteil betrogenen, wütenden „Vince“, der immer, wenn die Kollegen ihn abgehängt zu haben glauben, wie ein Springteufel an den unmöglichsten, dann aber doch plausibel erklärten Orten auftaucht, nach Vince Vaughn. So können wir aus unserer Erinnerung oder aus dem ausgelagerten Fundus, dem Internet, Bilder der Romanfiguren abrufen.

Noch wenige Seiten vor dem Ende des Romans sind die verschiedensten Alternativen vorstellbar. Das dürfte auch für die sicherlich noch zu erwartenden nächsten Romane der talentierten Andrea Ecker gelten.

Andrea Ecker: „Lichtwechel“. Roman. Latos-Verlag, Calbe/Saale. 194 Seiten, Broschur (ISBN: 978-3-943308-04-4), € 12,90

 




Festspiel-Passagen VII: Salzburg – Mit der Zauberflöte ins Labyrinth

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Der siebenfache Sonnenkreis ist eine Mischung aus Baustellenlampe und Hirnschrittmacher, mit einem Schlauch offenbar direkt mit Sarastros Hirn verbunden. Der Weisheitstempel besteht aus lauter Türen, mit kryptischen Buchstaben bezeichnet. Sarastro und die Königin der Nacht balgen sich am Ende um das technische Gerät, während die jungen Leute den Kinderwagen Papagenos und Papagenas hinterherlaufen. Familienidylle statt Weisheitslehre?

Jens-Daniel Herzog, der Dortmunder Operndirektor, hat sich mit der „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen vorgestellt – wie so viele andere ein Import aus des neuen Intendanten Alexander Pereiras Zürcher Zeit. Und seine Botschaft scheint zu sein: Leute, nehmt den ganzen Zauber nicht so wichtig. Das ist ein dürftiges Ergebnis.

Sicher lassen sich bei der „Zauberflöte“ die Tiefenschichten in Emanuel Schikaneders einzigartigem Libretto ausblenden, lässt sich das unterhaltsame Abenteuerstück aus der Wiener Vorstadt hervorkehren. Aber Herzog stellt sich – so jedenfalls in einem Interview im Programmbuch – auf die Seite Susan Sontags und ihre Ablehnung, in einem Kunstwerk einen „Subtext“ zu ergründen. Sontag propagiert die postmoderne Beschränkung auf die pure Sinnlichkeit und den Primat der individuellen Erfahrung, die sie in einer Interpretation eingeschränkt sieht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bei einem so komplexen Kunstwerk wie der Oper ist der Verzicht auf eine schlüssig ausgearbeitete, pointierte Deutung gleichzusetzen mit dem Verharren an der Oberfläche. Das mag durchaus sinnenfroh und unterhaltsam sein, ermöglicht aber keine ästhetische Erfahrung, sondern verhindert sie. Der Verzicht auf einen Standort – den der Regisseur einnehmen muss – lässt den Zuschauer irgendwohin treiben statt ihn herauszufordern, die eigene Position zu suchen und einzunehmen.

Herzog ist natürlich viel zu klug, um die postmoderne Falle zuschnappen zu lassen, aber er konnte sich ihren Fangzähnen doch nicht ganz entwinden. Die Zauberflöte, die in seiner Inszenierung den Prinzen Tamino vor den wölfischen Ungeheuern rettet, war bei ihm zumindest verstimmt. Hätte er sich konsequenter auf die Gegensätze des Stücks eingelassen, hätte er die naive, aber zutiefst menschliche Welt des Papageno über das putzige Dreirad-Lieferwägelchen und die Vogelfedern hinaus geführt, wäre auch das Potenzial von Bühnenbildner Mathis Neidhardts Felsenreitschul-Imitation zu erschließen gewesen. Denn das Versteckspiel mit verschiebbaren Kästen nach Art eines Türen-Klapp-Boulevardkrimis brachte nicht viel.

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Die Salzburger „Zauberflöte“ war nicht wegen Herzogs Inszenierung mit Spannung erwartet worden, sondern vor allem, weil sie Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal in Salzburg – in Zürich war er schon vor fünf Jahren – und zum ersten Mal mit seinem Orchester, dem „Concentus Musicus“ aufführte. Und weil er aus lebenslanger, vielleicht ein wenig altersmilder Erfahrung eine Gegenposition zu all den verhetzten „Original“-Zauberflöten formuliert. Wir hören den schlanken, dunkel grundierten Streicherklang nicht im mechanischen Tempo, sondern in einer fast schon manieristisch am Text-Metrum ausgerichteten Varianz. Wir hören seidige Bläser, die nicht mehr jäh, sondern fast schüchtern akzentuieren. Wir erleben, wie Harnoncourt zwar beweglich-flüssige Grundtempi anschlägt, dann aber verzögernd der Emotion Raum gibt, wie in „Schnelle Füße…“ oder in Paminas Arie „Ach ich fühl’s…“. Und wir erfahren, dass Sarastros Arien, längst keine wuchtig-pathetischen Bekenntnisse aus der Patriarchenwelt mehr, durchaus mit gemäßigter Würde vorzutragen sind. Irritierend ist, dass Harnoncourt kaum Wert auf den musikalischen Bogen legt. Er fordert nicht nur konsequentes Anti-Legato, sondern nimmt „Löcher“ in Kauf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Wer von der Krise des Wagner-Gesangs redet, muss den Mozart-Gesang mit einschließen. Seit den traurigen Eindrücken aus dem Salzburger Mozart-Marathon 2006 hat sich da nicht viel geändert. Sicher, Georg Zeppenfeld als undramatisch-beherrschter Sarastro und die unangestrengt auf dem Atem singende Pamina Julia Kleiters wissen, wie es geht. Mandy Fredrich hat auch am Essener Aalto-Theater die „Königin der Nacht“ gesungen: Sie beherrscht die technischen Finessen der Partie, hat ein gut ausgebildetes Fundament für den Klang auch in der Höhe, aber keine charismatische Brillanz. Markus Werba, ein gewinnender Darsteller, darf sich als Papageno ruhig an seiner künftigen Frau, der bezaubernden Elisabeth Schwarz, ein Beispiel nehmen und die Stimme aus der Kehle nach vorne bewegen. Bernard Richter singt den Tamino hölzern und kann die Töne nicht binden. Die drei Damen bilden alles andere als ein Ensemble, speziell Sandra Trattnigg zernichtet als Erste Dame mit Trompetentönen den Gleichklang. Und gibt es in Salzburg für den Mohren – der hier nach neuester Quellenkritik „Manostatos“ heißt – keinen Buffo-Tenor mehr, der nicht nur haltlosen Sprechgesang bietet wie Rudolf Schasching?

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Noch viel misslicher sind die sängerischen Eindrücke in der einzigen Oper, die bei den Salzburger Festspielen aus dem Repertoire herausfällt: Peter von Winters „Das Labyrinth“, nur sieben Jahre nach Mozarts Tod von Emanuel Schikaneder als „Der Zauberflöte zweyter Theil“ konzipiert. Wir finden das bekannte Personal aus Mozarts Oper wieder. Die Königin der Nacht hat sich mit König Tipheus und dessen Freund Sithos zwei Heerführer an ihre Seite geholt, die den Kampf mit dem spürbar militarisierten Sarastro endgültig entscheiden sollen. Papageno findet seine Eltern und mit ihnen jede Menge Geschwister, und Monostatos ist am lunaren Hof trefflich etabliert. Tamino und Pamina müssen neue Prüfungen ablegen: Nach Feuer und Wasser ist nun die Erde dran: ein unterirdisches Labyrinth gilt es zu durchschreiten. Nicht Hollywood, sondern Wien hat die Fortsetzung als Erfolgsprinzip entdeckt.

Ein angemessener Blick auf das Stück muss sich zuerst davon verabschieden, Konzeption und Musik der „Zauberflöte“ auf diese Fortsetzung zu übertragen. In den sieben Jahren seit ihrer Uraufführung haben sich Perspektiven und Interessen verschoben, gerade im rasch auf Zeitströmungen reagierenden populären Unterhaltungstheater. Im „Labyrinth“ tritt die Ideenwelt zurück, vielleicht, weil Mozarts Einfluss fehlt. Dafür triumphiert das Wunderbare, Effektvolle, Kolportagehafte.

In Salzburg bleibt dieser „zweyte Theil“, wie so manches Film-Sequel, glanzlos hinter dem Original zurück: Im Residenzhof singt die – früher mal in Dortmund und Bonn, jetzt an der Komischen Oper Berlin engagierte – Julia Novikova eine koloraturüberforderte, harttönig-dünne Königin, die viel gelobte Malin Hartelius eine Pamina ohne Höhe und Charme. Clemens Unterreiner und Philippe Sly bleiben als neu eingeführte Krieger Tipheus und Sithos zuverlässig blass.

Mandy Fredrich als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Julia Novikova als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Das mag auch der inspirationslosen Regie der in Dortmund geborenen und bis 2003 am Schauspielhaus Bochum inszenierenden Alexandra Liedtke geschuldet sein. Warum Salzburg für ein solches Werk keinen Platz für einen erfahrenen Opernregisseur hat, ließe sich wahrscheinlich nur durch einen Blick hinter unzugängliche Kulissen ergründen. Raimund Orfeo Voigts Bühne verwendet technisch aufwändige, verschiebbare Licht-Lamellen, erinnert in Reminiszenzen wie der Hanswurst-Bühne an die Tradition des Volkstheaters, mit dem Zitat von Schinkels Berliner Zauberflöten-Himmelsgewölbe an die Spuren des erhabenen Aufklärungstheaters. Doch Liedtke fällt nichts ein als schrecklich vorhersehbare Auftritte; vom Zauber- und Maschinentheater ebenso wenig eine Spur wie von einem Versuch, zu verstehen, wie Schikaneder den Stoff an den Geist einer neuen Epoche angepasst und was diese Wandlung für Zuschauer von heute bedeuten könnte.

Im lustlos knappen Beifall zeigt sich der Ärger über festspielunwürdige Besetzungen, über das beflissene, aber uninspirierte Spiel des Mozarteum-Orchesters unter Ivor Bolton und über eine konzeptlose, den Abend unerträglich dehnende Inszenierung. Wären da nicht einige wenige Sänger gewesen, auf deren Auftritt man sich gefreut hat wie Christof Fischesser als Sarastro oder Thomas Tatzl und Regula Mühlemann als Papageno und Papagena, wären da nicht die heiteren, die „ausschweifende Pracht“ der Uraufführung persiflierenden Kostüme von Susanne Bisovsky und Elisabeth Binder-Neururer gewesen, der gut dreistündige Abend wäre in Langweile versauert.

An Peter von Winter lag es nicht, wie manche Rezensenten vorschnell behaupteten, die immer noch glauben, was nicht im internationalen Repertoire steht, tauge nichts. Winters Bezeichnung „große heroisch-komische Oper“ deutet eine Entwicklung an: Die Musik gibt sich „romantischer“, weniger verspielt, aber auch weniger durchgearbeitet als Mozarts Vorbild. Wir schreiten voran in Richtung Cherubini, Spontini und Beethoven.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Winter liefert kein Plagiat oder eine Imitation. Zwar tauchen in der Ouvertüre die feierlichen Dreiklänge auf. Die Königin der Nacht noch effektvoller Koloraturen perlen lassen, Sarastro gefällt sich wieder in salbungsvollem Arioso. Die tragenden Zauber-Requisiten Glockenspiel und Flöte treffen wir erneut. Offenbar besonders beliebte Szenen werden wieder aufgenommen, wie die Tänzchen der vom Glöckchenklang verzückten Bösewichter. Doch es kündigen sich auch andere, pathetischere Töne an. Der Chor – der von Alois Glassner einstudierte Salzburger Bachchor – hat eine gewichtige Rolle. Der Krieg Sarastros mit König Tipheus und der nun eindeutig böse und rachsüchtig gezeichneten lunaren Herrscherin entspricht der politischen Lage – ein Jahr vorher stand Napoleon vor Wien – und wohl auch dem Hang der Zeit nach mehr „Action“ und weniger Weisheitslehren.

Und wenn ein Schleier auf dem Weg durchs Labyrinth die „Tugend“ der Pamina schützen muss, haben sich die Gewichte verschoben von Philosophie und Weltweisheit zur einer am Sexuellen orientierten Moral der neuen bürgerlichen Schichten, auf deren dunkler Seite die Versuchung für Papageno lauert: Für exotischen Sex, sprich, die Nacht mit einer schwarzen Frau, ist er bereit, seinen Aufruf zum Mord an Monostatos noch einmal zu überdenken. Zu wünsche wäre, dass die Salzburger Wiederentdeckung von Winters „Zauberflöte“ nicht – wie die letzte Aufführung 2002 in Chemnitz – einfach verpufft. Dem Aufführungsrekord der Mozart’schen Erstversion schadet es nicht, wird hin und wieder an einem Opernhaus die Fortsetzung gespielt.

Infos zum Salzburger Spielplan: http://www.salzburgerfestspiele.at




Zum Auftakt der 50. Bundesliga-Saison: BVB – der Meister legendärer Fußballereignisse

Ich hatte einen Traum. Er spulte sich in der vergangenen Nacht ebenso plastisch wie mein Hoffen weckend vor meinem inneren Auge ab. Und dann fiel es mir wie Schuppen aus Augen und Haaren: Der Ballspielverein Borussia Dortmund ist der ultimativ wertvollste Club Deutschlands, wenn es um historische Wegmale in der Nachkriegsgeschichte der Kicker unseres Landes geht.

Es war der BVB, der letztmalig Deutscher Meister nach der überlieferten Methode wurde, bevor die Bundesliga ins professionelle Leben gerufen wurde. 3:1 schlug er den 1. FC Köln in Stuttgart, und ich sehe es noch wie heute, wie der Kölner Keeper Fritz Ewert schier hilflos hinter dem Ball her hechtete, den ihm „Zange“ Wosab, „Aki“ Schmidt und – ja – „Hoppy“ Kurrat um die Ohren schossen.

Vor 50 Jahren, als die Bundesliga ins Leben tapste, war es der BVB, der gegen Werder Bremen spielte und nach nicht einmal einer Minute durch den unvergesslichen Timo Konietzka das erste Tor dieser taufrischen Liga erzielte.

Es war der BVB, der 1966 in Glasgow als erste deutsche Mannschaft überhaupt einen europäischen Wettbewerb gewann und den FC Liverpool nach Verlängerung mit 2:1 besiegte. Reinhold Wosab erzählte mir gern die Geschichte, wie „Stan“ Libuda nach dem Siegtor, von seinen Mitspielern fast erstickt, japste: „Gott sei Dank, was hätte ich nur meiner Frau gesagt!“ Er und andere waren in der Nacht von Trainer „Fischken“ Multhaup beim Kartenspiel erwischt worden und der unerbittliche Chef hatte mit hohen Geldstrafen gedroht, falls am Spieltag das Match verloren ginge.

Auch war es der BVB, der als erster deutscher Verein den Weltpokal aus Japan nach Dortmund holte, nachdem die Borussen 1997 als erste deutsche Mannschaft die Champions League gewonnen hatten. Vorher hieß das volksmundig Landesmeister-Pokal.

Jubel im Westfalenstadion, anno 2012. (Foto: Bernd Berke)

Jubel im Westfalenstadion, anno 2012. (Foto: Bernd Berke)

Vergangene Saison fuhr dieser BVB mit 81 Punkten wieder ein Rekordergebnis ein und nahm den netten Bayern auch diese Last ab, in der ewigen Punkteliste der Deutschen Meister vorn zu liegen.
Und da fällt mir, passend zu meinem Schlussakkord, noch eine – wahrscheinlich nie mehr erreichbare Einzigartigkeit ein: 1956/57 und 1957/58 bejubelten die Borussen zweimal hintereinander den Gewinn der Meisterschale – mit exakt der identischen Mannschaftsaufstellung: Kwiatkowski, Burgsmüller, Sandmann, Schlebrowski, Michallek, Bracht, Peters, Preißler, Kelbassa, Niepieklo, Kapitulski. Unnas Bürgermeister Werner Kolter überrascht fußballbegeisterte Gesprächspartner gern damit, dass er die Aufstellung rückwärts vom Sturm bis zum Torhüter aufsagen kann und zeigt sich damit stolz als Muttermilchfan seiner Mannschaft.

Heute beginnt mit der Partie Borussia Dortmund – Werder Bremen die 50. Bundesligasaison. Eine historische Zahl, die den BVB wieder zu ebenso historischen Taten ermuntern möge: Eine Meisterschaft in der Jubiläumssaison, die dritte Meisterschaft in Folge, was noch nie gelang.

Ziemlich blöde lächelnd gelangte ich wieder unter die Wachenden und machte mir postwendend Mut: Das ist schwarz-gelbe Fan-Kultur, das Unwahrscheinliche in die Nähe des wahrscheinlich Möglichen zu rücken.




Die Verhältnisse zum Tanzen bringen: Fluxus-Kunst im Dortmunder „U“

Wer Fluxus definieren oder gar fixieren will, dem entgleitet das Phänomen unweigerlich: Diese diffus ungerichtete Kunstrichtung mit Schwerpunkt in den 1960er Jahren war ja gerade aufs Tanzen der Verhältnisse aus, gleichsam auf Verflüssigung aller Handlungen. Und wie sehr hat man auf den Alltag, aufs Leben der Vielen einwirken wollen! Die politische Zeitstimmung hat derlei Aufbrüche gewiss begünstigt.

Nicht nur der Zufall hat es so gefügt, dass das Dortmunder Museum Ostwall (heute im Dortmunder „U“) beim Sammeln der Fluxus-Reliquien und Relikte in Deutschland einen der Spitzenplätze einnimmt und auch international zu beachten ist. Vor allem hat man das dem Remscheider Sammler Wolfgang Feelisch zu danken, der bereits seit 1968 Fluxus-Objekte in die Stadt brachte und sich seither immer wieder zu großzügigen Schenkungen bereit fand. Gleichsam in seinem Windschatten hat Dortmund auch umfangreiche Dauerleihgaben aus der Düsseldorfer Sammlung Hermann Braun/Holger Lieff erhalten. Und schließlich hat der Freundeskreis des Museums einige Mittel beigesteuert.

Ob weite Teile der Bevölkerung davon Kunde haben oder es gar zu schätzen wissen, das ist eine ganz andere Frage. Jetzt wäre jedenfalls Gelegenheit, sich anhand von rund 300 Exponaten mit den Beständen vertraut zu machen, darunter auch wesentliche Neuerwerbungen.

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Wer nun die Dortmunder Schau „Fluxus. Kunst für alle“ auf der 6. Ebene des Dortmunder „U“ betritt, ist wahrscheinlich frappiert, wenn nicht düpiert, gibt sie sich doch auf den allerersten Blick sperrig, eckig, nahezu abweisend. Man sieht zunächst nur lauter ineinander verschachtelte Holzkisten. Bestenfalls denkt man an Umzug, somit denn doch an Bewegung.

Diese Verschläge enthalten Schriftstücke und Gegenstände aller Art. Es sind just Relikte, Reflexionen oder auch „Partituren“ und Handlungsanweisungen einstiger Fluxus-Aktionen, Restbestände von Happenings und Performances. Das Spektrum reicht vom vollen Aschenbecher bis zum Rollmopsglas, von der Weinflasche bis zum rosigen Sparschwein, vom verfremdeten Kleidungsstück bis zur Papierschwalbe. Genug. Des Aufzählens wäre kein Ende.

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Manche Auftritte von damals brachen so entschieden mit eingefahrenen Lebensgewohnheiten, rissen den Erwartungshorizont dermaßen weit auf, dass sie bis heute nachwirken – bis hin zu den flashmobs der Internet-Ära. Alan Kaprow entwarf beispielsweise eine Aktion, bei der ein einzelner Damenschuh quer durch die Stadt gezogen und von Zeit zu Zeit mit Mullbinden und Pflaster versorgt wurde. Auch diesen Schuh darf man hier ehrfürchtig betrachten. Oder auch feixend.

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Widersprüchlich und irritierend genug: Was damals sehr lebendig und lebensnah dahergekommen sein muss, wirkt heute im Museum (wenn nicht Mausoleum) zunächst zwangsläufig stillgestellt, ja fast starr. Man muss sich das aneignen. Besucher sollten Zeit mitbringen, sie müssen sich vor Vitrinen und an Bildschirmen schon ziemlich intensiv in Einzelheiten versenken, um sich das vitale Geschehen der großen Fluxus-Zeit halbwegs zu vergegenwärtigen. Am besten mag dies mit Hilfe der Filme und Tondokumente gelingen, die die Ausstellung anreichern.

Die Fluxus-Protagonisten waren um 1962 (also vor 50 Jahren) angetreten, zwischen Spiel, Provokation und Ironie „Kunst für alle“ hervorzubringen. Allseitige Offenheit in jedem Moment war eine Leitlinie. Alles ist im Fluss. Ein gewichtiger geistiger Vorvater ist John Cage, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre und zu Lebzeiten die Grenzen zwischen den Kunstgattungen sprengte, den (kalkulierten) Zufall als kreative Ur- und Triebkraft fruchtbar machte und alle etwaigen Hierarchien auf diesen Feldern einebnete. Sein „Untitled Event“ (1952) gilt als Grundmuster späterer Experimente. Viele Künstler haben seine Seminare besucht. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch die Ruhrtriennale dem Nachhall seines Oeuvres widmet und dass das Museum Bochum sich derzeit ebenfalls Fluxus auf die Fahnen schreibt.

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Wir werfen mal ein paar Namen aus der Dortmunder Ausstellung in die Luft: Allan Kaprow, Wolf Vostell, Milan Knížák, George Brecht, George Maciunas, Daniel Spoerri, Alison Knowles, Robert Watts, Dick Higgins, Robert Filliou. Sie alle zählten zum internationalen Netzwerk der Künstler, die dem Fluxus zugerechnet wurden und vielfach miteinander befreundet waren. Joseph Beuys gehörte dann irgendwie auch hinzu, geradezu unvermeidlich.

Bemerkenswert: Die meisten von ihnen hatten keine künstlerische Ausbildung im akademischen Sinn, es gab etliche Quereinsteiger wie den ehemaligen Ökonomen, den früheren Ingenieur oder Chemiker. Avanti dilettanti? Nun, das wäre zumindest aus heutiger Sicht eine Beleidigung. Fluxus steht nicht zuletzt für luzide, ausgeklügelte Konzepte.

