Kleine Ulknudel, großer Star: „Funny Girl“ am Theater Dortmund

Fanny Brice im Hochzeitsglück (Katharine Mehrling, rechts. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Hand aufs Herz: Wer hat schon eine Schwiegermutter, deren Leben Stoff für einen glamourösen Film oder ein Musical böte? Der amerikanische Filmproduzent Ray Stark, 2004 in Westhollywood verstorben, war in dieser Hinsicht ein Sonderfall.

Die Mutter seiner Frau, eine gewisse Fanny Brice, kämpfte sich mit eisernem Willen von der kleinen jüdischen Komödiantin zum großen Broadway-Star hoch. Ihr wechselvolles Leben, das manchen privaten Tiefpunkt kannte, vertonte der Komponist Jule Styne in dem Musical „Funny Girl“, dessen New Yorker Uraufführung die blutjunge Barbra Streisand 1964 über Nacht berühmt machte.

Das Theater Dortmund, das einen verlässlichen Publikumsrenner dringend benötigt, reaktivierte jetzt das Produktionsteam von „Evita“, um „Funny Girl“ wirkungsvoll in Szene zu setzen. Regisseur Stefan Huber, Kostümbildnerin Susanne Hubrich, Choreograph Danny Costello und Bühnenbildner Harald B. Thor sparen dafür nicht an Aufwand. Damit die Revue rauschend sei, stehen für 25 Darsteller 150 aufwändige Kostüme bereit, 18 von ihnen allein für die Hauptdarstellerin. Mehr als 20 Szenenwechsel sowie schwungvolle Tanz- und Steppnummern erhöhen dieses Ausstattungsfest zu einem Feuerwerk fürs Auge. Statisterie, Chorsolisten und Gäste, unter ihnen etliche Musical-Darsteller, werfen sich lustvoll in die Show hinein.

Gleichwohl steht und fällt „Funny Girl“ mit der Besetzung der Titelpartie. Hier hat das Theater Dortmund einen entscheidenden, wunderbaren Glücksgriff getan. Klein von Statur, aber mit großer Stimme gesegnet, vollzieht Katharine Mehrling das Wunder des Willens nach. Vor unseren staunenden Augen und Ohren wächst sie von der Ulknudel zum Showstar – und weit darüber hinaus. Ihr gelingt das Porträt einer phänomenal starken Frau, die sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt. Klassisch gewordene Songs wie „I’m the greatest star“, „People“ oder „Don’t rain on my Parade“ interpretiert sie in fließend mal auf Deutsch, mal auf Amerikanisch (mit deutschen Übertiteln). Was ihre klare Stimme dabei an Strahlkraft und Glamour entwickelt, braucht den Vergleich mit der großen Streisand nicht zu fürchten.

Die Dortmunder Philharmoniker, zu Beginn etwas unsortiert im Blech und dünn im Streicherklang, unterstützen die starke Hauptdarstellerin unter der Leitung von Jürgen Grimm zunehmend mit glanzvollem Sound. Der als TV-Serienstar angekündigte Bernhard Bettermann hat in der Rolle des Charmeurs und Spielers Nick Arnstein glaubhafte Wutausbrüche, bleibt stimmlich aber ein eher blasser Gegenpart. In den Nebenrollen tragen vor allem Marc Seitz (als Eddie Ryan), Hannes Brock (als Florenz Ziegfeld jr) und Johanna Schoppa (als resolute Mutter Rose Brice) liebevolle Charakterstudien bei.

Derweil spielt die großartige Katharine Mehrling mit ihrem komischen Talent ein weiteres As aus. Wenn Fannys Mundwerk mal wieder schneller ist als jede Überlegung, ist das naiv und entwaffnend zugleich. Die Liebhaber feinsinnig-intelligenten Humors seien indes gewarnt, denn in Dortmund liebt man es in dieser Hinsicht rustikal. Zum Glück besitzt die Liebesgeschichte zwischen Fanny und Nick eine dramatische Fallhöhe, die manch derben Schenkelklopfer vergessen hilft.

