Auf hohem (Preis-)Niveau: Anna Netrebko als „Jolanthe“ in der Philharmonie Essen

Anna Netrebko sang in Essen die Titelpartie aus Tschaikowskys letzter Oper "Jolanthe" (Foto:Ester Haase)

Die Erkenntnis trifft den Grafen Vaudemont wie ein Blitz. Eben noch bat er die Königstochter Jolanthe um eine rote Rose als Zeichen ihrer Zuneigung. Aber die rätselhafte Schöne reicht ihm aus dem bunten Strauß eine weiße Rose. Als der Graf insistiert, reagiert die junge Frau immer ängstlicher und verwirrter. Endlich begreift der Graf: Die Geliebte ist blind. Der Vater schirmte sie so sehr von der Außenwelt ab, dass sie selbst nichts von ihrer Blindheit weiß.

Dies ist die Schlüsselszene aus Peter Tschaikowskys letzter Oper, dem Einakter „Jolanthe“, der die Titelheldin auf dem schmerzlichen Weg vom unwissenden Kind zur liebenden Frau begleitet. Inspiriert vom Drama „König Renés Tochter“, das dem dänischen Schriftsteller Henrik Hertz 1845 europaweit Erfolg einbrachte, schrieb Tschaikowsky ein ungemein lyrisches Werk von schier überströmendem Melos. Zehn Gesangssolisten, Chor und Orchester stimmen nach Jolanthes wundersamer Heilung in das allgemeine Gotteslob ein. Die Kräfte des Willens und der Liebe haben über die Gesetzte der Natur gesiegt.

Obgleich in Russland beliebt, taucht das Werk hierzulande kaum je auf den Spielplänen auf. Zu wenig abendfüllend ist das Stück, zu wenig bieten sich Kombinationen mit anderen Opern an. Auch will das große Solistenensemble möglichst gleichrangig besetzt sein. Dies ist nun einer konzertanten Produktion der „First Classics Berlin GmbH“ gelungen, die seit Anfang November mit der Sopranistin Anna Netrebko als Zugpferd auf Tournee ist.

So ergab sich in der Philharmonie Essen die seltene Gelegenheit, die märchenhafte Oper mit der tiefenpsychologischen Ebene kennen zu lernen. Im Vorfeld muteten freilich vor allem die Kartenpreise märchenhaft an: 50 Euro für einen Stehplatz, 150 bis 260 Euro für einen Sitzplatz, weitere 10 Euro für ein Programmheft, dem Entstehung und Bedeutung des Werks nicht eine einzige Zeile wert ist.

Gleichwohl blieb kaum einer der nahezu 2000 Plätze unbesetzt. Den „unvergesslichen Abend“, den das Programmheft versprach, haben die Besucher indes nicht allein der Netrebko zu verdanken. Es war die erlesene Sängerriege, die den Abend zum Fest erhob: Die Diva war umringt von stimmstarken Partnern, die einer veritablen Staatsopern-Premiere Ehre gemacht hätten. Die Partie des Almerich färbt JunHo You bei hoher Textverständlichkeit nahezu heldisch hell. Kernig, zuweilen beinahe gallig, dann wieder schwärmerisch ausgreifend gestaltet Alexey Markov den Robert. Hinreißend auch Monika Bohinec, die Jolanthes Amme Martha ihren wunderbar farbenreichen, stets flexiblen Mezzosopran leiht. Feierlich, aber beseelt klingen Vitalij Kowaljow als König René und Lucas Meachem als maurischer Wunderarzt Ebn-Hakia. Bis in die kleinsten Nebenrollen gibt sich niemand aus diesem Ensemble eine ernsthafte Blöße.

Das Orchester der Slowenischen Philharmonie und der Slowenische Kammerchor erweisen sich dabei keineswegs als Partner zweiter Wahl. Unter der Leitung des Franzosen Emmanuel Villaume breitet das Orchester akustisch überzeugende Naturbilder aus. Nur selten ist der orchestrale Glanz auf Gala-Effekt gebürstet. Die Musik fließt in großen, unaufdringlich noblen Bögen.

Anna Netrebko scheint die lyrische Partie der „Jolanthe“ wie auf den Leib geschrieben. Hier kann sie ihr reich umflortes Luxus-Timbre changieren lassen, kann spielerisch wandeln auf dem Grat zwischen mädchenhafter Unschuld und sirenenhafter Verführungskraft. Aus zarter Wehmut steigert sie sich zu leidenschaftlich ausgreifenden Höhepunkten, aus traumverlorener Trance zu nervöser Erregung, im Finale schließlich zu triumphalen Tönen. Die Partie strömt förmlich aus ihr heraus, unangestrengt und wie aus einem Guss. Wie bei einer derartigen Gala nicht anders zu erwarten, endet der Abend mit Ovationen. Bang hallt nur ein Gedanke nach: Die Frage nämlich, ob seine geldwerte Exklusivität nicht Wasser auf die Mühlen derer gießt, die Klassische Musik gerne als „überflüssiges Luxusvergnügen“ diffamieren.




Meilensteine der Popmusik (24): Michael Jackson

„Michael Jackson hat die beste Tanzmusik aller Zeiten gemacht. Er hat mich nicht nur inspiriert, sondern auch gezeigt, wie so etwas funktionieren kann: Sex, klare Rhythmen, geile Arrangements. Michael war ohne Frage ein Lehrmeister.“ Der Konkurrent Prince gab dieses überschwängliche Kollegenlob irgendwann einmal unaufgefordert von sich.

Dem Betroffenen müsste dieses noch mehr geschmeichelt haben, als einer der unzähligen Grammys in seiner Vitrine. Laut „Guinness Buch der Rekorde“ ist Michael Jackson der erfolgreichste Entertainer aller Zeiten.