Der Originalitätsbegriff gerät freilich ins Wanken. Man sieht in Dortmund Bruchstücke von Alan Kaprows früherer Installation „Fresh air“ (Frischluft): Da darf man sich vor einen Tischventilator setzen und sich dabei im Handspiegel betrachten, es soll dabei bewusstes Atmen erfahren werden. Es handelt sich um den teilweisen Nachbau eines Remakes der Ursprungsarbeit, also um ein Re-Remake, wenn man’s so verschachtelt will. Viele Fluxus-Überbleibsel sind so genannte Multiples, also Auflagenkunststücke zu anfangs geringen Einstiegspreisen. Alle sollten sich das leisten können. Hat da jemand Kunstmarkt gesagt? Jaja, ist ja schon gut. Aller Anfang war bescheiden.

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Auch bewegen wir uns hier im flirrenden Grenzgelände zwischen erklärter Kunst, Alltag und Banalität. Das „Exit“-Schild hoch droben im Raum ist kein Hinweis auf Fluchtwege, sondern ein Kunstobjekt, das auf ständigen Wandel durch Verlassen einer Situation (doch auch auf den finalen Exitus) verweist. Und der blaue Putzeimer, der in der Ecke steht, stammt von Robert Filliou und trägt am Besenstiel ein Schild, das die Allerheiligste der Tafelbildkunst ironisch degradiert: „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“.

Eine Kunst, die bizarre Objekte mit Tischtennisball kreiert (wird er diesmal rechts oder links herausfallen?) oder etwa der Bohne veritable Aktionsreihen widmet (Alison Knowles), hat eben vielfach befreienden Witz. Selbiger muss allerdings hie und da aus den Relikten erst wieder fleißig herausgekitzelt werden. Weiterer Ansatz: George Brecht und Robert Filliou fußen – wie John Cage – je unterschiedlich auf buddhistischem Gedankengut, das alles scheinbaren Paradoxien auflöst.

Wer nach all dem körperlichen Ausgleich braucht, der begibt sich am besten mit bereitgestellten Gummistiefeln in Wolf Vostells Arbeitsfeld „Umgraben“ und schichtet mit einer Schaufel Erdreich um, dabei seltsame Klänge erzeugend. Vostells Denkanstoß zum Tun: „Gefühl umgraben / Gedächtnis umgraben / Zeit umgraben / Ideen umgraben…“

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

FLUXUS. Kunst für alle! 24. August 2012 (Eröffnung 19 Uhr) bis 6. Januar 2013. Museum Ostwall im Dortmunder U (Leonie-Reygers-Terrasse / Navi: Rheinische Straße 1), Oberlichtsaal auf Geschossebene 6 (weiterer Fluxus-Eigenbesitz in der Dauerausstellung auf den Ebenen 4 und 5). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Umfangreiches Begleitprogramm/Führungen: www.museumostwall.dortmund.de




Familienfreuden II: Zur Selbstfürsorge ins Schwimmbad – oder doch nicht?

Wasserglas

Die Welt im Wasser(glas). Foto: Nadine Albach

Ob ein schlechtes Gewissen dann und wann wohl dazugehört zum Elternsein? Täglich genehmigen sich bohrende Fragen eine lustige Karussellfahrt durch mein Gedankenzentrum und die übergewichtigste von ihnen ist die nach dem „Genug oder zu wenig?“ Zumal bei all der Zuneigung dem Nachwuchs gegenüber auch ab und zu mal ein wenig Selbstfürsorge wichtig ist.

Also: Ich wollte schwimmen. Mit jeder Faser meines Seins stellte ich mir den Sprung ins kühle Nass vor. Und meine Schwiegermutter war gern bereit, mir dieses Rendezvous durch einen Spaziergang mit unserer Tochter zu ermöglichen. „Nimm doch mein Fahrrad“ war ihr zwitschernder, wie sich herausstellte verhängnisvoller Vorschlag.

Ein Rad mit Rücktritt war ich spätestens seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr gefahren. Als ich vor dem Schwimmbad ankam und nur noch in Pudding trat, glaubte ich an einen Bedienungsfehler. Stattdessen hatte sich die Kette verabschiedet. Zwei patente Fensterputzer eilten zur Hilfe – und scheiterten nach einer Viertelstunde mit schmierigen Fingern und traurigen Blicken. Als ich schließlich zwischen den Werkzeugen der Radstation am Hauptbahnhof stand und der Werkstattleiter von einem wieder neu aufzuhängenden Hinterrad erzählte, wusste ich, dass sich die ölverschmierte Kette eifersüchtig zwischen das Wasser und mich geschoben hatte. Ich seufzte innerlich ein leises Ade.

Abends allerdings bekam ich eine zweite Chance. Mein Mann passte auf, ich brauste – diesmal mit meinem Rad – zum Schwimmbad, voll sprudelnder Gedanken, mit schnellem Trittt

– bis ich ein kleines Schild am Eingang im Wind flattern sah. „Das Schwimmbad ist aus technischen Gründen geschlossen.“

Ach! Duschen, dachte ich, duschen ist ja fast wie schwimmen…




Präzise Anarchie: Eröffnung der Ruhrtriennale mit „Europeras 1 & 2“ von Heiner Goebbels

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt und gilt als einer der wichtigsten Anreger der zeitgenössischen Kunst: Malerei, Musik, Performance hat er beeinflusst, neue Richtungen wie die Fluxus-Bewegung wären ohne ihn nicht denkbar gewesen. Als Theoretiker ist er für ein modernes Musiktheater wohl ebenso bedeutsam geworden wie für die Sprechbühne Antonin Artaud und sein „Theater der Grausamkeit“. Für beide spielt die Einheit des Kunstwerks, die Nachahmung der Wirklichkeit, die Geschlossenheit eines als sinnvoll oder zielgerichtet erlebbaren Zusammenhangs keine Rolle.

Im Gegenteil: John Cage will jede Absicht aus seinen Werken verbannt wissen. Der Zufall soll herrschen. Und die Autonomie des Einzelnen steht über jedem Zusammenhang. Zur Eröffnung der Ruhrtriennale hat deren neuer Intendant Heiner Goebbels mit „Europeras 1 & 2“ nicht nur dem amerikanischen Multitalent eine Hommage bereitet, sondern wohl auch ein prinzipielles Statement zum Theater gegeben. Ein erweiterter Begriff vom Theater, die Negation traditioneller Formen, unmittelbares Erfahren statt Mitteilen und Verstehen: Ein Kunstbegriff, der in den bildenden Künsten seit einem guten Jahrhundert dominiert, war mit der Frankfurter Uraufführung der beiden ersten „Europeras“-Werke 1987 endgültig im Musiktheater angekommen.

Cages Prinzip: Alles ist getrennt, nichts gehört zusammen. Musik, Bühne, Licht, Bewegung, Kostüm: Die Bestandteile der klassischen Oper werden zerlegt und wieder montiert. Die Abläufe sind nach dem chinesischen „I Ging“ zusammengestellt. Dabei spielt der Zufall die bestimmende Rolle – und die Zeit: Die Zahlenreihen beleuchteter Stoppuhren rasen in „Europeras 1“ unaufhaltsam dem Ende zu: Eine Stunde, dreißig Minuten exakt, dann verklingt der letzte einsame Gesang.

Man könnte den Vorgang, der in diesem Zeitraum abläuft, objektivierte Anarchie nennen. Denn die Grundlagen, die Cage entwickelt und Goebbels in seiner szenischen Realisierung aufgegriffen hat, sind – der chinesischen Orakel-Methode entsprechend – mathematisch höchst präzis. Das Anarchische bedeutet nicht Chaos, sondern den völligen Verzicht auf Über-, Unter- oder Zuordnung. In 64 Zeitfenstern spielen rund 30 Musiker Fragmente aus Opernpartituren. Das kann ein einzelner Ton sein oder ein komplexes Melodie-Bruchstück. Wann das Stück innerhalb des gegebenen Zeitrahmens erklingt, bleibt dem jeweiligen Spieler überlassen.

An 64 festgelegten Positionen auf der Spielfläche singen die zehn Solisten Arien oder Fragmente aus 64 Opern, von ihnen selbst ausgewählt aus dem rechtefreien Repertoire, von Purcell und Gluck bis Wagner und Debussy. In Bochum, im riesigen Raum der Jahrhunderthalle, waren die 64 Felder über die gesamte Tiefe des bespielbaren Raums von rund 90 Metern Länge verteilt. Bühnenbildner Klaus Grünberg plünderte die Operngeschichte für 32 Bühnenbilder; Florence von Gerkan entwickelte aus historischen Vorlagen 32 Kostüme, von der Rüstung bis zum Reifrock.

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

So rauschen sie vorbei, nach einem exakten Zeitplan und dennoch systemlos, simultan und ohne Beziehung zueinander: Venezianischer Barock und deutsches Biedermeier, Römer aus der Opera seria und bürgerliche Herren, gemalte Drachen und Seeungeheuer, romantische Heroinen und affektierte Hofgecken. Was sie singen, passt nicht zum Kostüm; wie sie sich bewegen, passt nicht zum Affekt ihrer Arien. Auf der Bühne öffnen sich Höllenschlünde aus dem barocken Wiener Theater und romantisch Weber’sches Waldweben, brennen Tempel und schwingen kristallene Lüster, strahlen Pappmaché-Sonnen und fingern einsame Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Denn auch das Licht verweigert den Dienst, sucht sich autonom und ohne Zusammenhang mit der Szenerie seinen Weg.

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Die Sänger, reduziert auf sich selbst, kämpfen sich mit Hilfe der Stimmgabel durch ihre Arien – hier beschwört Nikolay Borchev Lortzings „Heiterkeit und Fröhlichkeit“, dort fragt Frode Olsen mit dem Eremiten aus dem „Freischütz“, ob ein Fehltritt solcher Büßung wert sei. Gesungen wird entsprechend mühevoll, mit heiserem Timbre und unsicherer Intonation. Kein Wunder, fehlt doch jede Stütze durch ein Instrument – im Gegenteil, die Sänger haben sich gegen die vor sich hin streichenden, blasenden oder schlagenden Solisten des Festivalorchesters zu behaupten. Die Helden dieser Aufführung sind die „Assistenten“: Die jungen Leute haben nach einem präzisen Zeitplan die Requisiten kreuz und quer durch die Halle zu transportieren, schleppen Bühnenteile, bringen Hänger zum richtigen Ort. Zu schauen gibt es viel.

Ein Spaß also, eine überbordende Luxus-Fantasie eines Mannes, dessen Antwort auf die Last der Tradition, auf die Enge des Konventionellen, auf jedes nach Bedeutung riechendes Konzept stets Gelächter war? Sicher nicht. Auch wenn Kritiker in „Europeras“ ein großironisches Werk erkennen wollen: Der radikale Verzicht auf Sinn, die ebenso radikal durchgezogene Vereinzelung der Theater-Elemente, die Herrschaft der Herrschaftsfreiheit sind so humorlos wie konsequent. Hier wird nicht persifliert, hier transzendiert keine leichte Hand Pathos in Parodie. Cage ist kein Offenbach der 68er.

Die Kunst, die hier beabsichtigt ist, schafft keine Komödien. Auch wenn das Schmunzeln in vielen Szenen nicht weit ist: Gelacht wird kaum in der tiefen, dunklen Jahrhunderthalle. Und das lag nicht an den tropischen Temperaturen, die – das wird man zugestehen müssen – dem begeisterungsarmen Beifall noch zusätzlich einen matten Touch gegeben haben. Das liegt wohl eher am Todesernst, mit dem hier die Individualisierung, die Vergötterung des Selbst, die Negation des Sinns vorangetrieben werden. Welche Geschichte in der vermixten europäischen Operntradition zu lesen ist, bleibt alleine dem Zuschauer überlassen. Die bildende Kunst lässt grüßen. Und das Theater, das sich mit der Weigerung, Geschichten zu erzählen, in ein ästhetisch so brisantes wie philosophisch verstiegenes Abseits manövriert hat. Das selbstbestimmte Subjekt triumphiert.

„Europeras“ lässt den Rezipienten mit seinem unauslöschlichen Trieb, Sinn und Zusammenhang zu erschauen, gnadenlos alleine. Es sind „your operas“, wie man den Begriff „Europeras“ auch lesen könnte: eure Opern. Nicht nur jene, die aus Europa 200 Jahre in die Welt geschickt wurden und die Cage, wie er sagte, alle auf einmal zurückgeschickt hat. Sondern eben auch die Oper jedes Einzelnen, der auf einem Platz in der heißen Jahrhunderthalle in der Falle sitzt, für sich selbst zu entscheiden, was er mit diesen Elementen sinnlicher Einwirkungen denn nun anfangen soll. Mit der bildenden Kunst tut er sich bei solchen Operationen nicht so schwer. Für ein Bild ist der Ablauf der Zeit nicht relevant; selbst vergängliche Installationen zerfallen in Zeiträumen, die normalerweise eine intensive Betrachtung erlauben. Für das Musiktheater gilt das nicht.

Goebbels beschreibt das Ergebnis als eine „Polyphonie unzähliger ‚Stimmen‘, die zu eigener Entfaltung gebracht werden“. Man muss kein Antimodernist sein, um in Cages Experiment etwas anderes zu erkennen: Eine babylonische Anti-Symphonie, ein monströses Nebeneinander von „befreiten“ akustischen und visuellen Äußerungen, Sinnbild der Vereinzelung von Individuen, die nur durch die gnadenlose Diktatur einer Maschine – der Uhr – überhaupt in so etwas wie einen Zusammenhang genötigt werden. Eine radikale Freiheit, die nicht nach dem Warum und Wohin fragt. Das überlässt sie, zu erschütternder Gänze, dem Zuschauer.

Weitere Termine: 29., 31. August, 2. September (höchstens noch Restkarten)




Vor 20 Jahren brannte es lichterloh in Lichtenhagen – und es schwelt weiter

Da haben wir wieder einmal einen Jahrestag, den Zwanzigsten. Am 22. August vor 20 Jahren brannte es lichterloh.

Und nicht nur in Lichtenhagen, das liegt bei Rostock und wäre wohl niemandem ernsthaft bekannt geblieben, hätten nicht Bilder aus Lichtenhagen so viel Ähnlichkeiten gehabt mit Bildern aus X-beliebigen deutschen Städten: Ein paar hundert Menschen gröhlen „Deutschland den Deutschen“ und setzen ein Haus in Brand – eine weitaus größere Anzahl von Menschen schaut dem Treiben zu. Zum Teil sind sie entgeistert, diverse auch begeistert, doch eines haben sie gemein: Sie schauen zu und greifen nicht ein – exakt das Szenario, das als so genannte „Kristallnacht“ übel riechende deutsche Geschichte schrieb.

Der Ort in Mecklenburg-Vorpommern lebt nun mit dem Makel, Sinnbild dafür zu sein, dass noch so viele Jahrzehnte vergehen können in diesem, unserem Lande, dass eines aber offenbar nicht aus einem wie auch immer gearteten deutschen Bewusstsein zu vertreiben ist: Eine schier unausrottbare Phobie, dass Menschen aus anderen Ländern dafür verantwortlich sind, wenn irgendetwas bei Menschen aus deutschen Landen nicht so richtig rund läuft. Vor allem Menschen aus anderen Ländern, wo auch noch an was anderes geglaubt wird.

Deutsche Politiker – namentlich solche, die sich als Bewahrer konservativer Werte sehen – sind bei Prozessen, die diese Erkenntnis immer wieder bestätigen, ganz vorn in der Mitverantwortungshaftung. Die salbadern dann immer gern von Eindämmungen, von Zuwanderungen, die ausschließlich wegen guten Lebens im deutschen Gastland stattfinden und davon, dass Boote sinken, wenn sie überfüllt werden und anderes dummes Zeug. Namentlich im Falle Lichtenhagen drängen sich dann auch mal Zweifel auf, ob die legitimierte Staatsmacht in grüner Uniform (bald flächendeckend in Blau) immer hilfreich ist. Begründete doch in der Brandanschlagsnacht ein höherer Beamter seine Abwesenheit von der erforderlichen Anwesenheit am Ort damit, dass er sein Hemd habe wechseln müssen. Über die Gründe des Fehlens seiner Kollegen ist nichts Näheres bekannt.

Was lehrt uns das? Vor 20 Jahren Lichtenhagen, dazwischen NSU unter den offenbar total erblindeten Augen der Nachrichtendienste, demnächst was? Dass es dem Westfalen-Freund Heinrich Heine übel wurde, wenn er nachts an Deutschland dachte, kann ich gut verstehen. Alles kann sich in leicht veränderter Form wiederholen, weil in diesem, unserem Lande eine gesellschaftliche Grundstimmung undiskutiert bleibt, die so toxisch ist wie Blausäure. Wir haben sogar einen Begriff dafür erfunden, damit es nicht so schlimm klingt und im schlimmsten Falle sogar koalitionsfähig bleibt, wenn dergleichen in der Parteienlandschaft erfolgreich sein sollte: Rechtspopulismus.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ (Bertolt Brecht – Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui)




Schöner als Kino: Wie Liebe und Tod nach Gladbeck kamen

Die folgende hoffentlich kurzweilige, aber doch einige Seiten lange Liebesgeschichte rekonstruierte ich da, wo ich sie in manchen Details nicht erfand, auch aus Kopien zweier Briefe Sigismund von Radeckis, die mir Ruth Weilandt-Matthaeus schenkte  und die mit mir dazu lange Gespräche führte. Sie gab mir ausdrücklich die Erlaubnis, ihre Geschichte weitererzählen zu dürfen. Ruth, die lange die Nachlassverwalterin der Werke von Radeckis war, verstarb vor einigen Jahren in Gladbeck. Auch der in Riga geborene von Radecki, der über viele Jahrzehnte in Zürich wohnte, liegt seit 1970 in Gladbeck begraben. 1953 erschien von ihm bei Rowohlt das rororo-Taschenbuch Nr. 84 unter dem Titel „ABC des Lachens“, ein Buch, das sich bis zum Mai 1981 knapp 350.000mal verkaufte.

Mehr über diesen Übersetzer, Meister der kleinen Form und Freund von Karl Kraus bei Wikipedia oder im „Schriftenverzeichnis Sigismund von Radecki“, das Dirk-Gerd Erpenbeck bearbeitet hat, der Bochumer Radecki-Kenner, der mir mit so mancher Information auf die Sprünge half. Ihm, Ruth und Sigismund von Radecki widme ich die folgende Geschichte.


Ruth, Sigismund, und Johannes auch – eine Liebesgeschichte
Auf- und nachgezeichnet sowie koloriert von Gerd Herholz

1946, der Krieg zu Ende, Johannes war aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Ausgehungert waren wir, heißhungrig auch auf Lesestoff. Aber wir hatten nichts, nullkommanichts, er nicht, ich nicht, bis Johannes in Wurzen die Arbeit in der Molkerei bekam. Endlich konnten wir uns Bücher kaufen, auch welche von Sigismund von Radecki. Wir liebten den, noch ehe wir ihn persönlich kannten. Johannes hat für die Molkerei Kühe gezählt, Statistik gemacht. 1948 kam eine Anfrage von seiner alten Arbeitsstelle, dem Essener Reisebüro, das ist das große Ding am Bahnhof, eine Anfrage, ob er sofort wieder anfangen wolle. Was Besseres konnte ihm nicht passieren. Ich blieb noch in Wurzen. Als das wirklich was Festes wurde in Essen, bin ich zweimal schwarz über die Grenze, durch die Wälder mit zwei Koffern, da war alles drin, was ich so an Klamotten besaß, paar Löffel, paar Teller. Einmal bin ich von Russen erwischt worden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich ein anderes Mal erzähle. Diese Russen haben mir, ohne mir etwas zu tun, ganz freundlich über die Grenze geholfen. Das glaubt kein Mensch.

Und jetzt kommt ein merkwürdiger Zufall:
Wir lebten in Essen damals, in nur einem Zimmer in einem kaputten Haus, dem Elternhaus von Johannes. Teile des Daches waren aus Wellblech, damit es nicht durchregnete. 1948 war das, in der Siedlung Feldhauskamp. Einige Häuser weiter wohnte eine Dame, die hatte einen süßen Pekinesen, auf den waren wir gleich scharf. Irgendwann lud sie uns zum Kaffee ein und im Gespräch stellte sich heraus, dass sie viel über Radecki wusste. Die Dame war Gertrud Jahn, eine geborene Kirmse. Der hat Radecki sein Buch „Nebenbei bemerkt“ gewidmet, erschienen bei Rowohlt, ihr und ihrer Freundin Ziegler, also „Gertrud Kirmse und Liselotte Ziegler gewidmet“. Ich habe das sogar hier, ich müsste nachschauen. Und diese verwitwete Gertrud Jahn wohnte jetzt neben uns. Sie war seit Langem persönlich befreundet mit Radecki. Oft hat sie von ihm erzählt und mir Bücher geliehen, die ich noch nicht kannte.

„Ich war also eigentlich schon vorbereitet…“
In den 50er-Jahren zogen wir nach Moers. Da waren wir schon Radecki-Fans, wir standen auf Radecki. In Moers hatten wir ein eigenes kleines Reisebüro gegründet. Den guten Kontakt zu Frau Jahn hielten wir. Ich fuhr oft nach Essen und habe sie besucht, weil sie mir so viele schöne Dinge, aber auch andere erzählt hat. Also, Radecki sei schwierig, sie könne für nichts garantieren, wenn ich ihn mal selbst vor mir hätte, er könne sehr brüsk sein, wenn ihm nicht gut ist, dann ist er so kurz ab und die Leute beschweren sich „Ist der arrogant!“, und so was. Ich war also eigentlich schon vorbereitet.