Termine und Informationen: http://www.theaterdo.de/detail/event/funny-girl/

(Der Artikel ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Weltklasse in Essen: Viktoria Mullova und Pieter Wispelwey in der Philharmonie

Wenn sich zwei so exzellente Solisten wie Viktoria Mullova und Pieter Wispelwey zu einem exklusiven Kammermusikabend zusammentun, verspricht das ein hochrangiges musikalisches Ereignis. Die Prognose wurde eingelöst: In der Essener Philharmonie ereignete sich im Scheine der Kerzen rings um das Podium ein Konzert, das mit dem oft vorschnell vergebenen Etikett der Weltklasse durchaus zutreffend beschrieben ist.

Pieter Wispelwey. Pressefoto: www.pieterwispelwey.com

Pieter Wispelwey. Pressefoto: www.pieterwispelwey.com

Den reinen Bach-Abend eröffnete Pieter Wispelwey, vielleicht nicht der marktgängigste, sicher aber einer der spannendsten Cellisten der Gegenwart. Im September ist seine mittlerweile dritte Einspielung der sechs Cellosuiten Bachs erschienen; ein Zeichen für das stetige Nachdenken des mittlerweile Fünfzigjährigen über Bachs tiefgründige Musik. Die bisherigen, preisgekrönten Aufnahmen legen die Messlatte für das Konzert hoch. Der erste „Sprung“ gelang noch nicht so reibungslos: Der Beginn der G-Dur-Suite BWV 1007 wirkte fahrig; Wispelwey neigte zu leichtgewichtiger, aber auch heterogener Tongebung mit merkwürdig unruhiger Phrasierung.

Zwar durften Allemande und Courante tänzerische Energie verstrahlen, die Sarabande aber wollte der Cellist offenbar nicht dezidiert absetzen. Bewegt und luftig dagegen die abschließende Gigue. Die Balance zwischen der farbigen Betonung einzelner Noten, wie sie in der historisierenden – pardon, historisch informierten – Musikpraxis gerne betrieben wird, und dem Blick auf den inneren Zusammenhang wollte sich noch nicht einstellen.

In der c-Moll-Suite BWV 1011 waren solche Anfangsprobleme kein Thema mehr. Wispelwey entfaltet einen leichten, rauchig angerauten Ton, artikuliert genau bis hinein in rhythmische Raffinessen, entwickelt ausdrucksvolle Färbungen auf einer dunkel-weichen Grundlage. Der Elan der schnellen Sätze, die pointierte Rhythmik der Gavotten, die weltverlorene Meditation der Sarabande: Wispelwey beseelt sein Spiel, ohne den Abstand zu den sonor erfüllten Interpretationen der älteren Meister aufzugeben. In der D-Dur-Suite BWV 1012 spannt er so den Kontrast auf zwischen einem verinnerlichten Nachspüren der weit angelegten Legato-Zusammenhänge und dem federnd-nonchalanten Tanzgestus.

Viktoria Mullova. Foto: J Henry Fair

Viktoria Mullova. Foto: J Henry Fair

Drei Abschnitte mit jeweils einem Cello- und einem Violinwerk, gegliedert durch zwei Pausen – so war der dreistündige Abend aufgebaut. Viktoria Mullova kam zunächst mit einer Moll-Tonart zu Wort: Die Sonate BWV 1001 ließ am überragenden Rang ihrer konzentrierten Interpretationen keinen Zweifel. Bachs Experiment einer vierstimmigen Fuge auf einem Instrument war technisch vollkommen beherrscht und musikalisch durchdrungen: So klar wie Mullova hat kaum jemand dieses Stück erschlossen. Kein Wunder, dass ihre CD der sechs Solowerke für Violine hymnische Kritiken erhielt und als Referenzaufnahme gilt.