Er war einer der wenigen Ausnahmekünstler, dessen Einmaligkeit sich in der Musikgeschichte eindeutig festschreiben lässt. Es ist zuerst natürlich die absolute Rekordzahl von weit über 100 Millionen verkaufter Exemplare des Albums „Thriller“ bis heute, knapp die Hälfte davon allein in den USA. Nie vorher oder nachher konnte eine einzige Platte auch nur annähernd diesen Umsatz erreichen, also eine Marke für die Ewigkeit.

Als diese Monsterscheibe heute vor genau 30 Jahren pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erschien, reagierten die Kritiker zuerst einigermaßen vorsichtig. Das Comeback des damals 24-jährigen, ehemaligen Kinderstars lag gerade mal drei Jahre zurück; man hatte kaum noch damit gerechnet. Insider, die sich mit der Biografie des Michael Jackson beschäftigt hatten, zweifelten am Durchsetzungsvermögen des Künstlers. Kein Wunder, hatte doch der Familien-Tyrann, Vater Joe Jackson, den kleinen fünfjährigen Michael und seine kaum älteren Brüder Ende der 60er auf die Bühne geprügelt. Wenig später feierte die Welt die wohl größte Kinderband der Popgeschichte: The Jackson Five.

„Music and money“, beides hatte Daddy Joe fest im Griff. Auch die Disziplin seiner Kleinen: wer nicht spurte, wurde handfest überzeugt. So wuchs Michael ohne Kindheit auf, wurde durch alle Medien gereicht – und rechtzeitig zum Stimmbruch wieder fallengelassen. Die aufkommende Langeweile vertrieb sich Michael mit einem aufwendigen Zombiespiel. Kaum waren die letzten Pickel und Pusteln verflogen, ließ er sich von Spezialisten die Locken glattziehen, die Knollennase und das Kinn modellieren. Nicht immer gelang die Prozedur auf Anhieb, ab und zu musste eine Zusatzrunde für weitere Korrekturen eingelegt werden. Zudem litt er an einer tückischen Hautkrankheit, die seine Haut langsam bleichen ließ. So kam es, dass im Laufe der Jahre aus dem quäkenden Bengel ein verträumtes Beautymonster der anderen Dimension entstand.

Der ungeheure Drang zur Perfektion übertrug sich zum Glück auch auf den Künstler Michael Jackson. Seine Millionen brauchte er eigentlich nur, um immer wieder neue Mauern gegen die Außenwelt hochzuziehen. Seine Farm „Neverland“ wurde zum geheimnisvollen Mythos. Gerüchte und Skandale vom sorglosen Umgang mit Medikamenten, bis hin zum Vorwurf des Kindesmissbrauchs begleiteten das äußerst bizzare und geheimnisumwitterte Leben des „King of Pop“ bis zu seinem Tod im Juni 2009. Diesen Tod, durch eine Überdosis des Narkosemittels Propofol herbeigeführt, markierte für viele Beobachter auch den Schlusspunkt einer großen Verzweiflung, die den Künstler seit den weltweit aufsehenerregenden Prozessen befallen hatte. Obwohl er am 13. Juni 2005 in allen Anklagepunkten von einem Geschworenengericht einstimmig freigesprochen wurde, hat er sich von diesen Strapazen nie erholen können.

Ganz anders der Künstler Michael – dieser war stets im Dauertraining. Weltberühmte Choreographen waren begeistert von dem tänzerischen Talent des allzeit knabenhaft wirkenden Mannes. Seine Mitarbeiter schätzten seinen absoluten Professionalismus. Nie kam er unvorbereitet ins Studio, hatte sich meist schon Stunden vorher warm gesungen. Diese absolut berechnende Perfektion spiegelt das Meisterwerk „Thriller“ Song für Song wider. Für „Billie Jean“ musste der Gast-Bassist Louis Johnson (Johnson Brothers) seine ganze Gitarrensammlung ausprobieren, bis ein japanisches Modell den richtigen Sound brachte. Der wummernde Bass wurde stilbildend. Für das mittlerweile berühmte Gitarren-Solo von „Beat it“ bat man den Eddie van Halen ins Studio. Der rockte ohne Honorar auf der Platte, nur für die Ehre dabei gewesen zu sein. Auch sonst war die Gästeliste lang und edel: Von Paul McCartney über den Jazz-Veteranen Tom Scott bis zur halben Toto-Mannschaft. „Thriller“ schrieb als Platte und Video Musikgeschichte und markiert einen Wendepunkt in der Popmusik. Von nun an drängten sich schwarze Interpreten in die Playlist von MTV, die zuvor von weißen Künstlern bestimmt wurde. Und die Videos zu den Songs entwickelten sich zu teilweise künstlerisch anspruchsvollen Kurzfilmen, die mit der Zeit zu einer eigenen Gattung wurden.

Schließlich und endlich war „Thriller“ aber auch das Meisterstück eines der erfolgreichsten Produzenten der Musikgeschichte: Quincy Jones. Dieser hatte damals schon über 30 Jahre Höhen und Tiefen des Geschäftes hinter sich. Er erkannte schnell die neue Dimension, die sich hier aufgetan hatte: „Michael Jackson hat uns ganz nach oben geführt – dorthin, wo wir eigentlich auch hingehören. Schwarze Musik spielte lange Zeit nur die zweite Geige, aber sie ist schließlich der Ursprung der gesamten Popmusik. Michael hat es geschafft, damit alle Seelen dieser Welt anzusprechen.“

Michael Jackson on youtube

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19), Simon & Garfunkel (20), Bruce Springsteen (21), ABBA (22), The Kinks (23)