In Essen hatte ich antiquarisch ein kleines Buch erstanden, von Jean Paul, so eine ganz kleine Schwarte, die schickten wir Radecki zum Geburtstag nach Zürich, die Adresse hatten wir von Frau Jahn. Das war der erste Kontakt. Einmal Anfang der Sechziger – glaube ich – kam von Gertrud Jahn, sie wohnte nicht mehr in Essen, ein Anruf. Sie wollte sagen, Radecki lese in der städtischen Bücherei in Düsseldorf. Das war so im …, auf jeden Fall eine kühle Jahreszeit. Wenn wir hinfahren könnten, sollten wir doch schöne Grüße ausrichten, sie selbst könne nicht, sie sei krank.

c/o westfälisches literaturarchiv (münster)

Düsseldorfer Dichterlesung
Da waren wir natürlich begeistert. Wir haben den Laden einfach zugemacht, sind nach Düsseldorf. Das war die Zeit, da waren Dichterlesungen proppenvoll. Selbst die in Düsseldorf, wo sie große Büchereien hatten. Radecki las „Der eiserne Schraubendampfer Hurricane“, sehr spannend. Wir waren fasziniert, alle waren fasziniert. Wie der lesen konnte! Die Leute liebten das, dieses Exotische. Dann war Schluss, und mein Mann meinte nur: „Ich hole unsere Garderobe, du kannst ja in Radeckis Garderobe gehen, schließt dich da der Schlange an und lässt signieren.“ Da stand ich also in der kleinen Garderobe und hab‘ mich einfach immer wieder an das Ende gestellt. Du kannst dir vorstellen warum. Ich hörte, wie er jedes Mal, wenn die Leute mit ihm sprechen wollten, einfach nur „Sigismund von Radecki“ ins Buch schrieb. Wenn dann auch nur jemand sagte: „Ach Herr von Radecki, das Buch war so schön, aber die vielen Druckfehler …!“, die fingen dann an, irgendwas fachzusimpeln. Als das passierte, ging bei ihm ein Vorhang runter. Sein Gesicht fiel richtig zusammen und Radecki antwortete nur, ja, das sei halt so. Und Schluss. Dann nur noch: „Bitteschön“, „Danke“, „Bitte“, „Danke“, so ging das. Also habe ich mir gedacht, der hat so wunderbar gelesen, und wenn er eben zu müde ist, bedankst du dich und dann schwirrst du ab. Es war so schön, da soll man nicht noch mehr verlangen.

„Das war schöner als Kino“
Ich wartete bis zuletzt, dann stand ich da und der schaut noch nicht einmal auf, und ich sage: „Guten Abend, Herr von Radecki, ich möchte mich auch im Namen meines Mannes bedanken, es war so eine wunderbare Lesung“, und da habe ich irgendwie, es sind alles so Zufälle, habe ich hinzugefügt: „Das war schöner als Kino!“
Ich wusste gar nichts, wusste nicht, dass er jeden Abend ins Kino ging, der konnte ohne Kino nicht leben. Jeder Film wurde angeschaut. Später, in Zürich, habe ich das gemerkt, manchmal schreckliche Filme, die mir nicht gefielen. Ein paar Mal bin ich verärgert `rausgegangen.
„Herr von Radecki, mir gefällt das nicht, seien Sie nicht böse, ich möchte jetzt gehen.“
„Ja, ja, natürlich, gehen Sie.“
Und er blieb sitzen. Aber manchmal haben wir auch zusammen geweint. Das war bei „Frühstück bei Tiffany“, da haben wir zusammen geweint.
Als er also in Düsseldorf hörte, dass ich sagte: „Das war schöner als Kino“, da schaute er auf, da guckte er mich richtig groß an – sonst hat er die Augen immer so halb zugehabt –, so hat ihm das gefallen, auf einmal ist er wieder aufgeblüht.
„Ich soll auch schöne Grüße von Frau Jahn ausrichten.“
„So? Danke schön, wie geht’s ihr?“ So richtig steif.
„Es geht ihr gesundheitlich nicht so gut.“
„Ja, das ist schade.“
Ich hatte immer noch das Buch unterm Arm, vergessen, vor lauter Begeisterung.
„Ist das Buch da zum Signieren?“
„Ja, Entschuldigung, bitte schön.“
So, jetzt schrieb er. Ich denk‘, was machst du denn jetzt?
„Herr von Radecki, wir verstehen das, wenn Sie jetzt absagen, aber mein Mann hat mir aufgetragen, Sie zu fragen, ob wir Sie zur Erfrischung irgendwie einladen könnten in das Café da vorne oder wohin Sie wollen.“
Das hatte ich natürlich erfunden.
„Ich kann verstehen, dass Sie erschöpft sind“, aber ich hab’s halt versucht. Da guckt er wieder groß und sagt:
„Ach wissen Sie, ich bin so müde, ich möchte jetzt gerne ins Hotel.“
„Ja, das verstehe ich. Danke.“
„Aber, wissen Sie, ich bin morgen den ganzen Tag in Düsseldorf, und wenn Sie wollen, dann können wir uns morgen treffen.“
Und ich darauf: „Das werde ich meinem Mann sagen. Ich weiß nicht, wie sein Dienst ist.“ Wir konnten den Laden schließlich nicht einfach ein paar Tage zumachen.
„Ach“, sagte er, „ich wohne in dem und dem Hotel“, den Namen weiß ich jetzt nicht mehr, „rufen Sie mich doch bitte morgen früh noch einmal an.“

Wir waren eine Lachgemeinschaft
Das haben wir gemacht, angerufen von Moers aus, und er fragte: „Wollen Sie am Nachmittag kommen oder am Abend?“ Da habe ich geschaltet und gedacht, wenn du sagst: „Am Nachmittag“, dann hat man eventuell den Abend noch, wenn ich sage: „Am Abend“, dann muss man um zehn Uhr verschwinden.
„Wenn es Ihnen recht ist, dann nachmittags.“
„Gut. Und wollen Sie mich abholen?“
Ja, denn wir hatten damals doch ein Auto, einen Opel. Ich habe natürlich gedacht, er will mit uns in ein Lokal gehen.
„Wir möchten Sie ein Stück über den Niederrhein fahren, wenn das Wetter gut ist, und dann irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.“
„Ja“, sagte er, „ich hätte eher gedacht … bei Ihnen Zuhause?“
„Ach, Herr von Radecki, wir wohnen in einem schlecht möblierten und schlecht heizbaren
Zimmer.“
Das war damals so, wir sind da eingewiesen worden und wohnten immer noch da. Ein kleiner Raum, eine Küche mit einem alten Kohleherd drin, mehr nicht.
„Eigentlich macht mir das nichts. Aber heizbar müsste das schon sein. Wissen Sie, ich habe bei Else Lasker-Schüler in ihrem kleinen Dachkämmerchen gesessen und das war so gemütlich.“
Ich entschied aber: „Wir holen Sie ab und wenn es Ihnen recht ist, dann fahren wir irgendwo Kaffee trinken.“ So haben wir es gemacht und sind in Büderich gelandet, im „Landsknecht“, ein Ausflugslokal, da war kein Mensch.
Wir tranken gemütlich Kaffee, aßen Kuchen und unterhielten uns. Es war sofort so, dass wir über dieselben Sachen lachten. Wenn er was erzählte oder wenn mein Mann aus seiner Praxis Reisebüro was erzählte, dann waren wir eine Lachgemeinschaft. Er kam aber auch auf ernstere Themen und wir waren plötzlich bei Alexander dem Großen gelandet und er sagt:
„Ja …“
Und ich sage „Es waren alles nur grausige Kriege, die mussten bloß immer Kriege machen.“ Er darauf: „Wenn der Alexander nicht gewesen wäre, dann müssten wir alle Pferdemilch trinken.“
„Na und? Erstens mal wären wir daran gewöhnt und zweitens, warum denn nicht?“
Ach, er hat mich ganz entsetzt angeschaut. „Ja, wenn Sie das so sehen.“
In dieser Art und Weise ging das Gespräch und plötzlich war es acht Uhr abends. Da haben wir gesagt, wir müssten jetzt gehen und er hat auch gesagt, es werde jetzt Zeit: „Ich habe im Hotel das Abendessen bestellt.“ Wir fuhren ihn nach Hause ins Hotel und zum Abschied hat er sich für den schönen Nachmittag bedankt, und wir haben uns auch bedankt. Mir hat er zugenickt: „Es war sehr amüsant.“ Als ich ihm später, nach vielen Jahren, erzählte, was er da gesagt hatte, wie ich ihm das wiedererzählte, wie das gewesen war: „Ach ja?“, sagte er, das war ja, ja, ja, da hat er sich erinnert.
„Aber habe ich das wirklich gesagt?“
„Ja, Sie haben gesagt: ‚Es war sehr amüsant.‘“
„Das war doch nichts Schlimmes.“
„Nein, aber zu wenig.“

Die Nase
Zum Schluss meinte Radecki noch: „Ich lese morgen in Herne, das ist nicht allzu weit von Moers. Wenn Sie können und wenn Sie wollen und wenn Sie Lust haben, ich mach‘ dann auch ein anderes Programm.“ Natürlich sind wir nach Herne gefahren. Da war Radecki noch relativ jung und noch gar nicht so krank. Der Veranstalter lud ihn hinterher zu einem Abendessen ein. Später nahm er das überhaupt nicht mehr an. Kurz vor Beginn kamen wir an, wir suchten ihn auf und er hat sich gefreut. Er hat uns vorgestellt:
„Das sind Freunde, ich möchte sie gerne nach der Vorstellung mitbringen.“ „Selbstverständlich, Herr von Radecki.“
An diesem Abend las er seine Übersetzung von Gogols „Die Nase“, das ist eine Geschichte, da ist der ganze Abend weg. Wir haben uns später herzlich verabschiedet, Adressen hatten wir schon ausgetauscht. Wir sind glücklich nach Hause gekommen, haben geschwärmt, das war ein Erlebnis, ach, war das herrlich in Düsseldorf und Herne, und haben uns weiter gar nichts erhofft.

„Manchmal war das Publikum blöde …“
Später reiste Radecki erneut durchs Ruhrgebiet. Da gab es in Bochum eine Vermittlung, Wortmann hieß der Mann, glaube ich. Der besorgte die Vermittlung von Schriftstellern für Lesereisen, Vorlesebüro oder so was, Vortragsamt. Der hat Radeckis Tournee geplant mit Zugverbindungen, die waren zum Teil so schlecht, dass er manchmal irgendwo lange herumsaß, und da hat mein Mann gemeint, abends war er ja frei, er könne ihn mit dem Auto fahren. Das hat er natürlich gerne angenommen. Wir sind mit ihm gefahren, jeden Abend, überall war das Publikum anders. Er war sehr penibel, er brauchte sehr viel Licht, wollte immer ein Glas Wasser, aber bitte kein Mineralwasser, einfach aus der Leitung, weil er sonst Aufstoßen hatte. Rechts die Lampe, links das Wasser und einen Tisch und einen Stuhl. Das klappte fast nie. Meistens hatten sie da eine Flasche Wasser hingestellt. Nichts klappte, obwohl Herr Wortmann sehr tüchtig war, überallhin hatte er alles Wichtige geschrieben, aber wie es so ist. Da war Radecki froh, wenn ich immer vorher hingegangen bin und mir alles angeschaut habe. Ich spielte ein bisschen den Reisemarschall. Manchmal war das Publikum blöde, hat an der falschen Stelle gelacht, dann war er traurig.

Ein Brief aus Zürich
Irgendwann kam ein Brief aus Zürich, den habe ich noch hier, darin steht: „Sehr geehrte Frau Weilandt, sehr geehrter Herr Weilandt, Sie werden sich wundern …, ich bin allein, Sie haben immer so viel von Ihren Reisen erzählt …“, wir machten damals ja sehr viele Reisen selbst, zum Schauen für die Kunden, waren auch eingeladen auf großen Traumschiffen, das habe ich alles ausgenutzt, und ich reise auch sehr gerne, „ … aber auf Reisen ist man noch einsamer als sonst, und da wage ich zu fragen, ob Sie mich auf Ihre nächste Reise mitnehmen wollen als Dritten im Bunde.“
Dieser Stil! Er war als junger Mann einmal Hauslehrer gewesen, bei den Falz-Feins, in der Ukraine, reiche Leute hatten damals einen Privatlehrer für ihre verwöhnten Kinder, es waren gebildete Menschen und er musste den Kindern Mathe beibringen. Da war er bei Großgrundbesitzern, Super-Millionären damals im zaristischen Russland, es sollen deutsche Einwanderer gewesen sein.
„Getrennte Kasse, ich verspreche Ihnen, ich werde nicht stören.“
Wir haben sofort gesagt, das machen wir. Wir schrieben zurück, wir seien entzückt, wir würden ihn gerne als Dritten haben wollen, er solle sagen, was er besonders gerne sehen möchte. Wir hätten noch das Auto, wir würden eventuell eine Autoreise machen. Da sieht man mehr. Er schrieb dann, er möchte gerne nach Holland. Er möchte die Stätten von Peter dem Großen sehen und Holland überhaupt. Und segeln möchte er. Das war der Beginn unseres Reisens und das ging wunderbar. Die erste Reise unternahmen wir 1962 mit dem alten Opel. Wir fuhren mit dem Opel, weil der Opel eben billig war, den fuhren wir bis zuletzt. Am Ende mussten wir vorne die Türe mit einer Zange aufmachen, weil der Griff abgebrochen war. Es war richtig rührend, wie Radecki sich bemühte, dass er bloß nicht lästig wurde. Wir hatten ihn in Duisburg abgeholt, alles ins Auto gepackt, die Koffer, und sind losgefahren Richtung Holland. Wir wohnten in einem Hotel, Johannes hatte das vorher gebucht, es war ja sein Beruf. In Gegenden, wo man segeln konnte, sind wir gesegelt. Wir haben fotografiert, leider welken die Dias, alle Farbfotos haben unmögliche Stiche bekommen.

Es entwickelte sich eine intensive Freundschaft, wir sahen uns jedes Jahr vier- bis fünfmal. Einmal waren wir eingeladen auf Mallorca, da grantelte er: „Da sind so viele Leute.“ Ich habe geantwortet: „Da sind gar keine vielen Leute. Mallorca ist so eine zauberhafte Insel“, vor allen Dingen damals, idyllisch. Da waren höchstens Engländer, die Deutschen kannte man da noch gar nicht so. Doch dann brach die Cholera oder so was in Spanien aus, da musste man geimpft werden, und wir Esel hatten alles schon gebucht. Also sind Johannes und ich allein nach Mallorca, mittlerweile hatte Radecki in Zürich auch noch die Grippe bekommen.

ruth & svr (westfälisches literaturarchiv)

Also bin ich mit Radecki alleine los
Wir hatten es immer noch schwer mit dem kleinen Reisebüro, überhaupt etwas zu verdienen. Wir lebten noch in Moers. Und diesmal wollte Radecki, dass wir ihn auf einer Reise in den Süden begleiteten. Johannes konnte nicht mit. Einer musste Geld verdienen. Also bin ich mit Radecki alleine los. Er wollte so gerne nach Dalmatien. Früher, in den Dreißigern, ist er da gesegelt, das war ein wunderbarer Segeltörn. Mein Mann hatte alles gebucht, auch das Schiff, das sah von außen sehr schön aus. Mit dem Schiff sind wir von Venedig aus nach Split und Dubrovnik. Getroffen hatten wir uns in Mailand, im Zuge. Er kam von Zürich, ich kam von hier oben. Ich habe gedacht, wenn ich den jetzt verpasse, dann reist der irgendwohin und ich irgendwohin. Es hat aber alles geklappt. Johannes konnte nicht mit. Wir konnten den Laden nicht so lange zumachen, wir hatten ja nur einen Lehrling. Auf dem Schiff und in Split war es sehr schön, in Pula allerdings ging eine Kompanie Soldaten an Bord. Also, es war unsäglich, die Toiletten konnte man nicht mehr benutzen. Da hat Radecki oben an Deck geschlafen, an Schlaf war aber nicht zu denken, die randalierten auch an Deck. Ich hatte eine Kabine, da kamen noch zwei andere Frauen rein, die sich vor den Soldaten fürchteten, es war höllisch. Der Kapitän und die Stewards hatten überhaupt nichts zu sagen, die Soldaten waren so frech, die haben alles vertrieben, wir mussten uns also verstecken. Schließlich sind wir in der Nacht doch in Split angekommen und die Soldaten gingen von Bord. Später, von Dubrovnik aus, sind wir auf nach Korcula, mit einem kleinen Segelboot. Da hatten wir Glück, denn zunächst war kein Segelboot zu mieten. In den Prospekten, da kann man natürlich alles machen. Es ist immer peinlich für das Reisebüro: Man arrangiert alles, man hat an das Hotel geschrieben, die haben zurückgeschrieben: Alles in Ordnung, Segelboot wird gestellt. Nichts war da. Wir sind ein bisschen rumgelaufen, am Strand des Hotels sahen wir ein kleines Segelboot mit zwei jungen Leuten und die kamen ziemlich nah vorbei, da haben wir gewinkt, und sie legten an, wir hin und gefragt: „Wir möchten so gerne segeln …?“ Das alles musste immer ich machen, er traute sich nicht. Wir haben das dann gemanagt, ich habe sogar ein paar englische Worte rausgekramt, hinterher hat er gesagt: „Sie sprechen ein wunderbares Englisch.“, dabei waren das ungefähr die einzigen Worte, die ich kannte. Wir sind mit diesen jungen Leuten gesegelt. Allein wäre ihm lieber gewesen. Es war trotzdem ganz schön. Wir segelten jeden Tag, bezahlten sie. Sie waren ganz versessen auf D-Mark, das klappte gut, sie waren freundlich, auf diesem Boot blieben wir 14 Tage. Wir haben fotografiert, haben da und dort angelegt und sind gelaufen.

Große Hitze in Gladbeck und Schiffbruch bei Plön
1967 las Radecki hier in Gladbeck, im Sommer, am 12. Juli, es herrschte große Hitze, aber trotzdem sind die Leute gekommen. Am nächsten Tag bin ich mit ihm nach Plön gefahren, nach Schleswig-Holstein. Wir wollten dort mal versuchen zu segeln. Das Hotel, in dem wir wohnten, hieß „Fegetasche“. Tatsächlich haben wir ein Segelboot mieten können. Radecki hat gemeint: „Wir brauchen einen kleinen Außenbordmotor, wenn wir raussegeln und es ist windstill, es war ja im Sommer, dass wir auch wieder gut zurückkommen. Da haben die einen Motor, ein Mordsding, hinten an das kleine Segelboot gehängt, Radecki saß vorne und ich saß hinten am Ruder. Wir sind rausgesegelt, haben den Motor zur Probe angelassen, es ging ganz gut. Es gibt da so kleine Inselchen, sehr schön. Wir haben an einem Steg angelegt. Radecki war ja das Große gewöhnt, da war nie was abgesperrt bei denen, damals als er jung war, die konnten anlegen, wo sie wollten. Hier aber war alles privat, wir wurden weggejagt, sind wieder in See gestochen und wollten nach Hause fahren. Radecki hatte sich noch nicht richtig hingesetzt, da kam aus heiterem Himmel eine Bö und wir sind gekentert. Wir sahen aber das Ufer noch. Ich fand das so komisch, ich dachte, es gibt doch einen Film von Oliver Hardy und Stan Laurel, wo die Schiffbruch erleiden, da schwimmen auch die Sachen von denen so schön ruhig auf den Wellen. Die Bö war weg, meine Handtasche, meine Strickjacke, alles war auf dem schönen glatten Wasser verteilt. Ich habe einen Lachanfall gekriegt und Radecki sah ganz belämmert aus. Er ärgerte sich, dass er so ungeschickt gewesen war. Er hatte Angst, dass ich ihm böse wäre. Ich fand es aber amüsant, uns konnte doch nichts passieren, es war so ein schöner Sommertag. Wenn wirklich meine Strickjacke weg gewesen wäre …, ich fand es irgendwie romantisch, habe herzlich gelacht wie im Kino und gedacht, jetzt versinken wir gemeinsam in der Flut. Aber wir schwammen natürlich, nur das Schiffchen ging immer weiter unter. Blubb-blubb, dann war es weg. Ich habe schnell alles eingesammelt, was noch herumdümpelte. Wir sind Richtung Land, es war nicht weit, 200, 300 Meter, das konnten wir mühelos in dem warmen Wasser schwimmen. Plötzlich tauchte ein großer Schatten auf, eine Riesen-Yacht, die wollten uns helfen, da war ein kleiner Junge oben, der hatte eine Schwimmweste an wie alle Kinder, die auf einem Segelboot geboren sind, die kam so nah ran wie möglich und sie ließen Eimer herab und hatten auch noch ein kleines Beiboot, ein Gummiding. Unser Segelboot war auch noch zu sehen, am Mast haben wir eine Kette befestigt und das Boot sogar ein Stückchen abgeschleppt, bis es auf Sand festlag, nur der Mast ragte noch aus dem Wasser. Dann haben die lange gewürgt, auch der Bootseigner selbst, der hatte Leute, die mithalfen. Alle zogen es dann noch ein Stückchen, bis es schräg am Ufer lag, wir haben es mit Eimern leer geschöppt. So haben wir es wieder manövrierfähig gemacht, waren nass bis auf die Knochen, das Boot war naß und der Motor war natürlich hin.

Das einfache Leben
Mit Johannes habe ich auf Reisen meistens Krach gekriegt. Radecki hat mir mal gesagt, wie schön das ist, auch mit dem Johannes, wir hätten uns noch gar nicht gezankt. Auch zu mir hat er gesagt. „Wir zanken uns gar nicht.“, er hat ja nicht gewusst, dass ich abreisen wollte in Plön. Aber nicht wegen der Panne, das war Pech, sondern wegen seiner komischen Ansichten. Mit Johannes, das war der Alltag, und es war sehr schwer, uns eine Existenz aufzubauen. Wir waren so arm wie die Kirchenmäuse und hatten das Reisebüro mit all dem geschenkten Zeug, einer alten Schreibmaschine, die Wohnverhältnisse war man einfach gewöhnt, und es war so mühselig. Es war gar nichts, Hauptsache, man war trocken. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Ich weiß nicht, du wirst merken, wie ärmlich ich hier heute in Gladbeck wohne. Ich habe beschlossen, mich zurückzuversetzen in die Lebensweise der damaligen Zeit. Da lebten wir ruhiger und mussten eben nur sehen, dass wir satt wurden. Dieses ganze Pipapo, dieses Fernsehen und das alles habe ich schon abgeschafft. Ich habe jetzt bewusst aufs einfache Leben umgeschaltet. Das bekommt mir. Ich lebe meist im Schrebergarten mit den Katzen, und Katzen sind wunderbar, ich meine … Hunde auch.