Aber auch das Adagio des Beginns nimmt gefangen: Mullova pflegt einen ruhigen, klassisch ebenmäßigen Ton, leicht und gleichmäßig, von einer zarten Sonorität, die sich weder die verschrammten Töne der Originalklang-Fetischisten noch den saftigen Duktus der historisch Unbekümmerten erlaubt. Auch in den schnellen Sätzen bleibt die Artikulation deutlich, der Ansatz rein. Mullova strahlt dabei eine Gelassenheit aus, die vergessen lässt, welcher technische Einsatz nötig ist, um solche wie selbstverständlich wirkende Souveränität zu erreichen. So sind auch die Partita E-Dur BWV 1006 und die berühmte mit der „Chaconne“ als letztem Satz (BWV 1004) blitzsauber modelliert bis in die Details der Verzierungen hinein.

Konzentration bis zum letzten Ton, Versenkung in Bachs musikalischen Kosmos: Da bricht kein Jubel los, aber ein tief herzlicher, lang dauernder Beifall. Und man geht durch die Nacht nach Hause und kann es nicht lassen, über diesen Abend nachzudenken.




Die Puppe des Monsieur Leblonde

Mustertafel mit "Mannequins" für den Künstlerbedarf, französisch, um 1868

Mustertafel mit „Mannequins“ für den Künstlerbedarf (Detail), französisch, um 1868, Sammlung Dietmar Siegert. Foto: Matthias Kampmann

Monsieur Leblonde kann man sich vorstellen als jemanden, der von Atelier zu Atelier zog und ein interessantes Produkt anpries: eine Puppe aus Kautschuk. An sich nichts Besonderes, aber zu der Zeit, es ist das 19. Jahrhundert, ein herrliches Utensil für halsstarrige Akademisten, die sich von der Fotografie nicht den Schneid abkaufen lassen wollten und natürlicher als die Natur zu malen gedachten.

Diese Puppe ist aus heutiger Sicht mehr als nur ein Symptom für die Geschäftstüchtigkeit eines Bildhauers mit Nebeneinkünften. Sie ist Symbol einer Zeit, in der Golems, Homunkuli und Roboterfantasien geträumt wurden. Das Doppel des Menschen. Hier in Form eines Lehrmittels. Leblonde führte nun nicht das vielfach ausgezeichnete Modell mit sich. Vielmehr besaß er einen Klappkoffer aus zwei Holzrahmen. In voller Ausbreitung mannshoch, zeigt es herrlich posierend diese Erfindung zur Erkundung der menschlichen Anatomie in zahlreichen Fotografien, und man muss schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass es sich um einen künstlichen Körper handelt.

Vielleicht ist es das überraschendste Exponat in der Ausstellung „Tagträume – Nachtgedanken. Phantasie und Phantastik in Graphik und Photographie“, die Yasmin Doosry, Direktorin der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg, zusammen getragen hat. Wieder einmal geht es um die Phantasmen, wieder einmal um die Relation der Surrealisten zu kunsthistorischen Vorläufern seit der Dürerzeit.

Nur Papier. Die trockene Feststellung ist keine Geringschätzung. Doosry beschreibt, dass gerade die Grafik Ideenschmiede der Künstler war. Rund 130 Fotografien, Zeichnungen, Druckgrafiken und Künstlerbücher sind in der Ausstellung zu sehen, die in Kooperation mit der Fundación Juan March, Madrid, entstand. Davon stammen 80 Prozent aus dem Bestand des Nürnberger Instituts. „Gut, dass unser Museum ein solches Depot hat. Sonst wären solche Ausstellungen nicht möglich“, meint Ulrich Großmann, Generaldirektor des Hauses.

Und in der Tat. Man sieht, hier wird aus dem Vollen geschöpft, und die Qualität der heimischen Arbeiten ergänzen prominente Leihgebern wie das Pariser Centre Pompidou. Es ist einfach wunderbar. Frisch wie am ersten Tag der Totentanz von Michael Wolgemut aus dem Jahr 1493 oder die „Majuskeln des lateinischen Alphabets“ von Matthias Zündt nach Hans Lencker von 1567, ein koloriertes und mit Gold gehöhtes Titelblatt von Lenckers „Perspectiva Literaria“.

