Über Amateurfilmchen, Massenmedien und Pawlowsche Reflexe

Nun melde ich mich auch noch zu diesem Thema, eine Person, deren Stimme kaum Gehör findet, eine Person, die niemals über die  Medienkompetenz einer Alice Schwarzer verfügen wird, eine Person, die noch als Quark im Schaufenster stand, als Peter Scholl-Latour bereits die ungeteilte Islam-Fachmannschaft erworben hatte. Warum also melde ich mich zu Wort und gebe meinen Senf dazu, wo sich seit Tagen jede Menge Sach- und Fachkundige in die (wäre es nicht so traurig, würde ich sagen Lachgeschichten, aber ich nenne es: Debatte) überwürzend eingemischt haben?

Ich unternehme es, weil ich als Agnostiker weder bei der Darstellung eines inkontinenten Papstes noch bei wie auch immer gearteten Zerrbildern eines orientalischen Propheten, dem islamische Festgläubige gottgleiche Unantastbarkeit attestieren, in protestierende Leidenschaft verfalle. Vielmehr beurteile ich nach meinem, meinem eigenem Geschmack, ob Darstellungen dieser oder anderer Personen mit geschichtlich überlieferter Gottesnähe gut oder schlecht gemacht sind, ob sie gekonnt oder nicht einmal bemüht satirisch sind, eben ob sie was taugen oder einfach blöd sind.

Nun ist der inkontinente Papst ziemlich blöd – nach meinem, meinem eigenen Geschmack, weil diese Darstellung eines Menschen (ja, das ist der heutige Benedikt für mich, ein Mensch) respektlos daherkommt. Und Menschen haben nun einmal meinen Respekt so lange, bis sie hartnäckig und ausdauernd nachgewiesen haben, dass sie ihn nicht verdienen. Ratzinger, der heutige Benedikt, ist noch nicht so weit.

Ebenso blöd soll ja das Amateurfilmchen sein, das von wem auch immer ins Netz gestellt und nun von wilden Horden weltweit bekannt gemacht wurde, weil sie Menschen töten und Botschaften anzünden. Warum, wenn das nicht geschehen wäre, hätte mensch sich so einen Blödsinn anschauen sollen, wenn nicht aufgrund der Neugierde, was denn da so einen schlimmen Auslöser darstellt für den kompletten Irrsinn. Ich habe es mir bis heute verkniffen, werde es auch weiterhin tun, rege mich aber dennoch nachhaltig auf, weil die vom Amateurfilmchen ausgelösten Mechanismen so ungemein berechenbar sind: Ich drücke auf den Klingelknopf, und, Pawlowsche Reaktion, der Sturm bricht los, weil Zeitgenossen, die ohnehin jede Gelegenheit zur Gewalt im Schutze einer Masse suchen, mal wieder losgelassen sein wollen. Hier ein Fußballmatch, da ein unkontrolliertes Balzverhalten, dort ein Amateurfilmchen.

Zweite Pawlowsche Reaktion: Sämtliche Medien, jede Zeitung, jede Talkshow beginnt mit Exegese-Versuchen und erklärt den ungläubigen Lesern, Zuschauern, Zuhörern, was warum geschehen ist, bedient sich dabei mehr oder minder exponierter Fachleute und gibt denen wieder einmal Gelegenheit, sich selbst darzustellen. Hier sind es die Weisen und um jede erdenkliche Sachlichkeit Bemühten, dort sind es diejenigen, die ebenso weise dreinschauen, aber an Sachlichkeit eher minderes Interesse haben.

Dritte Pawlowsche Reaktion: Machthaber und solche, die um Macht fürchten, sorgen erfolgreich dafür, dass ihre Mitmenschen auf jeden Fall zu Gesicht bekommen, worüber sie sich furchtbar aufregen sollen, damit sie ordentlich die Straße aufrühren und die Öffentlichkeit davon ablenken, was eigentlich viel aufregender wäre – unmenschliche Behandlung durch die Machthaber.

Ich räume ein, dass ich arg holzschnittartig beschrieben habe, was mir durch den Kopf geht, ich räume ebenfalls ein, dass noch viel vielschichtiger über das Phänomen debattiert werden kann. Aber so gern ich das tue, ich bin zu ärgerlich dazu, weil diese Automatismen mir auf den Nerv gehen. Ich habe sie wohl einfach zu häufig erlebt, wenn auch in unterschiedlicher Verkleidung.

Bleibt noch die Frage, ob man Amateurfilmchen welcher Herkunft auch immer die Aufführung gesetzlich verweigern sollte. Verweigern sollte man sie, die Aufführung, gesetzlich: nein! Sie und vieles andere sind nicht satirisch, eher dämlich. Daher stellen sie meiner Ansicht nach weder eine Kunstform noch einen schützenswerten Ausdruck der freien Meinung dar. Dennoch, sie gesetzlich zu verbieten, verbietet sich schon deshalb, weil Verbotenes – namentlich über das Internet Verbreitbares – Anlass zu hemmungsloser Neugierde bietet und es damit nur interessant macht. Am aktuellen Beispiel: Sofern denn Dummheit verboten gehörte, dürfte Mitt Romney nicht mehr über Talkshows verbreitet werden. Das will keiner, denn selbst Romney darf jeden Blödsinn öffentlich erzählen, der ihm in den Sinn kommt.

Was lehrt uns das? Viel schlimmer als jeder dämliche Amateurfilm ist der Bericht über ihn, oder der chronistische Hinweis auf seine extrem dämlichen Inhalte und abschließend die Debatte über ein mögliches Verbot seiner Aufführung, denn das alles macht blöde Amateurfilmchen für Massenprotest oder Massenapplaus erst richtig bekannt.




Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.