Wir waren alle sehr freundlich, Radecki war sehr höflich, der alte Kavalier schleppte sogar meine Handtasche, manchmal. Der Johannes war so treu und lieb, das war harmonisch. Johannes hat mich auch auf seine Art geliebt, aber die Art, wie mich Radecki geliebt hätte, selbst, wenn sie nicht platonisch geblieben wäre, die hat mich ja nun fasziniert. Diese Geistigkeit, dieser Charme, den Radecki hatte, die Erotik des Geistes, das hat mich fasziniert, da störte mich gar nicht, dass er die letzte Zeit so gebrechlich wurde. Wenn ich jetzt manchmal einen alten Mann von hinten sehe und mit dem schleppenden Gang, wie er nicht mehr so richtig laufen konnte vor Schwäche, und ich sehe manchmal hier so einen alten Mann, mit einer Mütze mit einem Schild drauf, dann denke ich, es wäre Radecki. Ich habe ihn geliebt. Ich wollte immer in seiner Nähe sein. Ich habe mal gesagt, dass ich ihn liebe. Da hat er gesagt: „Nein sie lieben mich nicht.“ Es ist eine ganz verrückte Liebe. Ich weiß gar nicht, was das war bei mir, vielleicht war das, weil ich keinen Papa gehabt habe oder so. Ich fühlte mich geborgen. Mit Johannes musste ich kämpfen, ich musste Schriftsätze machen, ich musste verhandeln, wir hatten den Kartellprozess am Hals, wir wollten ein Vollreisebüro sein und kriegten keine Zulassung. Ich habe mit Johannes immer nur gekämpft, mit ihm gegen diese widrigen Umstände, dass wir nun endlich ein bisschen aus der großen Armut rauskamen. Und bei Radecki fühlte ich mich geborgen.

Pension Persévérance
Wir haben immer unsere Reisen selbst bezahlt, auch wenn wir zu dritt waren. Und er seine. Auch 1965 das Haus, das kleine Chalet im Tessin, alles wurde durch drei geteilt. Erst das Haus und dann der Verbrauch. Am Anfang habe ich gekocht, doch dann hatte ich keine Lust mehr. Radecki liebte mich auch irgendwie als Hausmütterchen. Er fand das faszinierend, wie ich gekocht habe. Meistens hat es ihm geschmeckt, aber einmal hat er gesagt: „Hier an diese Spaghetti, es wäre schön, wenn da ein Ei dabei wäre.“ Wir waren diesen Mangel gewöhnt, wenn es Spaghetti gab und Soße, da gab es kein Ei. Er hat in Zürich gelebt und da hatten die am Essen keinen Mangel. Radecki war nicht arm, nur in der Berliner und in der Wiener Zeit, da war er arm wie eine Kirchenmaus. In Zürich wohnte er in einer Pension, Pension Persévérance in der Neptunstraße, das passte für ihn, er lebte bescheiden. Hatte ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, alles alte Klamotten, mit zwei Couchen drin, eine für tags zum Schlafen und eine für nachts, damit er nicht ununterbrochen in derselben Bettcouch liegen musste. Ich habe also nicht mehr kochen wollen, ich kam so gar nicht zur Erholung, und dann hinterher spülen, so ein Ferienhaus, das ist Wahnsinn. Lieber bin ich mit ihm in den „Vier Jahreszeiten“ gewesen in Hamburg, das hat mir besser gefallen. Er hat eingesehen, wenn er in so einem teuren Hotel wohnen wollte, das konnte ich nicht bezahlen, das war fast zum Ende unserer Zeit, so nach acht Jahren etwa, 1968. Da hat er diese hohen Hotelkosten für mich bezahlt, aber die Reisekosten habe ich selbst bezahlt.

svr, ruths handtasche? westfälisches literaturarchiv

 

„Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben…“
In Zürich sind wir abends aus dem Kino gekommen, der Film hatte mir gefallen, ich hatte gute Laune. Und er hat sich gefreut, er hatte immer Angst, dass mir ein Film nicht gefiel. Da waren vielleicht Schwarten dabei, das habe ich dann auch gesagt und gedacht, wir könnten hier doch viel lieber am Seeufer sitzen. „Ich möchte aber gerne ins Kino.“, sagte er, wie fast immer.
Wir gingen durch Parkanlagen, die Luft war sommerlich und wunderschön, die Laternen leuchteten durch die Blätter, er wollte mir erklären, was das für Bäume waren, da habe ich gesagt: „Das sind Eschen.“ „Sie wissen ja schon alles“, sagte er, „ich wollte Ihnen das gerade erklären.“ Und dann fügte er hinzu, er konnte nicht anders: „Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben Heinrich Fischer, dem Freund von Karl Kraus, Kraus hat Fischer seinen Nachlass vererbt. Mit Heinrich Fischer war ich auch befreundet. Er hat einmal mir das Kompliment gemacht, ich sei der gebildetste Mensch, weil er meinte, ich verstünde von Wirtschaft was, ich hatte so viele Berufe, nicht nur flüchtig, sondern jeden mindestens drei Jahre ausgeübt.“

Durch seine Krankheit kriegte Radecki jede Erkältung mit, er musste husten, hatte sich schon wieder erkältet, obwohl es Sommer war, ich habe ihm ein Glas Wasser gebracht, mit einer Art Aspirin und Vitaminen drin. Ich wohnte gegenüber im Gästehaus Cäcilienheim, er wohnte schräg gegenüber in der Pension Persévérance, Persévérance, das war eine katholische, von Schwestern geleitete Pension. Er hat mir einmal erzählt, er sei morgens immer verkatert. Er hatte Morgendepressionen, immer eine bestimmte Sorte Wein vorrätig, wenn er morgens arbeitete. Um 6 Uhr stand er auf, ging rüber in die Messe, die Kirche lag neben seiner Pension.

Draußen vor dem Tore
Da standen wir also bei ihm kurz vorm Törchen. Ich sage: „Wenn Ihnen nicht gut ist, damit das dann nicht so ausbricht, nehmen Sie doch schon mal eine Tablette, ich habe die oben.“
„Ja, vielleicht hilft das doch, es wäre ja schlimm, wenn ich jetzt krank würde und wir könnten nicht laufen zusammen.“
Ich fragte: „Können Sie hier warten oder da drüben, da ist eine Bank?“
„Nein, nein, ich warte hier am Törchen.“
Es war nur ein Katzensprung, ich fuhr hoch, einen Lift hatten sie ja. Schnell war ich mit den Tabletten wieder unten: „Sie müssen aber viel dazu trinken.“ Wie ich ihn so ein bisschen bemuttert habe, sieht er mich an: „Ich möchte Ihnen aber noch was sagen.“, kurz vor der Verabschiedung. Verabschiedet haben wir uns immer mit so einem Kinderkuss, entweder auf beide Wangen, also französisch, oder einfach so einen leichten Kinderkuss, das war aber schon vorher. Übrigens habe ich das mit vielen meiner Freunde so gemacht.
„Mir fällt es schwer, und ich weiß, es sollte eigentlich ungesagt bleiben“, es sind genau seine Worte, ich habe die im Hirn, ich hab‘ natürlich abgewartet, hab‘ ihn angeguckt, „… ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie liebe.“ Da habe ich gestottert: „Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll.“ „Sagen Sie nichts. Ich sage Ihnen, ich liebe Sie mit meinem Kopf, mit meinem Herz, mit meinem Gefühl und mit meinem Verstand. Ich liebe Sie mit allen Fasern meines Herzens.“ So was hatte ich mir immer gewünscht. Dass er das noch betont. Dann sind wir ein bisschen näher aneinander gerückt. Ich habe es ihm nicht geglaubt, man hat es ihm nicht angemerkt, er war so zurückhaltend. Wir haben noch gescherzt und gesagt, so was wie wir in Plön gesegelt sind, das machen wir nie wieder, und wir sind auch nie wieder aufs Boot gegangen.

„Die Worte, die Worte waren so schön“
Ich hatte mir das so gewünscht, und andererseits habe ich den Johannes vermisst. Es war ganz komisch. Wenn ich Radecki um den Hals gefallen wäre, wäre er vielleicht erstarrt. Später fand ich es auch unfair dem Johannes gegenüber. Es ist nichts passiert, worauf der Johannes eine Ehescheidungsklage hätte einreichen können. Die Worte, die Worte waren so schön. Die Worte und Gesten und Küsse, das war nun wirklich meine letzte Reise nach Zürich. Schon bald wurde er so krank, dass wir ihn zur Behandlung hier ins Barbara-Hospital nach Gladbeck geholt haben. Ein paar Wochen später ist er gestorben.




Benjamin Leberts Roman „Im Winter dein Herz“ – Deutschland im Kälteschlaf

Cover-Download von Hoffmann und Campe  Robert, ein junger Mann, der in seinem Leben schon manches schlucken musste und nun keinen Bissen mehr herunterbekommt, begibt sich für eine Zeit der Komtemplation in das Haus Waldesruh, eine Klinik für psychosomatische Erkrankungen. In die Zeit seines Aufenthaltes fällt der jährliche Winterschlaf, den die Menschen seit einigen Jahren den Tieren gleich halten. Eine jährlich wiederkehrende Zeit, in der „nichts, rein gar nichts zu tun war. Keine Grenzen zu passieren, keine Himmel abzusuchen“.

Früher empfand Robert diese Zeit als schön und wohltuend, doch in diesem Jahr ist alles anders. Es gibt Dinge, die zu tun, zu klären sind und die sich nicht aufschieben lassen. So verweigert er den Schlaf des Winters und begibt sich auf eine Reise quer durch ein schlafendes Deutschland. Gemeinsam mit seinem Mit-Patienten Kudowski, einem Mann von undefinierbarer Kraft und der jungen Kellnerin Annina, die Kudowski und er am Resopaltisch der nahegelegen Raststätte kennengelernt haben, werfen sie in einer befreienden Handlung die Tabletten der Winterschlaf-Medikation hinter sich, steigen in einen schwarzen Jeep namens Ritchie Blackmore und begeben sich auf eine Reise durch ein frostiges Land. Ein Land, in dem nur eine Minimalversorgung aufrechterhalten wird, welches ansonsten im Schlaf dahintaumelt und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aufschiebt. Mit dem I-Phone und der Winter-App verorten sie sich in der Zeit, ist diese Reise doch nicht nur eine zweckgebundene, sondern vor allem auch eine Reise zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die „sie dem Leben abringen müssen“, die sie wieder befähigt, „einem Montagmorgen ins Gesicht zu schauen“.

Ich hatte mir Unvoreingenommenheit vorgenommen, als ich mit „Im Winter Dein Herz“ begann. Was war nicht alles über Benjamin Lebert in den letzten 15 Jahren geschrieben worden. Nach seinem umjubelten Erstling „Crazy“ wurde er zum neuen Salinger hochgejazzt, zum Wunderkind des Literaturbetriebes. Schnell danach fanden Feuilletonisten oft harsche Worte für seine nachfolgenden Werke. Harsche Worte, die so schien es mir – ohne zugegebenermaßen die Bücher gelesen zu haben – aus überzogenen Erwartungen resultierten. Mir war der ganze Rummel suspekt, ich machte einen Bogen um Lebert, schob die Lektüre auf. Nun erreichte mich mitten im Hochsommer sein neues Buch über eine Reise im Winter. So objektiv wie möglich wollte ich sein. Objektiv und gerecht. Ging nicht. Vom ersten Moment an hatte ich eine subjektive, persönliche Meinung zu diesem Buch mit dem schönen Titel und ich änderte sie nicht mehr. Ich mochte das Buch vom ersten Satz an, ich fand es herzensklug, wahrhaftig, schmerzhaft ehrlich und bei aller beschriebenen Kälte wärmend.

Lebert ist kein Autor, der sich oder seine Leser schont. Bereitwillig teilt er seine Gedanken, seine Leiden, aber auch seine Erkenntnisse. „Im Winter Dein Herz“ ist ein Stück weit autobiographisch, es ist aus jeder Zeile ersichtlich, dass der Autor Eiseskälte selbst erfahren und durchlitten hat. In fünf Heften und zwischengeschalteten Momentaufnahmen, in denen die drei Protagoisten sich wärmend an Momente der Geborgenheit erinnern, fängt Lebert den Leser ein. Dieser kann die Kälte der Zeit und des Landes jederzeit mitempfinden, kühl ist der Roman dennoch an keiner Stelle. Lebert ist von Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten getragen. Sanft, aber eindringlich, melancholisch, doch nie resignierend geleitet er sie durch hastigen Schneefall und kaltes klares Licht.

Dieses Buch so geschrieben zu haben, war mutig. Es so geschrieben zu haben, dass es den Leser berührt, ihn hoffnungsvoll zurücklässt und ihm den funkelnden Sternen auf dem See gleich Bilder mitgibt, die tragen – das ist durchaus Kunst. Ich werde nun die Lektüre der vorhergehenden Werke nachholen. Objektiv und unvoreingenommen. Vielleicht. Falls ich die Idee mit dem Winterschlaf nicht aufgreife….

Benjamin Lebert: „Im Winter dein Herz“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 160 Seiten, €19,50




Meilensteine der Popmusik (17): Diana Ross

„Ob nun sexy, damenhaft, verspielt, Soul oder Blues – Dianas Anziehungskraft überbrückt Generationen, und die verschiedensten musikalischen Geschmäcker.“ So schrieben es Musikkritiker, und Diana Ross ist schon immer ein Liebling der Fachpresse gewesen. Vor allen Dingen, wenn man die Damen und Herren zu ihren pompösen und aufwendigen Galavorstellungen einlud. Da konnte man immer wieder gerne am Champagnerkorken schnuppern. Aber so verlor Lady Diana auch immer mehr den Kontakt zur Basis, zu all den Fans, die sich ihre Flitter-Flatter-Konzerte nicht mehr leisten konnten. An den Hitparaden sollte sie es erkennen. Dort ging es abwärts mit Diana Ross, in der zweiten Hälfte der 70-er Jahre.

In solch brenzligen Situationen war es schon immer ratsam, sich in der aktuellen Szene umzuschauen. Das heißeste Produktions- und Autoren-Team des Jahre 1980 hieß zweifellos „Chic-Productions“. Die Macher: Bernard Edwards und Nile Rodgers. Mit ihrer Gruppe „Chic“ und ähnlichen Produktionen für andere Künstler räumten sie damals in den Discotheken der Welt ab.

Die mittlerweile 36-jährige Diana Ross entschloss sich, noch einmal auf die Kids zuzugehen und engagierte Edwards und Rodgers, für sie eine LP zu schreiben und zu produzieren. Vom Ergebnis der fertigen Produktion war die Grand-Dame allerdings überhaupt nicht angetan. Sie fühlte sich wie ein Gaststar auf einem neuen „Chic“-Album. Sie schickte die fertigen Bänder an die Produzenten zurück, mit genauen Anweisungen, wie die einzelnen Songs neu abgemischt werden sollten. Nun aber waren die beiden Produzenten sauer. Der Form halber machten sie kleine, kaum hörbare Veränderungen, und das Ganze ging zurück, mit der wohl nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung, falls es der Künstlerin immer noch nicht gefallen sollte, könne sie das Ganze doch einfach selbst abmischen. Edwards und Rodgers lachten sich eins. Das sollte ihnen aber schnell vergehen.

Frau Ross schnappte sich nämlich einen Produktionsassistenten und nahm sich Titel für Titel selbst vor, bis ihr Stimmchen nicht mehr im Hintergrund trällerte, sondern ganz weit vorn. Das ganze Album nannte sie schlicht „Diana“ und es wurde, überaus mutig, mitten in das Sommerloch 1980 geworfen.

Bernard Edwards und Nile Rodgers, die gehörnten Produzenten, waren schockiert. So etwas war ihnen noch nie passiert. Stocksauer und wütend riefen sie beim Plattenboss von Motown Berry Gordy an. Der konnte sie nach langem Hin und Her beruhigen, riet den beiden, sich die Platte doch erst einmal anzuhören, sie sei riesig geworden. Diesen Eindruck hatten auch die Fans. Es wurde das erfolgreichste Solo-Album für Diana Ross überhaupt. Und mit der Single „Upside down“ hatte sie auch mal wieder einen Welthit, der bis heute zu den absoluten Disco-Knüllern gehört.

So konnte man den ganzen Wirbel hinter den Kulissen schnell vergessen, denn Diana Ross war ihrem Prinzip treu geblieben: „Bevor ich überhaupt irgendeinen Song singe, muss ich mich total mit ihm identifizieren. Erst wenn ich voll zufrieden bin, entsteht dann diese Kommunikation mit dem Publikum. Erst dann bekommen die Leute, was sie letztendlich wollen …“

Diana Ross on dailymotion

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16)




Potsdamer Provinzposse: SAP-Gründer Hasso Plattner als Mäzen einer DDR-Kunstsammlung

Am Neuen Markt in Potsdam ist preußische Geschichte allgegenwärtig. In Rufweite liegt Schinkels Nikolaikirche und der Marstall, der heute ein Filmmuseum beherbergt. Der Blick schweift von hier aus zum Wiederaufbau des im Krieg arg mitgenommenen und von den Baubrigaden der DDR abgerissenen Hohenzollernschlosses. In zwei Jahren soll im rekonstruierten Preußenschloss der brandenburgische Landtag einziehen.

Ob bis dahin für die sich derzeit in Potsdam abspielende kultur- und kunstpolitische Provinzposse, die viel über die nach wie vor offenen Wunden der deutschen Vereinigung und die antikapitalistischen Vorurteile in den Neuen Bundesländern erzählt, eine vernünftige Lösung gefunden wird, bleibt abzuwarten. Eine kleine Ausstellung mit gerade einmal 28 Bildern, die jetzt im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt präsentiert wird, könnte behilflich sein, die Gemüter etwas zu beruhigen. Im ehemaligen Kutschstall, wo gerade unter dem Titel „Kunst & Kartoffel“ eine Ausstellung zu Friedrich dem Großen und die preußische „Tartuffoli“ läuft, wurde der Konferenz- zum provisorischen Ausstellungsraum umfunktioniert, um „Einblick und Ausblick“ zu geben auf die Werke aus der Sammlung von Hasso Plattner.

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

In der viel zu eng und unübersichtlich gehängten Bilderschau sind vor allem Werke des realsozialistischen Spätexpressionismus zu sehen, grelle Farbballungen von Bernhard Heisig, naive Romanzen und Idyllen von Wolfgang Mattheuer, auch Plakatives von Willi Sitte, Altmeisterliches von Werner Tübke, Mythologisches von Arno Rink, also Bilder von Künstlern, die der „Leipziger Schule“ angehören und zu Repräsentanten der DDR-Kunst wurden. Dazwischen geschmuggelt ist aber auch ein erst 2004 gemaltes abstraktes Bild von Gerhard Richter, der einst von Dresden nach Düsseldorf floh und heute der bedeutendste zeitgenössische deutsche Künstler ist. Und was ein Bild von dem in Velbert am Rhein geborenen Klaus Fussmann in einer Sammlung zu suchen hat, die sich dem Ziel verschrieben hat, die Kunst der DDR zu dokumentieren, bleibt genauso ein Rätsel wie die Tatsache, dass viele der gezeigten Werke vielleicht noch den Geist des untergegangenen Sozialismus atmen, aber tatsächlich von Heisig, Sitte, Tübke und Co. erst nach der Wende geschaffen wurden. Wie kann es nur sein, fragt sich der aus dem nahen Berlin angereiste Betrachter, dass diese eher stille und gut gemeinte, aber künstlerisch noch unausgereifte Sammlung von ziemlich konventionellen Bildern einen solch lauten Streit hervorrufen kann?

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Der 1944 in Berlin geborene Unternehmer Hasso Plattner wurde mit seiner in Walldorf beheimateten Software-Schmiede SAP nicht nur zum reichen Mann, sondern auch zum Stiftungsgründer und Mäzen. Der Universität Potsdam hat er ein Institut für Software-Systemtechnik finanziert, für den Wiederaufbau des Potsdamer Schlosses mehrere Millionen Euro locker gemacht. Jetzt wollte Plattner der Stadt nicht nur seine noch im Aufbau befindliche Kunst-Sammlung schenken, sondern auch noch gleich den Neubau des dazu gehörigen Museums bezahlen. In Absprache mit Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) wollte Plattner das Museum dort errichten, wo seit einigen Jahrzehnten ein 17-stöckiger DDR-Plattenbau steht und das historische Ambiente Potsdams verhöhnt. Das architektonische Monster war früher ein „Interhotel“, in dem Gäste aus dem Westen überwacht und abgehört wurden. Doch Plattners Plan, den amerikanischen Investoren das heutige Hotel „Mercure“ abzukaufen und es auf eigene Kosten abreißen zu lassen, rief unerwarteten Widerstand hervor. Die in Brandenburg stark vertretene „Linke“ versammelte DDR-Nostalgiker um sich und machte mit Protestaktionen und Unterschriftenlisten mobil. Auf einer Gegendemonstration – unter dem Motto: „Plattner statt Platte“ – versicherten Prominente wie TV-Moderator Günther Jauch, Schauspielerin Nadja Uhl und Modeschöpfer Wolfgang Joop dem von der „Linken“ als „Kolonisator“ und „Kapitalist“ verunglimpften Sponsor ihre Sympathie. Doch es nützte nichts. Plattner zog sein Angebot öffentlichen Mäzenatentums zurück und verkündete gleichzeitig, er werde auf seinem Privatgrundstück am Potsdamer Jungfernsee eine kleine Kunsthalle bauen und dort allen Interessierten seine Sammlung zugänglich machen.

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Abgesehen davon, dass der Streit um Plattners Mäzenatentum ein peinliches Licht auf Potsdam wirft, beantwortet auch die Ausstellung „Einblick und Ausblick“ (bei deren Vernissage Plattner demonstrativ fern blieb) nicht, welche Motive und Ziele die Sammlung zur DDR-Kunst eigentlich verfolgt. Wird sie auch Nonkonformisten wie Gerhard Altenbourg und Kunstrebellen wie Cornelia Schleime berücksichtigen? Und neben Gerhard Richter gibt es auch noch „Republikflüchtlinge“ wie A. R. Penck und Georg Baselitz. Fragen über Fragen.