Die Ausstellung, typisch für Grafikabteilungen, liegt im Halbdämmer. Das kommt nicht nur der Physis der empfindlichen Arbeiten wie den geradezu hingehauchten „Geschlossenen Augen“ eines Odilon Redon, eine Lithografie von 1890, zugute, sondern steigert auch die Einstimmung aufs Thema. Elf Kapitel beleuchten das Unheimliche, Fantastische, Träumerische in der Kunst seit der deutschen Renaissance. In den Vitrinen haben die Ausstellungsdesigner stumpfe Spiegel – gespenstisch – simuliert.

Der Besucher betritt jedoch keine mit Spinnweben vergarnte Rumpelkammer, sondern eine wohl sortierte und geordnete Melange aus kühler Geometrie mit ein bisschen Schreckenskabinett, Suchbildern und desorientierender Verwirrmaschine. Das Menschliche wird durch seltsame Konstrukte aus Torsi und Konfrontationen mit allerlei Fremdkörpern übersteigert. Fühlbar und sichtbar ist Entfremdung durch Verfremdung. Physikalisch simpel kommen noch die Anamorphosen daher, die seit dem 16. Jahrhundert entstehen und mehr oder weniger andeuten, dass das Sehen immer ein vermitteltes ist.

Es braucht den täuschenden Rundspiegel, damit das Bild von Diana und Cupido, die den schlafenden Endymion aufsuchen, unverzerrt gesehen werden kann. Christian Heinrich Weng kreierte das Rundblatt um 1770. Motivisch organisiert Doosry André Steiners „Anamorphose III“ (1933) aus der höchst qualitätsvollen Sammlung von Dietmar Siegert, der fast alle Fotografien beisteuerte, hinzu. Das Gummiband im Bild mit der schrägen Perspektive soll der Ariadnefaden sein, doch der Blick bietet keine Übersicht, das Auge dreht Schleifen zwischen Vordergrund und dem Spiegelbild im Hintergrund. Oder ist es umgekehrt?

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Es gibt in der Schau Exponate, die einfach Freude bereiten, selbst wenn ihr künstlerischer Wert weniger bedeutend ist. So bietet sich hier für viele Menschen vielleicht das erste Mal die Gelegenheit, einen originalen „Cadavre exquis“ zu betrachten. Dieser hier stammt aus dem Jahr 1935. Mitgewirkt haben Óscar Domínguez, Hans Bellmer, Georges Hugnet und Marcel Jean. Mit Blei- und Farbstiften zeichneten sie auf das einen halben Meter lange und 32,8 Zentimeter breite Papier. Jeder beackerte einen Teil des Blatts, den die anderen jedoch nicht sehen konnten. Dann falteten sie den Streifen, und der nächste war dran. Wer dabei was gezeichnet hat, lässt sich nur mutmaßen. Auseinandergefaltet ergibt sich das verrückte Erzeugnis.

Das Erstellen des Cadavre ist eine Form gemeinschaftlicher Kreativität, die immer zu überraschenden Ergebnissen führt. Hier stoßen Schriftwolken mit den Künstlernamen auf Formen, die wie Organe anmuten, und die ganze absurde Zeichnung wächst aus einem Vulkan, der sich aus einer ovalen Blase speist. Erotische Konnotationen erwünscht. Aber das ist ja so üblich bei den Surrealisten. Schließlich atmeten ihre Helden Siegmund Freud und entließen ihre Einfälle durch die „Steigrohre des Unbewussten“.

Es ist definitiv nichts Neues, den Surrealismus in eine verwandtschaftliche Beziehung mit früheren Künstlern zu setzen. Kuratorin Doosry bezieht sich hier ganz bewusst auf die 1937 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigte Surrealisten-Schau, in der der legendäre Gründer Alfred Barr eine solche Kombination erstmals realisierte. Der Blick auf die Fantastik durch die Brille des Surrealismus ist ja so naheliegend, dass derzeit auch eine Ausstellung des Frankfurter Städelmuseums mit „Schwarze Romantik“ einen ähnlichen Fokus setzt. Allerdings ist es in Nürnberg ausschließlich Grafik in Kombination mit der Fotografie, die zu motivischen und inhaltlichen Vergleichen anregt.

Das Nürnberger Vorhaben bleibt bei der Kunst und begeht nicht den Fehler, der in den 90er Jahren Methode war, Kunstgeschichte als psychoanalytisch motivierte Theorie-Illustration zu betreiben. Hier bleibt man auf dem Teppich. Abheben sollen andere. Sehr schön ist etwa die Kombination der Rötelzeichnung „Eine Art zu fliegen“ von Francisco de Goya mit der gleichnamigen Radierung, veröffentlicht nach dem Tod 1864 als eine der 18 „Torheiten“, damals unter dem Titel „Sprichwörter“. Was dieser seltsame Otto Lilienthal und seine Mitflieger in Vogelflug imitierenden Apparaten da machen, entzieht sich zum Glück der finalen Deutung – wie das meiste in dieser Ausstellung.

Es öffnen sich zudem andere, ungedachte Fenster, die leider in der Schau keine Berücksichtigung finden. Yasmin Doosry erzählt, dass „Aqua“, eine Arcimboldo nachempfundene Kompositfigur aus Meerestieren von 1580 aus dem Nachlass von Vincent Van Gogh stammt. Von dem sicher das eine oder andere Fantastische hätte gezeigt werden können. An sich ist es eine durchaus attraktive Vorstellung von einer vielleicht fantastischen Ausstellung. Und dass ein Museum seine eigenen Grenzen überschreitet und wie im Fall des Germanischen Nationalmuseums ausnahmsweise nicht nur Kunst aus dem deutschsprachigen Raum zeigt, ist angesichts des Themas notwendig.

Doch natürlich trifft man in der Hauptsache die üblichen Verdächtigen. Salvadore Dalí, Max Ernst, Paul Klee, Pablo Picasso, Man Ray, Yves Tanguy, bei den Älteren dann Giovanni Battista Piranesi, Goya, und natürlich kann eine solche Ausstellung an diesem Ort „nicht ganz Dürer-frei“ bleiben, wie Generaldirektor Ulrich Großmann trocken feststellt. Vom übermächtigen Altmeister ist einmal mehr die „Melancolia I“, der unglaublich berühmte wie rätselhafte Kupferstich aus dem Jahr 1514 zu sehen. In jedem Fall bekommen die Besucher eine Menge zu tun, eine weite Übersicht und viele motivische Bezüge vom Auftakt mit dem Blick des inneren Auges über die weiteren zehn Stationen. Wer wollte sich dem widersetzen.

Die Ausstellung ist vom 25. Oktober bis 3. Februar 2013 zu sehen. Öffnungszeiten: Di, Do, So 10 bis 18 Uhr, Mi 10 bis 21 Uhr. Der Katalog kostet 28,50 Euro im Museumsshop, im Buchhandel 38 Euro. Ein besonderes Highlight im Beiprogramm ist die Kooperation mit dem Filmhaus Nürnberg. Es werden dort unheimliche und fantastische Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau, gezeigt (25.11., 19.15 Uhr).




Warnung für Wagnerianer: „Die lustigen Nibelungen“ treiben’s bunt in Krefeld

Da hängen sie, die hohen und höchsten Herrschaften, die Heroen des Geistes und der Kunst: Cosima Wagner und Wilhelm der Zwote, bespeerter Wotan und behelmte Walküren. Die Bildparade des deutschnationalen Salons vor hundert Jahren. Halt, nicht ganz: Der Sänger Jonas Kaufmann passt da nicht ganz rein. Oder doch? Als Verehrungsobjekt der Wagnerianer anno 2012? Hinrich Horstkotte hat sich in seinem Bühnenbild zur Operette „Die lustigen Nibelungen“ in Krefeld diesen Seitenhieb nicht verkneifen können. Und damit augenzwinkernd angedeutet, dass wir vielleicht so weit gar nicht entfernt sind von irrationalen psychologischen Determinierungen, wie sie vor 100 Jahren unsere Urgroßväter auf den unseligen Pfad in die Katastrophe Europas gleiten ließen.