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Infos:

+ Hasso Plattner wird am 21.1.1944 in Berlin geboren.

+ Zusammen mit Dietmar Hopp und anderen gründet Plattner 1972 das Software-Unternehmen SAP.

+ Seit dem Rückzug aus dem Tagesgeschäft engagiert sich Plattner als Kunstmäzen und Wissenschaftsförderer.

+ 1998 gründet er das Hasso-Plattner-Institut für Software-Systemtechnik in Potsdam.

+ „Einblick und Ausblick – Werke aus der Sammlung Prof. Dr. Hasso Plattner“, bis 16. September im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9, Potsdam (Di-Do 10-17 Uhr, Fr 10-19 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr).




Familienfreuden I: Schwangerschaft ist kein Ponyhof!

Manchmal wundere ich mich sehr über die Welt. Und über die Menschen. Und über ihre Planungswut. Vielleicht wundern sich andere Menschen wiederum darüber, dass letzteres so wenig bei mir ausgeprägt ist – vor allem in den letzten Monaten. Sicher, eine Schwangerschaft ist natürlich auch eine besondere Zeit. Und als ich die Bestätigung hatte, ein Kind zu bekommen, habe ich mich tierisch gefreut.

Es gibt aber Frauen, die es nicht bei dieser Freude belassen – sondern sofort Taten folgen lassen. Möglich, dass sie, kaum dass sich der Teststreifen in der erwünschten Weise gefärbt hat, zum Telefon greifen, noch kurz die Liebsten informieren – und dann gnadenlos loslegen: Hebamme, Krankenhaus, Schwangerschaftsgymnastik…

Schwangerschaft ist kein Ponyhof!

Vielleicht bin ich ja auch ein bisschen neidisch. Denn immer, wenn mir in den letzten Monaten einfiel, mich um eines dieser Dinge zu kümmern, war die Hebamme schon mit zu vielen Geburten versorgt, der Gymnastikkurs ausgebucht oder die Wahl des Krankenhauses so schwierig, dass es schon drohte, knapp zu werden mit der Zeit. „Sie sind aber spät dran“ war der Spruch, der mich wie ein Mantra verfolgte. Yoga drei Monate vor der Geburt? „Sie sind aber spät dran!“ „Hypnose gegen die Geburtsangst? „Wir können ihnen im September einen Platz anbieten.“ Uff.

Sogar der simple Kauf eines Kinderwagens spielte sich jenseits der sonst üblichen Gesetze der freien Marktwirtschaft ab. Freunde hatten mich schon gewarnt, dass man so einen Babyporsche nicht mal eben kaufen kann, sondern Wartezeiten einkalkulieren muss. Aber als wir zehn Wochen vor dem Geburtstermin in einem Babyladen aufkreuzten und auch die Verkäuferin wieder sagte „Sie sind aber spät dran“, wähnte ich die ehemalige DDR mitsamt ihrer Trabi-Bestellpolitik wieder instanziert. Hatten wir doch die Leichtsinnigkeit an den Tag gelegt, die Betriebsferien der einschlägigen Marken außer Acht zu lassen, die eine Lieferung mal eben auf 16 bis 18 Wochen hochkatapultierte – wenn man den Service eines Ladens vor Ort wünscht.

Die Lösung für all das? Ich habe Schwangerschafts-Yoga zu Hause mit einer DVD absolviert, mir durch Lektüre einigermaßen die Angst genommen und einen Wagen aus dem Vorrat im Laden erstanden. Und unsere Tochter hat es auch so auf die Welt geschafft – ganz ohne spät dran zu sein.




Festspiel-Passagen VI: Maßlose Leidenschaft – Händels „Tamerlano“

„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.

Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.

Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.

Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.

In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.

Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.

Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.

Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.

Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.




Dortmunder „Tatort“: Nur nicht hecheln

Heute gibt’s im Westfalenstadion (so und nicht anders heißt die Arena für rechtschaffene Leute) eine groß angelegte Vorschau zum ersten ARD-„Tatort“ aus Dortmund.

Rund 1000 Menschen sollen dabei sein, wenn der TV-Film im Beisein der Hauptdarsteller und des Regieteams auf einer 280 Quadratmeter großen Leinwand Premiere hat. Verzeihung: Weltpremiere natürlich. Kleinere Münze wird nicht ausbezahlt. Zum Event hat sich auch WDR-Intendantin Monika Piel angesagt. Überdies wird Dortmunds (echter) Oberbürgermeister Ullrich Sierau ebenso zugegen sein wie der (echte) Polizeipräsident Norbert Wesseler.

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

Wahrscheinlich kommt bei diesem (ausverkauften) Public Viewing im Rahmen der Reihe „Kino im Stadion“ ein wenig Gala- oder Feierstimmung auf, vielleicht schwappt ja gar La Ola über die Ränge. Doch Vorsicht: Solche Wellen zeugen ja meist davon, dass sonst nicht viel Nennenswertes passiert.

Zumindest aber darf bei jeder lokaltypisch angehauchten Szene ein Raunen oder wenigstens Kopfnicken des Erkennens erwartet werden.

So. Nun aber mal kühlen Kopf bewahren. Man kann heute zwar Inhalt, Machart und Macher in Augenschein nehmen, man kann aber diesen „Tatort“ nicht so recht als fernsehspezifisches Ereignis würdigen, das er nun einmal ist. Dazu gehört neben dem Wohnzimmerformat auch das Gefühl, dass man gleichzeitig mit etlichen Millionen zuschaut, so dass es einem als Dortmunder bei jeder etwaigen Peinlichkeit einen leisen Schauder über den Rücken jagen könnte: Oje, was denken sie jetzt draußen im Lande wieder über diese Stadt?! Kleiner Trost: Diesen Tort haben sie in so mancher anderen Gemeinde auch schon durchlitten.

Jedenfalls verweigern wir uns dem unsinnigen Vorab-Gehechel und warten in aller Seelenruhe ab, bis der „Tatort“ mit dem Titel „Alter Ego“ regulär im ARD-Programm steht. Das wird am 23. September um 20.15 Uhr der Fall sein. Dann schaun wir mal, was sie da verbrochen haben.

P.S.: Die Kollegen der Lokal- und Regionalpresse werden übrigens ihre liebe Not haben, in den morgigen Samstagausgaben noch ausführlich auf die Preview einzugehen. Einlass ist zwar ab 20 Uhr, gewiss sind dann auch ein paar nette Fotos mit der Crew möglich, doch der Film beginnt – u. a. nach einem Talk-Intermezzo – erst bei Einbruch der Dunkelheit, gegen 21.45 Uhr. Somit dürfte der „Tatort“-produzierende WDR in seinen Sendungen am Samstag die Nase vorn haben. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt.




„Kindheiten“ oder: Die untröstliche Heiterkeit des Jean-Jacques Sempé

Nein, eine schöne Kindheit hat er nicht gehabt: Vor den allzeit lautstarken Streits der Eltern flüchtete er, wenn er konnte, zum Radio und wob sich eine Phantasiewelt aus dem Gehörten. Wurden Mutter und Stiefvater zwischendurch auf ihn aufmerksam, dann hagelte es meistens Ohrfeigen. Mindestens.

Wir reden von Sempé. Jean-Jacques Sempé. Wer seine wunderbaren Zeichnungen kennt, weiß, dass wohl kaum jemand sich den Duft und Hauch der trotz allem unbeschwerten, stets zu Streichen aufgelegten Kindheitstage so bewahrt hat und wachzurufen weiß wie dieser aus Bordeaux stammende Mann, der morgen (17. August) 80 Jahre alt wird und immer noch als besessen arbeitsam gilt. Er selbst findet es verstörend, dass und wie er dermaßen der Kindheit verhaftet geblieben ist. Nebenbei bemerkt, war damals das Radio so kultiviert, dass man sich dort bestes Französisch aneignen konnte.

Es gibt jedenfalls genügend Anlass, mit spürbar liebevollem Aufwand einen Bildband wie „Kindheiten“ herauszubringen, der sich als thematisch gewichtete, veritable Werkschau erweist und dabei ohne seine wohl berühmteste Figur, den „Kleinen Nick“ (Petit Nicolas) auskommt, die Sempé einst gemeinsam mit René Goscinny schuf.

Angesichts seiner frühen Jahre, die das Buch in einem langen Sempé-Gespräch mit Marc Lecarpentier in Erinnerung ruft, ist die milde Heiterkeit des Oeuvres überaus erstaunlich. Sempé sagt es mit den Worten eines Schriftstellers, an dessen Namen er sich nicht erinnert: „Der Mensch ist ein Wesen von untröstlicher Heiterkeit.“ (Hausaufgabe: Wer findet den Urheber heraus?)

In diesem Band kann man beispielsweise verfolgen, wie die durchaus wohlgesetzen Worte zu den Zeichnungen nach und nach schwinden, wie also das rein Bildnerische überwiegt. Immer eigener, feingliedriger und feinsinniger wird die Linienführung, sie übermittelt in seismographischer Weise seelische Zustände. Da bedarf der Worte nicht mehr. Es scheinen ganze Existenzen und Charaktere in knappen, meisterlichen Skizzen auf. Oder auch dies: Dauer, Trägheit und Hitze eines Hochsommertags werden atmosphärisch greifbar. Manche Blätter wiederum erfassen haarfein, was Provinz ausmacht. Man schaue nur, wie die Dorfjugend einer Radfahrerin nachstarrt. Auch für Freud und Leid, Groteske und Grazie des Fußballs abseits der großen Stadien hat Sempé ein untrügliches Gespür. In all diesen Zeichnungen schwingt so vieles mit…

Auch wenn Sempé erwachsene Menschen zeichnet, sind sie oft unverkennbar von Kindheit geprägt. Mal sieht man sie in selten schönen Momenten des Leichtsinns, wenn sie sich unbeobachtet glauben und auf einmal wieder sind wie von klein auf. Andererseits sieht man aschfahl ergraute und erstarrte Herrschaften, in denen jegliche Kindheitsahnung erloschen ist. Zuweilen rücken die Lebensalter in komischen Kontrast: Der Schnitt durch ein Haus offenbart, wie die „Großen“ bei Regen ihre Zeit in Zimmern totschlagen, während oben auf der Dachterrasse eine Kinderschar tobend jeden Augenblick der Nässe mit Haut und Haaren genießt.

Schließlich gibt es in dieser vielfältigen Bildwelt auch jene stocksteif ungelenken, früh verzogenen Bürgersöhnchen oder jene Kinder, denen das Kindsein früh ausgetrieben werden soll, etwa mit strengem Klavier- oder Ballettunterricht. Doch siehe da, sie wehren sich mit Phantasie oder auch ganz handgreiflich: Selbst wenn sie mit Heiligenschein aus Pappe zur Weihnachtsaufführung eilen, knuffen und hauen sie sich unterwegs noch mit heißem Herzen. So kann Kalberei ein Hoffnungszeichen sein.

Sempé: „Kindheiten“. Bildband, Hardcover Leinen, 272 Seiten. Mit einem Gespräch zwischen Sempé und Marc Lecarpentier (übersetzt von Patrick Süskind). 39,90 Euro.




Neue CD mit Henryk Góreckis 3. Sinfonie – Spekulieren auf den einstigen Kultstatus

Neu erschienen auf CD: Henryk Góreckis 3. Sinfonie. Foto: Sony

Der polnische Komponist Henryk Górecki ist außerhalb seines Heimatlandes nahezu ein Unbekannter. Seine Hoch-Zeit hatte der 1933 Geborene ohne Zweifel in den 50er und 60er Jahren, zunächst beim Musikfestival Warschauer Herbst, später in Paris. Hier lernte er die westeuropäischen Avantgardisten Boulez, Messiaen und Stockhausen kennen. Góreckis Orchesterstück „Scontri“ war bei der Uraufführung 1960 einem Aufruhr des entsetzten Publikums ausgeliefert, schon allein wegen der teils extremen Lautstärke des Stückes.

Mitte der 60er aber vollzog sich die langsame wie stetige Wandlung des Bilderstürmers Górecki. Geprägt vom starken Katholizismus seines Landes, auf der Spur volksmusikalischer Wurzeln, komponierte er zunehmend harmonisch, meditativ, klar strukturiert. Als wichtiges Werk dieser Entwicklung dürfte die 1976 geschriebene 3., die „Sinfonie der Klagelieder“ gelten. Der gut 50minütige Dreisätzer für Streicher, Klavier und Sopran ist ein ruhig fließendes Lamento, ein Totengesang in drei Varianten. Maria beweint ihren sterbenden, toten Sohn. Die Textquellen sind eine spätmittelalterliche Heiligkreuzklage, eine KZ-Inschrift, ein oberschlesisches Volkslied. Religiös Inbrünstiges trifft auf weltliche Verzweiflung.

Die historische Pointe dieser Werkgeschichte liefert indes erst das Jahr 1992. Als die zweite CD-Einspielung der 3. erschien, mit der Sopranistin Dawn Upshaw und der London Sinfonietta unter David Zinman. Als diese Platte gut eine Million Mal verkauft wurde. Als sie zeitweise Eingang in die Album-Charts fand, also sich auch unter Jugendlichen größter Beliebtheit erfreute. Offenbar traf die Sinfonie den Zeitgeist: schwankend zwischen dem Bedürfnis nach Kontemplation und dem tönenden Protest gegen das Laute in der Welt.

Nun ist, 20 Jahre nach diesem unverhofften Run auf eine „Klassik“-CD, eine neue Deutung auf den Markt gekommen. Mit der libanesischen Sopranistin Isabel Bayrakdarian und dem Danish National Symphony Orchestra, dirigiert vom Amerikaner John Axelrod. Eine Liveaufnahme aus dem Konzerthaus Kopenhagen, die bei allem dunklen Streicherraunen hinreichend transparent erklingt.

Doch so eindringlich das Orchester die an- und abschwellende Dynamik nachzeichnet, so enttäuschend wenig Farbschattierungen sind zu hören. Górecki lässt mit seinem weiträumigen Minimalismus die Zeit verharren, aber daraus formt Axelrod nur bedingt Spannungsvolles. Die Sängerin trägt zudem oft reichlich dick auf, die Stimme leuchtet klagend, aber bisweilen rau, kehlig und nicht ohne Schärfe. So bleiben viele Zweifel, ob diese Aufnahme erneut Chancen auf Kultstatus hat. Denn warum sonst wurde die CD produziert? Eine ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Werk Góreckis geht davon jedenfalls nicht aus.

Erschienen bei Sony Music

www.klassik.sonymusic.de




Auch eine Glaubensfrage: Dortmund-Süd oder Lüdenscheid-Nord?

Immer ist von „Lüdenscheid-Nord“ die Rede, wenn Fußballanhänger aus Gelsenkirchen die verhasste Ballspielvereinigung Borussia vom Borsigplatz nicht beim echten Namen nennen wollen. Das, so meine ich, tut der Sauerland-Zentralstadt „Dortmund-Süd“ aber unrecht.

Lüdenscheid hat nämlich einiges zu bieten, wie ich kürzlich bei einem Besuch wieder bestätigt bekam. Sicher, die Architektur der Innenstadt wirkt zusammen gewürfelt, vor allem das klobige Rathaus kann man durchaus hässlich nennen, aber das Leben pulsiert, die Menschen scheinen ihre City zu mögen, und bei „Hulda am Markt“ fühlt man sich in alte Zeiten versetzt.

Lüdenscheids Rathaus. (Foto: hhp)

Und erst der Museumskomplex: Mit der Ida Gerhardi-Ausstellung gelang in den letzten Monaten ein großer Wurf, und sehr gern erinnere ich mich an den Besuch der historischen Schau „Preußens Aufbruch nach Westen“ vor vier Jahren. Etwas abseits der großen Zentren wie Köln, Düsseldorf oder Dortmund bedeutet Lüdenscheid dem Sauerland etwa das, was Münster dem Münsterland bietet.

Das ist natürlich auch übertrieben, denn schließlich ist Münster immer schon sich selbst genug gewesen, ein Zentrum der „Poahlbürger“ eben. Trotzdem: Es lebe die Provinz!




Festspiel-Passagen V: Metapher absoluter Fremdheit – „Solaris“ in Bregenz

Stanislaw Lems Roman „Solaris“ hat seit seinem Erscheinen 1961 – auf Deutsch erst 1972 – nichts von seiner Tiefe und Faszination eingebüßt. Andrej Tarkowski (1972) und Steven Soderbergh (2003) haben Filme gedreht; es gibt einige Adaptionen für die Bühne – zuletzt am Münchner Volkstheater, am Burgtheater Wien und am Schauspiel Zürich. Nun hatte bei den Bregenzer Festspielen eine „Solaris“-Oper Premiere – die zweite nach der Kammeroper von Michael Obst (München, 1996). Der Henze-Schüler Detlev Glanert hat auf ein Libretto von Reinhard Palm komponiert, das sich eng an den Roman Lems anlehnt.

„Solaris“ ist vielschichtig: Auf der Science-Fiction-Ebene dreht es sich um den Versuch, Kontakt mit einem Wesen aufzunehmen, das einen ganzen Planeten umspannt; ein Plasma-Ozean, der seit Urzeiten alleine um seine beiden Sonnen kreist. Eine Lebensform, die schon von ihrer bloßen Existenz her keinen Begriff vom „Anderen“ hat. Wie kann Kommunikation mit einem solchen Fremden überhaupt möglich sein?

Auf der psychologischen Ebene konfrontiert „Solaris“ mit den Folgen der Interaktion. Auf der Forschungsstation, die das Planeten-Wesen umkreist, kommt es zu seltsamen Erscheinungen: „Gäste“ tauchen auf, Materialisationen verdrängter Träume und Erinnerungen. Solaris liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher auf der Station aus den Gehirnen heraus und lässt sie als reale Personen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin erscheint seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Keine Rolle in der Oper spielt Lems satirische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft: Die „Solaristik“ ist in seinem Roman eine seit hundert Jahren etablierte Forschungsrichtung mit zahllosen Schulen, Thesen, Dogmen; ein Lehr- und Literaturgebäude, das genüsslich ausgebreitet wird, in dem sich die wirklich wichtigen Erkenntnisse jedoch in entlegenen Anhängen, trivialwissenschaftlichen Sammlungen oder fachfremdem Material finden. Lem formuliert seinen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und einem das Gegenteil postulierenden Forschungs-Betrieb. Die „Solaristik“ mutet an wie eine Ersatz-Religion, flankiert von einer Ersatz-Theologie, die das „Wesen“ des unfassbaren Ozeans ergründen will.

Denn „Solaris“ hat in seiner einsamen Einmaligkeit etwas Göttliches. Er setzt mit seiner stabilen Umlaufbahn – die es in einem Doppelsonnensystem nicht geben dürfte – die Gesetze der kosmischen Physik außer Kraft. Auf seiner Oberfläche ereignen sich ständig Neuschöpfung und Verfall. Souverän erschafft er die Erscheinungen aus dem Gehirn-Inhalt der Menschen; ihre Materie existiert allein durch seine Energie. Sein In-Sich-Ruhen, seine unberührbare Majestät erinnern an die jenseitige, aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogene Natur Gottes.

Aber die Solaris ist auch ein „unvollkommener Gott“, dem Kommunikation offenbar nicht gelingt. Seine Selbstäußerungen scheinen hilflose Versuche eines kosmischen Kindes. Oder experimentiert das Wesen mit den Menschen statt sie mit ihm? Keine Offenbarung erschließt die Solaris, wie sie wirklich ist – nicht einmal, wie sie erscheinen möchte. Lems Metapher der absoluten Fremdheit ist perfekt.

Für die Menschen in der Station wird die Bahn um den Planeten zum Ort ihres eigenen Fegefeuers. Der alte katholische Begriff meint die Konfrontation mit dem Verdrängten, das erschreckt, peinigt, beschämt. Das, was wir nicht „wahr haben wollen“. Die Seiten unserer Persönlichkeit, die wir selbst nicht in unser Selbstbild integrieren können oder wollen: „Man liebt es und es ekelt uns vor dem Gegenstand unserer Begierde und ist zugleich verrückt danach…“, beschreibt der Wissenschaftler Snaut, was sich auf der Station materialisiert, ihre Bewohner beherrscht und bis zum Suizid treibt. Unzerstörbare Vergangenheit, unbestechlich. „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. Wirklich? Denn Kelvin sucht am Ende, auf der Oberfläche Solaris‘, das Eingehen in das gigantische „Andere“. Doch Erlösung ist das nicht: „Die Zeit der grausamen Wunder ist noch nicht vorbei“, sind seine letzten Worte.

Glanert und Palm akzentuieren in ihrer Oper die Frage nach den Traumata, denen wir nicht entfliehen können: Alle Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums beruht nach Glanerts Worten auf dem Wunsch, „einen Gott oder zumindest einen großen Bruder zu finden, der uns einen Teil unserer Schuld abnimmt“. Die „Gäste“ erhalten in der Oper ein ausgeprägteres Profil als im Roman: die „Negerin“, die Stationschef Gibarian zum Selbstmord treibt; der „Zwerg“, der den stets um Kontrolle ringenden Intellektuellen Sartorius peinigt; die „Alte Frau“, die Snaut halb als Mutter, halb als Domina demütigt. Im christlichen Verständnis braucht der Mensch einen Anderen, der ihm die Befreiung von seinen Schatten zusagt. Nicht umsonst dürfte Andrej Tarkowski seinem „Solaris“-Film Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ unterlegt haben.

In der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier blieb die Bregenzer Uraufführung von „Solaris“ allerdings zwischen Raumschiff Enterprise und interstellarer Beziehungskiste stecken. Christian Fenouillat hat eine dem Klischee einer Raumstation entsprechende Bühne gebaut, mit von Bullaugen durchbrochenen weißen Wänden, auf denen die farbigen Projektionen von Tommi Brem ein Versuch sind, Lems uneinholbare Beschreibungen der fremdartig faszinierenden Atmosphäre der Solaris wenigstens ansatzweise zu visualisieren. Aber die blinkenden bunten Dioden an irgendwelchen Geräten werfen uns wieder zurück in Sci-Fi-Kitsch.