Ein Element der wilhelminischen Gesellschaftsideologie war die Ersatzreligion, deren Gottesdienstzeiten mit den Anfangszeiten von Wagners Werken in den Opernhäusern zusammenfielen. Ein anderes kennen wir noch aus dem Stichwort der „Nibelungentreue“. Dass es mit dieser „Treue“ in der meuchelnden Horde der sagenhaften Urzeitanrainer des Rheins nicht weit her war, kann jeder in den mittelalterlichen Großwerken der deutschen Literatur nachlesen. Die einäugige Reduktion der Stoffe um Kriemhild, Gunther und Dietrich von Bern, wie sie das deutsche Großbürgertum gemeinsam mit Adel und Militär des Deutschen Kaiserreichs betrieb, ließ einen Herrn mit dem Pseudo-Namen „Rideamus“ – bürgerlich: Fritz Oliven – zur satirischen Feder und einen anderen Herrn namens Oscar Straus zu Notenblättern greifen.

Heraus kam 1904 am Wiener Carl-Theater und kurz darauf in Berlin ein Skandal: die Operette „Die lustigen Nibelungen“. Nicht nur die Wagnerianer, nein, der Deutsche an sich war empört! Die heiligsten Werte des Reiches in Schmutz und Schande! Die kritischen Reaktionen auf das Werk haben ob ihrer polemischen, unfreiwillig komischen Substanz heute noch ähnlich hohen Unterhaltungswert wie die Operette. Und die kam, mit beträchtlichem Erfolg, jetzt am Theater Krefeld zur Aufführung.

Träger teutonischer Tugend: Die "Nibelungen" in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Träger teutonischer Tugend: Die "Nibelungen" in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ja, da hängen die Träger teutonischer Tugend an der Wand. Und davor versammelt sich die illustre Gesellschaft am Hofe zu Burgund. König Gunther und seine Eltern, Kriemhild, die „minnige“ Maid und der „grimme“ Onkel Hagen, Volker und Giselher, die Recken. Sie sind ratlos, denn Gunther hat in einem Anfall von Selbstüberschätzung ein Weib gefordert, das ihm körperlich hoffnungslos überlegen ist: Brunhild heißt die isenländische Turandot, die bisher noch jeden Freier nach Walhall befördert hat.

Nun hat Gunther alles andere als Lust, seinen Vorgängern in das germanische Kriegerparadies zu folgen. Man sinnt auf Hilfe – und besinnt sich auf Siegfried aus den Niederlanden, einen erfolgreichen Unternehmer im Drachentöten, reich, stark und vor allem unverwundbar. Bis auf eine kleine Stelle, die einst beim abhärtenden Drachenblutbad von einem zufällig herabsegelndem Lindenblatt abgedeckt ward. So naht das Verhängnis, denn: „Von vorne, da ist er ganz von Horne“, aber „von hinten kann man ihn überwinden.“

Der Kampf: Gunter hat wenig Chancen gegen die wilde Brunhild! Foto: Matthias Stutte

Der Kampf: Gunter hat wenig Chancen gegen die wilde Brunhild! Foto: Matthias Stutte

Die bitterböse Persiflage von Oscar Straus – gar nicht zu verwechseln mit dem „Fledermaus“-Autor Johann Strauß – wurde von Hinrich Horstkotte 2011 am Theater Mönchengladbach in Szene gesetzt und wirkt jetzt bei ihrer Übernahme in Krefeld als unterhaltsame Satire auf die verlogenen Werte einer Gesellschaft, der es im Grunde nur um Geld, Gold und Aktienkurse geht. Nicht weit entfernt vom Heute also, das sich von der wilhelminischen Gesellschaft insofern unterscheidet, als man sich nicht mehr die Mühe macht, mit vorgetäuschten Werten Gier und Geldgeilheit zu ummanteln, sondern diese ungeniert selbst zu Werten erklärt.