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Wenn dann die „Negerin“ (Benita Hyman) als monströser Fleischberg über die Szene watschelt, lässt das zwar das Publikum staunen, holt aber den unheimlichen Augenblick der ersten Erscheinung eines „Gastes“ nicht ein. Ihre Stärke hat die Inszenierung in den Momenten, in denen Kris Kelvin und die Erscheinung seiner Frau Harey immer deutlicher realisieren, dass sich die bloße materialisierte Erinnerung verselbständigt. Dass sie Selbstbewusstsein entwickelt und über die körperliche Montage einer Toten aus dem Abbild einer Erinnerung hinaus zu einer eigenen Persönlichkeit wächst. Dietrich Henschel und Marie Arnet erfüllen diese Szenen mit vokaler Poesie.

Martin Koch und Martin Winkler zeichnen scharfe Porträts der Forscher: Der eine spricht als Snaut die Wahrheit in der ironischen Leichtigkeit eines Kurt-Weill-Songs aus; der andere versucht als Sartorius in schnarrender Deklamation, die Reste der wissenschaftlichen Fassade zu retten. Christiane Oertel (Alte Frau) und Mirka Wagner (Zwerg) verlieren nach und nach alle Hemmungen, sich kreischend und belfernd als Quälerinnen ihrer Opfer zu übertreffen.

Mit Markus Stenz, Noch-GMD in Köln, stand ein wissender Sachwalter für Glanert am Pult der Wiener Symphoniker. Er hat 2006 bereits die Uraufführung der Oper „Caligula“ in Frankfurt geleitet und sich – unter anderem mit dem Bundesjugendorchester – immer wieder für die Musik des Komponisten eingesetzt. In Bregenz dirigierte er im ersten Orchesterkonzert auch Glanerts Fassung der Schubert-Ballade „Einsamkeit“. Mit dem traditionell besetzten Orchester – plus Bassklarinette, Kontrafagott, Celesta – erweist sich Glanert in „Solaris“ wieder einmal als Klanggestalter ersten Ranges. Er meidet naheliegende psychedelische Klangnebel, setzt Tonfolgen ein, die im Lauf des Stücks thematisches Gewicht gewinnen, schreibt frei tonale sangliche Linien und ermöglicht Sängern und Orchestersolisten mitunter belcantistische Entfaltung.

Stenz realisiert die dramatische Attacke ebenso wie die bohrende Repetition, das weiträumige Auffliegen orchestraler Melodik ebenso wie Klanggebilde an der Grenze der Unhörbarkeit. Der Prager Philharmonische Chor unter Lukáš Vasilek repräsentiert unsichtbar das Solaris-Wesen, das sich – anders als im Roman – in der Oper in den vier „Interludien“ immer klarer artikuliert, allerdings in kryptischem Wortsalat, der wohl eher Fremdheit als eine beginnenden kommunikative Kompetenz ausdrücken will.

Die Bregenzer Inszenierung wird am 19. Mai 2013 von der Komischen Oper Berlin übernommen. Dass sich andere Bühnen des tiefgründigen Werks annehmen, wäre dringend zu wünschen: das szenische Potenzial harrt noch darauf, umgesetzt zu werden.




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Slawische Schwermut, nordische Sehnsucht: Das neue Album der Geigerin Vilde Frang

Die junge norwegische Geigerin Vilde Frang hat ihre neue CD veröffentlicht. Foto: Marco Borggreve (EMI)

Sie hat den Bogen raus. Kann es sich inzwischen leisten, hinter einer präzisen, wie selbstverständlich aufblitzenden Virtuosität, den Kern musikalischen Ausdrucks anzupeilen. Denn die norwegische Geigerin Vilde Frang, 25 Jahre jung, hat entschieden an Reife gewonnen. Ihr zuzuhören, gleicht jedes Mal einer Entdeckungsreise – hin zu fragilen, verhangenen, satten, herb expressiven oder leidenschaftlich schroffen Klängen.

Nun ist ihr drittes Album erschienen, mit den Violinkonzerten von Peter Tschaikowsky und Carl Nielsen. Slawische Schwermut trifft hier auf nordische Sehnsucht, andererseits kerniges russisches Lokalkolorit auf dänischen Überschwang. Das macht den Reiz dieses Albums ebenso aus wie die Tatsache, dass sich ein Repertoireschlachtschiff neben einer Rarität findet. Vilde Frang schafft es, das eigentlich totgegeigte Tschaikowsky-Konzert zu einem aufregenden, glanzvollen wie spannend rauen Klangjuwel zu formen. Und sie nimmt das großformatige Nielsen-Stück so leicht wie ernst.

Akkuratesse in der Tongebung, Sicherheit in der dynamischen Balance, vor allem aber die Fülle an Farben, die Frang ihrem Instrument entlockt, lassen aufhorchen. Bei Tschaikowsky steht kernige Brillanz neben einer wehmütigen, teils wie hingehauchten, lyrischen, eleganten Phrasierung. Die Solistin kann wunderbar attackieren und sich blitzartig zurücknehmen. Sie gibt Nielsens teilweise putzig naiven Volksweisen jenes Funkeln mit, das uns milde lächeln lässt. Und Frang formt die rhapsodisch breiten, langsamen Sätze mit Vehemenz und Strenge.

Beinahe Ungewöhnliches kommt hinzu: Ein toller Orchesterklang, der nichts zudeckt, der Musik insgesamt Luft zum Atmen lässt. Eivind Gullberg Jensen dirigiert das Danish Radio Symphony Orchestra umsichtig, immer die rechte dynamische Balance, die Durchhörbarkeit im Sinn. Tschaikowskys Motivwiederholungen und –Sequenzierungen klingen nie langweilig, trotzdem nicht protzig übersteuert. Und Carl Nielsen wird weder künstlich in die Nähe eines Sibelius gewuchtet, noch erscheint das Verspielte der Musik verniedlicht. Ein schönes, spannendes Album.

(Erschienen bei EMI Classics 6 02570 2)

www.emiclassics.de




Sterben und sterben lassen

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die CDU/CSU streiten sich. Das ist nicht grundsätzlich neu. Diesmal aber geht es um Leben und Tod.

Die Justizministerin hat in den vergangenen Tagen einen Gesetzentwurf zum Verbot gewerblicher Sterbehilfe vorgelegt, der bei der Katholischen Kirche und den C-Parteien Protest auslöst. Die Liberale möchte zwar das Geschäft mit dem Tod, das zum Beispiel der Schweizer Verein Dignitas betreibt, unterbinden. Die private Hilfe zum Suizid etwa unter Angehörigen oder nahen Freunden soll aber straffrei bleiben. Bei der nun aufziehenden Diskussion wird es hoch hergehen und vor allem kunterbunt durcheinander.

Verschiedene Szenarien werden um die Gunst des Publikums konkurrieren. Da ist zunächst der Fall der Bettina Koch, die durch einen Unfall ab dem Hals gelähmt war und trotzdem unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper spürte. Sie konnte klar artikulieren, dass sie sterben wollte. Ärzte konnten ihr keine dauerhafte Linderung ihrer Qual versprechen. Ihr Mann musste sie mühsam in die Schweiz transportieren, damit sie dort das lebensbeendende Präparat verabreicht bekam. Diese grausige Reise soll nun vermieden werden. Der Ehemann der Bettina Koch würde sich, würde das Gesetz der FDP-Ministerin verabschiedet, nicht strafbar machen, wenn er die Tablette seiner Frau in den Mund legen würde.

Neben den üblichen Verdächtigen, die fast jede Art von Eingriff in Lebensabläufe verdammen, sei es Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch oder in diesem Fall eben Sterbehilfe, werden sich aber auch sehr aufgeklärte Menschen zu Wort melden. Was ist mit denjenigen, die sich nicht klar artikulieren können? Wird der Euthanasie Tür und Tor geöffnet? Mitleid wird hier schnell zur tödlichen Falle. Ob das Leben eines Komapatienten lebenswert ist, wird gern von außen beurteilt. Nur, stimmt dieses Urteil mit den inneren Welten des Patienten überein? Viele Menschen, die dem Tod schon nahe waren, verneinen dies. Koma kann anscheinend nicht nur für jugendliche Alkoholkonsumenten ein erquicklicher Zustand sein. Aber Angehörige möchten gern ihr eigenes Leiden, das sie als Zuschauer empfinden, schnell beenden und verwechseln ihre Gefühle mit denen ihrer Angehörigen. Auch geistig schwerbehinderte Menschen, psychisch kranke Menschen, Straftäter, demente Menschen, ihnen allen wird im Rahmen von Sterbehilfediskussionen an Stammtischen gern das Recht auf Leben abgesprochen.

Und deshalb ist bei dieser Diskussion ein schmerzhafter Blick in unsere Vergangenheit unumgänglich. Die Stammtische waren hierzulande mal in Regierungsverantwortung und beendeten mit ihrer menschenverachtenden Logik Millionen von angeblich unwerten Leben. Wer die Gleise von den Gaskammern zu den Öfen in der Tötungsanstalt im hessischen Hadamar, die nun eine Gedenkstätte sind, gesehen hat, auch die Fotos aus dem Jahr 1941, als gelber Rauch aus dem hohen Schornstein weit sichtbar über das beschauliche Städtchen zog, der wird die Diskussion um Sterbehilfe nicht nur akademisch führen können.

Aber trotzdem ist diese Diskussion so wichtig. In den Niederlanden, in Belgien und in der Schweiz sind die historisch begründeten Empfindsamkeiten verständlicherweise nicht so ausgeprägt. Vielleicht können wir voneinander lernen. Der Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium, das ist an dieser Stelle wichtig zu sagen, hat überhaupt nichts mit Euthanasie zu tun.




Selbstbestimmte Erdbeeren: Meine erste dOCUMENTA

Weltgeschichte auf Schilfgras: Für den "Zeitstrahl" von Geoffrey Farmer bilden sich auf der dOCUMENTA Warteschlangen (Copyright: Anders Sune Berg)

Spottet nur, ihr Daheimgebliebenen. Fragt ruhig ironisch, ob schon ein paar selbstbestimmte Erdbeeren oder herrschaftsfreie Hunde aufgetaucht seien, die von der dOCUMENTA-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev als Beispiele für einen Themenschwerpunkt der diesjährigen Ausstellung genannt wurden – was prompt einen kleinen Medienwirbel verursachte. Eure Häme kümmert mich nicht. Mich treibt das dringende Bedürfnis nach intellektueller Herausforderung nach Kassel.

Den vorgefertigten Meinungen vieler Medien, die ihre Leser zunehmend für dumm verkaufen, will ich mich lustvoll widersetzen. Ich will mich Neuem öffnen, und wenn dies dazu gehört, gerne auch ratlos vor Installationen stehen, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt. Ich will mich wehren gegen das feiste Grinsen, mit denen die Feinde von Kunst und Kultur auf die Fettecke von Joseph Beuys deuten, um dann mit perfider Grobheit zu fragen: „Is dat Kunst, oder kann dat wech…?“

Ganz alleine scheine ich mit solchen Wünschen nicht zu stehen. Bereits zur Halbzeit konnte die dOCUMENTA (13), diese 100 Tage währende Weltausstellung der Kunst, einen Besucherrekord vermelden. Genaue Zahlen sollen erst zum Abschluss am 16. September verraten werden. Indes wurde bekannt, dass die Verantwortlichen mit rund 750.000 Kunsthungrigen rechnen.

An diesem ersten Samstag im August, der sich trefflich auch im Freibad oder im heimischen Garten verbringen ließe, schwärmen die Menschen vom gesichtslosen Areal rund um den Hauptbahnhof aus in die Stadt. Bald schon bewege ich mich im Kielwasser kleiner Gruppen. Im Laufe des Tages wird der Besucherstrom anschwellen, wird mich zum Hugenottenhaus, zum Brüder Grimm Museum, zur Neuen Galerie, in die Karlsaue, zur barocken Orangerie, zur Documenta-Halle, zum Fridericianum und zum Hauptbahnhof führen. Er wird mich treppauf und treppab laufen lassen, das Verlangen nach Essen und Trinken auf später verschiebend, weil das Angebot bei 300 Künstlern so verlockend groß und vielfältig ist, mein Besuch aber leider auf diesen einen Tag beschränkt.

Neugierde, Spannung, aber auch einige Zweifel begleiten die erste Kontaktaufnahme. Wie werden wir miteinander zurechtkommen, die zeitgenössische Kunst und ich? Die erste Tuchfühlung erfolgt im Hugenottenhaus, einem kleineren Veranstaltungsort der diesjährigen dOCUMENTA. Das historische Gebäude zeigt sich von einer gewöhnungsbedürftigen Seite, befindet es sich doch in einem stark fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Leitungen liegen frei, vergilbte Tapeten schälen sich von den Wänden. Große Löcher in Decke und Wänden legen Schichten aus Stroh, Lehm und alten Balken frei, die dem Blick sonst verborgen bleiben. Das Haus zeigt seine Eingeweide her. Aber es gibt hier mehr zu sehen als Spuren vergangenen Lebens. Der 1973 in Chicago geborene Theaster Gates hat das Gebäude mit einer Gruppe von Auszubildenden aus Kassel und Chicago in Besitz genommen. Sie haben primitive Möbel geschreinert, eine Küche eingerichtet, in einem Freiraum neben der Diele sogar eine große Hollywoodschaukel aufgehängt. Die Schlafzimmer sind für Besucher nicht begehbar, stehen ihren Blicken aber offen. Wie kann man leben in dieser „sozialen Skulptur“, wie die Künstler diese Begegnungsstätte nennen? Gibt es eine Ästhetik des Schäbigen? Wo mögen sich die Künstler und Künstlerinnen tagsüber aufhalten? Der Zufall will es, dass eine von ihnen gerade auf ihrem Bett sitzt. Sie kehrt den Besuchern den Rücken zu, wird aber trotzdem fotografiert, als sei sie ein seltenes Tier in einem Zoo.

Schlafstatt und Ausstellungsraum: Theaster Gates und eine Gruppe von Auszubildenden machten aus dem Hugenottenhaus eine "soziale Skulptur" (Copyright: Nils Klinger)

Kurz darauf tappe ich ins Dunkel. Der Raum, in dem eine Performance des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal stattfinden soll, ist aber nur auf den ersten Blick stockfinster. Wer vorsichtig voran geht, bemerkt bald einen schwachen Schein von einer indirekten Deckenbeleuchtung, die ein Minimum an Sicht erlaubt. Staunend und langsam bewegen sich Menschen durch diesen Raum, der von einem leisen Summton erfüllt ist. Er stammt unverkennbar aus menschlichen Kehlen. Sind es vielleicht die anderen Besucher, die hier leise vor sich hin summen? Oder vielmehr: Sind die Menschen um mich herum denn überhaupt Besucher? Kaum taucht der Gedanke auf, da bricht auch schon die Hölle los: Die vermeintlichen „Besucher“ beginnen laut zu singen und rhythmische Texte zu skandieren. Dazu tanzen sie im Dunkeln nach einer ausgefeilte Choreographie. Plötzlich wälzt sich ein Tänzer auf dem Boden. Die anderen stampfen und toben rhythmisch durch den Raum. Ich fürchte eine Kollision, werde aber nicht einmal gestreift. Ein Sprecher sinniert verwundert über die existenzielle Unzufriedenheit vieler wohlhabender Menschen in den westlichen Gesellschaften. Und plötzlich ist der Spuk vorbei. Die Tänzer schwanken leise wie Rohre im Wind. Nichts bleibt als das Dunkel und der geheimnisvolle Summton.

Verzaubert kehre ich zurück ins Tageslicht. Wie Atréju aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ habe ich ein Orakel besucht, einer geheimnisvollen Stimme gelauscht und eine Botschaft empfangen, die ich nur halb verstehe. Ich fühle mich zurückversetzt in Kindheitstage, erinnere mich an aufregende Spiele im dunklen Flur des Kellers, die zur Abendzeit nur durch ein Machtwort der Erwachsenen beendet werden konnten. Um einen Kindheitstraum dreht sich auch die Ausstellung „Knights (and other dreams)“ im Brüder Grimm Museum. Dort beleuchtet der Bulgare Nedko Solakov seine kindliche Faszination für Ritter von denkbar vielen Seiten. Das ist erwartungsgemäß verspielt und auch hübsch anzusehen. Gleichwohl resümiert der Künstler hellsichtig: „Ich hätte sie in meinem Kopf behalten sollen, diese Träume. Dort hätten sie wohl glücklich bis an das Ende ihrer Tage gelebt. Vielleicht.“

Ein erster Höhepunkt ist die Neue Galerie. Hier bewundere ich die teils fragilen, teils kraftvoll-bewegten Bronzeskulpturen von Maria Martins und die fröhliche Farbintensität der Bilder von Gordon Bennett, die Muster und Zitate aus der Kunst der australischen Ureinwohner (Aborigines) aufgreift. Eine leuchtend bunte Jukebox hat die US-amerikanische Künstlerin Susan Hiller aufgestellt: In 100 verschiedenen Sprachen und Varianten bietet sie das Lied „Die Gedanken sind frei“ zur Auswahl an. Die dazugehörigen Texte zieren die Wände bis unter die Decke. Eine lange Warteschlange bildet sich im zweiten Stock vor dem spektakulären „Zeitstrahl“ des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer. Es handelt sich dabei um eine 44 Meter lange Collage aus Ausschnitten des amerikanischen „Life“ Magazins, die von 90 Mitarbeitern in filigranster Arbeit ausgeschnitten und auf Schilfgras geklebt wurden. Bilder von Figuren, Menschen und Gegenständen, 50 Jahrgängen des Heftes entnommen, erzählen die Geschichte der Jahre 1935 – 1985 auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Skulpturen von Maria Martins sind in der Neuen Galerie zu sehen (Copyright: Anders Sune Berg)

Nur selten stehe ich an diesem Tag vollkommen ratlos vor einem Kunstwerk. Sogar das auf den ersten Blick Lächerliche ergibt bei näherer Betrachtung Sinn, lädt ein zum Nachdenken über die Vergangenheit oder über den Alltag in fernen Kulturen. Zum Beispiel gibt die 1949 in Zagreb geborene Sanja Ivekovic einer Sammlung von Stoff-Eseln in einer Glasvitrine den Titel „The Disobedient“ (Die Ungehorsamen). Namensschilder weisen die Plüschtierchen als berühmte Personen der Zeitgeschichte aus: Rosa Luxemburg, Martin Luther King und die Geschwister Scholl sind hier versammelt. Ein historisches Foto aus Kassel im Jahre 1944 bildet den Schlüssel zu dieser vermeintlich niedlich-belanglosen Installation: Es zeigt einen Esel, den die Nationalsozialisten in der Stadtmitte von Kassel in Stacheldraht eingezäunt haben, verbunden mit einer Warntafel, dies sei „ein KZ für alle widerspenstigen Staatsbürger“, die nach wie vor bei Juden kauften. Die zwei toten Fliegen, die der thailändische Künstler Pratchaya Pinthong in einer Vitrine ausstellt, verweisen auf den erbitterten Kampf, den die Menschen in seiner Heimat gegen die Tsetsefliege und die von ihr übertragene tückische Schlafkrankheit führen.

Kühne und zugleich kühle Visionen von Technik und Fortschritt beherrschen die große Documenta-Halle. Der deutsche Künstler Thomas Bayrle zeigt dort ein acht Meter hohes und über 13 Meter breites Schwarz-Weiß-Bild eines Flugzeugs, das aus unzähligen kleinen Flugzeug-Bildern zusammengesetzt ist. Am Eingang steht die „Monstranz“, ein feingliedriger Sternmotor, der einst ein tschechisches Saatflugzeug antrieb. Er ist längs durchgeschnitten, sein Inneres ist bloßgelegt, zusammen mit Lautsprechern ist er auf einen stählernen Fuß montiert. Die Maschine läuft, wenn das Stromkabel angeschlossen ist: Gleich wird ihr gleichförmig arbeitender Originalton mit einer vielkehligen Rosenkranzandacht aus dem Kölner Dom zusammenklingen. Der Motor „betet“.

Technik als Religion: Arbeiten von Thomas Bayrle in der Documenta-Halle (Copyright: Anders Sune Berg)

Vermutlich in dem Versuch, möglichst viele Orte in die dOCUMENTA einzubeziehen, werden die Künstler in der Orangerie in der Karlsaue recht lieblos präsentiert. Ihre Arbeiten drücken sich schamhaft in eine Ecke, werden von den ständigen Exponaten nachgerade erschlagen. Die Weiten der Karlsaue zu durchmessen, ist an diesem einen Tag natürlich ganz unmöglich. So entgeht mir der Hundespielplatz für vierbeinige Documenta-Besucher. Die Hunde, die ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme, sind erkennbar nicht „herrschaftsfrei“. Auch die glücklichen Himbeeren und Tomaten an einem „Fair Trade“-Stand machen keinen sonderlich politischen oder selbstbestimmten Eindruck. Was im Vorfeld so viel Anlass zum Spott gab, kann andererseits als der durchaus ehrbare Versuch gesehen werden, von einem Weltbild abzurücken, das den Menschen als Maß aller Dinge sieht.

Nach neun Stunden dOCUMENTA bin ich müde, glücklich, voller neuer Eindrücke. Ein Versäumnis fällt mir auf der Heimfahrt plötzlich doch noch ein: Ich habe Hitlers Badewanne nicht gesehen! Diese wurde von der Fotografin Lee Miller aufgenommen, die im April 1945 als Kriegsberichterstatterin mit den amerikanischen Truppen in München eingezogen war und einige Tage in Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz wohnte. Am Tag seines Selbstmords badete sie dort. Nun ja, es muss ja nicht immer Hitler sein. Und was die dOCUMENTA betrifft: In fünf Jahren treffen wir uns bestimmt wieder. Ganz selbstbestimmt und herrschaftsfrei.