Horstkotte bedient sich aus der Fülle kennzeichnender Chiffren des Zeitgeistes: Fellröcke und Farbenbänder, Pickelhaube und Biertönnchen, Wotanhelm und Walkürenbrünne. Der gleißnerische Zauber der Montur und der faulig schimmernde Schein „werkgerechter“ Wagner-Inszenierungen mischen sich zu einem Mix, der ebenso skurril ist wie uns die Weltanschauung von damals vorkommt. Auch wenn er seine Figuren manchmal zu viel zappeln lässt: Die Wirkung ist in höchstem Maße heiter.

Dazu tritt die Musik von Oskar Straus, mit Verve und Stilgefühl dirigiert von dem jungen Österreicher Andreas Fellner. Er findet die Tonlage zwischen martialischem Marsch und süffisantem Walzer. Klar, dass die protzige Burgunder-Hymne in der Ouvertüre als mächtige Fuge beginnt, dann freilich ratlos im hohlen Pathos endet, um von einem Weber’schen Cello-Solo abgelöst zu werden. Wir wollen ja Gefühl zeigen!

Straus setzt auch auf unregelmäßige Perioden und Texte, die nach Art des britischen Duos Gilbert & Sullivan komisch-geschwätzig ins Metrum der Musik gezwungen werden. „Lohengrin“ wird zitiert, wenn sich die Braut im Gemach für den Gemahl bereitet. Straus kennt die musikalischen Wagner-Epigonen seiner Zeit genau und setzt ihre trivialpathetische Musik scheinbar todernst ein, bevor sich wieder alles in frivole Galopps oder Walzer auflöst. Ein musikalische Spaß, mit leichter Feder hingezaubert, und heute noch sehr amüsierlich.

Die Darsteller geben in Krefeld ihr Bestes: Markus Heinrich erlegt als Siegfried mit den putzigen Pflegedrachenkindern Titzel und Tatzel die muskelprotzende und stimmstarke Brunhild (Janet Bartolova) sozusagen mit dem kleinen Finger. Mama Ute als kauzige Mischung aus Göttin und Großbürgerdame mit Cosima-Nase (Eva Maria Günschmann) und Gatte Dankwart in schimmerndem Militärflitter (Hayk Dèinyan) haben ihre liebe Not mit ihrem hasenherzigen Sohn Gunther, einer dürren, weinerlichen Latte (Rafael Bruck) von perfektem Nicht-Format.

Rochus Triebs, der Held Volker, offenbar ein alter Urning, dreht in Flaus und Fell linkische Pirouetten; der andere Recke, Giselher, ist praktischerweise gleich eine Travestierolle. Debra Hays erzwitschert sich als Krimhild Bett und Börse des schwerreichen Siegfried, lenkt die Herzensergießungen aber schnell um, als die Aktien des Drachentöters fallen. Und dass ein gebratener Vogel (Gabriela Kuhn) Insider-Tipps zum Aktienhandel gibt, macht ihn als Maskottchen für eine Rating-Agentur geeignet.

Matthias Wipprich ist der bassgewaltige Onkel Hagen mit wildem Vollbart, aber vom Wuchse alles andere als ein Recke. Wem Operetten sonst zu flach oder zu sentimental vorkommen, der könnte an den zweieinhalb Stunden höheren Blödsinns in Krefeld seine helle Freude haben; wer Operette liebt, kommt mit Humor und Hits auf seine Kosten. Nur der Wagnerianer sei gewarnt: Respekt vor des Meisters Stoffen wird er nicht erwarten dürfen!