Auf dem Berg der Wahrheit – Ein Spaziergang auf den Spuren von Hermann Hesse

Eigentlich ist er nur ein Hügel und sein richtiger Name ist Monte Monescia, doch das weiß heute kaum einer mehr. Weithin ist er als Monte Verità bekannt, als Berg der Wahrheit, ein legendenumwobener Hügel, über den Villendächern des einstigen Fischerdorfes Ascona im schweizerischen Kanton Tessin thronend.
Blick auf den Lago Maggiore

 

 

 

 

Anfang des 20 Jahrhunderts sammelten sich auf diesem Berg reformbeseelte Künstler, Pazifisten und Gründer der sogenannten Alternativbewegung. Schon früh – 1907 – fand auch Hermann Hesse den Weg auf den Monte Verita. Bis heute unbestätigten Gerüchten zufolge soll er sich dort von seinen Alkoholproblemen entzogen haben. Schnell zeigte er sich inspiriert von der dortigen Künstlerkolonie, die in gewissem Maße das Hippieleben der 60erJahre vorwegnahm. Man lebte spartanisch in Hütten oder einfachen Steinhäusern, aus dem Granit der Tessiner Berge gebaut.

 

 

 

 

 

Besonders dem Propheten Gusto Gräser, einem langhaarigen bärtigen, stets in eine Tunika gewandetem Mann, schloss sich Hesse an. Gräser lebte zeitweilig in einer Höhle, seiner Waldgartenwelt nahe des Dorfes Arcegno im Tal hinter dem Monte Verita. Unklar ist, ob Hesse ihn dort nur besuchte oder auch mit ihm in dieser Höhle lebte.

So könnte sie ausgesehen haben, die Höhle von Gräser

Zu Arcegno behielt Hesse eine enge Bindung, die über seinen Tod hinaus wirkte. Bis heute leben dort die Nachlaßverwalter seines literarischen Werkes. Sein ältester Sohn Heiner, 2003 verstorben und heute sein Enkel Silver. Arcegno gilt dem Wanderer im Tessin als Ausgangspunkt für die „Suche nach dem Schluss vom Ende der Welt“ und ist auch der einzige Ort aus dieser Gegend, dem Hesse ein explizites Werk widmete, in dem es aufschlussreich heisst:
„Hier ist mein heiliges Land,
hier bin ich hundertmal
Den stillen Weg der Einkehr in mich selbst
Im Sinnbild einsamen Geklüfts gegangen.“*

Auf den Spuren von Hermann Hesse auf dem Monte VeritaHermann Hesse verbrachte einen Großteil seines Lebens im Tessin, er wählte den bei Lugano gelegenen Ort Montagnola als sein eremitisches Ziel. Immer wieder jedoch kehrte er an den Monte Verità und nach Ascona zurück. Auffällig ist, dass der Monte Verità viele Künstler anzog und inspirierte, doch ihre bekanntesten Werke entstanden allesamt woanders. Eine bleibende, typische Kunst des Monte Verità gab und gibt es nicht. Dennoch finden sich viele Ansätze, die eine Interpretation zulassen, dass sich der Geist dieses sonderbaren Ortes in etlichen von Hesses Werken wiederfindet. So die Erzählung in den Felsen bei der man sofort an die besagte Höhle denken muss.

Informiert man sich über Gusto Gräser, den Mitbegründer des Monte Verita Projekts denkt man unwillkürlich an den Propheten Eduard van Vlissen aus dem Weltverbesserer. Ziemlich sicher spielt Demian, das frühe Hauptwerk Hesses, auf dem Monte Verità und die Vermutung liegt nahe, dass Gräser sich auch in der Figur des Max Demian widerspiegelt. Gräsers stets und ständig gepredigtes Credo war „Sei Du selbst“ – und im Demian heisst es als Quintessenz „Wir empfanden einzig dies als Pflicht und Schicksal: dass jeder von uns ganz er selbst werde.“ Schlussendlich aber war der Geist des Monte Verità ihm wohl auch eine Warnung und liess ihn zu einem Gegner jeder absoluten Menschheitsbeglücker-Theorie werden. Deren Heilsversprecher nannte er in späteren Werken gerne barfüßige Propheten, Kohlrabi-Apostel oder Körndlfresser, wie in der Erzählung Dr. Knölges Ende.

Und heute? Heute ist der Monte Verità eine Art Gemischtwaren-Angebot aus der reichen Palette esoterischer Lehren. Man kann anthroposophisch geprägte Regenbogenwege gehen und fernöstlichen Zeremonien beiwohnen. Für dezente 38 Schweizer Franken kann man eine japanische Tee-Zeremonie erleben und dabei Tee verkosten, der tatsächlich im hügeligen Mikroklima auf einer kleinen Teeplantage angebaut wird.

antroposophisch inspiriertAngebaut wird grüner TeeGive Peace a chance. Oder so.

Die Betreiber des Monte Verita sind mächtig stolz auf das Bauhaus-Haus, aber man darf ruhig der Meinung sein: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.Man kleidet sich als Besucher des Monte Verità gerne hell, licht und luftig, wandelt entrückt auf den Wegen, ganz in sich selbst versunken, sorgsam darauf bedacht, niemanden zu grüßen – wie sonst auf Spazierwegen in der freundlichen Schweiz üblich. Da wirkt das in den vierziger Jahren auf den Hügel geklotzte Hotel im Bauhaus-Stil – an sich nicht gerade ein Prunkstück der Bauhaus Architektur – in seinen strengen klaren Linien geradezu erholsam.

Zwischen Magie und Spießbürgertum, hier eher MagieEs ist ein Ort, der wie Ascona zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, ein Ort, der sein Versprechen auf Wahrheit niemals einlösen kann, ein Ort bornierter Manierismen. Ich zitiere derzeit zu gerne Dea Loher aus ihrem Roman „Bugatti taucht auf„: dieser schreckliche Monte Verità mit seinen traurigen, sich esoterisch spreizende Gebäuden und Anlagen ist nur der fürchterlichste, weil vollkommen belanglose Ausdruck dieser Langeweile und Abgehobenheit. Ich bin mir sicher, Hermann Hesse hätte sich dort oben auch nicht mehr wohlgefühlt. Wer Orte der Sehnsucht und Kraftquellen im Tessin sucht, frage lieber Einheimische und Ortskundige. Die findet man auf dem Monte Verita nämlich auch eher selten.

*Bei Arcegno, 1925 veröffentlicht Weitere Quellen: Wikipedia/ Ascona und sein Berg Monte Verita, ArcheVerlag Zürich, 1979 / Ständige Ausstellung Monte Verità in der Casa Anatta/Bilder alle von Britta Langhoff




Was ist daran politisch? Die dOCUMENTA (13) und die „politische Kunst“

Edward Tufte nach Reinhardt; ohne Angaben (Foto web)

Auf Grundlage dieses großzügigen Politik-Verständnisses lässt sich aller menschlichen Aktivität politische Wirksamkeit bescheinigen, darunter auch ökologischen, psychologischen und sozialen Prozessen. Und diese bilden die Basis zahlreicher Beiträge der dOCUMENTA (13), wodurch sie die bislang interdiszplinärste ist.

Jenseits der twenty-somethings

Einzelne Aspekte der Ausstellung fordern zur Nachahmung auf, wie beispielsweise die Anhebung des Altersdurchschnitts von TeilnehmerInnen und Exponaten.

Etel Adnan "untitled, 1959-2010" (Foto A.S.Berg)

So lässt sich der Auftritt der 1925 geborenen Etel Adnan und Aase Texmon Rygh, sowie des ein Jahr jüngeren Gustav Metzgers als Aufruf zur Überwindung der im Kunstbetrieb herrschenden Altershierarchie verstehen, derzufolge vor 1970 Geborene für den Markt nur dann interessant sind, wenn sie sich anhaltenden Erfolgs erfreuen.

Synchronizität der Ereignisse: Abgelegene Modernen

Die dOCUMENTA (13) setzt diese Revision von Formen und Inhalten der Moderne fort, indem sie moderne KünstlerInnen jenseits der üblichen Verdächtigen in Erinnerung ruft. 

Maria Martins; Skulpturen aus den 1940er Jahren (Foto A.S. Berg)

So übertragen Hannah Ryggens Webereien die internationale Politik der 1930er Jahre in ein Amalgam der in Europa verfügbaren Formsprachen.

Hannah Ryggen; Ausstellungsansicht (Foto Roman März)

Emily Carrs und Margaret Prestons Gemälde hingegen verbinden Prinzipien der Klassischen Moderne mit denen der Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, bzw. der australischen Aborigines.

Emily Carr; Ausstellungsansicht (Foto A.S. Berg)

Die Vermessung der Kunstwelt

Mit der Öffnung des Zeitfensters erweitert sich auch der geografische Rahmen. Die Integration des Geschehens außerhalb von Europa und den USA ist auf Biennalen, und seit der zehnten auch auf der documenta selbstverständlich. Doch angesichts der noch immer von nationalen Interessen bestimmten Ankaufspolitik der Museen und Sammlungen kommt der Aufmerksamkeit für die Kunstgeschichte abseits traditioneller Zentren Signalcharakter zu.

Grenzwertig

Tarnanstriche

Ohne künstlerische Absicht entstandene Exponate fungieren als ästhetische Lockvögel, die die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen, nicht-ästhetischen Gegenstand lenken.

Infolge einer regimekritischen Äußerung wird Korbinian Aigner zur Zwangsarbeit in Dachau verurteilt, wo er vier neue Apfelsorten züchtet und sie KZ 1 bis 4 nennt. Der Grund für Aigners Anwesenheit auf der documenta sind demnach nicht die mit wissenschaftlicher Präzision gemalten Äpfel als vielmehr die Geschichte vom inhaftierten Dissidenten, der im Wissen um den morgigen Weltuntergang Apfelbäumchen pflanzt und so die tätige Umsetzung des Prinzips Hoffnung verkörpert.

Auch die Anwesenheit von Mark Lombardis minutiösen Geweben verdankt sich nicht ihrer grafischen Attraktivität. Ihr dekoratives Äußeres diente der Offenlegung geheimer Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, deren Nebenprodukt die visuell ansprechenden Diagramme darstellen. Dass die Kuratorin deren ästhetischem Reiz erlegen ist, zeigt die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Personen, Firmen und Institutionen durch elegant geschwungene Linien markiert, die Art dieser Kontakte aber undefiniert ist.


Goshka Macuga "Of What Is, That It Is; of What Is Not, It Is Not, 1"; 2012 (Foto Roman März)

Anders als im Fall von Aigner und Lombardi, wo Formen allein dem Transport von Inhalten dienen, sind bei Goshka Macuga beide Komponenten gleichermaßen ausdrucksstark. Unterhalb der Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul haben sich Angehörige des afghanischen und internationalen Kulturbetriebs eingefunden. Die Situation ist von surrealen Versatzstücken unterbrochen, wodurch die Form der Arbeit auf zweierlei Weise irritiert: Optisch ist das vermeintliche Foto eine Foto-Montage, und materiell ein Gewebe. Auch inhaltlich erweist sich die sich dokumentarisch gerierende Aufnahme als inszeniert und mehrdeutig.

Durch die Kombination inhaltlicher und formaler Vielschichtigkeit steht Macuga in der Tradition Hannah Ryggens, die ebenfalls durch ikonografisch eigenwillige und technisch ausgefeilte Webereien Aufmerksamkeit für ihre politischen Botschaften erzielt. Beide Künstlerinnen setzen somit ästhetische Methoden zur komplexen Darstellung politischer Ereignisse ein.

Eine solche ästhetische Aufbereitung nicht-retinaler Inhalte ist nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung. Denn statt Inhalte durch gefällige Formen eingängig zu machen, werden abstrakte Phänomene sinnlich erfahrbar und so politisch aussagekräftig.

HIStory

Nach dem Prinzip, wer seine Vergangenheit nicht erinnert, wiederholt sie, werden zahlreiche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt.

Eine Chimäre aus Mickey Mouse und Mudschaheddin patrouilliert durch Llyn Foulkes Installation, die als Bühnenbild des posthumanistischen Zeitalters durchgehen könnte: Der Day After all dessen, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Die Umgebung suggeriert unterschiedliche Lesweisen: Stadt- oder Ruinenlandschaft, unberührtes Geröll oder Trümmerfeld, Vergangenheit oder Zukunft? Durch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird die Taliban Mouse zu Walter Benjamins Angelus Novus:

Die Janusköpfigkeit der Bilder, die verschiedenen Zeiten anzugehören scheinen, setzt sich in Mariam Ghanis Synchronisation der Geschichte Kabuls und Kassels fort, in der das Innere eines einst, neben dem eines noch immer verwüsteten Herrschaftsgebäudes erscheinen. Die Renovierung, die zwischen dem kriegsversehrten und dem heutigen Fridericianum stattfand, steht dem Darulaman-Palast noch bevor. Doch die in den Details zutage tretende Unterschiedlichkeit beider Bauten verweist auf kulturelle Identitäten, die ihre spezifischen Entwicklungen fordern.

HERstory

Die eingangs erwähnte Identität der privaten und kollektiven Sphäre veranlasste KünstlerInnen der 1970er Jahre zur programmatischen Offenbarung des Unterdrückten im Interesse psychischer und physischer Befreiung. Dieser Tradition der Transparenz als Mittel politischer Emanzipation fühlt sich Ida Applebroog spätestens seit 1969 verbunden, als sie 160 Zeichnungen ihrer Vagina anfertigte, die sie später, zu Plakaten vergrößert, als Rauminstallation präsentierte. Verglichen mit dieser wegweisenden Geste nimmt sich die Veröffentlichung einzelner Tagebuchseiten eher schüchtern aus. Ziel jedoch ist nicht eine weitere Grenzüberschreitung als vielmehr die abermalige Integration der privaten in die öffentliche Dimension.

Ida Applebroog "I See by Your Fingernails that You Are My Brother"; 1969-2010 (Foto Roman März)

Ein vergleichbares Angebot von Transparenz stellt Lori Waxmans Angebot dar, mitgebrachte Arbeiten der BesucherInnen 25 Minuten lang zu begutachten, um anschließend vor aller Augen eine Kritik von 100 bis 200 Wörtern zu verfassen, und so eine undurchsichtige Prozess unter Einschluss der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Tunix

Zivilisationskritik äußert sich auch in Andrea Büttners Videodokumentation über im Schausteller-Millieu engagierte Ordensfrauen, ergänzt von Holzschnitten, die abstrahierte Zelte darstellen – Behausung der Nichtsesshaften und Flüchtlinge.

Bodenständig

Die Erfindung des Tafelbildes markierte einst den Übergang vom religiös motivierten Handwerk zur Kunst. Die an den Flügelaltar gebundene Malerei wurde mobil und ließ sich verschiedenen Kontexten anpassen. Nun holt Pich die Standortgebundenheit zurück ins Tafelbild. Mit dem für lokale Eigenheiten sensibilisierten Blick des Rückkehrers fertigt er das universale Raster aus einheimischen Rohstoffen Bambus, Erden und Bienenwachs an.

Verglichen mit Pichs Erdung der universell transportablen Währung Bild schlägt Doreen Reid Nakamarra die umgekehrte Richtung ein. Um den Verkauf zu ermöglichen, überträgt sie ihre, nach Tradition der Aborigines auf dem Boden ausgeführten Arbeiten auf Leinwand und speist so die einstige Bodenzeichnung in den globalen Kunsthandel ein.

Die Verwandlung von Erde zu Geld gehört zu den Werken, die das Verhältnis abstrakter und konkreter Werte thematisieren – allen voran die wirtschaftliche Ab- und Aufwertung der Elemente Erde, Wasser, Luft und menschlicher Arbeitskraft.

Ja, aber. Was ist denn nun daran politisch?

Die interdisziplinäre Ausrichtung der dOCUMENTA (13) deutet darauf hin, dass ein Grund für das Scheitern politischer Programme im Outsourcing einzelner Segmente aus dem politischen Aktionsradius liegt. Statt die Anliegen wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Bereiche rechtzeitig im politischen Zusammenhang zu thematisieren, werden die Sprengkraft bergenden Felder aus dem politischen Geschehen ausgelagert.

Angesichts dieser Optionen des selbst- und fremdbestimmtem Engagements tendiert die dOCUMENTA (13) zur Funktionalisierung, d.h. zur Anwendung künstlerischer Strategien im Interesse sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele.

Das Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Altersgruppen und Kunstgeschichten verschiedener Zeiten und Räume lässt die Hierarchien des Kunstbetriebs anachronistisch scheinen.

Auch die Integration verschiedener Wahrnehmungsformen hat Modellcharakter, da Lösungen für wirtschaftliche und ökologische Probleme eine Erweiterung der auf Menschen zentrierten Sicht erfordern. Solche Lösungen entstehen nicht durch eine bloße Verschiebung von einem Zentrismus zum nächsten, sondern durch ein Auflösen aller auf einzelne Gruppen beschränkten Herrschaftsformen zugunsten horizontaler Verfahren.

All diese Prinzipien – Interdisziplinarität, Einsatz künstlerischer Praktiken zugunsten nicht-künstlerischer Ziele, sowie Dezentralisierung – treten im Rahmen der Ausstellung und der sie begleitenden Veranstaltungen in einer Vielzahl von Varianten in Erscheinung. So werden die vielzitierten Möglichkeitsräume nicht nur angedeutet, sondern auf genuin künstlerische Weise inszeniert.




Festspiel-Passagen IV: Sensibilität statt Sensation

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Im sechsten Jahr hat es sich – um bei Richard Wagners Wortwahl zu bleiben – „ausgerast“. Die Liebe zum Tode hin ist zu einer recht langatmigen Affaire degeneriert. Christoph Marthalers „Tristan und Isolde“-Inszenierung hat für ihre letzten fünf Aufführungen am Grünen Hügel trotz penibler Einstudierung durch Anna-Sophie Mahler keine Kraft mehr. Marthaler selbst ist schon gar nicht mehr gekommen. Das „verzückte und wahnsinnige Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“ (Thomas Mann) schrumpft auf die Dimensionen eines kleinbürgerlichen Trauerspiels.

Dabei hatte Marthalers Inszenierung – gegen alle bloß ästhetisch sich erregende Kritik – ihre Meriten. Denn sein sorgsamer Minimalismus und die schnoddrig-spießigen Räume der Anna Viebrock schlossen von vornherein die „erotische“ Romantik aus, die viele in Wagners weltensprengender Liebesgeschichte suchen. Da war nichts mit blauer Liebesnacht unter funkelnden Sternen. Sondern eher gescheiterter Ausbruch aus einer tristen Sphäre: abgerissene Säle, schimmliggraue Keller, der Charme einer Kolchosenkantine.

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links)  und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links) und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Was Marthaler 2005 gezeigt hat, blieb mir in Erinnerung als ein gemeinsames Schreiten von Tristan und Isolde hin auf ein Ziel, das jenseits dieser überwältigenden Tristesse liegt. Gemeinsames Schauen auf ein Ziel außerhalb des Horizonts statt umarmungssüchtige Banal-Erotik: Marthaler hatte im Blick, worum es dem erlösungsbedürftigen, geradezu manisch auf eine höhere Form der „wahren Liebe“ versessenen Wagner gegangen ist. Davon geblieben sind die ohnmächtigen Ausbrüche Isoldes im ersten Aufzug, das pubertäre Spiel mit den Schaltern für die „Zünde“ im zweiten, aber auch das beeindruckende, isolierte Rasen und Sterben Tristans.

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Dieser Tristan findet auch 2012 in Robert Dean Smith eine nicht gerade ideale, aber sehr glaubwürdige Darstellung. Smith ist einer der wenigen, die den Tristan wirklich singen – nicht brüllen, markieren oder deklamieren. Auch wenn sich sein Tenor manchmal nicht frei entfaltet, nicht optimal in den Raum projiziert ist, nimmt er für sich ein, weil er behutsam steigert, weil er sensible Piani gestalten kann. Dass er vorsichtig mit seinen Kräften haushaltet und sich im Fieberwahn auf der heimatlichen Burg Kareol nicht entäußert, ist konsequent: Smith ist kein Heldentenor alter Schule – aber wo gibt es noch einen Tristan, der verschwenderisch strahlende Töne verschenken kann?

Und wo gibt es eine Isolde, die Bayreuth aus der Herrschaft der glucksend-wabernden Großkaliber befreien könnte? Iréne Theorin – wir kennen sie als Isolde und Turandot vom Aalto-Theater – hat das Material für Ausbrüche, sie kann auch verhalten singen. Aber ihre Tonbildung ist so vibratosatt und matt fokussiert, dass man kaum ein Wort versteht. Für den „Liebestod“ fehlen ihr die Zwischentöne und die langsam sich steigernde, sehrende Glut, das jenseitige Verschweben des Tons, das Gestalten des großen Bogens. Doch der Beifall, der in direktem Verhältnis zur Lautstärke der Sänger stand, kam der schwedischen Sopranistin reichlich zu.

Mit Kwangchul Youn kehrt der König Marke von 2005/06 wieder zurück; ein führender Wagner-Bass, der jenseits von Hornbrille und Funktionärsmantel den inneren Zwiespalt, das aufrichtige Leiden an einer „Wunde, die kein Himmel erlöst“ verkörpert, aber auch das ratlose Nichtverstehen des metaphysischen „Müssens“ in Tristan und Isoldes gegenseitiger Verfallenheit. Mit freiem, sicherem Sitz und leuchtendem Klang nimmt Clemens Bieber als junger Seemann für sich ein. Bieber hat vor 25 Jahren in Bayreuth debütiert und ist inzwischen der dienstälteste Solist der Festspiele. Doch die Stimme ist frisch und unverbraucht wie eh und je.

Mit Jukka Rasilainens Kurwenal kann sich nur anfreunden, wer dröhnend scharfgeschnittene Wagner-Stimmen liebt. Ralf Lukas als Melot versucht, seiner Rolle als korrekter, verständnisloser Verräter markant gerecht zu werden; Arnold Bezuyen und Martin Snell erfüllen als Hirt im Hausmeister-Kittel und Steuermann die Erwartungen. Michelle Breedt macht aus der Brangäne ein Kabinettstück der Schauspielkunst, wenn sie im zweiten Aufzug die Gouvernante herauskehrt und Isolde vom unüberlegten Griff zum Lichtschalter abhalten will. Gesanglich kultiviert sie leider, was sie auch als Fricka im „Ring“ gezeigt hat: unstet hervorgestoßene Töne, brüchige Linien, kaum einmal ein lockerer Ansatz.

Zum heimlichen Star der Aufführung steigerten sich das Orchester und der Dirigent Peter Schneider. Ihm, dem die glamouröse Aura des Pultstars abgeht, sind die tiefsten Eindrücke des Abends zu verdanken. Souverän konzipiert er die großen Linien, die atemberaubenden Steigerungen, die Exaltation des Klangs. Dabei ist schwer atmende Dramatik seine Sache nicht; die Musik hat bei ihm eine hellglühende Transparenz, die bei aller Hitze den Blick auf Strukturen nicht verwabert.

Schneider ließ nichts selbstverständlich „fließen“; er kennt die Stockungen, das Ausleuchten harmonischer Tiefen in eingängig scheinenden Momenten vertrauter Thematik. Außerdem artikuliert er so sorgfältig wie sängerfreundlich; nur im dritten Aufzug läuft die Musik manchmal neben den Eruptionen Tristans her statt sie zu stützen oder abzutönen. Schneider hat sich erneut als Wagner-Interpret von hohem Rang erwiesen. Man braucht die Sensation nicht, die Sensibilität genügt.




Hundert Meter: Bolt usw.

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Ich gehöre zu einer Generation, die weiß, wie betulich Leichtathletik-Sportfeste oder Länderkämpfe (gibt’s die überhaupt noch?) früher mal verlaufen sind. Stadionsprecher, so etwa auch in der Dortmunder „Roten Erde“, verkündeten beispielsweise gravitätisch „Programm Seite 29 – 100 Meter-Lauf der Herren…“ Und dann ging alles seinen vergleichsweise gemächlichen Gang.

Naja, immerhin lief Armin Hary damals auch schon 10,0 Sekunden über die Strecke. Jetzt sind die Deutschen gar nicht mehr gut zu Fuß. Sie fahren lieber Formel 1.

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Heute schaue ich mir nur noch sehr selten solche Wettkämpfe im Fernsehen an. Das Ganze ist mir längst unheimlich geworden. All diese monströsen Muskelberge, das einstudierte Repertoire der zur Schau gestellten Imponiergesten (fast egal, ob nun lächelnd, locker, cool oder finster), der immerzu schwelende Dopingverdacht…

Eine Ausnahme ist Olympia, da gucke ich bei den Sprintkönigen mal wieder ´rein – gemeinsam mit schätzungsweise 1 Milliarde Menschen auf dem Globus. Die Medien hatten das Finale über 100 Meter seit Wochen zum Duell der Giganten hochgejubelt, zum Duell der Gegensätze stilisiert: Usain Bolt vs. Yohan Blake. Die Kommentatoren des ZDF, das heute an der Reihe ist, nutzen weidlich die Gelegenheit, um Satzfetzen wie „Das haben sie irgendwie im Blut, die Jamaikaner“ vorzubringen. Irgendwie.

Dennoch: Ich kann mich der Faszination nicht gänzlich entziehen. Man ist schließlich Zeitgenosse, wie widerspenstig und unwillig auch immer. Man möchte aber lieber nicht wissen, wie manche der 80 000 im Stadion an ihre Karten gekommen sind – bei angeblich 1 Million Anfragen.

…und dann gewinnt halt doch wieder Usain Bolt in 9,63 Sekunden. Vor Blake (9,75 sec.) und Gatlin (USA – 9,79 sec.).

Wir schalten zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.




„Sunset Park“ – Paul Austers Krisenbewältigungsroman

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Die Welt ist ein Gemenge aus wüsten Kräften, welche wir nicht beherrschen können: „Wieder einmal sind also die Würfel gerollt, wieder einmal wurde ein Los aus der schwarzen Eisentrommel gezogen, noch so ein Zufall in einer Welt voller Zufälle und unaufhörlichem Chaos.“

Das Zitat von Seite 59 darf als eine Kernaussage von Paul Austers neuem Roman „Sunset Park“ gelten. Niemand hat hier sein Leben in der Hand, durch- und aushalten heißt allenfalls die Devise, vom „Ankommen“ darf man wohl nicht einmal träumen. Zumal in der Wirtschaftskrise sind die Menschen nur Spielbälle. Doch Auster schickt sich an, Möglichkeiten des Glücks im offenbar unvermeidlichen Chaos zu erkunden. Wo lassen sich noch Reservoire und Ressourcen der Hoffnung finden?

Auster schildert die Verwerfungen vornehmlich aus Sicht von Miles Heller (28), der den College-Besuch abgebrochen hat und sich bei Haushaltauflösungen im Zuge der Immobilienkrise mit dem Fotografieren aufgegebener Dinge befasst, bevor die robusteren Kollegen das Zeug kurzerhand mitgehen lassen. Er betrachtet also tagtäglich Relikte gescheiterter Lebensentwürfe. Miles selbst lebt ohne jede Gier und ohne jeden Plan – eine der Haltungen, um in schlechten Zeiten einigermaßen durchzukommen. Der Spross einer desolaten Verlegerfamilie hat vor Zeiten bei einer Rauferei unwillentlich seinen Bruder vor ein Auto gestoßen – mit tödlicher Folge. Auch er selbst schien innerlich abgestorben zu sein, bis ihn die blutjunge Latina Pilar gleichsam ins Leben zurückgeholt hat. Freilich leben die beiden unter ständiger Bedrohung, bei den Behörden angeschwärzt zu werden, denn das Mädchen ist noch minderjährig.

Miles Heller flüchtet deshalb einstweilen von Florida nach New York, wo sich sein Lebensweg mit denen von Alice Bergstrom, Ellen Brice und Bing Nathan lose verknüpft. Sie alle haben keine oder keine einträglichen Jobs und besetzen aus schierem Geldmangel in Sunset Park (Brooklyn) ein heruntergekommenes Haus.

Wie beschädigt diese Biographien schon in frühen Jahren sind! Was sich da an Einsamkeit, Verschrobenheit und Entfremdung angesammelt hat! Wie mühselig sie ihre verkorksten Lebensläufe zusammenzuhalten und ein wenig zu „heilen“ suchen! Immerhin: Ellen findet Glücksversprechen in der geradezu verbissen ausgeübten Malerei, Alice als freie Mitarbeiterin des P.E.N. im Einsatz für verfolgte Autoren. Bing betreibt unterdessen eine „Klinik für kaputte Dinge“, also einen Reparaturbetrieb. Auster signalisiert, zuweilen fast schon penetrant: Man muss etwas tun! Und ohne Schmerzen ist erwachsenes Leben sowieso nicht zu haben.

Über weite Strecken haben wir anfangs einen Roman übers Nichtgeschehene gelesen, über verpasste Gelegenheiten; übers ziellose Begehren, das (nicht nur) zwischen den Figuren hin und her zu irren scheint, doch zumeist ins Leere läuft. Auch scheint da eine prinzipielle, existenzielle Seltsamkeit des Lebendigseins auf.

Weitere zentrale Gestalt des Krisen- und Krisenbewältigungsromans ist Miles’ Vater Morris Heller, dessen Verlag ins Schlingern geraten ist. Seitenblicke lassen ahnen, wie diverse Autoren des Hauses zwar künstlerisch reüssiert, aber gleichfalls ihr Leben verpfuscht haben. Morris selbst ist heillos geschieden und spioniert seit Jahren seinem Sohn nach, der sich von ihm losgesagt hat. Nun aber kommt es zum quälend hoffnungsvollen Wiedersehen. Ein Licht am Ende des Tunnels?

Konstellation und Konstruktion sind keineswegs frei von Klischees und Rührsamkeit. Wie schon in so vielen US-Filmen und Büchern, müssen Erzählungen über Baseball-Legenden einmal mehr als Leitsterne für gelingende oder als gültige Bilder fürs scheiternde Leben herhalten. Kaum denkbar, dass Fußball in der europäischen Literatur eine vergleichbar konstitutive Rolle spielte – aller „Ersatzreligion“ zum Trotz. Andere Fixpunkte, an denen man sich offenbar aufrichten soll, sind quasi mythische Momente der US-amerikanischen Geschichte und William Wylers Film „Unsere besten Jahre“ (1946). Dieses Kriegheimkehrer-Drama haben alle Figuren des Romans je auf ihre Weise gesehen, es ist wie ein Brennglas, das alle vereinzelten Schicksale in einem Punkte bündelt und kenntlich macht.

Auf Dauer ermüden die ständigen, eher additiven denn verdichtenden Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Personen. Das ändert sich – als sei’s eine gewaltsame Katharsis – mit der brutalen polizeilichen Räumung des besetzten Hauses, in deren chaotischem Verlauf Miles einem Cop einen Kinnhaken verpasst und flüchtet. Doch sein Imperativ lautet: Stelle dich! Stehe für deine Taten ein!

Was bleibt ihm, abseits von Schuld und Sühne, jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung, noch übrig? Die Schlusssätze lassen es wolkig ahnen: „…nur noch für das Jetzt leben, für diesen Augenblick, diesen flüchtigen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann nicht mehr hier ist, das Jetzt, das für immer verschwunden ist.“

Carpe diem also, im Bewusstsein des Verglühens. Womöglich ein stets angebrachtes, ja geradezu ein Allerwelts-Lebensmuster, nicht nur für Krisenzeiten.

Paul Auster: „Sunset Park“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag. 315 Seiten. 19,95 Euro.




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

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Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Festspiel-Passagen III: Liebe in Zeiten der Datenströme

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Jan Philipp Gloger ist 31 und damit aus einer Generation, die mit Matrix, Modem und Microsoft aufgewachsen ist. Er war noch ein Kind, als die alten Blöcke des Kalten Krieges von den neuen Fronten der Globalisierung und des Neoliberalismus abgelöst wurden. Die Welt, die ihm sein Bühnenbildner Christof Hetzer für den „Fliegenden Holländer“ auf der Bayreuther Festspielbühne gestaltet, ist die Welt dieser Kinder. Ein magisch flackerndes Gefängnis, gebildet aus Prozessoren und Platinen, Lichtbändern und Zählwerken. Winzig klein sitzen zwischen den energetischen Entladungen Menschlein in einem anachronistischen Holzboot: Daland und der Steuermann, autoritärer Chef und beflissener Angestellter. Sie sind beide so cool. Aber wenn sich Herr Daland unbeobachtet fühlt, schnupft er eine Prise Koks, und fühlt sich ertappt, wenn jemand guckt.

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gloger will, das macht das Einstiegsbild des „Fliegenden Holländer“ deutlich, Wagners Geschichte einer utopischen, einer „wahren“ Liebe in der Welt der vom Zeitgeist Getriebenen erzählen. Ihr Horizont ist die Vernetzung, die scheinbar Alle mit Allen verbindet. Aber dieses Netzwerks der Produzierenden und Kommunizierenden macht unendlich einsam: Der Holländer, der zwischen dem Datenblinken auftaucht, hat mit dem Rollkoffer und dem Kaffee-Pappbecher die Embleme des global ökonomisch getriebenen Ahasvers von heute bei sich.

Ein weiteres Prinzip, das sich der aus Hagen stammende Regisseur als Deutungsmuster zu eigen macht, ist das der Verkleinerung: In dieser Welt wird auf verwertbares Format heruntertransponiert. Der Sturm wird zum domestizierten Strom frischer Luft aus dem Ventilator, der in Dalands Produktionsstätte hergestellt wird: Summ und brumm, du Rädchen … Reduziert wird auch die Liebe: Der Holländer fragt in seinem Monolog nach dem gepries‘nen Engel Gottes, der seines Heils Bedingung ihm gewann. Die Antwort gibt eine Kaffee-Mamsell mit lasziver Bewegung: konsumierbarer Sex, ökonomisch relevante Gefühlsprodukte. Der Steuermann hält sich gleich an dem fest, was man greifen kann: Der Geldkoffer liegt in seinen Armen.

Mit dem Zuschnitt auf das, was man „in Zahlen darstellen kann“ – ein Lieblingskriterium von Unternehmensberatern und Controllern – endet Glogers Geschichte auch: Der Steuermann fotografiert mit seinem Handy die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur nachkomponierten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares, von innen zu beleuchten. Der heftig ausgebuhte Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Der Wagner’sche Liebesbegriff ist in den letzten Jahrzehnten in der Inszenierungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ oft genug reduziert, korrumpiert oder desavouiert worden. Zu erinnern ist an Harry Kupfers grandiose Bayreuther Deutung von 1978, der das Transzendierende in Wagners „Holländer“ aus einem materialistischen Ansatz konsequent als Wahn zu entlarven versuchte. Es gab psychologisierende Deutungen in jeder Spielart; in jüngerer Zeit wuchs die Sensibilität für das mythische Potenzial der Oper.

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel oun als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel Youn als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Udo Bermbach zitiert im Programmheft des Bayreuther „Holländers“ nicht umsonst Max Horkheimer, der für die Bestimmung der „wahren Liebe“ ihre Richtung auf ein „künftiges glückliches Leben aller Menschen“ für unverzichtbar gehalten hat. Ein Ziel, das nur als Utopie oder in religiös begründeter Perspektive gedacht werden kann.

Gloger zeigt in seiner Inszenierung nun keine Offenbarung, aber er lässt seine Deutung auf eine solche hin offen. Das Romantisch-Übersinnliche, für das der Holländer steht, löst weder Widerstand noch Erschrecken aus; es hat in dieser Welt einfach keinen Platz. Wo es auftaucht – etwa durch die Mannen des Holländers in der Chorszene des dritten Aufzugs – wird es einfach absorbiert. Doch Senta, das „Kind“, das „nicht weiß, was es singt“, erschafft sich eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Haus, Schiff und Himmel bildet sie nach. Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sie sich als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Solche Momente der Inszenierung stellt Gloger ziemlich lapidar und kaum erläutert auf die Bühne – vielleicht die größte Schwäche der Produktion, die gerade in den intimen Szenen zwischen Senta und dem Mann ihrer Ideale zugespitzter interpretieren müsste. Aber um an solchen Momenten weiterzuarbeiten, ist Bayreuth ja eine „Werkstatt“.

Mit dem Dirigenten der einzigen Premiere dieser Festspiel-Saison am Grünen Hügel, Christian Thielemann, war sich Gloger einig, nicht auf die derzeit beliebte „Urfassung“ des „Holländers“ zuzugreifen, sondern den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ als weitergehenden Willen Wagners zu akzeptieren und szenisch zu integrieren. Wenn sich Senta am Ende mit selbstgebastelten Papp-Engelsflügelchen zu ihrem Holländer auf die Sehnsuchts-Burg flüchtet und zum harfenlichtdurchfluteten Pathos des Finales die Plastikfigürchen verpackt werden, könnte dieser Moment als rabenschwarzer Kommentar zu Wagners scheinbar irrealem, psychologisch verstiegenem Konzept gesehen werden. Doch dem steht die Musik im Wege: Thielemann lässt sie in solchem Ernst, solch brennender Identifikation aufleuchten, dass sie einen unüberwindlichen Kontrapunkt zum Zynismus der Szene setzt: Klingende Hoffnung, Rettung der Wahrheit und ungebrochene Hoffnung auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Thielemann hat sich des „Holländers“ in einem höchst ästhetischen Orchesterklang angenommen, ist aber nicht immer in der Tiefe angekommen. In der Ouvertüre bricht er in Sentas Balladenmotiv den Bogen und radikalisiert die Punktierungen zum dezidierten Non-Legato. „Schöne Stellen“ kostet er wieder einmal bis zur Grenze des Zerfallens aus. Oft achtet er mehr auf die Brillanz der Melodiestimmen als wichtige Farben aus der Tiefe der Partitur zu heben und zu gewichten. Das ist schwelgerisch musiziert und – die Ovationen beweisen es – höchst publikumswirksam. Aber hinter der Glätte ist es schwer, Abgründe zu orten.

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Unter den Sängern überzeugen alleine der schönstimmige und sichere Steuermann von Benjamin Bruns und die Senta Adrianne Pieczonkas. Ihr gelingen balsamische Piani, aber auch die aufflammende Leidenschaft und der zu allem entschlossene Furor des Finales. Dass sie nicht alle Töne konstant durchstützt, macht ihr bei manchen, von Thielemann noch verlangsamten Bögen Probleme. Aber als lyrisch grundierte Senta mit der nötigen Expansionskraft und stimmlich abgesicherter Farbpalette ist Pieczonka ihren Vorgängerinnen seit den achtziger Jahren überlegen.

Der Sänger des Titelhelden, Evgeny Nikitin, musste wegen seiner unglücklichen Tattoo-Affäre weichen. Sein Cover Samuel Youn, in Köln engagiert und dort auch als „Holländer“ erfolgreich gewesen, schlug sich tapfer. Er beginnt mit entspannter Tiefe, doch die Stimme verkrallt sich, je höher sie steigt, immer heftiger in einer klanglich limitierten Position, wird fest und unflexibel. Dann verliert der Sänger auch die Freiheit, verständlich zu artikulieren. Die hat Michael König als Erik: Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären. Dennoch könnte das alles freier, unverfärbter und mit Schmelz gesungen sein; schließlich sind Eriks Gefühle ja aufrecht und lauter.

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, von 1989 bis 1995 im Ensemble des Essener Aalto-Theaters, ist einer jener kraftvollen, aber wüst orgendeln Bässe, die für einen noch nie überzeugenden Wagner-Stil stehen. Und Christa Mayer hinterlässt als Mary stimmlich wenig Eindruck. Wie immer eine sichere Bank: Der Chor der Bayreuther Festspiele hat unter Eberhard Friedrich Glanz, Wucht und Präzision wie eh und je. Obwohl die Regie-Sensation, die sich viele Beobachter erwarten, am Grünen Hügel diesmal ausgeblieben ist, kann sich Glogers ausgewogene Arbeit behaupten; neben Herheims überbordenden „Parsifal“-Assoziationen, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-Zuspitzungen und Sebastian Baumgartens überkandidelter Installations-Belebung im „Tannhäuser“ hat sie als solide erarbeitetes Musiktheater durchaus ihre Chance.




Revierstädte im Kulturvergleich ganz hinten – und nun?

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Mittlere Sommerloch-Aufregung um eine Studie des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) im Auftrag der gleichfalls in der Hansestadt ansässigen Berenberg Privatbank: In einer vergleichenden Studie zur Kultur-Produktion und Rezeption schneiden die Städte des Ruhrgebiets miserabel ab. Oje, oje!

Für besagte Studie hat man auf vorhandenes Datenmaterial zurückgegriffen und offenbar keine sonderlichen Eigenanstrengungen unternommen. Da riskieren wir mal, den alten Satz noch einmal aus der Mottenkiste zu holen: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Sprich: Verlagerte man die Schwerpunkte dieser Untersuchung nur ein klein wenig, so würde sich vermutlich schon ein etwas anderes Bild ergeben. So verzerrt etwa die Rubrik Denkmalschutz-Fördermittel das Gesamtbild, weil es im Revier nun mal nicht mehr so viel erhaltenswerte historische Substanz gibt.

Um das Ruhrgebiet insgesamt nach vorn zu hieven, müsste man ohnehin heftigst manipulieren, ja schlichtweg lügen, dass sich die Bilderrahmen, Kinoleinwände und Bucheinbände biegen. Man braucht nur einmal ganz unvoreingenommen zu vergleichen, dann wird klar, dass beispielweise Dortmund mit Dresden nicht mithalten kann. Dabei gibt Dortmund pro Einwohner immerhin mehr für Kultur aus als Köln oder München!

Endlich heraus mit dem Ergebnis dieser Studie. Unter den 30 größten deutschen Städten belegen demnach im Kulturranking die letzten Plätze: Dortmund (26), Mönchengladbach (27), Gelsenkirchen (28), Duisburg (29), Wuppertal (30). Würde Pina Bausch selig noch dort wirken, so trügen die Wuppertaler bestimmt nicht das Schlusslicht. Köln (dennoch nur Platz 14) punktet „kulturwirtschaftlich“ sicherlich vor allem mit dem WDR, Bochum (22) hat sich einzig und allein wegen des Schauspielhauses auf einen etwas höheren Platz gerettet als das Gros der Revier-Kommunen, während Essen (mit Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang, Zollverein etc.) immerhin Rang 13 erklommen hat. Das sündhaft teure „Dortmunder U“ scheint hingegen keine entscheidende Besserung gezeitigt zu haben. Auch hat die Kulturhauptstadt 2010 bei weitem nicht so nachhaltig gewirkt, wie es uns die Macher vollmundig vorgegaukelt haben.

Das Dortmunder U hat die Stadt im Ranking nicht entscheidend nach vorn gebracht. (Foto: Bernd Berke)

Das Dortmunder U hat die Stadt im Ranking nicht entscheidend nach vorn gebracht. (Foto: Bernd Berke)

Da Faktoren wie verkaufte Theater-, Museum- oder Kinokarten und Bibliotheksnutzer oder auch „Künstlerdichte“ (welch ein Begriff!) je nach Einwohnerzahl gewichtet werden, liegt das von vielen als „provinziell“ verschriene Stuttgart bei der Studie in Front, dahinter folgen Dresden (2), München (3), Berlin (4), Bonn (5), Frankfurt (6), Münster (7), Karlsruhe (8), Hamburg (9) und Augsburg (10). Damit dürften sie in Hamburg auch nicht ganz zufrieden sein.

Was wir nicht zu ahnen wagten: Das offenbar unterschätzte Augsburg schafft es unter die ersten 10, weil dort bundesweit je Einwohner die meisten öffentlichen Theater- und Opernsitzplätze vorgehalten werden.

Man kann den Aussagewert der Studie in vielen Punkten bezweifeln oder wenigstens relativieren. Sie operiert vielfach mit dem wahrlich schwammigen Begriff der „Kulturwirtschaft“, und sie erfasst rundum nur quantitative und keine qualitativen Aspekte, erst recht keine besonderen Erlebnisse, die man hie und da und überall haben kann.

Im Revier reden Kulturfunktionäre das Resultat unterdessen schön, indem sie sagen, es komme doch weniger auf die Einzelstädte als auf die Summe der „Metropolregion“ an. Auch stünde man wahrscheinlich noch schlechter da (ginge das denn überhaupt?), wenn die Kulturhauptstadt keine Impulse gegeben hätte. So spricht man auf einstweilen verlorenem Posten.

Tatsächlich sind überörtliche Ereignisse wie etwa Ruhrtriennale und Ruhrfestspiele ebenso wenig ins Ranking eingeflossen wie das Klavier-Festival-Ruhr. Wem hätte man sie auch zurechnen sollen?

Doch davon mal abgesehen. Wie wäre es mit ein wenig Ehrgeiz, den oder jenen Rückstand aufzuholen?




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

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Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.